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Gehirn dieses Dichters: Ich rutschte eilig die fünfte Windung in der Gegend des dritten Hügels hinunter. Die Zeit drängte. Die Großhirnmassen wölbten sich grau und unergründlich wie fremde Gebirge am Abend. Über die Gegend des verlängerten Marks kam schon Nacht herauf, Edelsteinfarben, Kolibrifarben, leuchtende Blumen, verstreute Wohlgerüche, Laute ohne Zusammenhang. Ich gestand mir, daß ich bald diesen Kopf verlassen müsse, wenn ich mich nicht einer Indiskretion schuldig machen wolle.
So ließ ich mich nur noch einmal nieder, um meine Eindrücke zusammenzufassen. Rechts von mir lag die Stelle der Verwirrungen des Zöglings Törleß, sie war schon eingesunken und mit grauer Rinde überwachsen; zu meiner andern Seite hatte ich die kleine, seltsam intarsierte Doppelpyramide der Vereinigungen. Eigensinnig kahl in der Linie, glich sie, von einer engen Bilderschrift bedeckt, dem Mal einer unbekannten Gottheit, in dem ein unverständliches Volk die Erinnerungszeichen an unverständliche Gefühle zusammengetragen und aufgeschichtet hat. Europäische Kunst ist das nicht, gab ich zu, aber was täte es. –
Ein verspäteter Literaturgeologe gesellte sich da zu mir; es war ein nicht unsympathischer junger Mann der neuen Schule, der – von der Ermüdung des enttäuschten Touristen befallen – das Gesicht mit dem Taschentuch kühlte und ein Gespräch begann. »Unerfreuliche Gegend«, meinte er; ich zögerte mit der Antwort. Aber er hatte kaum wieder zu sprechen begonnen, als wir durch einen Schriftstellerkollegen unseres Gastherrn unterbrochen wurden, der sich in Hemdsärmeln krachend neben uns niederwarf. Ich sah nur noch ein glückliches Lächeln in einem faustgestützten Gesicht glänzen, während der Mensch, ein Anblick tintenfrischer Gesundheit und Kraft, unser Gespräch schon dort aufnahm, wo er es gestört hatte. Von Zeit zu Zeit spuckte er dabei vor sich in eine kleine zarte Falte der Musilschen Hirnrinde und verrieb es mit dem Fuße.
»Enttäuscht?!« schrie er uns an, und seine Worte sprangen den Hügel hinunter, »was hatten Sie sich eigentlich erwartet?! Mich konnte es nicht enttäuschen. An dieser Sache da«, – er wies mit dem Daumen nach den Verwirrungen – »ist ja manches talentvoll. Aber schon da stieg Musil schließlich doch nur in die unmaßgebliche Frage eines Sechzehnjährigen hinab und erwies einer Episode unverständlich viel Ehre, die mit Erwachsenen wenig zu tun hat. In den Vereinigungen aber ist die Freude am Verbohren ins Psychologische . . .«
Mir war, als müsse ich diesen Einwand schon kennen, vielleicht mochte ich ihn irgendwo gelesen haben; es drängte sich mir eine Antwort von früher her auf und ich unterbrach seine Rede. »Der Sechzehnjährige«, meinte ich, »ist eine List. Verhältnismäßig einfaches und darum bildsames Material für die Gestaltung von seelischen Zusammenhängen, die im Erwachsenen durch zuviel andres kompliziert sind, was hier ausgeschaltet bleibt. Ein Zustand hemmungsschwacher Reagibilität. Aber die Darstellung eines Unfertigen, Versuchenden und Versuchten ist natürlich nicht selbst das Problem, sondern bloß Mittel, um das zu gestalten oder anzudeuten, was in diesem Unfertigen unfertig ist. Sie und alle Psychologie in der Kunst ist nur der Wagen, in dem man fährt; wenn Sie von den Absichten dieses Dichters nur die Psychologie sehen, haben Sie also die Landschaft im Wagen gesucht.«
«Oh», meinte der Literaturgeologe, während er mit seinem Hämmerchen ein Stück Gehirn ausbrach, es auf der Hand zermahlte, ernsthaft anblickte und dann wegblies, »dieser Dichter hat manchmal zu wenig Schilderungskraft.« »Nein«, lächelte ich erzürnt, »wenig Schilderungsabsicht!« »Aber, ich bitte Sie«, machte der Geologe, »ich kenne so viele Dichter.«
Ich wollte schweigen. Man kann feste Vorurteile, die die Zeit vom Dichten hat, nicht in einem Einzelfall korrigieren. Wenn Musil mit Strenge Bedürfnisse erfüllt, bevor sie noch erweckt sind, soll er selbst damit fertig werden. Aber da hatte ich ein seltsames Erlebnis. Dieses Gehirn, auf dem wir saßen, schien sich für unser Gespräch interessiert zu haben. Ich hörte es plötzlich leise und mit gezackt pulsierenden Vokalen, woran wohl die Leitung durch meine Wirbelsäule Schuld tragen mußte, mir etwas ins Kreuzbein flüstern. Es strebte mir im Rücken empor und ich mußte es aussprechen. »Es ist«, wiederholte ich, solcherart geschoben, »die Realität, die man schildert, stets nur ein Vorwand. Irgendwann mag ja vielleicht das Erzählen einfach eines starken begriffsarmen Menschen reaktives Nocheinmalbetasten guter und schrecklicher Geister von Erlebnissen gewesen sein, unter deren Erinnerung sein Gedächtnis sich noch krümmte, Zauber des Aussprechens, Wiederholens, Besprechens und dadurch Entkräftens. Aber seit dem Beginn des Romans halten wir nun schon bei einem Begriff des Erzählens, der daher kommt. Und die Entwicklung will, daß die Schilderung der Realität endlich zum dienenden Mittel des begriffsstarken Menschen werde, mit dessen Hilfe er sich an Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen heranschleicht, die allgemein und in Begriffen nicht, sondern nur im Flimmern des Einzelfalls vielleicht: die nicht mit dem vollen rationalen und bürgerlich geschäftsfähigen Menschen, sondern mit weniger konsolidierten, aber darüber hinausragenden Teilen zu erfassen sind. Ich behaupte, daß Musil solche erfaßt – und nicht bloß andeutet oder ahnt – aber man muß wissen, was einem Dichtung soll, bevor man sich darüber streitet, ob gut gedichtet werde.« »Gut«, flüsterte das Gehirn, »gut.«
Aber der Geologe hatte die Antwort bereit. »Nicht die Spekulation, sondern die Lebendigkeit ist die entscheidende Eigenschaft des Dichters. Denken Sie bloß an unsre wirklich großen Erzähler. Sie schildern. Einzig eine kunstvolle Optik formt die Antwort; die Meinung, das Denken des Künstlers drängt sich nirgends zwischen das Geschehen selbst, liegt sozusagen nicht in der Bildebene, sondern wird bloß als deren perspektivischer Fluchtpunkt fühlbar«. Das Gehirn unter mir brummte, daß die Lebendigkeit, in Ehren, schließlich doch nur ein Mittel und nicht der Zweck der Kunst sei. »Man kann«, entäußerte ich das weiter, »einmal das Bedürfnis haben, mehr und Genaueres zu sagen, als mit solchen Mitteln möglich ist. Dann formt man ein neues. Kunst ist ein Mittleres zwischen Begrifflichkeit und Konkretheit. Gewöhnlich erzählt man in Handlungen und die Bedeutungen liegen neblig am Horizont. Oder sie liegen klar, dann waren sie schon mehr als halb bekannt. Kann man da nicht versuchen, ungeduldig einmal mehr den sachlichen Zusammenhang der Gefühle und Gedanken, um die es sich handelt, auszubreiten und nur das, was sich nicht mehr mit Worten allein sagen läßt, durch jenen vibrierenden Dunst fremder Leiber anzudeuten, der über einer Handlung lagert? Ich meine, man hat damit bloß das Verhältnis einer technischen Mischung verkehrt und man müßte das ansehen wie ein Ingenieur. Sie aber, der Sie das Spekulation nennen, überschätzen die Schwierigkeit des Menschenschilderns, – ein paar Fleckchen genügen, je bekanntere, desto besser. Jene Dichter, die auf die komplette Lebendigkeit ihrer Gestalten so großen Wert legen, gleichen jenem etwas umständlichen lieben Gott der Theologen, der den Menschen einen freien Willen verleiht, damit sie ihm den seinen tun. Denn die Personen im Buche werden ja doch nur geschaffen, um Gefühle, Gedanken und andere menschliche Werte in sie hineinzulegen, die man mit der Handlung wieder aus ihnen herauszieht.«
Hier aber entglitt mir das Wort und ging an den gesunden Schriftstellerkollegen über. »Mag dem sein, wie es will«, entschied er, »es ist Theorie, und eine solche theoretisch ausgeklügelte Technik mag zu dem Wesen dieses Schriftstellers passen. Praktisch bestehen bleibt, was ich schon vorhin sagte, daß diese Bücher mit den wahrhaften Kräften unserer Zeit einfach nicht das geringste zu tun haben. Sie wenden sich an einen kleinen Kreis von Hypersensiblen, die keine Realitätsgefühle mehr – nicht einmal perverse – haben, sondern nur literarische Vorstellungen davon. Es handelt sich um eine künstlich ernährte Kunst, die aus Schwäche dürr und dunkel wird und das als Prätention ausspielt. Jawohl«, brüllte er plötzlich, als müsse er einem Gedanken besonderen Respekt erweisen, obwohl wir beide warteten bis er fertig sei, »das zwanzigste Jahrhundert donnert geradezu von Geschehen und dieser Mensch weiß nichts Entscheidendes über die Erscheinungen des Lebens noch über das Leben der Erscheinungen zu berichten! Bloße Mutmaßlichkeit ist die Seele seiner Poesie.« Und er spannte den Bizeps.
Den Augenblick dieser Nebenbeschäftigung benutzte der Geologe, um mit Erfolg nach dem Wort zu haschen. »Was ist denn der Inhalt seiner letzten Erzählungen?« fragte er überzeugend. »Keiner«, antwortete gestillt glücklich der Literat. »Was ereignet sich?« »Nichts!« lächelte der Schriftsteller, mit dem Ausdruck des Wozu-viele-Worte-Machens. »Diese eine Frau wird ihrem Mann untreu, aus irgendeinem konstruierten Einfall heraus, daß dies die Vollendung ihrer Liebe bedeuten müsse, und jene andre schwankt neuropathisch zwischen einem Mann, einem Priester und der Erinnerung an einen Hund, der ihr bald wie der eine, bald wie der andre erscheint. Was geschieht, ist darin schon von Anfang an beschlossen und ist widerwärtig und unbedeutend, ein intellektuelles und Gefühlsgestrüpp, in dem selbst die Personen der Handlung nicht vorwärts kommen.« »Er hat eben über das Leben selbst keine Einfälle mehr«, schloß bis zum Wohlwollen beruhigt der Kollege.
Ich glaubte jetzt schweigen zu müssen. Auch Robert Mayers Abhandlung über die Energie war den Fachgenossen ausgeklügelt und inhaltslos erschienen. Da erneute sich mir aber verstärkt das frühere Erlebnis. Einzelne Worte und kurze Sätze kamen ziemlich heftig zu mir herauf, längere Einflüsterungen bloß waren wie von einer sanften, zähen Masse bedeckt, manchmal unterbrochen und kamen erst an einer späteren Stelle unvermittelt wieder durch. »Lassen Sie ihnen keine Ruhe«, bat es zackig, »es handelt sich nicht um meine Bücher, die vorläufig sein mögen, sondern darum, einer größeren Ungenügsamkeit in menschlichen Angelegenheiten den Weg zu bahnen und das Erzählen vom Kinderfrauenberuf zu emanzipieren!« Ich folgte. Ich hatte ein Gefühl, als sei mein Gehirn verdoppelt und während sein eines Exemplar langsam hinter dem musc.[ulus] longissimus dorsi auf und ab schwebe, schwimme das andere geschwächt und schattenhaft wie der Mond in meinem Schädel. Bisweilen näherten sie sich einander und schienen zu verfließen. Dann verlor ich meinen Körper in einem seltsamen Mittegefühl von Ich und Fremdheit. Ich sprach und die Worte kamen pelzig wie ungereifte Früchte aus mir heraus und schienen erst, wie ihr letzter Buchstabe mich passiert hatte, in der fremden Atmosphäre zu dem zu werden, was sie sagten.
»Die Frage«, begann ich langsam, »ob ein Kunstwerk aus Schwäche seines Urhebers dunkel ist oder aus Schwäche des Lesers diesem dunkel erscheint, ließe sich erproben. Man müßte die geistigen Elemente, aus denen es sich aufbaut, einzeln herauslösen. Die entscheidenden dieser Elemente sind – trotz eines bequemen Vorurteils der Dichter – Gedanken.« Der Kollege fuhr auf. »Gewiß, sie sind niemals rein als solche darzustellen«, gelang mir noch zuvorzukommen, »ich rede keinem Rationalismus das Wort und weiß, daß Kunstwerke nie restlos in angebbare Bedeutungen aufzulösen sind, sondern, wenn man ihren Inhalt beschreibt, geschieht dies wieder nur durch neue Verbindungen des Rationalen mit Arten des Sagens, mit Vorstellungen der Situation und anderen irrationalen Momenten. Aber schließlich heißt Dichten doch erst, über das Leben nachdenken, und dann, es darstellen. Und den menschlichen Inhalt eines Kunstwerks verstehn, heißt, nicht nur dem eklatanten Ideengehalt, sondern auch den absoluten und undefinierbar runden Einfällen der Diktion, dem Schimmer der Gestalten, dem Schweigen und allen Unwiedergeblichkeiten das unendlich gebrochene Vieleck einer Gefühls- und Gedankenkette einzeichnen. Dieser asymptotische Abbau, durch den allein wir die seelischen Kraftstoffe dauernd unserm Geist assimilieren, ist der menschliche Zweck des Kunstwerks, seine Möglichkeit dessen Kriterium. Gelingt dies hier, käme man zu einem Ergebnis, das Sie aber schon vorweggenommen haben, nämlich, daß es nicht Kraftlosigkeit der Synthese ist, was Sie angreifen, sondern daß Sie schon vor deren Beurteilung die einzelnen Gefühle und Gedanken nicht verstehen können, für deren Zusammenfließen zu Schicksalen hier Aufwand getrieben wird.«
Der Schriftsteller schwieg höhnisch und ich fuhr fort: »Starke bloße Gefühlserlebnisse sind fast so unpersönlich wie Empfindungen; das Gefühl an und für sich ist an Qualitäten arm und erst der es erlebt, bringt die Eigenheiten hinein. Die paar Unterschiede, die es in der Art und im Ablauf der Gefühle gibt, sind unbedeutend; was der Dichter an großen Gefühlen schafft, ist ein Ineinandergreifen von Gefühl und Verstand. Es ist das ursprüngliche Erlebnis, innerlich zum Mittel zwischen mehreren andern gemacht; ist das Gefühl, seine intellektuell-emotionale Nachbarschaft und die Verbindungswege. Durch kein anderes Mittel ist das Gefühl des Franz von Assisi – das polypenartige, verzackte, mit tausend Saugnäpfen gewaltig das Weltbild verdrehende, oh meine Brüder ihr Vögelein! – von dem eines verzückten kleinen Pfarrers zu unterscheiden und die letzte Wehmut, an und für sich betrachtet, um den Entschluß Heinrich von Kleists herum ist keine andre als die eines anonymen Selbstmörders.
Hält man sich hierin klar, so verfällt man nicht der Legende von den angeblich großen Gefühlen im Leben, welchen Quell der Erzähler nur zu finden und seine Töpfchen darunter zu stellen hat. Die aber beherrscht unsere Kunst. Man kann sagen, daß dort, wo die Entscheidung zu suchen wäre, in unserer Dichtung immer nur eine Hypothese zu finden ist. Wo uns ein Mensch erschüttert und beeinflußt, geschieht es dadurch, daß sich uns die Gedankengruppen eröffnen, unter denen er seine Erlebnisse zusammenfaßt, und die Gefühle, wie sie in dieser komplizierten wechselwirkenden Synthese eine überraschende Bedeutung gewinnen. Die gälte es darzustellen, wenn es heißt, einen Menschen, mag er gut oder verwerflich sein, zu einem Gewinn für uns zu gestalten. Aber statt ihrer findet man stets nur die naive Voraussetzung ihres Vorhandenseins und erst um diese Annahme herum, die wie ein Hohlgerüst in den Menschen steckenbleibt, wird die Durcharbeitung begonnen. Man schildert, wie man glaubt, daß sich jetzt solche Menschen innerlich und äußerlich im Ablauf der Handlung benehmen werden; wobei dieses psychologische Innerliche im Vergleich mit jener zentralen Persönlichkeitsarbeit, die erst hinter allen Oberflächen von Schmerz, Verworrenheit, Schwäche, Leidenschaft – oft später – beginnt, eigentlich nur ein zweiter Grad von außen ist. Man gibt damit – und das gilt eben von der seelischen Schilderung so sehr wie von der der Handlungen – nur die Konsequenzen dessen, was an Menschen das Wesentliche ist, nicht aber dieses selbst; es bleibt undeterminiert wie alles, wo bloß aus Folgen auf Ursachen geschlossen werden muß. Diese Kunst kommt weder an den Kern der Persönlichkeit, noch an einen wohlgemessenen Eindruck von ihren Schicksalen heran. Sie, die so großen Wert darauf legt, hat strenggenommen keine Handlung, noch seelische Stringenz und steht, als Ganzes betrachtet, unerschöpflich in neuen Wendungen still.«
Ich wachte auf. Die Gefährten schliefen. Das Gehirn unter mir gähnte. »Nehmen Sie es mir nicht übel«, flüsterte es in der Tiefe, »aber ich kann die Augen nicht mehr offen halten.« Bei diesen Worten schrie ich, um die andern aufzurütteln: »In den Vereinigungen sind Schicksale vom Zentralen aus gestaltet. Daß aber zielbewußte Dichtung das Aktuelle nicht wählt, ist, – müssen Sie einsehen – nicht eine Eigenheit der Kunst, sondern eine des Aktuellen, das ja nie aktuell geworden wäre, wenn es nicht schon mit vorkünstlerischen Mitteln ergriffen werden und ergreifen könnte. Das Mutmaßliche ist das Mutmaß –« Aber ich sah die Gefährten nicht mehr und sprach unheimlich ins Leere. Der begonnene Satz glitt kalt und vor der Dunkelheit schaudernd in meine Kehle zurück. Ich traf hastig einige nötige Anstalten und sauste, von der Stille gehetzt, die nächste Spalte hinunter. An den Fasern des Optikus fing ich mich wieder, glitt an ihnen entlang, ließ los, glitschte, wie gehofft, schlüpfernd unter der Sklera durch, bekam im gleichen Augenblick reichlich Luft und ging, hygroskopisch zu meiner vollen Menschlichkeit angeschwollen, befriedigt, wenn auch ein wenig benommen und nachdenklich nach Hause.
In dem Maße wie das von der Zeit der Paulskirche und Bismarcks her beschädigte Ansehen der Professoren im Gemeinschaftsleben gestiegen ist, ist das der Dichter gesunken; heute wo der Professorenverstand die höchste praktische Geltung seit Bestehen der Welt erreicht hat, ist der Dichter bei dem gebräuchlichen Namen Literat angelangt, worunter einer verstanden wird, den unerforschte Gebrechen hindern, ein brauchbarer Journalist zu werden. Die soziale Wichtigkeit dieser Erscheinung ist nicht geringzuschätzen und rechtfertigt wohl, ihr einige Überlegung zu widmen. Daß diese sich auf die Betrachtung der Intellektualität beschränkt und im kleinen wie der Versuch einer erkenntnis-theoretischen Prüfung ausfällt, indem sie den Dichter nur als den in einer bestimmten Weise und auf bestimmtem Gebiete Erkennenden betrachtet, ist gewollte Einschränkung, die sich natürlich nur durch ihr Ergebnis rechtfertigen läßt. Sooft aber hierbei vom Dichter, als einer besonderen Gattung Mensch, die Rede sein wird, sei vorausbemerkt, daß damit nicht nur die gemeint sind, die schreiben; es gehören viele dazu, welche die Tätigkeit scheuen, sie bilden das reaktive Seitenstück zu dem aktiven Teil des Typus.
Man könnte ihn beschreiben als den Menschen, dem die rettungslose Einsamkeit des Ich in der Welt und zwischen den Menschen am stärksten zu Bewußtsein kommt. Als den Empfindlichen, für den nie Recht gesprochen zu werden vermag. Dessen Gemüt auf die imponderabeln Gründe viel mehr reagiert als auf gewichtige. Der die Charaktere verabscheut, mit jener furchtsamen Überlegenheit, die ein Kind vor den ein halbes Menschenalter früher sterbenden Erwachsenen voraus hat. Der noch in der Freundschaft und in der Liebe den Hauch von Antipathie empfindet, der jedes Wesen von den andern fernhält und das schmerzlich-nichtige Geheimnis der Individualität ausmacht. Der selbst seine eigenen Ideale zu hassen vermag, weil sie ihm nicht als die Ziele, sondern als die Verwesungsprodukte seines Idealismus erscheinen. Dies sind nur einzelne Beispiele und Einzelbeispiele. Ihnen allen entspricht aber oder vielmehr liegt zugrunde eine bestimmte Erkenntnishaltung und Erkenntniserfahrung wie auch die dieser entsprechende Objektswelt.
Man versteht das Verhältnis des Dichters zur Welt am besten, wenn man von seinem Gegenteil ausgeht: Das ist der Mensch mit dem festen Punkte a, der rationale Mensch auf ratioïdem Gebiet. Man verzeihe die Scheußlichkeit des Wortversuchs wie auch die ihm zugrunde liegende historische Vertauschung, denn nicht hat sich die Natur nach der Ratio gerichtet, sondern diese nach der Natur; aber ich finde kein Wort, das nicht nur die Methode, sondern auch das Gelingen gebührend ausdrückte, nicht bloß die Unterwerfung, sondern auch die Unterwürfigkeit der Tatsachen, dieses unverdiente Entgegenkommen der Natur in bestimmten Fällen, das in allen Fällen zu verlangen dann freilich eine menschliche Taktlosigkeit war. Dieses ratioïde Gebiet umfaßt – roh umgrenzt – alles wissenschaftlich Systematisierbare, in Gesetze und Regeln Zusammenfaßbare, vor allem also die physische Natur; die moralische aber nur in wenigen Ausnahmefällen des Gelingens. Es ist gekennzeichnet durch eine gewisse Monotonie der Tatsachen, durch das Vorwiegen der Wiederholung, durch eine relative Unabhängigkeit der Tatsachen voneinander, so daß sie sich auch in schon früher ausgebildeten Gruppen von Gesetzen, Regeln und Begriffen gewöhnlich einfügen, in welcher Reihenfolge immer sie entdeckt worden seien. Vor allen Dingen aber schon dadurch, daß sich die Tatsachen auf diesem Gebiet eindeutig beschreiben und vermitteln lassen. Eine Zahl, eine Helligkeit, Farbe, Gewicht, Geschwindigkeit, das sind Vorstellungen, deren subjektiver Anteil ihre objektive, universal übertragbare Bedeutung nicht mindert. (Von einer Tatsache des nicht ratioïden Gebiets dagegen, z. B. dem Inhalt der einfachen Aussage »er wollte es« kann man sich niemals ohne unendliche Zusätze eine hinreichend bestimmte Vorstellung machen.) Man kann sagen, das ratioïde Gebiet ist beherrscht vom Begriff des Festen und der nicht in Betracht kommenden Abweichung; vom Begriff des Festen als einer fictio cum fundamento in re. Zuunterst schwankt auch hier der Boden, die tiefsten Grundlagen der Mathematik sind logisch ungesichert, die Gesetze der Physik gelten nur angenähert, und die Gestirne bewegen sich in einem Koordinatensystem, das nirgends einen Ort hat. Aber man hofft nicht ohne Grund – das alles noch in Ordnung zu bringen, und Archimedes, der vor mehr als 2000 Jahren gesagt hat »gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln«, ist heute noch der Ausdruck für unser hoffnungsfreudiges Gehaben.
Bei diesem Tun ist die geistige Solidarität der Menschheit entstanden und besser gediehen als je unter dem Einfluß eines Glaubens und einer Kirche. Nichts ist daher begreiflicher, als daß die Menschen versuchen, das gleiche Vorgehn auch in den – im weitesten Sinn – moralischen Beziehungen einzuhalten, obgleich es dort täglich schwieriger wird. Auch auf moralischem Gebiet wird heute nach dem Prinzip der Pilotierung vorgegangen und werden in das Unbestimmte die erstarrenden Caissons der Begriffe gesenkt, zwischen denen sich ein Raster von Gesetzen, Regeln und Formeln spannt. Der Charakter, das Recht, die Norm, das Gute, der Imperativ, das Feste in jeder Hinsicht sind solche Pfähle, auf deren Versteintheit gehalten wird, um daran das Netz der Hunderte moralischen Einzelentscheidungen, die jeder Tag fordert, befestigen zu können. Die heute noch herrschende Ethik ist ihrer Methode nach eine statische, mit dem Festen als Grundbegriff. Aber da man auf dem Weg von der Natur zum Geiste gleichsam aus einem starren Mineralienkabinett in ein Treibhaus voll unausgesprochener Bewegung getreten ist, erfordert ihre Anwendung eine sehr komische Technik der Einschränkung und des Widerrufs, deren Kompliziertheit allein schon unsere Moral zum Untergang reif erscheinen läßt. Man denke an das populäre Beispiel der Abwandlung des Gebotes »Du sollst nicht töten«, von Mord über Totschlag, Tötung des Ehebrechers, Duell, Hinrichtung bis zum Krieg, und sucht man die einheitliche rationale Formel dafür, so wird man finden, daß sie einem Sieb gleicht, bei dessen Anwendung die Löcher nicht weniger wichtig sind als das feste Geflecht.
Denn hier hat man längst nicht-ratioïdes Gebiet betreten, für das uns die Moral bloß ein Hauptbeispiel abgibt, wie die Naturwissenschaft eines für das andre Gebiet gewesen ist. War das ratioïde Gebiet das der Herrschaft der »Regel mit Ausnahmen«, so ist das nichtratioïde Gebiet das der Herrschaft der Ausnahmen über die Regel. Vielleicht ist das nur ein gradueller Unterschied, aber jedenfalls ist er so polar, daß er eine vollkommene Umkehrung der Einstellung des Erkennenden verlangt. Die Tatsachen unterwerfen sich nicht auf diesem Gebiet, die Gesetze sind Siebe, die Geschehnisse wiederholen sich nicht, sondern sind unbeschränkt variabel und individuell. Es gelingt mir nicht, dieses Gebiet besser zu kennzeichnen als darauf hinweisend, daß es das Gebiet der Reaktivität des Individuums gegen die Welt und die anderen Individuen ist, das Gebiet der Werte und Bewertungen, das der ethischen und ästhetischen Beziehungen, das Gebiet der Idee. Ein Begriff, ein Urteil sind in hohem Grade unabhängig von der Art ihrer Anwendung und von der Person; eine Idee ist in ihrer Bedeutung in hohem Grade von beiden abhängig, sie hat immer eine nur okkasionell bestimmte Bedeutung und erlischt, wenn man sie aus ihren Umständen loslöst. Ich greife eine beliebige ethische Behauptung heraus: »es gibt keine Meinung, für die man sich opfern und in die Versuchung des Todes begeben darf –« und jeder von den Spuren ethischer Erlebnisse Beschlagene und Behauchte wird wissen, daß man ebenso leicht das Gegenteil behaupten kann und daß es einer langen Abhandlung bedarf, bloß um zu zeigen, in welchem Sinn man es meint, bloß um Erfahrungen in einer Wegweiserrichtung aneinanderzureihen, die dann doch irgendwo sich unübersehbar verästelt, aber doch irgendwie ihren Zweck erfüllt hat. Auf diesem Gebiet ist das Verständnis jedes Urteils, der Sinn jedes Begriffs von einer zarteren Erfahrungshülle umgeben als Äther, von einer persönlichen Willkür und nach Sekunden wechselnden persönlichen Unwillkür. Die Tatsachen dieses Gebiets und darum ihre Beziehungen sind unendlich und unberechenbar.
Dieses ist das Heimatgebiet des Dichters, das Herrschaftsgebiet seiner Vernunft. Während sein Widerpart das Feste sucht und zufrieden ist, wenn er zu seiner Berechnung so viel Gleichungen aufstellen kann, als er Unbekannte vorfindet, ist hier von vornherein der Unbekannten, der Gleichungen und der Lösungsmöglichkeiten kein Ende. Die Aufgabe ist: immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variable zu entdecken, Prototypen von Geschehensabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den inneren Menschen erfinden. Ich hoffe, diese Beispiele sind deutlich genug um jeden Gedanken an »psychologisches« Verstehen, Erfassen udgl. auszuschließen. Psychologie gehört in das ratioïde Gebiet und die Mannigfaltigkeit ihrer Tatsachen ist auch gar nicht unendlich, wie die Existenzmöglichkeit der Psychologie als Erfahrungswissenschaft lehrt. Was unberechenbar mannigfaltig ist, sind nur die seelischen Motive und mit ihnen hat die Psychologie nichts zu tun.
Der Mangel an Erkenntnis, daß es sich überhaupt um zwei ihrer Wesenheit nach verschiedene Gebiete handelt, verschuldet die bürgerliche Betrachtung des Dichters als eines Ausnahmemenschen (von wo es zum Unzurechnungsfähigen nicht weit ist). In Wahrheit ist er nur insofern Ausnahmemensch als er der Mensch ist, der auf die Ausnahmen achtet. Er ist weder der »Rasende«, noch der »Seher«, noch »das Kind«, noch irgendeine Verwachsenheit der Vernunft. Er verwendet auch gar keine andre Art und Fähigkeit des Erkennens als der rationale Mensch. Der bedeutende Mensch ist der, welcher über die größte Tatsachenkenntnis und die größte Ratio zu ihrer Verbindung verfügt: auf dem einen Gebiet wie auf dem anderen. Nur findet der eine die Tatsachen außer sich und der andere in sich, der eine findet sich zusammenschließende Erfahrungsreihen vor und der andere nicht.
Ich bin gewiß nicht sicher, ob es nicht Pedanterie sei, so umständlich auseinanderzulegen, was vielleicht nur Binsenwahrheit ist, und möchte zur Entschuldigung anführen, was hierbei ungesagt blieb, trotzdem es ebenso wichtig: vor allem die Abgrenzung von den sogenannten Geistes- und historischen Wissenschaften, die nicht einfach ist, aber das bisher Gesagte bestätigt. Ob solche Untersuchungen aber als Pedanterie zu bewerten sind oder als unerläßlich, wird sich letzten Endes nur nach der Wichtigkeit richten, die man dem Nachweis zumißt, daß die Struktur der Welt und nicht die seiner Anlagen dem Dichter seine Aufgabe zuweist, daß er eine Sendung hat!
Man hat öfters dem Dichter die Aufgabe zugewiesen, der Sänger, der Verklärer seiner Zeit zu sein und sie, so wie sie ist, in die überglänzte Sphäre der Worte zu ekstasieren; man hat von ihm Triumphpforten für den »guten« Menschen verlangt und Verherrlichung der Ideale; man hat »Gefühl« (das heißt natürlich nur bestimmte Gefühle) von ihm verlangt, und Absage an den kritischen Verstand, der die Welt verkleinert, indem er ihr die Form nimmt, so wie der Steinhügel eines zusammengestürzten Hauses kleiner ist als das einstige Haus. Man hat zuletzt (in der Praxis des Expressionismus, die das gemeinsam hat mit dem alten Neo-Idealismus) von ihm verlangt, daß er die Unendlichkeit des Gegenstandes verwechsele mit der Unendlichkeit der Gegenstandsbeziehungen, wodurch ein ganz falsches metaphysisches Pathos entstand: All das sind Konzessionen an das »Statische«, ihre Forderung widerspricht den Kräften des moralischen Gebiets, ist materialwidrig. Man wird einwenden, daß alles hier Gesagte nur eine rein intellektualistische Auffassung widerspiegelt. Nun, es gibt Dichtungen, die von allem hier als Hauptaufgabe Betrachteten wenig haben und dennoch erschütternde Kunstwerke sind; sie haben ihr schönes Fleisch und das des Homerischen leuchtet durch Jahrtausende bis zu uns. Im Grunde kommt das doch nur von gewissen konstant gebliebenen oder wieder zurückgekehrten geistigen Einstellungen. Die Bewegung der Menschheit, die sich inzwischen vollzogen hat, kam aber von den Variationen. Und es bleibt bloß die Frage, ob der Dichter ein Kind seiner Zeit sein soll oder ein Erzeuger der Zeiten.
Der Interviewer [Oskar Maurus Fontana]: Ihr neuer Roman –? Er heißt?
Musil: Die Zwillingsschwester [später: Der Mann ohne Eigenschaften].
Der Interviewer: Zeit?
Musil: Von 1912 bis 1914. Die Mobilisierung, die Welt und Denken so zerriß, daß sie bis heute nicht geflickt werden konnten, beendet auch den Roman.
Der Interviewer: Was wohl als Symptom gewertet werden darf!
Musil: Gewiß. Wenn ich dabei den Vorbehalt machen darf, keinen historischen Roman geschrieben zu haben. Die reale Erklärung des realen Geschehens interessiert mich nicht. Mein Gedächtnis ist schlecht. Die Tatsachen sind überdies immer vertauschbar. Mich interessiert das geistig Typische, ich möchte geradezu sagen: das Gespenstische des Geschehens.
Der Interviewer: Wo ist der Punkt, wo Sie ansetzen?
Musil: Ich setze voraus: Das Jahr 1918 hätte das 70jährige Regierungsjubiläum Franz Josefs I. und das 35jährige Wilhelms II. gebracht. Aus diesem künftigen Zusammentreffen entwickelt sich ein Wettlauf der beiderseitigen Patrioten, die einander schlagen wollen und die Welt, und im Kladderadatsch von 1914 enden. »Ich habe es nicht gewollt!« Kurz und gut: es entwickelt sich das, was ich »die Parallelaktion« nenne. Die Schwarzgelben haben die »österreichische Idee«, wie Sie sie aus den Kriegserinnerungen kennen: Erlösung Österreichs von Preußen – es soll ein Weltösterreich entstehen nach dem Muster des Zusammenlebens der Völker in der Monarchie – der »Friedenskaiser« an der Spitze. Krönung des Ganzen soll eben das imposante Jubeljahr 1918 bringen. Die Preußen wieder haben die Idee der Macht auf Grund der technischen Vollkommenheit – auch ihr Schlag der Parallelaktion ist für 1918 geplant.
Der Interviewer: Also eine sehr ironisch durchsetzte Materie. Aber ich möchte Sie zuvor nicht danach fragen, sondern lieber: Wie setzen Sie diese Umwelt resp. Umwelten in Bewegung?
Musil: Zuerst, indem ich einen jungen Menschen einführe, der am besten Wissen seiner Zeit, an Mathematik, Physik, Technik geschult ist. Dieser tritt in das Leben von heute – denn nochmals, mein »historischer« Roman soll nichts geben, was nicht auch heute Geltung hätte. Der also sieht zu seinem Erstaunen, daß die Wirklichkeit um mindestens 100 Jahre zurück ist hinter dem, was gedacht wird. Aus diesem Phasenunterschied, der notwendig ist und den ich auch zu begreifen suche, ergibt sich ein Hauptthema: Wie soll sich ein geistiger Mensch zur Realität verhalten? Dem stelle ich eine Gegenfigur gegenüber: den Typus des Mannes größten Formats und oberster Welt. Er verbindet wirtschaftliches Talent und ästhetische Brillanz zu einer sehr merkwürdigen und bezeichnenden Einheit. Nach Österreich kommt er aus Berlin, um sich zu erholen – in Wahrheit aber, um in aller Stille seinem Konzern die bosnischen Erzlager und Holzschlagungen zu sichern. Im Salon der »zweiten Diotima«, der Gattin eines Präsidialisten, des Repräsentanten der altösterreichischen Weltbeglückung stößt er auf diese Frau. Zwischen beiden entwickelt sich nun ein »Seelenroman«, der im Leeren enden muß. Zugleich trifft der junge Mensch anläßlich eines Sterbefalles im Haus seiner toten Eltern seine Zwillingsschwester, die er bisher nicht kannte. Die Zwillingsschwester ist biologisch etwas sehr Seltenes, aber sie lebt in uns allen als geistige Utopie, als manifestierte Idee unserer selbst. Was den meisten nur Sehnsucht bleibt, wird meiner Figur Erfüllung. Und bald leben die beiden ein Leben, das der guten Gemeinschaft einer alten Ehe entspricht. Ich stelle die beiden mitten hinein in den Komplex der »Schmerzen von heute«: Kein Genie, keine Religion, statt »in etwas leben« – »für etwas leben« – lauter Zustände, in denen ich unsere Idealität äonisiere. Aber Bruder und Zwillingsschwester: das Ich und das Nicht-Ich fühlen den inneren Zwiespalt ihrer Gemeinsamkeit, sie zerfallen mit der Welt, fliehen. Aber dieser Versuch, das Erlebnis zu halten, zu fixieren, schlägt fehl. Die Absolutheit ist nicht zu bewahren. Ich schließe daran, die Welt kann nicht ohne das Böse bestehen, es bringt Bewegung in die Welt. Das Gute allein bewirkt Starre. Ich gebe dazu die Parallele mit dem Paar: Diotima und Wirtschaftsheld. Würde er keine Geschäfte machen, könnte er keine Seele haben; nicht wegen des Geldes, das man braucht, um sich eine leisten zu können, sondern weil das Heilige ohne das Unheilige ein regloser Brei ist. Auch diese Zweiheit ist bedingt und notwendig. Die Erzählung läuft dann weiter, indem ich den Kernkomplex: Liebe und Ekstase von der Wahnsinnsseite her aufrolle durch eine von der Erlösungsidee Besessene. Die Geschehnisse spitzen sich zu einem Kampf zwischen dem Alumnen eines neuen Geistes und dem Wirtschaftsästheten zu. Ich schildere da eine große Sitzung, aber keiner von beiden erhält das Geld, das zu vergeben ist, sondern ein General, Vertreter des Kriegsministeriums, das ohne Einladung einen Delegierten entsandte. Das Geld wird für Rüstungen aufgewandt. Was gar nicht so dumm ist, wie man gewöhnlich glaubt, weil alles Gescheite sich gegenseitig aufhebt. Aus Opposition gegen eine Ordnung, in der der Ungeistigste die größten Chancen hat, wird mein junger »Held« Spion. Sein spielerisches Interesse ist daran beteiligt und auch sein Lebensinhalt. Denn das Mittel seiner Spionage ist die Zwillingsschwester. Sie reisen durch Galizien. Er sieht, wie ihr Leben sich verliert und auch seines. Der junge Mensch kommt darauf, daß er zufällig ist, daß er seine Wesentlichkeit erschauen, aber nicht erreichen kann. Der Mensch ist nicht komplett und kann es nicht sein. Gallertartig nimmt er alle Formen an, ohne das Gefühl der Zufälligkeit seiner Existenz zu verlieren. Auch ihn, wie alle Personen meines Romans, enthebt die Mobilisierung der Entscheidung. Daß Krieg wurde, werden mußte, ist die Summe all der widerstrebenden Strömungen und Einflüsse und Bewegungen, die ich zeige.
Der Interviewer: Müssen Sie da nicht noch eine ganz große Anzahl von Hauptpersonen haben, um einen solchen Kreis ziehen zu können?
Musil: Ich komme mit etwa zwanzig Hauptpersonen aus.
Der Interviewer: Und fürchten Sie nicht bei der Struktur Ihres Romans das Essayistische?
Musil: Ich fürchte es schon. Ebendarum habe ich es durch zwei Mittel bekämpft. Zuerst durch eine ironische Grundhaltung, wobei ich Wert darauf lege, daß mir Ironie nicht eine Geste der Überlegenheit ist, sondern eine Form des Kampfes. Zweitens habe ich meiner Meinung nach allem Essayistischen gegenüber ein Gegengewicht in der Herausarbeitung lebendiger Szenen, phantastischer Leidenschaftlichkeit.
Der Interviewer: Trotzdem Ihr Roman seinen Personen nur den Kopfsprung in die Mobilisierung als Ausweg läßt, glaube ich ihn nicht als pessimistisch ansprechen zu sollen?
Musil: Da haben Sie recht. Im Gegenteil. Ich mache mich darin über alle Abendlandsuntergänge und ihre Propheten lustig. Urträume der Menschheit werden in unseren Tagen verwirklicht. Daß sie bei der Verwirklichung nicht mehr ganz das Gesicht der Urträume bewahrt haben – ist das ein Malheur? Wir brauchen auch dafür eine neue Moral. Mit unserer alten kommen wir nicht aus. Mein Roman möchte Material zu einer solchen neuen Moral geben. Er ist Versuch einer Auflösung und Andeutung einer Synthese.
Der Interviewer: Wo ordnen Sie Ihren Roman in die zeitgenössische Epik ein?
Musil: Erlassen Sie mir die Antwort.
[Nach einer Pause:]
Wo ich meinen Roman einordne? Ich möchte Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt geben. Auch durch den Roman. Ich wäre darum dem Publikum sehr dankbar, wenn es weniger meine ästhetischen Qualitäten beachten würde und mehr meinen Willen. Stil ist für mich exakte Herausarbeitung eines Gedankens. Ich meine den Gedanken, auch in der schönsten Form, die mir erreichbar ist.
Es regnet leider! – Kaum klingt, erste Morgenentdeckung nach dem Zurückziehen der Vorhänge, dieses Wort vom Fenster zurück, so verändert sich das ganze Zimmer. Alle Möbel lassen die Ohren hängen. Vielleicht ist es richtiger zu sagen, das ganze Zimmer sinkt, aber es faßt dann wieder Grund; etliche Meter unter dem Zustand Schönwetter steht es wieder fest. Du bist nun bei der Kinderzeit. Es regnet, war Abgesperrtsein von den Gespielen des Gartens und der Straße; vom Ausgang mit Lord, dem Hund; von vielen Abenteuern. Aber kaum hatte sich der Vorhang der tiefen Hoffnungslosigkeit zugezogen, öffnete sich ein zweiter, und da stand nun: Spiel mit der kleinen Eisenbahn, die auf Schienen mit wirklichen Weichen und Signalen lief. Hast du auch eine besessen? Aber dein Großvater hat nicht an der ersten Eisenbahn Europas mitgebaut und war ihr Direktor, bis er sich zur Ruhe setzte. Und der Bruder deines Vaters befehligte nicht ein Artillerieregiment im Banat; darum wird niemals die kleine Kanone, die mit wirklichem Pulver schießen kann und ganz genau einer großen Kanone nachgebildet ist, mitten in deiner Erinnerung stehen, wie auf einem Hügel, dessen Westseite in der Sonne glänzt; sie ist mein Spielzeug mit einemmal wieder, heute wie vor soviel Jahren, aber ich will keineswegs behaupten, daß mir das lieb ist, es ist eher nicht ganz geheuer. Endlich war noch das Spiel mit Würfeln und einer Rennbahn da, die samt ihren Hindernissen auf einen Plan gezeichnet war, während die Pferde und Reiter aus bemaltem Zinnguß bestanden; das war wirklich das gewöhnliche Wettrennspiel der Kinder, aber es hatte eine Besonderheit. Ich setzte nämlich immer auf den Fuchs und auf Sechs. Erstens weil Rot meine Lieblingsfarbe war und ich am sechsten November geboren bin; zweitens weil mein Vater in meiner Kindheit zwar immer ein braunes Pferd ritt, aber mit Leidenschaft von einem Schweißfuchs erzählte, den er in seiner Jugend besessen hatte [vgl. S. 438: Tagebuch – Heft 33 Ziff. 1)], und das ist ein Fuchs, der die dunklen Töne eines Fasanengefieders bekommt, wenn er heißgeritten wird. Ich setzte also immer wieder auf den Fuchs und auf Sechs, aber meine eigentliche Liebe gehörte dem Rappen, den ich immer auf das Fünferfeld stellte, weil Fünf meine Unglückszahl war. Und dies war eben die Besonderheit des Pferdespiels. An solchen Erinnerungen wird es wohl liegen, daß noch heute, in dem Augenblick, wo ich hörte, daß es regne, die Wände des Zimmers eine Veränderung erlitten, obgleich es an meinem Leben längst nicht das geringste mehr ändert, ob es regnet oder nicht.
Bestimmt hängt mit dem Wesen von Regentagen auch die folgende Geschichte zusammen; denn warum würde sie mir sonst einfallen? Ein Vetter meiner Mutter versprach mir einmal eines seiner Reitpferde; nicht der Kürassier, sondern der Dragoner tat es, der mit dem Helm zwei Meter maß, und ich weiß noch heute ganz genau die Stelle, wo das geschah; an einer bestimmten Straßenecke, um die wir nach links bogen, ich neben ihm wie ein Prellstein neben einem wendenden Heuwagen. Da hatte ich ohne jede Einleitung gesagt: Onkel Hermann, schenk mir eines von deinen Pferden! Und er hatte ebenso rasch, ohne jede Überlegung geantwortet: Gern, du mußt nur warten, bis es umgestanden ist! Er hatte sich einen Scherz mit mir erlaubt, aber ich hörte nur die Bereitwilligkeit des Tonfalls und verstand die Einschränkung nicht; viele meiner Onkel waren Reiter oder Jäger und hatten Ausdrücke, deren Bedeutung ich nicht genau kannte, so dachte ich, daß auch Umstehen etwas mit dem Pferde sei, das bald kommen und abgewartet werden müsse, ehe man es mir übergeben könne. Nun wäre es gewiß noch wichtiger zu wissen, wie ich die Enttäuschung aufnahm, aber daran erinnere ich mich nicht mehr, während ich noch gut weiß, wie ich das unerwartete Geschenk aufnahm, das mir wahrhaftig in den Schoß fiel; denn ich glaube, ich hatte mir nicht einmal die Mühe genommen, das Pferd leidenschaftlich zu wünschen, sondern hatte mir nur eben gedacht, ich wolle es einmal versuchen. Aber wie ich das Wort dafür suche, fühle ich, daß ich es niemals finden werde, denn ein solches Glück hat sich kein zweites Mal in meinem Leben ereignet: Man kann nur sagen, es war, wie wenn beide Vorhänge, von denen ich vorhin sprach, zugleich fortgezogen würden, der, welcher in die Wirklichkeit, und der, welcher in uns hineinführt; es entstand eine unbeschreibliche Verwirrung von Schlaf und Wachen, eine Vereinigung von Ich und Pferd, die sich bis in die Eingeweide einfraß. Aber das sind nur schwache Worte für eine aufgehobene Grenze, die gewiß nicht weniger bedeutsam ist, wie die zwischen Wahnsinn und Geradsinn.
Heute rücken höchstens die Zipfel an diesen Vorhängen, aber wie ich nun ans Fenster trete, gewahre ich eine Frau in resedafarbenem Kleid, die auf der menschenverlassenen Straße trachtet, möglichst rasch irgendwohin zu kommen. Mit unweigerlicher Gewißheit taucht das Wort »Tante . . .« in mir auf, und obgleich sein zweiter Teil, der Name, nicht an die Oberfläche kommt, liegt er doch unter dieser wie die Wärme unter einer Decke. Ich hatte eben mehrere solcher Tanten, als ich ein kleiner Junge war, aus der Vetternschaft meiner Mutter, nicht deren Schwestern, sondern weitere Verwandte, aber durch Freundschaft verbunden. Ich meine: unverheiratete Tanten; etwas also, das es heute kaum noch gibt; Mädchen von einigen dreißig oder vierzig Jahren, an deren Körpern etwas nicht stimmte. Ihrer aller Stimmen hatten selbst im Vollklang einen kleinen Riß; ihre Hüften und Brüste, welche durch den Einfluß der Jahre und nicht durch den von Geburten sich verbreitert hatten, verrieten das, man kann nicht sagen, wodurch, aber auf den ersten Blick. Man nahm eine kleine Beimengung von Ungemach in der sich gemächlich zur Ruhe setzenden Natur wahr, oder vielleicht machte diesen Eindruck nur jener der Kleider aus, in denen die Schneiderin alle kleinen Einfälle für die vorgeschrittene weibliche Gefallsucht angebracht hatte, während die Trägerin diese ganze Fasanerie mit blinder Hoffnungslosigkeit auf sich lud. Eine solche Tante eilte unter meinen Augen vorbei; kräftigen Schrittes im Regen und froh, durch das Unwetter allen Zwangs zum Schöntun enthoben zu sein, gab sie ihren Beinen den unbekümmerten Schwung männlicher Anstrengung. Sie war gewiß heiter trotz des Regens, und ich bin sicher, wenn sie zu ihren Anverwandten in die Stube tritt, wird sie und werden alle lachen. Stimmengeschwirr wird ihr entgegenschlagen, man wird sie auf die Schulter oder auf den Rücken klopfen und sagen: Alle Achtung! Bei diesem Wetter! Tante . . . ist ein eiserner Kerl!
Denn darin besteht ja wohl das Hauptwesen der Familie, daß auch der Mensch, der keinen Platz in der Welt hat, der keine Kinder bekam und keine Gedanken, der weder berühmt noch reich, dessen Name nur bei der Todesanzeige der Allgemeinheit vor Augen kommt, daß dieser Mensch doch in der Familie seinen bestimmten Platz hat. Man ist jemand in der Familie. Du ahnst nicht, wie gut Karoline den Chaplin kopieren kann und wie jähzornig Rudi ist. Und wie witzig, wie witzig ist die ganze Familie! Was in der weiten Welt draußen nirgends ein Witz wäre, löst hier schallendes Gelächter aus, und man kann nicht sagen, woran es liegt, und schließlich ist das die Hauptsache beim Witz. Dazu gehört, daß alle Menschen, die nicht zur Familie zählen, weit lächerlicher sind, als sie es wissen. Gott hat sie zur Karikatur geschaffen, und wenn du ein einsamer Mensch bist, ohne Anhang, kannst du ziemlich sicher sein, daß du aus lauter Lächerlichkeit bestehst, die sich auf die Augen der verschiedenen Familien verteilt, die dich betrachten. Freilich kann man auch diese Vorzüge umkehren, wie alles, und sagen: die Familie ist kleiner als eine Kleinstadt. Je inniger sie ist, desto herzloser macht sie für alles, was außerhalb ihrer geschieht, und ist immer grausamer, als es ein Mensch ist, der einsam dem Leid der Welt gegenübersteht. Indem sie den Ruhm in ihren kleinen Kreis bannt und als Familienruhm leicht macht, zieht sie den Ehrgeiz aufs Faulbett. Und weil alles, was in der Familie geschieht, tiefer traurig oder schallender heiter wirkt, als ihm eigentlich zukäme, weil Kein-Witz dort Witz wird und allgemein unwichtiges Leid zu persönlichem Unglück, ist sie die Stammburg aller Geistlosigkeit, welche unser öffentliches Leben durchsetzt. Noch viel mehr könnte man sagen und hat es auch zuweilen gesagt, aber nicht an Tagen wie diesem.
Onkel Nepomuk, genannt Mucki, bringt die Kritik zum Schweigen. Er war ursprünglich Chemiker, und wichtige Erfindungen waren ihm eingefallen, welche die Menschheit ein tüchtiges Stück hätten vorwärtsbringen können. Aber er hatte das aufgegeben und kaufte sich ein Steinmetzgeschäft, wo er nichts als Grabsteine machte; das kam davon, daß er Schopenhauer las, es war eine Laune. Und zum anderen Teil kam es wahrscheinlich auch davon, daß er sich bis zu seinem Tod vor der Zuckerkrankheit fürchtete, und in seinem Zimmer stand eine ganze Glasburg von Destillierkolben und Reagenzgläsern, mit denen er sich allwöchentlich untersuchte. Aber dann starb er an etwas ganz anderem; denn so war er, launenhaft und übrigens auch jähzornig, aber nett, trug immer Anzüge aus braunem englischen Cheviot mit weißen Westen, und hielt das in der Manneslinie sich vererbende schöne englische Rasierzeug Urgroßvaters viel ordentlicher, als ich es heute tue. Und er liebte harmlose Witze, denen aber Frauen nicht zuhören durften, und rief meinen Vater in sein Zimmer, um ihm Spielkarten zu zeigen, die regelrechte Skat- und Tarockkarten waren, solange man sie nicht gegen das Licht hielt . . .!
»Ja, der Mucki!« sagte dann die alte Tante Mary, und sie sagte es mit einer solchen Nachsicht und Bewunderung für den kleinen vierzigjährigen Mucki, daß ich ihre Stimme bis heute nicht vergessen habe. Diese Stimme von Tante Mary war wie mit Mehl bestaubt; geradezu wie wenn man den nackten Arm in ganz feines Mehl taucht, so rauh und so sanft. Es kam davon, daß sie viel schwarzen Kaffee trank und dazu die langen, dünnen, schweren Virginiazigarren rauchte, welche ihre Zähne schon ganz schwarz und klein gemacht hatten. Sah man ihr ins Gesicht, so mochte man auch glauben, daß der Klang ihrer Stimme von den unzähligen kleinen feinen Rissen komme, mit denen ihr Gesicht kreuz und quer überzogen war, wie eine Radierung. Seit wann sie ihren Taufnamen englisch führte, weiß ich nicht; aber sie war schon die jüngere Freundin meiner Großmutter gewesen und die Klavierlehrerin meiner Mutter. Da hatte sie nicht gerade viel Ehre aufgesteckt, wohl aber viel Liebe gewonnen, denn sie fand es ganz natürlich, daß man lieber mit den Buben auf die Bäume klettert, als die Aufgaben zu üben, wenn man nicht für die Musik geboren ist, wie sie sagte. Und solange ich sie kannte, hatte sie sich niemals verändert oder von einer anderen Seite gezeigt, als man es gewöhnt war. Sie trug nur ein Kleid, wenn es auch, wie das wahrscheinlich ist, mehrmals vorhanden war; es war ein enges Futteral aus rilliger schwarzer Seide, das bis zum Boden reichte, keinerlei körperliche Ausschweifungen kannte und mit unzähligen kleinen schwarzen Knöpfen zu schließen war wie die Soutane eines Priesters. Oben kam ein niederer Stehkragen knapp daraus hervor, mit ungebrochenen Ecken, zwischen denen die fleischlose Haut des Halses bei jedem Zug an der Zigarre tätige Rinnen bildete, die engen Ärmel wurden von steifen weißen Stulpen abgeschlossen, und das Dach bestand aus einer rötlich blonden, schön gewellten Perücke, die in der Mitte gescheitelt war. Mit den Jahren wurde in diesem Scheitel ein wenig die Leinwand sichtbar, aber rührender waren noch die beiden Stellen, wo man die greisen Schläfen neben dem üppigen Haar sah, denn in allem übrigen alterte Tante Mary nie.
Ich hätte beinahe vergessen zu sagen, daß ihre Perücke eigentlich eine Männerperücke war, und nun könnte man natürlich glauben, daß sie die maskuline Frauenart vorwegnahm, die jetzt, viele Jahrzehnte später, in Mode kommt; aber dem war doch nicht so. Man könnte auch glauben, daß sie exzentrisch war; sie nährte sich nur mit starkem Tee, schwarzem Kaffee und zwei Tassen Fleischbrühe täglich, und die Leute blieben auf der Straße bloß deshalb nicht hinter ihrer Erscheinung stehen, weil man sie in der kleinen Stadt ohnedies kannte. Jedoch sie taten es auch deshalb nicht, weil man wußte, daß sie nicht im geringsten verrückt, lächerlich oder geistig hilflos war, sondern von einer wohlgebildeten inneren Menschlichkeit, die sich dem Ungewohnten zu Trotz selbst in der Erscheinung ausdrückte. Sie war bloß extravagant, wenn man dieses Wort diesmal mit außerhalb schweifend zu übersetzen erlaubt, sie hätte eine einst bekannte Malerin sein können, die den Zusammenhang mit ihrer Zeit ein wenig verloren hatte, oder eine berühmte Pianistin, die noch mit Liszt befreundet war; aber sie war nie mehr als Klavierlehrerin gewesen, und ich glaube, alles an ihr, der Männerkopf wie die Soutane, kam nur davon her, daß sie als Mädchen für Liszt geschwärmt hatte, aber es konnte auch Byron oder Shelley gewesen sein, und wenn man das recht bedenkt, ist es eine viel merkwürdigere Treueleistung, als wenn man die Uniform der eigenen Ruhmestage in Pension weiter trägt. Tante Mary war nichts weniger als maskulin, und wenn ihr Aussehen sich dem eines Mannes annäherte, so habe ich sie im Verdacht, daß dies eine innige Kleidwerdung ihres romantischen Geistes war.
Denn von allem anderen abzusehen, kenne ich ja ihr großes Weibeserlebnis, wie sie es nannte, das mir als Familienmitglied anvertraut worden ist. Sie war zu seiner Zeit wohl am Ende der Zwanzig gewesen – womit man damals kein junges Mädchen mehr war; aber eine anspruchsvolle Seele wählt lange – und er war Künstler, wenn auch aus schnödem Mißgeschick nur Photograph einer Provinzstadt. Sie heiratete ihn gegen den Willen ihrer Angehörigen. Er machte Schulden wie ein Genie. Er war leidenschaftlich und mußte trinken. Sie entbehrte für ihn. Sie holte ihn aus dem Wirtshaus zu den Göttern zurück. Sie weinte heimlich und zu seinen Knien. Nun besteht aber die ganze Liebe aus nichts als der Fähigkeit oder glücklichen Zufallsmöglichkeit, was man selbst fühlt, auf einen andern zu übertragen; zum Beispiel, hat eine Frau in der Nacht schweres Unglück geträumt, steht auf und umklammert unter Tränen den Geliebten: besitzt sie die Fähigkeit, diese tragische Stimmung schnell auf ihn zu übertragen, so entsteht eine Nacht, so groß wie Byron; sonst aber nur eine recht lästige Schlafstörung. Der Photograph machte der Übertragung von Gefühlen Schwierigkeiten, zu denen sein geniales Aussehen den Anlaß gab. Er verließ Mary nach dreiviertel Jahren mit ihrer bäurischen Magd, die er geschwängert hatte. Er starb bald darauf. Sie nahm sein uneheliches Kind an eigen statt und zog es auf. Sie schnitt eine Locke von dem gewaltigen Haupt und bewahrte sie auf. Sie sprach nie von dieser Zeit. Man kann vom Leben, wenn es gewaltig ist, nicht auch noch fordern, daß es gut sein soll.
Das war nun sicher romantischer Unsinn; aber später, als der Photograph in seiner irdischen Unvollkommenheit schon längst keinen Zauber mehr auf sie ausübte, war gewissermaßen die weiche Substanz dieser Liebe verwest, und die ewige Form der Liebe und Begeisterung blieb übrig; es wirkte in weiterer Ferne dieses Erlebnis kaum anders als ein wirkliches gewaltiges. So aber war Tante Mary überhaupt. Ihr geistiger Inhalt war nicht groß, aber seine seelische Form war so schön. Ihre Gebärde war heroisch, und solche Gebärden sind nur unangenehm, solange sie falsche Inhalte haben; wenn sie ganz leer sind, werden sie wieder wie Flammenspiel und Glaube.
Neben dem Schriftstellerberuf. [Aus der Vorbemerkung der Literarischen Welt:] Wir setzen hier unsere . . . Aufsatzreihe fort, in der Dichter autobiographisch über Berufsarbeiten, ‑experimente und ‑resultate neben ihrem Schriftstellertum sprechen. Es kommen heute zu Worte: Robert Musil, der bedeutende deutsche Erzähler, der u. a. einen Farbkreisel zu optischen Experimenten konstruiert hat, der von den optischen Werkstätten Spindler & Hoyer in Göttingen vertrieben wird . . .
Ihr Wunsch, daß ich der Beschreibung irgendeiner Nebenberufsleistung eine autobiographische Skizze beifügen soll, fällt leider auf unfruchtbaren Boden, denn ich habe von den Zusammenhängen meines Lebens, über die ich eigentlich nie nachgedacht habe, nur eine sehr blasse Vorstellung. Wenn ich mich recht besinne, hat z. B. eine lange blaue Hose ganz entscheidend auf mich eingewirkt. Ich erinnere mich wenigstens keines anderen Grundes, der mir die k. u. k. österreichisch-ungarischen Militärrealschulen so anstrebenswert erscheinen lassen konnte, wie es dieser Teil der für sie vorgeschriebenen Bekleidung getan hat. Aus dem Umstande, daß ich damals elf Jahre alt war und im Elternhause noch kurze Hosen tragen mußte, ebenso wie aus dem Glanz, den es für mich hatte, daß ich mit neunzehn Jahren Leutnant sein würde, läßt sich schließen, daß ich an falschen Vorstellungen vom Leben gelitten habe; aber ob sich darin eine allgemeine Eigenschaft des Schriftstellerberufs oder eine persönliche Eigenschaft ankündigte, läßt sich schwer unterscheiden.
Jedenfalls bin ich dadurch an eine Realschule statt an ein Gymnasium gekommen, und das bestimmte wieder den nächsten Schritt, denn als ich das Militär verließ, war es mir leichter gemacht, an eine Technische Hochschule zu gehen, als an eine Universität. So bin ich Ingenieur geworden, was schon alles mögliche für die innere Entwicklung bedeutet; damals galt der Amerikanismus noch für unkultiviert und bedeutete Opposition. Später mußte ich nicht ohne Mühsal umkehren, um die nötigen Ergänzungen zu suchen. Als ich die Reifeprüfung am Gymnasium nachholte, um mich an der Universität habilitieren zu können, hatte ich schon die Verwirrungen des Zöglings Törleß veröffentlicht, aber im Klassenaufsatz über »Rom, die ewige Stadt« konnte ich nur einen schwachen Mittelplatz erringen, womit ich allerdings immer noch etwas besser abschnitt als in Logik und Psychologie, die an der Universität mein Spezialstudium gebildet hatten.
Als ich mein Universitätsstudium abgeschlossen hatte und schon eine bestimmte Möglichkeit besaß, mich für Philosophie zu habilitieren, verzichtete ich darauf, und dabei endete die Fernwirkung der blauen Hose, um dem Einfluß anderer Entwicklungslinien Platz zu machen, die sich ebenso schön verfolgen lassen würden. Dank ihrer Gegensätze und des großen Einflusses des Zufalls bin ich dann Bibliothekar und Redakteur gewesen, habe Stellungen mit selbständigem Wirkungskreis in zwei verschiedenen Ministerien, denen des Äußeren und des Krieges, innegehabt, war Theaterkritiker, Psychotechniker, Ratgeber in militärpädagogischen Fragen und mancherlei anderes, bis ich schließlich »nichts als Schriftsteller« geblieben bin.
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Den hier abgebildeten Apparat habe ich konstruiert, als ich am Berliner Psychologischen Institut arbeitete. Er ist, so wie er hier abgebildet erscheint, aus Sparsamkeitsgründen etwas weniger stabil ausgeführt worden, als es meiner durchgearbeiteten Zeichnung entsprach. Man verwendet solche Farbkreisel zu allen möglichen psychologischen, physiologischen und physikalischen Zwecken; es sind Apparate, welche man statt der teuren und umständlichen Spektralapparate benützt, wo es nicht auf feinste Genauigkeit ankommt. Ihr Prinzip ist aus der Schule bekannt. Man schiebt zwei farbige Blätter, von denen eines radial aufgeschlitzt ist, so ineinander, daß die Farbflächen in dem gewünschten Größenverhältnis zueinander stehen; dann setzt man den Kreisel in Rotation, und sobald die Umdrehungsgeschwindigkeit groß genug ist, entsteht für das Auge die angestrebte Mischfarbe. Der Nachteil aller älteren Apparate war nun der, daß man sie jedesmal anhalten und neu einstellen mußte, wenn man die Anteile der Grundfarben ändern wollte, um eine neue Farbenmischung darzubieten; und das Wesen des abgebildeten Apparates besteht eben darin, daß man das nicht tun muß, sondern die Änderungen während der Rotation durchführen kann und in der Lage ist, in beständigem Fluß jede Farbe vorzuführen, die sich aus zwei gegebenen Farben überhaupt herstellen läßt.
Das geschieht dadurch, soweit ich aus der Sache noch klug werde, daß auf der von einem Motor angetriebenen Welle zwei hülsenförmige Muffen sitzen. Die eine dieser Hülsen wird von der Welle bei deren Drehung zwangsläufig mitgenommen, ist aber durch eine Nutführung in der Längsrichtung der Welle verschiebbar, ohne daß die Übertragung der Bewegung dadurch eine Störung erleidet. Diese Hülse greift weiterhin durch ein steiles Schraubengewinde in eine zweite Hülse ein, die so gelagert ist, daß sie sich nur drehen, aber nicht horizontal verschieben läßt; und das ergibt zwei Möglichkeiten der Bewegung. Fall 1: Beide Hülsen rotieren zwangsläufig mit der Welle. Fall 2: Beide Hülsen rotieren zwangsläufig mit der Welle, die erste Hülse wird aber dabei durch eine besondere Vorrichtung längs der Welle verschoben. Dann übt sie einen Druck auf die zweite Hülse aus, der durch das Schraubengewinde sich in eine Drehung umsetzt. Die zweite Hülse empfängt dann außer der ihr übermittelten Rotation noch eine Zusatzdrehung, und wenn die eine Farbscheibe auf der Welle selbst sitzt, die zweite auf dieser Hülse, so werden die beiden Farbscheiben gegeneinander verdreht, ohne daß ihre gemeinsame Drehung eine Unterbrechung erleidet.
Man braucht nicht sehr lange gelebt zu haben, so erinnert man sich schon an Erlebnisse, die es nicht mehr gibt.
In meiner Kindheit wiederholte sich oft ein fremdartiger Vorgang: Eine Frau hält einen Fisch fest, der sich in ihrer Hand windet, während sie ihm mit der anderen Hand den Bauch aufschlitzt. In meiner Erinnerung sind das immer große Frauen, in deren Gesicht und ruhigem Busen sich Gutmütigkeit und Duldsamkeit ausdrücken, und sie tragen eine weiße Schürze. Das gibt es heute nicht mehr. Sollte heute überhaupt noch das gleiche in der Küche vorgehen, so würden die Frauen mager sein, mit kurzem Haar, kurzen Röcken und knabenhaften Bewegungen; mit einem Wort, es würde gar nicht mehr das gleiche geschehen. Ihr Gesicht könnte höchstens den Ausdruck eines Knaben haben, der ein Tier quält. Ich glaube nicht, daß ein solches Bild so töricht und unverständlich das Herz zusammen[zu]pressen vermöchte, wie es noch vor zwanzig Jahren geschah.
Ich weiß, daß diese alte Erinnerung heute als ein bezeichnender Ausdruck der kindlichen Sexualität erklärt werden würde, in dem sich das Begehren nach der mütterlichen Frau mit einer Ahnung schlüpfrigen Abscheus und den vernichtenden Gefühlen des Tabus, der Autorität und der eigenen Kleinheit vereint. Aber wenn Schopenhauer die Psychoanalyse schon gekannt hätte, so würde er ihr entgegengehalten haben, daß dieses grausame, aus Insuffizienz und Begehren gemischte knabenhafte Lustgefühl nicht einen frühen, bis auf Spuren wieder verschwindenden Masochismus bedeutet, sondern eine Ahnung von der wahren Gestalt der Liebe. »Überwinde das Geheimnis« – würde er gesagt haben – »und schließe das Buch der Liebe, so wirst du bemerken, daß nichts darin stand, als immer wieder dieses eine Bild. Das Bild, wo du freiwillig Unfreiwilliger dich in der Hand eines ahnungslosen Frauenzimmers windest, das dich festhält und dir ein Stück jener großen, schrecklichen, glücklichen Einbildung ausweidet, von der schon alle ihre Vorgängerinnen gezehrt haben«. Er war ein Liebeshasser, dieser große Schriftsteller, und drückte sich bloß deshalb als Frauenhasser aus, weil er ein Mann war.
Aber wie – wenn das die Natur der Liebe ist – kündigt sie sich der Frau an? Ich habe M. gefragt. Gegen Schopenhauer fand sie nichts einzuwenden. Nichts als die Rollen sind da vertauscht; denn eine Frau, wenn sie in die Jahre der Wehmut und Weisheit kommt, kennt auch das Gefühl, daß sie sich vergeblich in den Armen von Menschen gewunden hat. Aber gegen die Psychoanalyse erwies sich M. sehr voreingenommen. Sie behauptete, die Psychoanalyse sei eine von Männern ausgeschmückte Erfindung. Wenig Frauen haben an ihr tätig mitgearbeitet; die meisten nur in der willenlosen Rolle der Kranken. Sie kann dieses Arsenal von Scheren und geträumten Männern mit zornigen roten Köpfen nicht leiden. Es wäre übrigens nicht unnatürlich, wenn sich diese weiblichen Phantasien als Phantasien der Männer über die weibliche Phantasie herausstellen würden, zumindest sind sie durch das Überwiegen männlicher Vorstellungsarbeit gesiebt, gefiltert und gefärbt.
Wir sind auf dieses Gespräch gekommen, indem wir den Donaukanal entlanggingen, es war in Wien; in der Weihnachtswoche. Schön der festlich ungewisse helle Nebel über dem Wasserspiegel. Schwarzbraune, hochbordige Schiffe, deren Deck bis an den Kai reichte. Große Butten am Ufer, Frauengewimmel, Männer, in Wollwesten, mit fröhlich roten Händen aus den Bottichen fischend. Arme große Fische, nach Luft schnappend; in Händen gewogen; in Küchennetze gesteckt. Man konnte fühlen, wie innig ihre grausilbrigen Leiber, der bogenförmige Widerstand ihrer Muskeln in den prüfenden Händen, ihre Qual zur heiligen Freude des Tages gehörten. M. fand nichts Bemerkenswertes daran, daß Frauen Fische töten; irgendeiner muß nun einmal diese armen Tiere für die Bratpfanne herrichten; vorausgesetzt natürlich, daß man es erlaubt findet, sie zu essen. Sie hatte freundlich gespannte Augen, und alle Frauen, ob mit kurzen oder langen Haaren, mütterlichen oder knabenhaften Körpern, sahen in diesem Augenblick ebenso aus wie sie.
Ich erinnere mich, daß ich das zu ihr bemerkt habe. Eine viel einfachere und gewöhnlichere Schicht menschlicher Interessen lag hier bloß, als es die war, von der wir gesprochen hatten; gewissermaßen soziales Urgestein aus Backen, Essen und Sichfreuen bestehend, zu dem auch das unverkünstelte Sichumarmen gehört. Darüber erst und darüber hin wandern, wechselnd, sich zusammenziehend und zerstreuend, die Komplikationen, die Deutungen, die Hemmungen und Beschleunigungen, Pressungen, Schwierigkeiten, Seligkeiten, Einbildungen und tödlichen Konflikte. Aus einer ungemein einfachen Landschaft steigt Dunst auf, bildet Wolkenburgen von wechselnder Form, die sich langsam verändern, aber eine Weile lang der ganzen Landschaft den Charakter des Bildes geben, das sie bekrönen. Ich weiß nicht, ob das sehr deutlich ist; aber mir fielen gerade diese Worte ein, und ich glaubte, während ich sie aussprach, die Wolkenburgen der Jahrhunderte zu sehen, die sich aus der im Grunde immer gleich bleibenden menschlichen Flachheit erheben.
M. antwortete nicht darauf. Aber nach einer Weile sagte sie außer dem Zusammenhang: »Ich wüßte nur ein einziges Erlebnis, das sich mit deinen Fischköchinnen vergleichen ließe, und das ist ganz anders. Ich war ein kleines Mädchen, als der Vater meines Vaters starb und Papa verreiste. Ich hatte wohl gar nicht begriffen, weshalb er mit einemmal fort war, denn als er zurückkehrte, erzählte er mir erst ausführlich, was vorgefallen war. Ich wußte nicht viel von meinem Großvater, und das Gespräch im Familienzimmer in Mutters Gegenwart machte nur wenig Eindruck. Aber als mein Vater beschreiben wollte, wie Großvater aussah, als er ihn auf dem Totenbett wiederfand, in diesem Augenblick warf Vater die Hände auf den Spielzimmertisch und das Gesicht in die Arme und brach in tiefes Schluchzen aus. Ich hatte noch nie einen Mann weinen gesehn und dachte, daß ich versinke. Dieses zuckende Gesicht meines lieben weinenden Vaters, mit dem plötzlich komisch gewordenen großen Bart, schnitt mir das Herz in zwei Teile!«
»Auch das läßt sich übrigens nicht mehr wiedererleben,« sagten wir mit einemmal beide, »denn die Väter tragen keine Bärte mehr!« Wir lachten oder lächelten darüber, ich weiß es nicht mehr. Aber ich erinnere mich genau, wie es sich anfühlte. Vom Gebirge kam nämlich der Schneewind herüber und wurde über dem Wasser aufgetaut, und aus den Gesichtern kam die Wärme und gefror in dem silberkühlen Nebel; die Welt wurde dadurch so unentschieden; man fühlte, wie im Sprechen das Gesicht in der Luft schmolz oder erstarrte, ohne daß man das recht auseinanderhalten konnte, und dabei gewannen die Worte mehr Bedeutung, als ihnen dem Inhalt nach wahrscheinlich zukommt.
I. Erste Inspiration: Können Sie uns merkwürdige Beispiele nennen, wie Ihnen der erste Einfall zu einem Werke kam?
1. Das ist ganz verschieden. Gemeinsam ist den Einfällen oder auch Plänen das scheinbar unvermittelte Kommen. Ich halte sie in Reserve. Der Plan zu ausgeführten Werken ist gewöhnlich erst durch Verschmelzung mehrerer schon vorhanden gewesener Pläne entstanden. Dieser Prozeß dauert lange an, und oft verschwindet der sogenannte erste Einfall dabei völlig. Das Determinierende während dieser Vorgänge sind sehr allgemeine Absichten; die konkrete Ausstattung der Szenen und Charaktere hängt von ihnen ab.
II. Wie fixieren Sie den ersten Einfall? Haben Sie ein Notizbuch bei sich und denken Sie intensiv an Ihren Plan oder suchen Sie sich eher abzulenken?
2. Ich habe in meinem Arbeitszimmer Notizhefte, bin aber unregelmäßig im Eintragen. Ich beschäftige mich dauernd mit meinem Plan. Muß mich ablenken. Sport, Spaziergänge.
III. Arbeitszeit: Arbeiten Sie zu bestimmten Stunden oder Tageszeiten? Zwingen Sie sich zur Arbeit, auch wenn Sie keine Lust haben? Brechen Sie ab, auch wenn Sie Lust haben, weiterzuarbeiten?
3. 9-12,30; 16-19 Uhr; manchmal auch noch abends. Zwinge mich unter Umständen. Breche nicht ab, außer bei äußerem Zwang. Halte es aber für richtiger, die Arbeit mehr zusammenzudrängen und durch stark ausgefüllte Pausen zu unterbrechen; wünsche, mich in diesem Sinn umzustellen.
IV. Arbeitsmaterial: Haben Sie bestimmte Gewohnheiten, was die Art und Anordnung des Schreibmaterials und der Schreibutensilien betrifft? Können Sie überall arbeiten? Wo am besten?
4. Ich behalte eine einmal getroffene Anordnung des Schreibtisches bei. Kann nur in ruhigen Zimmern arbeiten. Am besten in der eigenen Wohnung.
V. Arbeitshygiene: Enthalten Sie sich während intensiver Arbeit von bestimmten Genüssen und verschaffen Sie sich bestimmte Genüsse (Stimulantien)?
5. Ich trinke reichlich starken Kaffee und rauche sehr viel. Enthalte mich bei der Arbeit ganz des Alkohols.
VI. Machen Sie Brouillons (Entwürfe)? Wie ist die Technik dieser Brouillons?
6. Nein.
VII. Das Manuskript: Schreiben Sie schnell herunter oder langsam und mühevoll? Korrigieren Sie während der Arbeit? Korrigieren Sie nach Fertigstellung? Oder gar nicht?
7. Ich schreibe mittelschnell. Korrigiere einmal eingreifend, ein- bis zweimal polierend. Vorher arbeite ich aber große Partien oder das ganze Buch bis über zwanzigmal um.
VIII. Korrekturfahnen: Ändern Sie noch viel und Wesentliches in den Korrekturfahnen?
8. Nein.
IX. Lesen Sie das fertiggestellte Buch noch einmal? Ärgern Sie sich sehr über (scheinbare oder wirkliche) Unvollkommenheiten? Haben Sie oft Lust, es noch einmal zu schreiben?
9. Nein. Ja. Nein.
Warum ich mitten im zweiten Teil meines Buches, das mit diesem Band ja noch nicht beendet ist, ein Nachwort schreibe und es Vermächtnis nenne, will ich zuerst begründen, und aufs bündigste durch die Mitteilung, daß ich nicht weiß, ob ich das Ganze bringen kann, oder es an einer Stelle werde abbrechen müssen, die nicht sehr weit hinter der jetzt erreichten liegt. Ebenso bündig, wenn auch nicht gleich kurz, läßt sich sagen, warum dem so ist.
Die Ursache bin nicht ich, sondern sie liegt in etwas, das sonst bei der Niederschrift von Vermächtnissen vorhanden zu sein pflegt, dieses aber durch sein Fehlen hervorruft, dem Geld. Ich habe kein Geld. Diese Behauptung hat nun allerdings in der Deutschen Sprache eine Eigentümlichkeit: sie wird gesprochen, so wie sie hier steht, gehört wird sie aber: ich habe zwar im Augenblick wirklich kein Geld, aber irgendwie habe ich doch einen Grundbesitz, Verwandte, die mir helfen können, Werte, die im Augenblick nicht sind, morgen aber wieder sein werden, und ähnliches. Es ist der alte Glaube, daß ein verarmter Reicher immer noch ein reicher Armer sei. Davon ist hier keine Rede. Ich habe im absoluten Sinn kein Geld. Ich bemerke, während ich das niederschreibe, daß diese Tatsache, die ich bisher nach Möglichkeit zu verheimlichen suchte, obwohl sie mich in den letzten Jahren einigemal in die nächste Nähe des Suicide gebracht hat, auch im allgemeinen gar nicht ohne Wichtigkeit ist. Es gibt zwei Wege dazu, einen von oben, einen von unten; sein Geld verloren zu haben, den, nie eines besessen zu haben. Der erste ist der noch aussichtslosere, weil man nicht beizeiten lernt, sich ihm anzupassen, man ist nicht in die neuen Verhältnisse hineingewachsen. Dieser war der meine. Die Reste, die nach der Inflation von dem bescheidenen Vermögen übrigblieben, habe ich bald verbrauchen müssen. Nun unterscheidet man aber auch, soviel ich weiß, zwei Arten kein Geld zu haben. Es wird behauptet, daß reiche Leute niemals Geld hätten, das heißt: nicht frei; das ist eine sehr angenehme Art kein Geld zu haben. Dagegen: Arzt, nächste Woche, geistige Hilfsmittel, Hetzjagd . . . das ist die meine.
Es ist die gleiche Art, wie wenn man an einem Seil über einem Abgrund hängt. Für kühne Menschen vielleicht ein Kitzel; durch zehn Jahre etwas, das alle Nerven zermürbt. Manchmal stürzt man auch schon, dann bleibt man wieder hängen. Es ist vor allem der dauernde Zustand, daß alles von einem einzigen Umstand abhängt. Wenn zum Beispiel heute mein Verleger versagt, so habe ich nicht die Zeit, einen neuen zu finden. Wenn ich krank werde, so habe ich nicht die Zeit dazu und nicht das Geld für den Arzt.
Es gibt viele Menschen, die in einem solchen Fall einwenden: warum hat er es so weit kommen lassen?! Antwort: ich wäre nicht ich, hätte ich es nicht so weit kommen lassen . . .
Daß ich inmitten einer Arbeit, die mit diesem Band ja nicht beendet ist, ein Nachwort schreibe und es Vermächtnis nenne, ist kein Zufall, sondern bedeutet die Erwartung, deren Namen ich ihm geben muß. Denn sollte sich nicht etwas Unerwartetes ereignen, so werde ich nicht imstande sein, dieses Werk fertig zu machen. Es scheint, daß sich viele Leute einbilden, ich sei ein unabhängiger Mann, der sich schon lange das Vergnügen macht, von Zeit zu Zeit ein Buch zu schreiben, das den Kennern entweder gefällt oder sie ärgert, keinesfalls aber in weite Kreise dringe, dem Publikum, der Nation bekannt werde und das eine Wirkung tun darf. Das ist ein Irrtum. Ich bin in Wahrheit, schon seit ich den Mann ohne Eigenschaften zu schreiben begonnen habe, so arm, und durch meine Natur auch so aller Möglichkeiten des Gelderwerbs entblößt, daß ich nur von dem Ertrag meiner Bücher lebe, richtiger gesagt, von den Vorschüssen, die mir mein Verleger in der Hoffnung gewährt, daß sich dieser Ertrag vielleicht doch noch heben könne. Während ich den ersten Band schrieb, hat es sich auf diese Weise . . . mal ereignet, daß ich mich von heute auf morgen so ganz ohne Mittel befunden habe, daß ich auch nur die nächsten vierzehn Tage nicht überleben konnte und nur durch das Eingreifen Dritter gewöhnlich am dreizehnten Tag gerettet wurde. Wenn meine Bücher also spröde sind und nicht um Gunst werben, so ist das nicht der Hochmut eines, der es nicht nötig hat. Es liegt vielmehr etwas darin, das mir verhängt zu sein scheint, von Verhängnis also, und die Unbill des Lebens, von der ich heute sprechen muß, hängt dadurch aufs engste mit der Arbeit zusammen, die ich auf mich genommen habe.
Wenn man von sich selbst Rechenschaft gibt, so sind dreißig Jahre wie ein Jahr; die Zusammenhänge des Planens, der Zusammenhang zwischen Plänen und Ausführung bilden ein dichtes Band in der von Vergeßlichkeit aufgelockerten Zeit. Das Buch, das ich jetzt schreibe, reicht mit seinen Anfängen beinahe, wenn nicht ganz in die Zeit zurück, wo ich mein erstes Buch schrieb. Es hätte mein zweites Buch werden sollen. Ich hatte aber damals das richtige Gefühl, ich könne es noch nicht fertigbringen. Ein Versuch, den ich machte, die Geschichte dreier Personen zu schreiben, in denen Walter, Clarisse und Ulrich deutlich vorgebildet sind [s. Vorarbeit zum Roman (1903) S. 46/56 sowie S. 59/78], endete nach einigen hundert Seiten in nichts. Ich war angeregt zu schreiben, wußte aber nicht, wozu ich es tun sollte. Und das geschah mir, nachdem ich bereits Die Verwirrungen des Zöglings Törless veröffentlicht hatte, ein Buch, das mich noch vor zwei Jahren, als ich die Druckbogen einer Neuausgabe durchsehen mußte, durch die Sicherheit, mit der es erzählt ist, mit Genugtuung erfüllt hat, obwohl ich kaum an mich halten konnte, die vielen unreifen Stellen darin nicht zu verbessern. Damals – ich spreche jetzt wieder von der Zeit, wo ich mich mit dem vermeintlichen zweiten Buch zu tragen begann – hätte auch die Geschichte Tonka hineinkommen sollen, mit der ich inzwischen in dem Novellenband Drei Frauen etwas kurz verfahren bin. Ehe ich mein zweites Buch schrieb (Vereinigungen), hatte ich auch schon mein drittes, das Theaterbuch Die Schwärmer begonnen, und ehe ich dieses veröffentlichte, waren die Drei Frauen dem Material nach nahezu abgeschlossen. Ich bilde mir nicht ein, daß ein solches Übergreifen, eine solche frühe Wahl der Stoffe ungewöhnlich ist. Im Gegenteil, sie dürfte sogar die Regel bilden. Aber was mich persönlich angeht, muß ich sagen, daß es gar keine Stoffwahl war oder eine solche in einem Sinn war, der nicht die Regel ist.
Ich kann zwei Beispiele dazu erzählen. Kurze Zeit ehe ich die Verwirrungen des Zöglings Törless zu schreiben begann, etwa ein Jahr vorher, habe ich diesen »Stoff verschenkt«, d. h. alles, was in der Geschichte an »Milieu«, an »Realität« und »Realismus« vorkam. Ich war damals bekannt mit zwei begabten »naturalistischen« Dichtern, die heute vergessen sind, weil sie beide sehr jung starben. Ihnen erzählte ich das Ganze, das ich mit angesehen (es war in entscheidenden Dingen anders, als ich es später darstellte), und trug ihnen an, damit zu machen, was sie wollten. Ich selbst war damals ganz unbestimmt, ich wußte nicht, was ich wollte, und wußte bloß, was ich nicht wollte, und das war ungefähr alles, was zu jener Zeit für das galt, was man als Schriftsteller tun sollte. Als ich ein Jahr später selbst nach dem Stoff griff, geschah es buchstäblich aus Langeweile. Ich war 22 Jahre alt, trotz meiner Jugend schon Ingenieur und fühlte mich in meinem Beruf unzufrieden. Warum ich mich damals so sehr langweilte, will ich hier nicht erzählen. Stuttgart, wo sich das abspielte, war mir fremd und unfreundlich, ich wollte meinen Beruf aufgeben und Philosophie studieren (was ich bald auch tat), drückte mich von meiner Arbeit, trieb philosophische Studien in meiner Arbeitszeit, und am späten Nachmittag, wenn ich mich nicht mehr aufnahmefähig fühlte, langweilte ich mich. So geschah es, daß ich zu schreiben begann, und der Stoff, der gleich fertig dalag, war eben der der Verwirrungen des Zöglings Törless. Durch ihn und seine, wie man sagte, amoralische Behandlung erregte das Buch Aufsehen, und ich geriet in den Ruf eines »Erzählers«. Nun muß man natürlich erzählen können, wenn man die Erlaubnis beansprucht, es nicht zu wollen, und ich kann es auch leidlich, aber bis zum heutigen Tag kommt das, was ich erzähle, für mich erst in zweiter Linie. Auch damals war die Hauptsache für mich schon eine andere. Das zweite Beispiel, worin sich das in einer geradezu anekdotischen Weise ausdrückt, ist das meines vom Unglück verfolgten Hauptwerks Die Schwärmer, das ich mit Bedacht heute noch ein Theaterstück nenne. Ich werde von ihm noch sprechen; die Eigentümlichkeit, die ich schon jetzt hervorheben muß, ist so untheatermäßig, daß ich besser täte, sie zu verschweigen, wenn sie nicht auch zugleich so undichterisch zu sein schiene, daß es sich vielleicht in Fragen des Theaters wohl um etwas handelt, das überhaupt nicht zu den Vormeinungen stimmt: Von diesem Stück stand beinahe jedes Wort fest, so wie es heute darin steht, aber es gab drei Fassungen, drei verschiedene Handlungen, drei Szenarien, dreierlei Personenkreise, kurz dreierlei theatermäßig ganz verschiedene Stücke, ehe ich mich für eines davon entschied. (Die im wesentlichen doch ein und dasselbe waren.)
Ein drittes Beispiel wäre Die Vollendung der Liebe.
Machen wir hier eine Zwischenbilanz; was hat sich bisher ergeben? Dieser R. M., von dem ich jetzt spreche, als wäre ich nicht er selbst – ich empfand starke Widerstände dagegen, von mir zu erzählen, obgleich ich mich entschließen mußte, es zu tun; aber so fängt es an, mich zu interessieren, da es mir selbst neu ist –, dieser Schriftsteller ist von großer Gleichgültigkeit gegen seine Stoffe. Es gibt Schriftsteller, die von einem Stoff gepackt werden. Sie fühlen: mit diesem oder keinem; es ist wie die Liebe auf den ersten Blick. Das Verhältnis des R. M. zu seinen Stoffen ist ein zögerndes. Er hat mehrere gleichzeitig und behält sie bei sich, nachdem die Stunden der ersten Liebe vorbei sind oder auch ohne daß sie dagewesen sind. Er tauscht Teile von ihnen willkürlich aus. Manche Teilthemen wandern und kommen in keinem Buch zum Ausdruck. Er hält offenbar das Äußere mehr oder weniger für gleichgültig. Und was bedeutet das? Hier kommt man schon auf das Problem, in welchem Verhältnis Inneres und Äußeres der Dichtung zueinander stehen. Es ist eine Binsenwahrheit, daß sie eine untrennbare Einheit bilden, aber wie sie das tun, ist weniger bekannt, ja es ist teilweise ganz unbekannt. Wir werden hier also sehr vorsichtig sein und vor allem wahrscheinlich mehrere verschiedene Arten dieser Synthese unterscheiden müssen. Auf den ersten Blick sieht es, nach dem, was ich erzählt habe, aus, als ob diese Synthese bei mir besonders schwach wäre; und die Wahrheit ist das Gegenteil davon, soweit ich es beurteilen kann. Bediene ich mich des Biographischen, um in dieser grenzenlosen Frage einen Leitfaden zu haben, so muß ich sagen, daß es zu Anfang, als ich den Törless schrieb, das Problem für mich überhaupt nicht gegeben hat, daß es sich aber danach ganz plötzlich und mit stärkster Ausdrücklichkeit meiner bemächtigte. Ich erinnere mich noch an das Prinzip, von dem ich mich bei der Niederschrift des Törless leiten ließ. Ein Prinzip der geraden Linie als der kürzesten Verbindung zwischen zwei Punkten. Keine Bilder gebrauchen, die nicht etwas zum Begriff beitragen, Gedanken – obwohl es mir sehr auf sie ankam – fortlassen, wenn sie sich nicht mühelos in den Gang der Handlung einfügen. Obwohl ich also auf die Handlung keinen Wert legte, gab ich ihr instinktiv große Rechte. Ich unterwarf mich einer improvisierten und wie der Erfolg zeigte, richtigen Vorstellung von dem, was Erzählen sei, und begnügte mich, zu meiner Genugtuung gewisse Ideen »einfließen« zu lassen. Ich hatte noch wenig gelesen und kannte kein Vorbild. Hauptmann, der schon sehr berühmt war, hatte für meinen Geschmack eine zu geringe geistige Kapazität, was an Hauptmann bedeutend war, verstand ich damals ebensowenig, wie man es etwa heute versteht, und was an ihm gerühmt wurde, seine geistige Tiefe, war ein lächerlicher Irrtum. Hamsum, der in seinen Frühwerken große geistige Erörterungen bot, legte sie ein, wie man in der alten Oper die Arien in die Handlung einlegte, und nicht viel anders verfuhr d'Annunzio. Stendhal verstand ich nicht und Flaubert kannte ich nicht. Aber ich kannte Dostojewski, und da ich ihn heiß liebte (ohne übrigens das Bedürfnis zu haben, ihn ganz kennenzulernen: sonderbar sind junge Leute oder vielleicht Leute überhaupt!), kann ich heute an meinem Verhältnis zu ihm am deutlichsten meinen damaligen Standort und Zustand ermessen: Er kam mir geistig zu ungenau vor: Ich hatte den Eindruck, seine Problembehandlung sei nicht eindeutig genug! Es kam mir zu wenig heraus! Während ich mir selbst also in richtiger Einschätzung meiner geringen Kraft mein Ziel sehr eng steckte, schweiften irgendwie meine Absichten weit darüber hinaus, und ich selbst verstehe erst in dem Augenblick, wo ich das niederschreibe, den merkwürdigen nächsten Schritt, den ich dann tat.
Ich hoffe, man mißversteht diese Art der Überlegung nicht. Ein ehrgeiziger junger Mann rechnet immer mit mehr oder minder großer Naivität mit seinen »Vorgängern« ab (seither habe ich auch schon genug junge Leute getroffen, die es mit mir taten), und es ist ein Zeichen, in welche Richtung ihn seine Unbefangenheit dabei führt. Die meine will ich nun gleich an dem erwähnten nächsten Schritt weiterbeschreiben. Also ich war mit Ideen beschäftigt, die schon zum Umkreis der Schwärmer und des Mann ohne Eigenschaften gehörten, als ich eine Aufforderung erhielt, eine kleine Erzählung für eine literarische Zeitschrift zu schreiben. Ich tat es ziemlich rasch, und es entstand die Geschichte Das verzauberte Haus, die [1908] im Hyperion erschienen ist. (Wie und warum gerade diese, mag eine Besonderheit haben, und ich werde vielleicht noch davon sprechen.) Ich habe dann wohl noch eine Aufforderung erhalten, und aus irgendwelchen Gründen wollte ich nun aus dem gleichen Stoffkreis der Eifersucht (wobei die sexuelle Eifersucht nur den Ansatz bildete, das, was mich beschäftigte, aber die Unsicherheit des Menschen über den Wert oder vielleicht auch die wahre Natur seiner selbst und des ihm nächsten Menschen war) rasch eine Geschichte schreiben, ja ich hatte sogar die Absicht, diese Geschichte als ein literarisches Exerzitium zu behandeln, auch als eine Erholung und geistige Auflockerung für mich selbst, und wollte sie ungefähr in der Art des Maupassant behandeln, den ich kaum kannte, von dem ich mir aber ungefähr die Vorstellungen »leicht« und »zynisch« gebildet hatte. Nun wird es für den, der die Vollendung der Liebe gelesen hat, wohl kaum einen unverständlicheren Gegensatz als den geben, der zwischen dieser Absicht und ihrer Ausführung bestand. Er ist ungefähr ebenso groß wie der zwischen dem Vorsatz, schnell eine kleine Geschichte zu schreiben, und dem Ergebnis, daß ich an zwei Novellen 2½ Jahre, und man kann sagen: beinahe Tag und Nacht, gearbeitet habe. Ich habe mich seelisch beinahe für sie zugrunde gerichtet, denn es streift an Monomanie, solche Energie an eine schließlich doch wenig fruchtbare Aufgabe zu wenden (denn eine Novelle läßt sich intensiver behandeln, aber quantitativ ist ihr Ertrag gering), und ich habe das immer gewußt, aber ich wollte nicht ablassen. Hier liegt also entweder eine persönliche Narretei vor oder eine Episode von mehr als persönlicher Wichtigkeit . . .
Es muß ein Bedürfnis nach nachgelassenen Schriften geben, denn sonst gäbe es diese Schriften nicht in solcher Anzahl; aber mir ist es, weiß Gott, fremd. Die Herausgabe von Nachlassen ist mir selten anders als eine übelangebrachte Ehrfurcht erschienen; wenn es überhaupt Ehrfurcht ist, und nicht unter deren Vorwand Geschäftigkeit und Geschäftsgeist und Ausbeutung der verzeihlichen Schwäche, die das Publikum für einen Dichter hat, der es zum letzten Mal in Anspruch nimmt.
Nicht umsonst hat schon das Wort Nachlaß einen verdächtigen Doppelgänger in der Bedeutung, etwas billiger zu geben. Auch der Nachlaß des Künstlers enthält das Unfertige und das Ungeratene, das Noch nicht – und das Nichtgebilligte. Außerdem haftet ihm die peinliche Berührung von Gemächern an, die nach dem Ableben des Besitzers der öffentlichen Besichtigung freigegeben werden. Ich weiß freilich, daß es auch wunderbare und überraschende Nachlässe gibt . . .
Man muß genauer sein, wenn man schon darüber reden will. Es gibt fünf Arten Nachlässe. Erstens, die blühenden. Der Lebende kann gerade in einer Wandlung gewesen sein; oder er war in seinem Werk von ästhetischen Repräsentationspflichten behindert, die er sich selbst auferlegt hat, und ist dort, wo er sich unbefangen gibt, quellenreicher, als man dachte. In diese Gruppe gehören als geheimes Anstück auch die nicht zu veröffentlichenden Nachlässe und die im voraus erst zur posthumen Veröffentlichung bestimmten Urteile über Zeitgenossen und Zeiterscheinungen. Eine zweite Gruppe bilden die Nachlässe, durch die ein Autor überhaupt erst nachträglich ersteht; ich glaube, Büchner wäre ein großes Beispiel dafür, aber auch Novalis. Eine dritte Gruppe bilden die lehrreichen. Unfertige Zustände, wie der prachtvoll angelegte Lucien Leuwen Stendhals, der doch noch nirgends die letzte Farbe hat; Abwandlungen wie die Schriften Nietzsches bei schon deutlicher Krankheit gehören dazu: auch Vorstudien und ähnliches. Das erlaubt ungemein wichtige Schlüsse, die allerdings meist auf sich warten lassen, gehört aber eher in die ästhetische Prosektur als hinter offene Türen. Die letzte Gruppe der Nachlässe bilden dann erst die überflüssigen.
Zu diesen wird jedenfalls der meine gehören.
Was immer sich sonst noch darüber sagen ließe, ich habe beschlossen, die Herausgabe meines Nachlasses zu verhindern, ehe es soweit ist, daß ich das nicht mehr tun kann; als ein Mittel dazu fange ich an, ihn selbst herauszugeben.
Man mag billig einwenden, ob ich denn so sicher sei, daß man es mit mir überhaupt versuchen werde. Darauf vermag ich aber Rede zu stehn, denn es wird ganz davon abhängen, wann ich die Ehre haben werde, kein gegenwärtiger Mensch mehr zu sein. Wäre ich ihrer z. B. mit 26 Jahren teilhaftig geworden, ich hätte einen Nachlaß bekommen, selbst wenn es nicht anders gegangen wäre, als auf die Schulaufsätze zu greifen! Das waren Zeiten der Literatur, wo es den Toten besser erging als heute den Lebenden!
In vielen dazwischenliegenden Jahren hätte ich die deutsche Literatur dagegen höchstens mit dem Abgangszeugnis verlassen: Betragen ungewöhnlich; Begabung zart, wenn auch zu Ausschreitungen neigend (noch heute werde ich in einem vielbenützten österreichischen Schullehrbuch als »perverser« Schriftsteller angeführt); hat, nach überschätztem Anfang, mäßige Beachtung in einem Kreis von Liebhabern des Besonderlichen gefunden. Das wäre noch freundlich gewesen.
Ich habe mir vorgenommen, das zum allgemeinen Nutzen heute etwas eingehender noch auszuführen.
Mein erster Erfolg ist mit meiner ersten Veröffentlichung Die Verwirrungen des Zöglings Törleß zusammengetroffen. Er hat sogar bis heute angedauert, aber in jenen Jahren galt der kleine Roman, den ich geschrieben hatte, dreifach: als das starke Wort einer neuen »Generation«, als ein Schlüsselwerk des Erziehungswesens, und als Probestück eines jungen Dichters, in den man die größten Erwartungen setzte. Ich bekam kritische Zustimmung und eifrige Anfragen aus aller Welt.
Abgesehen von dem Gewinn der Freundschaft einiger bedeutender Kritiker, schien dieser Erfolg aus einer Reihe von Mißverständnissen zu bestehen. Man rühmte an mir die »Psychologie« und den »Realismus«, und viele glaubten ein »Erlebnis-«, wenn nicht gar »Bekenntnisbuch« vor sich zu haben; namentlich Pädagogen wollten von mir »Genaueres« erfahren, worin ich sie in meinen Antworten dann nach Kräften grimmig enttäuschte.
Die Wahrheit war, daß ich auf den vorgezeigten »Stoff« selbst gar keinen Wert legte. Natürlich hatte ich ähnliches mit eignen Augen einmal gesehn, aber es bewegte mich persönlich so wenig, daß ich es zwei Jahre, bevor ich es selbst benutzte, einem anderen jungen Schriftsteller erzählte, dessen krasser Realismus mir für diesen Stoff viel geeigneter erschien, und ihm fest versicherte, daß dies ein Stoff für ihn wäre, aber nicht für mich. (Ich selbst versuchte mich damals in einer Art lyrischer Meditationen.) Soviel über das »Erlebnis- und Bekenntnisbuch«. Warum ich dann (1902/1903) doch den Stoff selbst anpackte, weiß ich nicht mehr zu sagen; ich glaube, es geschah in einer besonderen Lebenslage und auch weil ich mich, nachdem ich für meine Gedankenpoesie keinen Verleger gefunden hatte, etwas fester auf die Erde stellen wollte.
Länger haftete mir der Ruf des Psychologen an. Ich habe mich von Anfang an gegen ihn gewehrt (und konnte es tun, weil ich wirklich Psychologie studiert hatte und damals sogar auf ein Haar an einer Universität für sie habilitiert worden wäre). Denn was an einer Dichtung für Psychologie gilt, ist etwas anderes als Psychologie, so wie eben Dichtung etwas anderes als Wissenschaft ist, und die unterschiedslose Anwendung des Worts hat wie jede wichtige Aequivokation schon verwirrende Folgen gehabt. Ich glaube, die Unterscheidung wird sogar heute noch nicht genug beachtet und z. B. fast jedes Mal außer acht gelassen, wenn sich Forscher auf Dichter berufen, als sollten ihnen diese das Material oder eine fertige Vorstufe liefern.
Die Unterscheidung selbst ist einfach: Dichtung vermittelt nicht Wissen und Erkenntnis.
Aber: Dichtung benutzt Wissen und Erkenntnis. Und zwar von der inneren Welt natürlich genau so wie von der äußeren.
Wie sie sich verflechten, ergänzen und teilen sollen; es ginge nicht nur über den Rahmen von Bemerkungen hinaus, sondern es kann auch noch gar nicht als aufgeklärt gelten. Doch was mich selbst betrifft, will ich auf zwei Folgerungen aufmerksam machen:
Ich habe die Antwort mit Anstrengung zu suchen begonnen, als ich mein zweites Buch schrieb, die zwei Novellen Vereinigungen, und vornehmlich die erste. Das Anekdotische dieses Falls ist so: Ich war von einer literarischen Zeitschrift aufgefordert worden, eine Erzählung zu veröffentlichen. Meine Absicht war, mir schnell und ohne viel Bemühen eine Gelenkprobe zu geben und die übliche galante Erzählung ein wenig im Sinn irgendwelcher Gedanken, die mich gerade beschäftigten, zu spiritualisieren. Das sollte mich 8 bis 14 Tage kosten.
Was daraus wurde, war ein 2½ jähriges verzweifeltes Arbeiten, währenddessen ich mir zu nichts anderem Zeit gönnte.
Verschärft dadurch, daß der Effekt – eine kleine Erzählung, deren Rahmen keine Ellbogenfreiheit gewährte – unmöglich dem Arbeitsaufwand entsprechen konnte.
Was schließlich entstand: Eine sorgfältig ausgeführte Schrift, die unter dem Vergrößerungsglas (aufmerksamer, bedachtsamer, jedes Wort prüfender Aufnahme) das Mehrfache ihres scheinbaren Inhaltes enthielt. Ich habe nichts getan, um das zu erleichtern. Im Gegenteil, selbst die Interpunktion gliederte den Inhalt nicht für den Leser, sondern nur für das gewählte Gesetz.
Für mich entstand ein großer Mißerfolg daraus.
Wieder zeigt sich, was so oft geschieht, daß Erstlingswerke Blender sind: schrieben die, denen ich schon anfangs nicht gefallen hatte. Schrieben, die ein Erlebnisbuch begrüßt hatten. Schrieben aber auch die meisten meiner Gönner. Mir sind im ganzen Leben sehr wenig Menschen begegnet, die gespürt hatten, was dieses Buch sein sollte und gewiß z. T. auch ist.
Es ist das einzige meiner Bücher, worin ich heute noch manchmal lese. Ich ertrage keine große Strecke. Aber ein bis zwei Seiten nehme ich jederzeit – abgesehen von bestimmten schmerzlichen Ausdrucksmängeln – gern wieder in mich auf.
Was sich in diesen 2½ Jahren vollzogen hatte, bedeutete zweierlei: 1) Die deutliche Wendung: denn schon im Törleß war es angedeutet – vom Realismus zur Wahrheit 2) Von der Psychologie, die ein realistisches Element ist, zu etwas ihr Ähnlichem und doch von ihr gründlich Verschiedenem, dem ich zunächst keinen Namen geben will.
ad 1): Was der Realismus unter Wahrheit verstanden hat, war: Aufrichtigkeit, Mut, Schilderung der Dinge, wie sie wirklich sind, ohne sie zu beschönigen. Das ist gut, das sollte unvergeßlich sein, aber das ist zu wenig.
Es ist klar, daß Wahrheit nicht sowohl ein relativer Begriff in die Breite ist, da nebeneinander das Verschiedenste für wahr gilt, als auch in die Tiefe relativ ist. Die Wahrheit des Realismus ist die einer getreuen Schilderung der Oberfläche gewesen. Die Gliederung in die Tiefe führt dagegen auf die Frage, wie sich Dichtung und Wahrheit überhaupt verträgt, welches wunderbare Zusammenleben sie mit ihr führt.
Wozu benutzt Dichtung Erkenntnis? Inwieweit ist sie an die Wahrheit gebunden? Was ist sie, wenn weder Photographie noch Phantasie, Spiel, Schein? Ohne Zweifel wäre es schwer, wenn nicht unmöglich, darauf eine ausreichende Antwort zu geben. (Eine Reihe von Fragen, jede interessant, keine endgültig zu beantworten.) Ich habe einigemal Skizzen dazu veröffentlicht, aber sie erheben nicht den Anspruch zu genügen. Wahrscheinlich bestünden da zuerst sogar mehrere Theorien gleichberechtigt nebeneinander.
Ich weiß nicht einmal, ob ich das, wofür ich mich persönlich entschied, richtig wiedergebe, wenn ich sage: Die Dichtung hat nicht die Aufgabe, das zu schildern, was ist, sondern das, was sein soll; oder das, was sein könnte, als eine Teillösung dessen, was sein soll.
Mit anderen Worten: Dichtung gibt Sinnbilder. Sie ist Sinngebung. Sie ist Ausdeutung des Lebens. Die Realität ist für sie Material. (Aber: Sie gibt auch Vorbilder. Und sie macht Teilvorschläge.)
Zwei Fragen knüpfen sich daran. a) Was ist Sinn? b) Tut sie wirklich nichts sonst?
Zu a) Sinnvolles Erfassen ist etwas anderes als nüchternes Verstehen. Es ist nicht nur Verstandes-, sondern in erster Linie Gefühlsordnung. Sinngebung ist jedenfalls auch innere Lebensgebung. Ohne Frage, sie ist – was ja auch schon ausgesprochen wurde – mit dem Religiösen verwandt; sie ist ein religiöses Unterfangen ohne Dogmatik, eine empiristische Religiosität. Eine fallweise.
Die Lösung solcher Fragen liegt am Ende unendlicher Prozesse.
Aber wenn sie auch so gut wie unmöglich ist, der einzelne Schritt erscheint uns viel bestimmter. Der Unterschied, etwas sinnvoll und es sinnarm zu erleben, ist bekannt. Es muß nicht der letzte Sinn sein. Und so ist es auch in der Kunst.
Wir erfassen etwas nicht gedankenlos und unbeteiligt oder mit konventioneller Beteiligung, sondern wir werden aufgerührt, werden erweckt (d. h. in ganz neue Gefühls- und Gedankenzustände geworfen), wir lernen uns selbst gegenüber und dem Leben gegenüber um.
Ich habe Dichtung einmal eine Lebenslehre in Beispielen genannt. Exempla docent. Das ist zuviel. Sie gibt die Fragmente einer Lebenslehre.
Zur Dichtung gehört wesentlich das, was man nicht weiß; die Ehrfurcht davor. Eine fertige Weltanschauung verträgt keine Dichtung. Sie muß für sie ein KPQ errichten. Eine Speichelleckerabteilung.
Das gilt für alle Arten vermeintlich fertiger Weltanschauungen.
Dichtung ist lebendiges Ethos. Gewöhnlich eine Schilderung moralischer Ausnahmen. Aber von Zeit zu Zeit auch eine Zusammenfassung der Ausnahmenmoral.
Hier knüpfen alle die Fragen an: Dichtung und vollkommener Staat. Dichtung und Handeln. Dichtung und Politik. Die Ausnahmestellung und die Wichtigkeit des Dichters.
Wirkliche Dichtung unterscheidet sich von alltäglicher sofort anders: Dichte der Beziehungen (Inbeziehungen), Reinheit der Gestalt (Strenge der Form), Vermeidung alles Überflüssigen (kürzester Weg), Größe der Sprache (an einem Wort läßt sich oft der Dichter sofort fühlen); wie wir an einer eintretenden Person sofort bemerken, daß sie eine Persönlichkeit ist, fühlen wir es auf der ersten Seite eines Buchs; dann aber auch Eigenschaften wie: Erzählerischkeit, Spannen, Vorgänge, fesselndes Milieu usw.
Man faßt es als die formale Gruppe der Eigenschaften zusammen. Über das Verhältnis von Form und Inhalt s. Literat und Literatur [Essays, S. 698–718]. Zum Teil ist das einfach historisch-handwerklich. Man muß es können. Die Frage des: warum, entscheidet da nicht. Warum gibt es überhaupt Dichtung (und nicht bloß Essay)?
Das war der in den Vereinigungen angebahnte Weg.
Es bleibt die Frage nachzuholen, wie sich das im Verhältnis der Dichtung zur Psychologie ausdrückt. Ich hatte den Weg zu beschreiten, der von einer innigsten Zuneigung beinahe bloß binnen 24 Stunden zur Untreue führt. Es sind psychologisch hundert und tausend Wege. Es hat keinen Wert einen von ihnen zu schildern. Die Psychologie zeigt uns vielleicht einen oder den anderen von besonderer Bedeutung. Typologie des Ehebruchs. Doch ist das nicht Sache des Dichters. Es ist eine Vernunftfrage.
Persönlich bestimmend war, daß ich von Beginn an im Problem des Ehebruchs das andere des Selbstverrats gemeint hatte. Das Verhältnis des Menschen zu seinen Idealen.
Wie immer aber: Ich war nicht determiniert. Ich hatte soviel Ursache einen bestimmten Ablauf wie viele andere zu beschreiben.
Da bildete sich in mir die Entscheidung, den »maximal belasteten Weg« zu wählen (den Weg der kleinsten Schritte), den Weg des allmählichsten, unmerklichsten Übergangs.
Das hat einen moralischen Wert: die Demonstration des moralischen Spektrums mit den stetigen Übergängen von etwas zu seinem Gegenteil.
Es kam aber hinzu und entschied ein anderes Prinzip. Ich habe es das der »motivierten Schritte« genannt. Seine Regel ist: Lasse nichts geschehen (oder: tue nichts), was nicht seelisch von Wert ist. D. h. auch: Tue nichts Kausales, tue nichts Mechanisches.
Ich will nicht behaupten, daß dies ein gutes Prinzip ist, nicht einmal ein durchführbares und ein eindeutiges. Ich bin jetzt erst dabei (Mann ohne Eigenschaften) dieses Prinzip in seinen Beziehungen zur Welt näher zu untersuchen.
Aber es ist ein heroisches Prinzip (damals – nicht heute! – gewähltes Wort). Ein prometheisches. Eines das die Kampfkräfte der Seele vom Unfug ablöst und dem Wesentlichen dienstbar macht. Ein – wie mir schien – weiterführend-klassisches. Es ist das Prinzip der Größe.
Es bestimmt nicht, was man tun soll, sondern wie man es tun soll. (Zu diesem moralischen Grundsatz s. wieder Mann ohne Eigenschaften.)
Aber es ist nichts weniger als eindeutig. Es ist bestimmend, aber die ergänzenden Bestimmungen bis zur eindeutigen Wahl dessen, was niederzuschreiben ist, erfolgen aus der Einengung durch den gewählten Stoff nicht.
In der Tat sind die Vereinigungen (Claudine) ein aufs genaueste ausgeführtes Vorerleben ohne tote Strecke. Ein Erleben, das scheinbar durch den leisesten Hauch von außen bewegt wird, im Entscheid aber von außen ganz unbeweglich ist.
Die Schwäche war, daß in diesem Nichtgeschehen, das eine immer länger werdende Motorkette umspannen müßte, das Äußere überdehnt wurde, etwas allzu Leises entstand, scheinbar eine Absonderlichkeit, scheinbar eine ästhetische Abgeschlossenheit, so daß niemand den festen Grund bemerken wollte.
Die Schwärmer sind als eine verbesserte Wiederholung des gleichen entstanden. Auch zeitlich schon während der Arbeit an den Vereinigungen beginnend. Was vermieden werden sollte, war das Unzüchtige. Nichts konnte sich besser dazu eignen als der Zwang, für eine Bühne zu arbeiten.
Neu kam hinzu die Problematik der Bühne. Man kann sagen, die Bühne hat sogar eine eigene Scheinkausalität entwickelt, die sich immerdar wiederholt.
Es ist ein abgemachtes Glockenspiel mit den gleichen Glocken und Klöppeln.