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Der Major Eichen war mit seiner Tochter wieder in Coblenz angelangt, wo er ein schönes und geschmackvoll gebautes Haus, das er nach seinem eignen Plan hatte aufführen lassen, bewohnte. Sein natürlicher Trübsinn, für den er von der Reise Zerstreuung gehofft, schien nach derselben nur noch drückender auf ihm zu lasten und er begann wieder nach wie vor seine Tage in einsamer Zurückgezogenheit hinzubringen, in der er sich nur mit Lectüre und mit seiner eignen Schwermuth beschäftigte und sonst an allen geselligen Freuden und Verbindungen der großen Welt keinen Antheil nahm. –
Auch Rosalie schien nicht mehr das heitre und offene Mädchen, wie sie es vor dieser Reise gewesen war. Das liebliche Kind hatte ein Geheimniß in sich zu verbergen, das ihr schwer wurde, vor dem Vater, dem sie sich in Freud' und Leid immer ganz mitzutheilen gewohnt war, zurückzuhalten, und dies Geheimniß verrieth sich in ihrem verwandelten Wesen, in ihren Augen und in dem plötzlichen Erröthen ihrer Wangen nur allzugewiß, so daß es nur von dem Major, der bei seinem eignen immer mehr in Melancholie versinkenden Gemüthszustand keine Aufmerksamkeit auf seine Tochter hatte, unbemerkt blieb.
Rosalie fing an, sich von der Gesellschaft ihrer jungen Freundinnen und Gespielinnen zurückzuziehn, und diese wußten sich keinen andern Grund dafür anzugeben, als den einfachen und der Spottsucht nahe liegenden, daß das verstohlen seufzende und schmachtende Mädchen verliebt sein müsse. Aber das Geheimniß bestand nicht allein darin, sondern es hatte noch einen bedeutenderen Umfang.
Narciß befand sich nämlich seit einiger Zeit in Coblenz und lebte dort in einer entlegenen Wohnung verborgen und eingezogen, ohne sich außer der Geliebten noch irgend Jemand entdeckt zu haben. Dem Vater Rosaliens sich zu zeigen, hatte er noch nicht wieder gewagt, und er hoffte von Tag zu Tag, daß sich von selbst eine günstige Veranlassung darbieten werde, damit er, woran ihm so viel gelegen war, den Major von seiner tiefgefühlten Reue und Buße, von dem ernstlichsten Entschluß, durch eine völlige Umwandlung seiner selbst alles Vorgefallene versöhnen zu wollen, überzeugen könne. Rosalien aber, die er bald nach seiner Ankunft Gelegenheit gefunden im Geheimen zu sprechen, hatte er leicht zu seiner Vertrauten gewonnen, wie sehr sie auch anfangs, als sie ihn zum ersten Mal, unmittelbar nach ihrer eignen Rückkehr aus Paris, in Coblenz wieder erblickte, vor seiner überraschenden und unvermutheten Erscheinung erschrak. Narciß hatte jedoch hier einen Vortheil für sich, der seine Wirkung auf das Herz eines nicht gefühlsverschlossenen Mädchens nie verfehlt. Er trat ihr als ein Unglücklicher, als ein Ausgewanderter entgegen, der um ihretwillen sein Vaterland, seine Freunde und Familie verlassen und wie ein Flüchtling ihrer Spur in die Fremde nachgefolgt war, um sich durch Aufopferung, Entbehrung und jede mögliche That ihres Vaters Gunst und ihre eigne dauernd zu erwerben. So war das Geständniß seines Unglücks, seines flüchtig und wankend gewordenen Daseins, das er ihr in einer günstig erlangten heimlichen Zusammenkunft zuerst aussprach, eigentlich das erste Geständniß seiner Liebe, von der früher noch mit keinem Wort unter ihnen die Rede gewesen war, da sie überhaupt, obwohl sie sich innig kannten, doch der Worte wenige bisher mit einander gewechselt hatten.
Auch jetzt war das erste Mal kaum von Liebe die Rede, sondern nur von dem Unglück des jungen Franzosen; aber durch welches Bekenntniß konnte er zarter seine Liebe andeuten und einleiten, als eben durch das Bekenntniß seines Unglücks, das er um der Liebe willen litt und büßen wollte? Rosalie sah sich dadurch in die gefährliche Lage versetzt, daß sie ihm den Trost nicht verweigern konnte, und so gerieth das liebe Mädchen unwillkürlich in ein geheimes Einverständniß, über das sie sich den Tag hindurch selbst mehr Sorgen und Vorwürfe machte, als bei dem edlen Verhältniß nöthig war, wenn sie sich dann auch Abends durch eine verstohlene und listig veranstaltete Zusammenkunft mit dem Geliebten, durch ein trauliches Gespräch mit ihm und durch gemeinsame Berathschlagungen über seine und ihrer Beider Zukunft beglückt und beseligt fühlte.
Narciß unternahm indeß in seiner jetzigen Einsamkeit eine Arbeit, die ihm nicht nur zur eifrigen Beschäftigung dienen, sondern auch noch in einem andern Sinne eine Arbeit der Buße für ihn sein sollte. Auch als Künstler wollte er büßen und sühnen, was er als Mensch vergangen, und so ergriff er diesmal, nachdem er sich das Material dazu herbeigeschafft, in der ernsten Absicht den Meißel, den ihm zürnenden Vater der Geliebten zum Gegenstand eines Bildes zu machen. Das drohende, von einem erhabenen Zorn überflogene Antlitz des alten Eichen stand ihm noch von jener verhängnißvollen Scene her in unauslöschlichen Zügen vor seiner Seele, aber auch in einem milderen Ausdruck hatte er schon das ehrwürdige Gesicht gesehn, und er hoffte, daß es sich ihm wieder mild und versöhnt zeigen werde. In diesem Sinne ging er daran, die Büste zu entwerfen, indem er durch ein Portrait des Majors, das ihm Rosalie zu diesem Zweck insgeheim zugestellt hatte, seine Phantasie ergänzte. Die Arbeit erinnerte ihn jeden Augenblick, indem er sich mit ihr beschäftigte, an die leichtsinnigste und leidenschaftlichste That seines Lebens, und jeder Meißelschlag, mit dem er die charaktervollen Gesichtszüge desjenigen, der ihn in seiner Schwäche so schmerzlich überrascht hatte, aus dem Marmor herausbildete, traf sein eignes Herz mit dem Gefühl der Reue und dem mahnenden Bewußtsein, gefehlt zu haben. Mit still ausharrendem Fleiß schuf er ämsig an diesem für ihn so beziehungsreichen Kunstwerk, und fand allmählig in seiner durch die Kunst sich verklärenden Schmerzensarbeit einen sanften, wohlthuenden Trost, indem auch sein fester Entschluß, der ihm nun nicht mehr wanken zu können dünkte, nämlich fortan nur Rosalien und mit ihr der Tugend und einem friedlich umgränzten Leben anzugehören, ihn stärkte. Nebenbei beschäftigte ihn auch die gründlichere Erlernung der deutschen Sprache, deren er bisher nur sehr mangelhaft mächtig gewesen, und die ihm jetzt, da er sie zugleich als Conversationssprache der Liebe üben konnte, leichter als je schien. Sonst war es dem jungen Franzosen immer so schwer geworden, den liebkosenden Namen Röschen auszusprechen, aber bald löste sich auch dafür seine Zunge, und er fand nun das Röschen süßer und lieblicher, als die mit französischem Accent spitz betonte Rosalie. Dies gab dem Verhältniß der beiden Liebenden, die ihren Umgang so sehr verheimlichen und nur in verstohlenen Stunden ablisten mußten, einen eignen Reiz und Inhalt, und in ihrem Glück betrübte sie nur die ungewisse Aussicht auf die Zukunft, und Besorgniß und Zweifel über die Art, wie des Vaters Sinn zu gewinnen sein möchte. Narciß fing an, sich in deutscher Lebensweise zu gefallen und fühlte keine Sehnsucht, nach Frankreich und Paris je zurückzukehren. Röschen aber hätte überall mit ihm sein mögen, wenn nur der Vater erst Alles wüßte und billigte.
Inzwischen hatte sich auch Madelon in Begleitung des Marquis und ihrer alten Dienerin Christine der deutschen Heimat wieder genähert, zu der auch sie gewissermaßen als eine Büßende wallfahrtete, denn sie hatte nicht nur einen verletzten väterlichen Freund zu begütigen, sie hatte sich auch mit sich selbst wieder auszusöhnen, und eine solche Beruhigung ihres bewegten Herzens erwartete sie von einem still gelebten Aufenthalt in dem Heimatlande ihrer Jugend, an dem Orte, wo sie ein Kind und harmloses Mädchen gewesen war.
An einem schönen sonnigen Wintertag, der kaum kalt, sondern anmuthig frisch zu nennen war, betraten sie zuerst den deutschen Boden, und Madelon fühlte sich von unerklärlichen Empfindungen hingerissen, die ihr eine Thräne in das sinnige Auge lockten. Sie hatte es nie geglaubt, daß die vaterländische Erde in einer solchen Sympathie mit dem Menschen stehen könne, um ihn durch ihren bloßen Anblick wie durch einen Freundesgruß zu rühren. Jetzt empfand sie es fast schwärmerisch, und tausend Jugenderinnerungen, alle Verhältnisse ihrer Kindheit, die sie hier an den Ufern des goldnen Rheins verlebt, stiegen wehmüthig, aber unendlich schön in ihrer Phantasie auf. Sie gedachte ihrer guten, verklärten Mutter, sie rief sich träumend alle Scenen in's Gedächtniß zurück, wo sie mit der Seligen gewandelt und gesprochen, wo sie von ihr geliebkost, belehrt, gebildet, gescholten und gesegnet worden war; sie fühlte, daß alles Schöne, was man erlebt hat, unvergeßlich sei, und sie freute sich, eine Deutsche zu sein. Das Uebermaaß ihrer Empfindung war so groß, daß ihr für einen Augenblick Zerstreuung von der mächtigen Aufregung nöthig schien. Eine solche Zerstreuung drängte sich ihr von selbst auf, denn sie hatte den alten Marquis Cidevant neben sich, der, ungeachtet der milden Witterung, entsetzlich fror.
»Nun, wie gefällt Euch Deutschland, Marquis?« fragte sie ihn etwas ironisch, und wischte sich heimlich die Thräne, die nicht bemerkt werden sollte, von der Wimper. – »Aber der Rhein, der prächtige, ist doch schön, und die muntre Mosel?« –
»Passirt, aber nur Alles hierzu sehr gegen Norden!« sagte der Marquis frostig und rieb sich die Hände. –
»Mein Gott!« seufzte Madelon, »wie kann man frieren in dieser heiligen Stunde!«
»Ein alter Mann hat weniger Blut, als eine junge Wittwe von sechs und zwanzig Jahren!« bemerkte der Marquis ruhig.
In Coblenz suchten sie das Haus des Majors Eichen auf, dem sie sich als unverhoffte Gäste, deren Gegenbesuch er gewiß nicht so bald erwartet, darstellen wollten. Christine, die betagte, treue Haushälterin Magdalenens, die fast kindisch vor Freude wurde, als sie ihre über Alles geliebte Vaterstadt, nach der sie in der Fremde so viele Jahre vergeblich geweint und geseufzt, mit den wohlbekannten Straßen, Häusern und Thürmen wiedererblickte, suchte ihre Herrin zu überreden, vor allen Dingen ihr altes Wohnhaus in Coblenz aufzusuchen, das ihrer Mutter, der seligen Frau von Ramberg, gehört und in dem Madelon geboren, auferzogen und von ihr, der bejahrten Dienerin, gewartet worden war. Alte Diener und alte Möbel haben eine gewisse wahlverwandlschaftliche Zuneigung zu einander, so daß sie gewissermaßen zusammen leben und sterben und es ihnen schwer wird, sich von einander zu trennen. So hatte die gute Christine immer das alte baufällige Haus im unvergeßlichen Andenken behalten, in dem sie der Frau von Ramberg und ihrer Tochter Magdalene so getreulich gedient, und wie leicht konnte man jetzt der anhänglichen Frau den Wunsch nachgeben, auch das alte Wohnhaus zuerst wieder in Augenschein zu nehmen, um zu sehn, ob es noch auf derselben Stelle wie sonst stehe, und ob es noch zehn Jahre hindurch dem Sturm und Wetter getrotzt habe.
Madelon fühlte selbst wohl einige Sehnsucht danach, es wiederzusehn, und als der Wagen in die bekannte Straße einlenkte, blickten Herrin und Dienerin zugleich begierig zum Schlage hinaus, Jede in der Absicht, es zuerst wahrzunehmen, indeß der Marquis, welcher die deutsche Stadt noch mit keinem Auge betrachtet hatte, sich verdrießlich in die Kissen zurückdrückte. Man war aber die Straße einige Male auf und ab gefahren, ohne das Haus noch zu bemerken, so daß Madelon meinte, es sei nicht die rechte Straße und nicht dieselbe, in der sie damals gewohnt hätten. Christine jedoch widerstritt lebhaft und wußte mehrere Beweise anzuführen, die dafür sprachen, daß man sich in der wohlbekannten Straße befinde; sie zeigte auch genau die Stelle, an welcher das Haus gestanden, aber es war nicht mehr dort zu sehn, sondern ein neues, prächtiges Gebäude, eines der schönsten jetzt in der Stadt, hatte sich an dem Platze des altmodischen erhoben, obwohl die Nachbarschaft umher ziemlich dieselbe geblieben war.
»Hier müßte es stehn, unser Haus!« sagte Christine, und blickte lange und traurig auf das neue und schönere, als ob sie ihm sein Dasein mißgönne. »Und habt Ihr Euch denn nie« – fragte sie Magdalenen – »um Euer heimisches Erbtheil bekümmert, und wißt Ihr nicht, in welche Hände der Nachlaß Eurer Mutter gekommen ist?« – Madelon hatte nie daran gedacht, doch fiel es ihr jetzt ein, daß der alte Freund ihrer Mutter, der Major Eichen, ihr in Paris darüber habe Mittheilungen machen wollen, denen sie aus Leichtsinn und Flatterhaftigkeit immer ausgewichen war.
»Ein schönes Gebäude!« sagte der Marquis, und lehnte sich ebenfalls aus dem Wagen. »Steigen wir hier aus? Ich dächte, es wäre Zeit, daß wir endlich unter Dach und Fach kämen.« –
Unterdeß hatte der Kutscher auf seine Erkundigung erfahren, daß man sich vor dem Hause des Major Eichen befinde, und bei diesem Umstand hätte Madelon fast nachdenklich werden können, denn wie überraschend war es nicht, gerade hier die an der Stelle des alten Hauses neu erbaute Wohnung des Majors, welche sie ebenfalls aufzusuchen hatten, so zufällig anzutreffen! Man ließ indeß halten und stieg ab, weil, wie die Sache auch immer sein mochte, das Endziel der Reise hier erreicht war. –
Rosalie trat ihnen zuerst entgegen und empfing die unerwarteten Gäste mit mehr Bestürzung als Freude. Madelon ließ ihr aber wenig Zeit, über die Absicht des so plötzlich kommenden Besuchs nachzudenken, sondern überhäufte ihr gutes Mühmchen zur Bewillkommung mit tausend Liebkosungen und eben so vielen zärtlichen Vorwürfen darüber, daß sie mit dem Vater ohne Abschied von ihr aus Paris gegangen sei. Sie sagte, daß sie sich zum Wiedersehn den Abschiedskuß erbitten wolle, und daß sie diesen einzuholen hergereist sei, obwohl man nicht hoffen dürfe, sie jetzt nach diesem Bewillkommungs-Abschied gleich wieder los zu werden, denn sie sei stark entschlossen, auf einige Zeit in Deutschland Quartier zu machen.
Rosalie stand noch immer verwirrt und verlegen da, und bemerkte kaum, daß ihr der galante Marquis Cidevant mit altfranzösischem Anstand zweimal die Hand geküßt hatte. »Und wo ist der Vater, liebes Röschen?« fragte Madelon –
»Ich werde ihn rufen, aber er ist sehr kränklich!« erwiederte sie, indem sie sich schnell der Umarmung entzog und davoneilte.
Sie suchte den Vater im ganzen Hause, aber er war nirgends zu finden, obgleich sie wußte, daß er um diese Zeit nie auszugehn gewohnt sei, besonders heut, wo er sich unwohl befand. Indeß war es nicht das erste Mal, daß der Major in seinem eignen Hause verschwunden zu sein schien, und seine Tochter vermuthete, daß er sich dann in einem verborgenen Kabinet in der ungestörtesten Einsamkeit religiösen Selbstbetrachtungen, einer heiligen Lectüre oder andern mit seinem kränklichen Gemüthszustand zusammenhängenden Beschäftigungen, in denen er von aller fremden Umgebung entfernt sein wolle, hinzugeben pflege. Röschen ehrte das Geheimniß des Vaters und hatte sich nie von unberufener Neugier gedrungen gefühlt, dasselbe zu erforschen. Sie begab sich zu den Fremden zurück, um den Vater wegen seines längeren Ausbleibens zu entschuldigen, aber das ängstliche, zitternde Herzklopfen, das ihr die plötzliche Erscheinung Magdalenens verursacht, war noch nicht ruhiger geworden. Sie hatte von dem reuigen Narciß, der seiner verzeihenden Geliebten Alles bekannte, auch etwas über sein früheres Verhältniß zu der schönen, verführerischen Frau erfahren, und dies that der Neigung für Madelon in Röschens Herzen schon einen bedeutenden Abbruch. Wußte Madelon vielleicht, daß sich Narciß hier befinde? Wußte sie wohl gar von ihrem beiderseitigen geheimen Einverständniß? Unmöglich; aber dennoch konnte das liebe Mädchen ihr unerklärlich banges Gefühl nicht zurückdrängen, und wie große Zuneigung sie auch im Anfang zu der schmeichelnden Madelon gefaßt hatte, jetzt fing sie an, ihre Nähe zu fürchten, ja, – soweit geht die leidenschaftliche Aufregung eines sonst so sanften Mädchens, sobald sie innig liebt, – sie hätte sie fast als Nebenbuhlerin hassen mögen. In dieser bewegten Stimmung kehrte sie nun zu der gleichwohl so liebenswürdig Aussehenden zurück.
Madelon hatte unterdeß mit dem Marquis die schönen Zimmer bewundert, in denen sie sich befanden, und die, so wie die Anlage des ganzen Hauses, den heitersten und geschmackvollsten Sinn verriethen. An dieser Stelle war sie einst als Kind und Mädchen so froh und unschuldig gewesen, und nie glücklicher als damals, obwohl in jener Zeit nur düstre, altergraue Mauern und farblose Wände an dem Platze der jetzigen freundlichen Umgebung gestanden hatten. Es konnte ihr kein Zweifel mehr übrig bleiben, daß dies neue Gebäude, welches dem vertrautesten Freund ihrer seligen Mutter gehörte, wirklich an dem Platze ihres allen Familienwohnsitzes aufgerichtet sei, und sie nahm sich vor, sobald sich nur eine schickliche Gelegenheit dazu bieten würde, den Major um eine Erklärung über alles Räthselhafte dieser Art zu ersuchen.
Jetzt trat Eichen selbst herein, ernst und umwölkt und mit allen Zeichen einer so tief in sich versunkenen Schwermuth auf der Stirn, daß er wie ein der Welt und aller Freude Abgestorbener erschien. Er stutzte einen Augenblick, als er die angekommenen Fremden gewahr wurde, doch konnte ihn das Ungewöhnliche nicht lange überraschen. Er bewillkommte Madelon, die ihm mit sehr innigem Gruß und einem wie um Verzeihung flehenden Blick entgegeneilte, kalt und einsylbig und hatte kein Liebeswort für sie, obwohl er dem Marquis die gewöhnlichen höflichen Redensarten nicht schuldig blieb. Er lud sie ein, bei ihm vorlieb zu nehmen, so lange sie wollten, da er Gastfreundschaft gern übe und selten dazu so angenehme Gelegenheit erhalte, als durch ihren nicht so schnell erhofften Gegenbesuch. Sonst schien ihm darum zu thun sein, das Fremde und Peinliche, welches die unerwartete Scene mit sich brachte, sobald als möglich wieder in das Geleis eines gewöhnlichen Ereignisses hinüberzuleiten, und er führte daher seine Gäste, weil es gerade Zeit war, nach kurzem Wechselgespräch sogleich zur Mittagstafel, die für den geschmackreichen Appetit des Marquis ganz nach Wunsch ausfiel. So hatte es kaum den Anschein, als wenn man den in Paris angeknüpften Umgang je auf ungewöhnliche Art unterbrochen hätte, oder es war wie ein gleichgültiges Gespräch, dessen Faden man am Morgen wegen dazwischenkommender Umstände verloren und das man gelegentlich beim Mittagstisch mit kühler Laune weiter fortsetzt.
Mit Madelon sprach der Major äußerst wenig, ohne jedoch durch seine Verschlossenheit gegen sie bemerklich zu machen, daß irgend etwas Außerordentliches zwischen ihnen vorgefallen war. Dagegen unterhielt er sich mit dem Marquis, mit dem er sich nach Tische zu einer Partie Schach niedersetzte, sehr angelegentlich über den gegenwärtigen politischen Zustand der Dinge in Frankreich. Madelon saß nachsinnend und in sich gekehrt da, denn die Unterhaltung mit der so schüchtern thuenden Rosalie, die sie bei weitem nicht mehr so munter und zutraulich wiederfand, wollte ebenfalls nicht recht von Statten gehn. Rosalie verlor auch nicht wenig dadurch, daß sie heut den ganzen Abend über an der ziemlich schweigsamen Gesellschaft Theil nehmen mußte, weil sie die verabredete Stunde, welche sie ihrem Narciß zugesagt, darüber versäumte. –
So begann sich in dem Hause des Majors das seltsamste Verhältniß zu bilden, das, obwohl es nur für eine kurze Zeit zu ertragen schien, dennoch wider Vermuthen eine längere Dauer gewann, als alle dabei Betheiligten selbst wünschten und wollten. Ein Tag verging nach dem andern, ohne daß die aus Paris Herübergereisten dem Zweck, welcher sie nach Deutschland geführt, näher gekommen wären. Der Major ließ sich in keine tiefer gehenden Erörterungen ein, so sehr sich auch Madelon durch Aufwendung aller liebenswürdigen Kunstgriffe, die ihr zu Gebote standen, bemühte, ihm wieder Vertrauen und Neigung abzugewinnen und abzuschmeicheln, und sie konnte von dem Verschlossenen jetzt eben so wenig ein zusammenhängendes Gespräch zur Mittheilung alles dessen, was ihr am Herzen lag, erlangen, als sie selbst damals in Paris sein zuvorkommendes und wohlgemeintes Vertrauen, dem sie sich immer durch ein launisches Vorschützen von Kopfweh entzogen, gewürdigt hatte. Der alte Eichen blieb stumm und regungslos, und ließ sich endlich nur bei Tische vor seinen Gästen sehn, indem er sich die übrige Zeit des Tages in eine unzugängliche Einsamkeit zurückzog.
Madelon hätte verzweifeln mögen und die unerträgliche Langeweile, in die sie sich hier versetzt sah und die bald an die Stelle der schwärmerischen Entzückung über das Wiedersehn der Heimat trat, wäre fast zu einer ernstlichen Melancholie in ihr geworden. »Fort! fort! O könnte ich fliehn und fliegen, wie die Wolken, wie die Vögel, über die weite Welt hinweg, in neue, unbekannte Gegenden, um durch einen freien, schrankenlosen Flug meine beklemmte Brust zu erleichtern!« rief sie mit stillen Thränen in den Augen aus. »Fort möchte ich, fort auf die Pilgerschaft, aber wohin? Mein Gott, ist nicht die Welt so groß, und ich weiß nicht wohin? Doch was soll ich schon wieder in Paris? Und was will ich hier in Deutschland? Die Leute sagen, daß in Paris nicht mein Vaterland ist, und doch hat es mir im Leben noch am meisten dort gefallen. So kann mir denn nur in der Fremde wohl sein? Nur in der Fremde? Ach, ich habe keine Heimat, keine Freunde, keine Lieben, die mir ergeben wären, keine Treue, auf die ich mich stützen könnte! Ich bin die arme Einsame! Aber die Deutschen, mögen sie auch meine gutmüthigen Landsleute sein, sind doch im Grunde langweilige Menschen in ihrer Geselligkeit!«
Der schleunigen Rückkehr nach Paris war jedoch ein unvermuthetes Hinderniß entgegengetreten. Nicht nur, weil der diesjährige Winter ungewöhnlich kalt wurde, sondern auch weil die alterschwache Gesundheit des Marquis vor der übermäßig strengen Kälte der Jahreszeit zu erliegen anfing, sah man sich genöthigt, den Aufenthalt in Coblenz bis auf eine ungewisse Frist hin auszudehnen. Der alte Herr wurde bedenklich krank und mußte das Bett hüten. Madelon pflegte seiner mit unermüdlicher Zärtlichkeit und wich nicht von ihm, um bei dieser Gelegenheit ihrem Wohlthäter, dem sie Reichthum und äußeres Glück schuldig war, auch durch Zeichen ihrer Dankbarkeit und Anhänglichkeit einen Trost zu gewähren. So ging der Winter hin und die im Hause des Majors Zusammenlebenden schienen sich ungeachtet der Nähe, in der sie sich waren, in einzelne fernliegende Gruppen von einander gesondert zu haben, ohne noch der gegenseitigen Annäherung, die sie selbst so sehr wünschten und die sie sich theils eigensinnig, theils aus verletztem Gefühl verweigerten, bei sich Gehör zu geben.
Das Frühjahr 1830 kam heran und auch die erste Hälfte des Sommers war fast verstrichen, als sich der Marquis endlich wieder zu erholen anfing und gegen alle Erwartungen der Aerzte von Neuem so rüstig erschien, daß er wohl noch trotz Podagra und Chiragra ein Jahrzehnt zu überdauern hoffen durfte. Jetzt war kein Grund mehr vorhanden, die Abreise noch länger aufzuschieben und Madelon hatte Tag und Stunde dazu schon festgesetzt. Von diesem Augenblick an begann sich die verschlossene Gesinnung des alten Eichen gegen Madelon plötzlich zu ändern, und er schien es nicht über sich gewinnen zu können, sie so ganz kalt und untheilnehmend wieder von sich zu lassen, ja er kam ihr zuerst wieder mit der liebevollen Bitte entgegen, bei ihm in Deutschland zu bleiben und nicht mehr nach der französischen Hauptstadt zurückzukehren.
Dies konnte nun Madelon nicht sogleich versprechen, da es auch gewissermaßen eine Pflicht der Pietät für sie war, ihren Marquis Cidevant nicht zu verlassen und ihm noch in seinen letzten Lebenstagen treulich Gesellschaft zu leisten. Derselbe aber wäre um keinen Preis zu bewegen gewesen, noch länger hier zu verweilen, denn seine Ungeduld, wieder in Frankreich zu sein, war fast leidenschaftlich. Die Zeitungen hatten seitdem Nachrichten aus Paris gemeldet, die von Tag zu Tag bedeutender und bedenklicher wurden; eine abermalige Suspension der neuen Deputirten-Wahlen von Seiten des Polignacschen Ministeriums war erfolgt und mit gespannter Aufmerksamkeit erwartete man allgemein den entscheidenden Schlag, der für eine oder die andere Partei nothwendig daraus hervorgehen mußte. Die große Juli-Katastrophe, die letzte Knospenentwickelung der vollendeten und vollständig aufgeblühten Frucht der französischen Revolution, hatte sich vorbereitet und war durch unzeitige, schlechtgeprüfte Sicherwähnung und das allzu große Selbstvertrauen Derjenigen, die ihre Hoffnung darauf setzten und denen sie selbst zum ungeahneten Verderben gereichen sollte, beschleunigt worden. Der Marquis wollte und mußte als ein ächter Franzos in diesem verhängnißvollen Augenblick des Vaterlandes durchaus an Ort und Stelle sein. Er hoffte und vermuthete jedoch nichts weniger als den Widerausbruch einer eigentlichen Revolution in Frankreich, denn sonst würde sich der antirevolutionaire Marquis Cidevant, der die verdrießlichen Incommoditäten einer solchen Zeit nur allzu sehr erfahren hatte und noch in der Erinnerung auf das Bitterste haßte, lieber zu einer Reise nach der Türkei entschlossen haben, als daß er wieder nach Paris gegangen wäre. Im Gegentheil, er hielt sich, wie alle Parteigänger des absoluten Königthums, für überzeugt, daß diesmal die königliche Gewalt siegen und gewissermaßen durch einen unwiderstehlichen Befehl von oben herab, die verirrte Nation wieder zu den Stufen des Throns zurückrufen werde, unter dessen unumschränktem, gottgesegnetem und durch Sitte und Herkommen einer ganzen allerchristlichsten Dynastie geheiligtem Scepter es allein glücklich werden und aus dem wilden Revolutionstaumel der neunziger Jahre den Weg zur Ruhe und Vernunft zurückfinden könne.
So erhielt Madelon nur mit der größten Mühe noch einen Tag Aufschub von ihm, welchen sie dem sich ihr zuletzt immer mehr wieder nähernden Major, der ein besonderes Gewicht auf den einen Tag zu legen schien, nicht hatte abschlagen können. Unterdeß wurden jedoch alle Anstalten zu der bevorstehenden Reise getroffen, und die alte Christine, die sich, obwohl ihr freigestellt wurde, in Ruhe in ihrer Vaterstadt Coblenz zurückzubleiben, doch von ihrer Herrin nicht trennen wollte, legte seufzend ihr Gepäck wieder zusammen. Die gute, treue Dienerin hatte auch nichts mehr, was ihr in Coblenz theuer war, denn ihre Bekannten und Freunde waren seitdem alle verstorben, und wenn wenigstens, sagte sie, das alte Haus noch stände, in welchem sie einst der seligen Frau von Ramberg gedient; aber auch das stand in Coblenz nicht mehr. – –
Ein gemeinsames, stilles Hoffen auf die Zukunft war inzwischen das ganze Glück gewesen, dessen sich Narciß und Röschen in ihrer verborgenen Liebe erfreuten. Narciß, der den Tag über nicht aus seinem abgeschiedenen Zimmer herausging, hatte mittlerweile an der Büste des Majors fleißig fortgearbeitet und sie der Vollendung nahe gebracht. Das Werk, das dem Künstler fein und ausdrucksvoll gelungen war, sollte den Liebenden zu einer eigenen Stütze ihrer Angelegenheiten dienen. Auf den einen der nächsten Tage fiel des Majors Geburtstag, und an diesem Tage, wo dann, wie zu erwarten stand, auch die Fremden aus Paris schon wieder abgereist sein würden, wollte Rosalie den Vater mit dem Kunstwerk des Geliebten als Angebinde überraschen und ihm dadurch von der treuen und unwandelbar ergebenen Gesinnung Narcissens ein sprechendes Denkmal darbringen. Alles war von ihnen genau und mit der scharfblickenden List der Liebe verabredet worden und konnte wenigstens in so weit nicht mißlingen, um den Major dem jungen Bildhauer einigermaßen wieder geneigt zu machen. In dieser Hoffnung hatte Rosalie, mit Hülfe einer vertrauten und zuverlässigen Dienerin, die Büste ihres Vaters bereits in das Haus schaffen lassen und sie für die nahegerückte Stunde heimlich zurechtgestellt, denn daß Madelons längere Anwesenheit der Ausführung des Plans hinderlich sein oder ihn wenigstens beschränken könne, war nicht abzusehn. So lange Madelon in Coblenz war, hielt sich Narciß um so verborgener, aber sie ahnte nichts weniger, als daß Der, um dessenwillen sie in einem unbewachten Augenblick das Vertrauen ihres väterlichen Freundes eingebüßt, ebenfalls hieher ausgewandert sei. –
Um diese Zeit empfing Madelon, einen Tag vor der festgesetzten Abreise, einen Brief aus Paris, der von einem ihrer dortigen Verehrer, dem romantischen Theaterdichter Dubois, an sie abgesendet war. Ihr junger Freund glaubte, daß sie nun nicht mehr nach der Seinestadt zurückkehren werde, weil sie ihren Aufenthalt in Deutschland bereits auf so lange ausgedehnt hätte und jetzt der so eben ausgebrochene Krieg der drei Tage, des 27., 28. und 29. Juli, in Paris, von dem sein um eine Woche später datirtes Schreiben ihr einen näheren Bericht mittheilte, sie vielleicht noch mehr davon abschrecke. Dubois hatte zu seinem ihr sehr huldigungsvoll geschriebenen Brief zunächst die Veranlassung genommen, ihr ein Exemplar seiner nunmehr gedruckten Tragödie: Simson, deren Dedication sie damals nach Vorlesung des Manuscripts freundlich erlaubte, mit einem Zueignungs-Gedicht zuzuschicken. Er fügte Einiges über die gelungene Aufführung der Tragödie hinzu, die, ungeachtet einer bestellten Opposition im Theater, dennoch siegreich durchgedrungen war und den besten Erfolg gehabt hatte; aber so groß war die politische Aufregung und Verwirrung, in welcher sich der Schreibende während des Briefes befunden haben mußte, daß er über den bedeutungsvollen Ereignissen des Tages, die ihn bewegten und von denen der größte Theil seines Schreibens handelte, das vergessen hatte, was die Einleitung und Veranlassung seines Briefes ausmachte, nämlich – das in Rede stehende Exemplar der zugeeigneten Tragödie wirklich beizulegen, von dem er in dem Briefe als von einem anbei erfolgenden sprach. Dies war das possirlichste Unglück, das einem Poeten nur widerfahren konnte, aber der den politischen Ereignissen gewidmete Theil seines Briefes, durch dessen überwiegendes Interesse diese sonderbare Vergeßlichkeit eigentlich entstanden war, durfte dafür entschädigen, weil man sah, wie sehr der Dichter, der sein Liebstes, sein Gedicht, darüber vergessen, von dem Vorgefallenen ergriffen und begeistert sein mußte.
Madelon las den inhaltschweren Brief, der die bisherigen mangelhaften Nachrichten der Zeitungen durch die ausführlichere Schilderung eines Augenzeugen höchst interessant vervollständigte, dem Major und dem Marquis vor, die Beide natürlich einen sehr verschiedenartigen Eindruck davon empfanden. Der alte Eichen schien allen seinen eingewohnten Trübsinn darüber zu vergessen und in der nicht zurückzudrängenden Bewunderung der glorreichen Sache fast wieder jung zu werden, während der Marquis Cidevant nicht genug beklagen konnte, daß die drei Ordonanzen Die »Juliordonnanzen« vom 26. Juli 1830, in denen die Abgeordnetenkammer aufgelöst, der Wahlzensus nach oben gesetzt und die Pressefreiheit weiter eingeschränkt wurden. – Anm.d.Hrsg. des Königs, welche nach seiner Meinung eine höchst weise Umgestaltung der Dinge bewirkt haben würden, ihren großen Endzweck verfehlt hätten. Der Theaterdichter Dubois sagte freilich in seinem Schreiben voller Eifer, daß diese zuerst im Moniteur erschienenen Ordonnanzen, welche Alles verschuldet und veranlaßt hätten, das Werk eines lange im Stillen und in der Finsterniß vorbereiteten Staatsstreiches wären, der nicht nur durch die ungesetzmäßige Cassation der Wahlen, wodurch die Kammer noch vor ihrem wirklichen Zusammentreten aufgelöst wurde, die Heiligkeit der Charte Bei der Restauration des bourbonischen Königtums in Frankreich 1814 hatte Louis XVIII. die Notwendigkeit von Eingeständnissen an die Errungenschaften der Revolutionsepoche anerkannt und Frankreich mit der Charte constitutionnelle eine scheinbar liberale Verfassung nach britischem Vorbild gegeben. – Anm.d.Hrsg. verletzt habe, sondern eben auf eine Vernichtung der Charte, der Presse und des Privat-Eigenthums ausgegangen sei.
Eine Nachschrift des Briefes war vom 9. August hinzugefügt, an welchem Tage, nach dem bewundernswürdig raschen und consequenten Verlauf des ganzen Dramas, der edle Louis Philipp sich zum König der Franzosen erklärte. Charles X. hatte sein Volk verlassen, er war wie ein in der Sturmnacht auswandernder Lear, der sich selbst um sein Reich gebracht, von dem Thron seiner Dynastie geflüchtet, und das Geschlecht der Bourbonen, das man fast immer im Widerstreit gegen seine eigne Zeit gesehn, sollte, durch das waltende Schicksal der Geschichte selbst, in Frankreich eher erlöschen, als es noch vor Kurzem geahnet worden. »Welch' eine erhabene Stunde war es« – schrieb Dubois – »als dieser hochherzige, freisinnige, milde Orleans heut im Palast Bourbon in der Versammlung der Pairs und Deputirten seiner Nation den Eid der Treue schwur; aber noch herrlicher war es, ihn zu sehn, als er darauf, zu Pferde gestiegen, eine wahrhaft königliche heitre Gestalt, nach dem Palais Royal zurückkehrte und unterweges vielen der Vorübergehenden die Hand reichte, um den geschlossenen Bund zwischen König und Unterthan persönlich zu besiegeln. So weit ging seine eigene Begeisterung, so sehr strömte sein eigenes Gefühl über, von den einzig großen Vorgängen hingerissen! O es war ein himmlischer Augenblick, zu sehn, wie sich König und Unterthan die Hand reichten, während die umherstehende National-Garde jauchzend ihre Musik erschallen ließ und die Marseiller Hymne sang. In welcher schönen, bedeutungsvollen Zeit leben wir doch! Dieser Louis Philipp und sein Volk, was sind beide für ein treffliches Paar! – er, der sich roi citoyen nennt und sein will, der Bürgerkönig! – und sein Volk, das mehr durch eine Heldenthat der Vernunft, als durch einen langen blutigen Krieg, die geistlose absolute Despotie für immer in seinen Landen austilgte!«
»Alle Leute sagen« – fügte Dubois zum Schluß seiner patriotischen Herzensergießungen hinzu – »daß durch die Revolution der drei Tage auch die Romantiker in Paris einen bedeutenden Stoß erlitten hätten. Alle Leute meinen es, aber nur wir gemäßigten Romantiker nicht, die wir in unserm Sinne auch liberal sind, und im Gegenteil hoffen, daß jetzt, da die Veranlassung, den Romanticismus als politisches Aushängeschild zu gebrauchen, durch die neusten Zeitereignisse allerdings zerfallen ist, die romantische Schule anfangen werde, sich von allen politischen Nebenabsichten zu reinigen und ihr Streben mit ausschließlicher Begeisterung nur darauf zu richten, daß sie in der Poesie eben so die neue Zeit für Frankreich herbeiführe, als es die Liberalen in der Politik gethan. Neulich, meine angebetete Madelon, hatte ich noch einen ganz besondern Spaß, als ein hier ansässiger Deutscher, der sich durch deutschen Sprachunterricht – ein in Paris jetzt sehr gangbarer Artikel – ernährt, mich besuchte, und mit vollkommen pedantischer Miene eine recht genaue und deutliche Definition von mir begehrte, was denn eigentlich das Romantische sei und was nicht. Mein Gott, was sind die Deutschen doch für Narren mit ihren Definitionen, um die sie sich von jeher abgequält haben! Ich lachte den deutschen Schulmeister aus, der durch mich hatte klug werden wollen, weil er gehört, daß die Sache bei uns so viel Lärm gemacht, und bat ihn, mir zuerst recht genau und gründlich auseinanderzusetzen, was eine Sommersternennacht, eine Wintertraumstille und Schneeflockenmährchen denn eigentlich für Dinge wären!«
So ging der Brief des romantischen Dichters aus dem Ernst der politischen Nachrichten allmählig in gemüthlichern Scherz über und endigte zuletzt mit einigen artigen Witzeleien über das Schicksal des Dey's von Algier Hussein Dey (1773-1838), der letzte Dey (d.h. ›Herrscher‹, hier soviel wie Statthalter) von Algerien. Verärgert über unbezahlte Schulden Frankreichs und die arrogante Haltung des französischen Konsuls schlug er diesen am 29. April 1827 mit seinem Fliegenwedel, was drei Jahre später als Vorwand für die Besetzung Algeriens durch Frankreich benutzt wurde. Am 5. Juli 1830 wurde er seiner Herrschaft beraubt, als französische Truppen Algier einnahmen. Er akzeptierte das französische Angebot, ins Exil zu gehen, und beendete damit die Herrschaft des Osmanischen Reiches in Algerien. – Anm.d.Hrsg., der aus den verhängnißvollen Weltereignissen des Tages wie eine tragikomische Figur herausblickt und der Ironie allerdings genug Stoff zu Anspielungen bieten konnte. – –
Der Marquis Cidevant war, wie gesagt, trostlos über Alles, was in Paris vorgegangen, und wollte nun nichts von der Rückkehr dorthin hören, als ihn Madelon an die nahende Stunde der Abreise erinnerte, sondern verbarg sich schwermüthig und an der ganzen Welt verzweifelnd auf seinem Zimmer. »Was soll ich mit ihm anfangen?« sagte Madelon und ging, den Major von dem wieder hinausgeschobenen Termin ihrer Reise zu benachrichtigen. Eichen, der seit Kurzem ganz aufgeschlossen und erheitert schien, drückte mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit seine Freude darüber aus und nahm ihre Hand mit einem so bedeutungsvollen Druck in die seinige, als wenn er für jeden heimlichen Groll, der sie bisher getrennt hatte, die Versöhnung aussprechen wolle.
»In einer Zeit, wo so viel Großes geschieht, als heut zu Tage, muß sich Jeder seinen kleinen Haß und seine kleinlichen Sorgen vom Busen wälzen, um mit befreitem Herzen an dem freien Lebensdrang der Völker theilnehmen zu können!« sagte er feierlich. »O meine Magdalene, laß mich wieder Dein Oheim sein, wie ich es Dir als Kind gewesen, wo Du, ein süßes, kleines Mädchen, mich immer schmeichelnd und gern so nanntest! Sieh, gerade heut ist der Namenstag Deiner verklärten Mutter, und wie können wir besser das Wehmuthsfest der Erinnerung begehn, als wenn wir mit einander in traulicher Stunde von den Tagen der Vergangenheit sprechen und ich Dich endlich über ein für mich und Deine selige Mutter so schicksalsvoll gewordenes Verhältniß nicht mehr in Ungewißheit lasse, das mich noch immer wie eine verborgene Schuld drückt, so lange ich es verschweige, und das ich schon längst Dir mitzutheilen mich gesehnt hatte. Komm, meine traute Magdalene, aber laß uns zuerst nach meinem Röschen sehn, denn sie soll auch dabei sein, und was ich zu eröffnen habe, gehört für Euch Beide!«
Rosalie wurde gerufen und wußte nicht, was sie davon denken sollte, als sie ihren Vater und Madelon in einer so feierlichen Stimmung zusammen antraf. Sie glaubte Anfangs, daß man sie zum Abschiednehmen herbeirufe, und freute sich schon, nun der Abreise der Fremden gewiß zu sein und nicht durch sie in dem sinnigen Plan gestört zu werden, den sie für den auf übermorgen fallenden Geburtstag des Vaters zum Heil ihrer Liebe entworfen hatte. Aber der Major bat, ihm zu folgen, und führte sie Beide stillschweigend durch eine Reihe von Zimmern zu einem fern gelegenen Gemach, wo er unvermerkt eine verborgene Tapetenthür in der Wand öffnete, die zu Rosaliens größtem Erstaunen zu einem Theil des Hauses hinausführte, welchen sie bisher in dem großen Gebäude ihres Vaters weder gekannt noch geahnet hatte.
Sie traten auf einen kleinen Flur und sahen sich hier aus den freundlichen, schmuckreichen Zimmern des Wohnhauses plötzlich in eine durchaus veränderte Umgebung versetzt. Wie man in Parkanlagen künstliche Ruinen nachbildet, um mitten unter der Blüthenpracht der unveraltenden Natur durch eine elegische Spielerei an die Vergänglichkeit zu mahnen, so erblickten Madelon und Röschen jetzt unversehens eine altergraue, fast zerfallene Wand mit einer darin befindlichen, ebenfalls alle Spuren der Zeit verrathenden Thür vor sich, die mitten in dem neuen Hause um so seltsamer überraschen mußten. Die Ueberraschung wurde größer, als Eichen die Thür aufschloß und, mit einem stillen, heiligen Ernst im Gesicht, die Damen einlud, ihm zu folgen.
Es war ein kleines, niedriges Zimmer, das sich hier vor ihnen eröffnete, wunderbar ausmöblirt mit altmodischem Geräth und halbzerrissenen, bestäubten Tapeten; aber wie verstört auch Alles aussah, so schien dennoch eine gewisse absichtliche und sorgsame Anordnung in dem zerfallenen Gemach zu herrschen. Ein kleiner Schrank mit einigen Büchern, ein Sopha und ein altes Klavier, auf dessen Pult einige durch die Zeit vergelbte Notenblätter noch aufgeschlagen lagen, standen in demselben düster und unheimlich ansprechend umher. »Dies ist meine Erinnerungsstätte, wo ich der Vergangenheit zu gedenken pflege!« sagte der Major, nachdem sie eingetreten waren, mit so sanfter Stimme, als man selten von ihm hörte. »Ja, Magdalene, es ist nicht nur das Haus Deiner Mutter, über dem Du das meinige neu auferbaut siehst, sondern hier stehst Du auch in dem alten Wohnzimmer selbst, das ich zum Gedächtniß der Tage, die ich mit Euch in solcher Umgebung verlebte, in dem neuen Gebäude künstlich und getreu nach dem Modell der Vergangenheit bewahrt und erhalten habe. Es ist Stein vom Stein des alten Zimmers, in dem Du ehemals als Kind mit Deiner Mutter gewohnt, es sind dieselben Geräthe, dasselbe Klavier, auf dem die Mutter Dich die ersten Tasten anschlagen lehrte, dieselbe große unförmliche Uhr dort an der Wand, welche jetzt still steht, und damals die schönen Stunden eines einsam glücklichen Lebens schlug, und mag man mich einen Schwärmer schelten, daß ich die Vergangenheit so in ihrer äußerlichen Gestalt festzuhalten suche, für mich hat diese Schwärmerei noch eine tiefere Bedeutung!«
Er bat Madelon und Röschen, sich zu setzen, die mit bänglicher Empfindung in dem wunderbaren Gemach Athem holten, und in ihren neumodischen, eleganten Gewändern, in ihrer jugendlich blühenden Schönheit selbst einen eignen Contrast zu der sie umgebenden Ruine bildeten. Nachdem sie sich auf dem verblichenen seidenen Kanapee niedergelassen, hub der Major an, seinen still lauschenden Zuhörerinnen die Geschichte eines Alle nahe betreffenden Lebensverhältnisses zu erzählen, auf das besonders Magdalene mit gespannter Aufmerksamkeit hörte.
»Zwölf Jahre sind verflossen, Magdalene, seitdem Deine unvergeßliche Mutter, Juliane von Ramberg, starb!« begann er, bemüht, eine Thräne wehmüthiger Erinnerung zu verbergen, welche ihm die ehrwürdigen Wangen benetzte. »Sie war eine geistreiche, aber seltsame Frau, und ich lernte sie in den letzten Jahren ihrer nicht glücklichen Ehe kennen, welche sie mit Deinem Vater, einem vornehmen Mann von bedeutendem Range, eine Reihe von Jahren hindurch verlebte. Ihr Gatte war ein ausgezeichneter Staatsmann, ein heller, gebildeter Kopf, ein aufgeräumter Gesellschafter, den ich mit Stolz meinen Freund nannte; aber etwas fehlte ihm, das sich nicht erwerben läßt, weil es zum Charakter des Menschen gehört, nämlich häuslicher Sinn und gemüthliche Familienliebe, und diese beiden Tugenden waren es gerade, in denen Juliane, Deine Mutter, so ganz lebte und fühlte, daß sie nur darin alle Lebensfreude suchte. Er konnte sich nur im Genuß der großen Welt wohl befinden, sein Glück mußte ein geräuschvolles, glänzendes sein, wenn es den Namen Glück verdienen sollte, während sie, durch eine etwas pietistische Erziehung gegen die weltlichen Freuden verstimmt, nur den stillen Tiefen eines in sich versenkten und befriedigten Seelenlebens sich zuwendete. Weltlichkeit und Gemüthlichkeit hatten hier eine Ehe geschlossen, welche nur durch den Irrthum äußerer Umstände veranlaßt sein konnte; aber ungeachtet sie Beide nach so verschiedenen Richtungen hin strebten, auf denen sie sich nie zu begegnen hoffen durften, führten sie dennoch das ihnen auferlegte Verhältniß gegenseitig mit bewundernswürdigem Anstand durch, ohne vor der Welt je die Haltung zu verlieren. Ihre natürliche Disharmonie hatten sie einmal Beide klar erkannt, aber sie wurde von den edlen Menschen nie ausgesprochen, sondern blieb in solchen Stunden, wo sie sich am bemerklichsten machte, nur ein schmerzliches Gefühl der Wehmuth, was seinem strengen Rechtlichkeitssinn, der bei Lebemännern seiner Art wohl höchst selten so gefunden wird, vielleicht nicht weniger hoch anzurechnen war, als der unvergleichlichen Sanftmuth Deiner Mutter. Juliane war fromm, doch ohne krankhafte Übertreibung, denn sie war auch schön; und wäre sie eine der kranken Frommen gewesen, wie hätte sie schön sein können? Mein Umgang schien einigen Werth für sie zu haben und wir fühlten eine gewisse Sympathie zu einander, die sich zwar tief in der Stille unserer Herzen verbarg, die uns aber eine gegenseitige Nähe zum Leben unentbehrlich machte.
In dieser Zeit starb plötzlich Dein Vater, Magdalene, als Du kaum, wenn ich nicht irre, Dein dreizehntes Jahr erreicht hattest. Deine Mutter floh jetzt ganz alle Verbindungen der vornehmen und großen Welt und ging nun fast zu einem entgegengesetzten Extrem über, um sich ihrer Neigung und ihrem Charakter gemäß das Leben einzurichten. Juliane hatte geistreiche Grillen und eine solche bestimmte sie jetzt, sich mit ihrem Töchterchen, das für den Genuß der Welt geboren zu sein schien, in eine klösterliche Abgeschiedenheit von ihren bisherigen Bekannten und Freunden zurückzuziehn. Sie verließ die ihr zu prächtig dünkende Wohnung, welche sie mit ihrem Gatten inne gehabt, und kaufte in einem entlegneren Theile der Stadt ein altes Haus, welches ganz das Ansehn einer verfallenen Klosterruine hatte. Hier lebte die wunderbare Frau, welche noch in der schönsten Blüthe ihrer Jahre stand, durchaus einsam und widmete ihre Zeit der Bildung ihrer Magdalena der Lectüre und der Ausübung der Musik, für die sie ein herrliches Talent besaß, und wenn man zu einer gewissen Stunde an ihren Fenstern vorüberging, konnte man die rührendste und ausdruckvollste Stimme vernehmen, mit der sie geistliche und andere Lieder, wie auf überirdischen Tönen sich aufschwingend, zum Flügel sang. Sonst wurden die Nachbaren ihrer Nähe nur wenig gewahr, denn Juliane zeigte sich nie auf der Straße und hatte ihre Promenade auf den hinter dem Hause liegenden kleinen Garten beschränkt.
Ich war der einzige ihrer ehemaligen Freunde, der auch jetzt zu ihrer Einsiedelei einen stets willkommenen Zutritt hatte, und es verging kein Tag, kein Abend, den ich nicht in Eurer Mitte, in Eurer Gesellschaft glücklich und friedlich zugebracht. Ich bedurfte selbst damals eines so trostreichen Umganges, als die starke und erhabene Gesinnung Deiner Mutter war, denn ich hatte noch den früh erfolgten Tod meiner Gattin, welche an den Folgen einer unglücklichen Geburt starb, zu betrauern. Du, mein Röschen, warest mein einziges Kind, damals eben drei Jahre alt, und ich brachte Dich oft mit zu der freundlich milden Frau, die Du so lieb hattest, und zu Magdalenen, die so artig mit Dir scherzte und spielte.
Ich kam so oft zu Euch in das alte schwarze Haus, und vernachlässigte darüber meine andern Freunde und vieljährigen Kriegskameraden, so daß mich diese seitdem mit ihrem Spott verfolgten und mich mit einem Spitznamen den Liebesritter von der Ruine nannten, denn man vermuthete, daß ich als ein noch rüstiger Wittwer die schöne Wittwe heirathen würde, und zu der spöttischen Anspielung auf die Ruine gab Euer Wohnhaus gerechten Stoff genug. Wir hatten uns allerdings gelobt, einander für immer angehören zu wollen, weil wir einander Alles auf der Welt waren und im Denken und Fühlen auf das Zärtlichste übereinstimmten, und ich hoffte, daß Juliane in einer glücklichen und beiderseitigen Wünschen gemäßen Ehe allmählig manches Phantastische und Grillenhafte in ihrer Lebensweise aufgeben werde, was sich durch die drückende Spannung ihres früheren Verhältnisses ihrem sonst so einfach sinnigen Charakter beigesellt hatte. Eine ihrer seltsamsten Launen machte sie jedoch in Bezug auf das alte Haus geltend, das Ihr bewohntet und in dem sie sich so heimisch und abgeschieden glücklich fühlte, daß ich sie durch keine Mittel bereden konnte, eine freundlichere und besser eingerichtete Wohnung zu beziehen.
Wir hatten uns in unsern Herzensangelegenheiten ganz geeinigt, aber ihre unbegreifliche Laune ging so weit, daß nicht nur das Fest unserer Verbindung in der baufälligen Ruine gefeiert werden, sondern dieselbe auch künftig unverändert unsere gemeinschaftliche Wohnung sein solle. Ich meinte, das Gespött meiner Freunde und Verwandten würde sich nicht ertragen lassen, wenn ich sie in der trümmerhaften Hütte, über die sie sich jederzeit lustig zu machen pflegten, noch gar zur Hochzeit einladen müßte. Ich fürchte, Juliane! sagte ich zu ihr – von dem Hochzeitslärm wird uns unsere wacklige Eremitage über den Kopf zusammenstürzen, denn bei einer Hochzeit, wo man ein so großes Glück erringt, wie ich, muß es doch laut zugehn, und tanzen wird gar Niemand können in diesem Eulennest, wo kaum noch zwei Zimmer bewohnbar sind, und getanzt sollte doch billig werden an einem solchen Freudentage! – Sie lächelte, denn sie wußte, daß ich nur scherzte, und sagte: An dem bevorstehenden Freudentage muß es ›fein sanft und stille‹ hergehn.
Ich hatte mich schon immer damit beschäftigt, den Plan zu einem neu zu erbauenden Hause zu zeichnen, da es von jeher meine Lieblingsneigung gewesen, mich mit architektonischen Grundrissen und Entwürfen abzugeben und nach meinem Geschmack Pläne zur Ausführung neuer Bauten zu machen. In den Abendstunden, wenn wir zusammen waren, hatte ich ihr oft einen solchen Entwurf zu einem neuen Hause vorgelegt, das wir an dem Platze des alten leicht aufführen konnten, da die Grundstelle bedeutend geräumig war, und Juliane, wie ich vermuthete, aus dem Nachlaß ihres Gatten sich im Besitz nicht unerheblicher Mittel dazu befinden mußte. Sie versicherte jedoch unnachgebend, daß sie arm sei und bleiben wolle und daß sie den ganzen unbeträchtlichen Nachlaß ihres Gatten den Armenhäusern habe zukommen lassen. Das Grundstück des alten Hauses zu verkaufen, dazu konnte ich sie noch weniger überreden und so wurde unsre Eintracht nur durch diese eine Laune gestört, welche eine so schickssalsvolle Wendung für uns nehmen sollte.
Eines Abends war ich, wie gewöhnlich, bei Euch und saß trübsinnig in dem kleinen Zimmer, während Du, Magdalene, fortgegangen warest, um eine junge Freundin zu besuchen, und Deine Mutter sich ebenfalls zu einem Geschäft auf einen Augenblick aus dem Zimmer entfernt hatte. Der unangenehme Gedanke, mich mit der Geliebten über das, was ich wünschte, nicht einigen zu können, beschäftigte mich gerade in dieser Stunde schmerzlicher als je; unruhig, ja verzweifelt ging ich im Zimmer auf und nieder und stieß ingrimmig mit dem Degen gegen die alten morschen Wände, als wäre mir damit gedient, wenn ich sie niederrennen könnte. Indem ich in meinem leidenschaftlichen Unmuth so thue, bemerke ich, daß plötzlich in einer Ecke der Wand etwas losbröckelt, ich blicke näher hin und entdecke, daß ich mit dem Degen eine Ritze geöffnet, welche ein in der Mauer verborgenes Kästchen sichtbar werden ließ. Ich räume noch einige Steine hinweg, um des unverhofften Fundes habhaft zu werden, und ziehe das ohne Zweifel absichtlich eingemauerte Kästchen hervor. Es war sehr schwer und enthielt, als ich den unverschlossenen Deckel öffnete, eine bedeutende Summe in Goldstücken, was mich in nicht geringes Erstaunen versetzte. Da waren ja auf einmal die Mittel zur Aufführung eines neuen Hauses gefunden, das uns künftig gemeinsam zu einem schöneren Wohnsitz dienen konnte, und so sehr ich mich insgeheim darüber freute, eben so sehr war ich auch überzeugt, daß Deine Mutter selbst von dem Schatz, der in ihrem Hause versteckt gewesen, nichts wisse und ahne, und daß er dem früheren Besitzer desselben ohne Zweifel angehöre, einem alten Wucherer, der plötzlich und ohne Erben verstorben war und der sehr denkbar sein Geld in den Wänden eingemauert haben konnte. Ich verbarg das inhaltsreiche Kästchen, das uns so nützlich werden konnte, in meiner Tasche, und war bemüht, die Spuren in der Wand möglichst wieder unkenntlich zu machen, denn Juliane sollte nicht sogleich etwas davon erfahren. Es war ungewiß, ob ich sie auch durch den gefundenen Schatz auf der Stelle für meinen Plan gewinnen würde, und wenn ich ihr das Geld, das ihr allerdings zunächst zufiel, überliefert hätte, würde sie es vielleicht unter die Armen vertheilt und uns so gänzlich der Mittel beraubt haben, meinen Entwurf zu einem neuen Hause künftig einmal auszuführen. Ich nahm diesen Abend mit einem etwas beklommenen Herzen von ihr Abschied, denn ich hatte jetzt zum ersten Mal ein Geheimniß vor ihr, und unser Verhältniß war bisher so rein und innig gewesen, daß dem Einen nicht wohl sein konnte, wenn er vor dem Andern etwas verbarg. Sie aber war noch ganz arglos und traut wie immer.
Am andern Tage, als ich wieder zu ihr kam, fand ich sie in der größten Bewegung. Blaß und, erschöpft kam sie mir entgegen und gab mir den rührendsten Beweis ihrer schönen und offenen Seele, indem sie mich auf der Stelle zum Vertrauten ihrer auffallenden Unruhe machte. Eine dunkle Ahnung befiel mich sogleich, die mir zur Gewißheit wurde, als ich vernahm, daß das plötzliche Verschwinden einer bedeutenden Geldsumme der Gegenstand ihrer Bestürzung war. Von jenem Kästchen, das mich der Zufall hatte finden lassen, wußte Juliane nur zu gut, denn sie hatte es selbst an dem unscheinbaren Orte in der Mauer verborgen, weil sie der Magd, welche im Hause diente, nicht traute. Es war ein zurückgelegtes Ersparniß früherer Jahre und sie hatte es allerdings, wie sie mir in der Hast gestand, zum Aufbau eines neues Hauses bestimmt. Sie hatte mich damit nach dem Fest unserer Verbindung überraschen, sie hatte mich liebevoll prüfen wollen, ob meine Zuneigung zu ihr so stark sein würde, alle Rücksichten auf die Eitelkeit der Welt aufzugeben und mich entschließen zu können, mit ihr in dem schlechten Hause zu leben. Nun sei freilich Alles vorbei! Eben erst war der Riß in der Wand von ihr bemerkt worden, welchen ich nicht gänzlich wieder hatte verdecken können; sie war aufmerksam geworden und hatte zu ihrem Erschrecken gesehn, daß man ihr den so lange geheim gehaltenen Schatz geraubt. So sanftmüthig Juliane auch sonst immer bei dem Verlust äußerer Güter war, so ließ sie doch diesmal eine Leidenschaftlichkeit blicken, wie ich sie nie an der stillen Frau wahrgenommen. Es war ihr durch das Verlorene ein Mittel entgangen, mir den ganzen Umfang ihrer Liebe zu beweisen, und darum zeigte sie sich so trostlos. Die ihr immer verdächtig gewesene Magd wurde auf der Stelle beschuldigt, doch konnte es sich auch anders damit verhalten. Noch ehe ich mich von meiner Bestürzung über das Unerwartete zu erholen oder mit dem Geständniß herauszurücken vermochte, war sie schon wieder fortgeeilt, um im Hause noch einmal überall Nachsuchung anzustellen, ob es die Magd vielleicht irgendwo versteckt habe. Das beschuldigte Dienstmädchen, unwillig über den Verdacht, folgte ihr und half selbst Alles durchsuchen, um den Argwohn von sich abzuwenden, indem sie in wilder Hast jeden Winkel ausräumte und in den baufälligen Wänden jeden zu entdeckenden Spalt mit der Ofengabel durchstieß. So waren sie lärmend bis in die Bodenstube gekommen, als ich mich anschickte, ihnen nachzugehen und die unglückliche Verwirrung dadurch zu lösen, daß ich Julianen unverhohlen von dem Zusammenhang der Sache in Kenntniß setzte. In diesem Augenblick trifft plötzlich ein furchtbares Gepolter mein Ohr, dem dröhnenden Krachen eines zusammenstürzenden Gesimses folgt ein kurzer schneidender Schrei, wie eine Stimme der Todesverzweiflung, das ganze Haus scheint zu wanken und den Einsturz zu drohn, doch wird Alles in demselben Moment wieder still und die entsetzliche Oede, die darauf eintritt, läßt mich allmählig zum Bewußtsein des Gräßlichen kommen, das sich zugetragen haben möchte. Genug, was soll ich den unvertilgbaren Schmerz durch eine neue Schilderung von Neuem schärfen! – Deine Mutter, o Magdalene! fand ich unter einer eingestürzten Wand begraben und entseelt, und neben ihr die Magd, welche das unsichere Gemäuer durch ihr heftiges Verfahren wankend gemacht hatte, halb zerschmettert, obwohl ihr Leben gerettet wurde. Aber das kostbarste Leben blieb verloren rettungslos! O, warum mußte Juliane, die zarteste Seele, dies rauhe Schicksal haben! – Ich würde die Prüfung bestanden haben, die Du mir zugedacht, Juliane! rief ich tausendmal aus, so oft ich die Todte beweinte. Ich würde, der Eitelkeit der Welt zum Trotz, in Deiner grillenhaften Klause mit Dir gewohnt haben, und möchte jetzt, von der Eitelkeit der ganzen Welt mich abwendend, im Grabe bei Dir wohnen!
Um meinen Schmerz zu zerstreuen, unternahm ich damals eine Reise, während Du, Magdalene, in eine Pension gegeben wurdest, der Dich bald die Liebe zu dem ebenfalls früh dahingeschiedenen Larosette entzog, welche Dich in dem jugendlichsten Alter auch Deinem deutschen Vaterlande entführte. Als ich von meiner Reise nach Coblenz wieder zurückkehrte, fand ich Dich nicht mehr, und doch hatte ich noch den unglücklichen, von mir aufgefundenen Geldnachlaß Deiner Mutter in Händen, welcher Dir zugehörte und den ich für Dich bewahrte. Indeß verleitete mich der böse Feind meiner Ruhe, das Unglücksgeld zu einem Unternehmen zu verwenden, das immer mein Lieblingsgedanke gewesen war, und durch dessen Ausführung Dir dennoch Dein ererbtes Eigenthum keineswegs verloren gehen konnte. Das alte Haus stand immer noch mit seinen schwarzen Wänden als düstre Erinnerung an das Geschick meiner entschlafenen Freundin da, und um es auf immer aus meinem Anblick zu vertilgen, beschloß ich, es niederreißen zu lassen und jetzt endlich meinen längst gezeichneten Entwurf zu einem neuen Gebäude auszuführen. Ich baute ein neues prächtiges Haus, welches nur das alte Wohnzimmer Julianens gewissermaßen als Bußstätte und Wallfahrtsort meines Gewissens, wie Ihr es hier seht, heimlich in sich verbarg, aber ich verlebte keine glückliche Stunde in dem glänzenden Hause, das in der That ein glänzendes Elend für mich war. Schwermüthig schlich ich in den schönen, geräumigen Hallen umher, welche mich die Eitelkeit zu errichten verführt hatte, und sehnte mich nach den finstern Mauern zurück, die früher an dieser Stelle gestanden, und in denen ich an ihrer Seite selig gewesen war. Dir, o Magdalene, schöne Tochter der schönsten Mutter, hatte ich längst dies Haus als Dein rechtmäßiges Eigenthum übergeben wollen, um wenigstens von der Seite meines Gewissens um einen Schmerz freier zu werden, aber Mißverstand, Ungunst des Augenblicks und mancherlei andre trübe Zufälligkeiten, welche Frieden und Eintracht der armen verwirrten Menschen hindern, haben immer dies Geständniß, das ich Dir schuldig bin, zurückgehalten bis auf heut. So empfange es denn heut von mir, und nimm den Besitz dieses Hauses von mir an, welches Dein ist, weil es aus dem Nachlaß Deiner Mutter aufgebaut wurde. Ich und mein Röschen, wir sind von heut an nur Gäste in Deinem Hause, aber wir wünschen, daß der heimische Besitz Dich auch an die deutsche Heimat nun fesseln möchte!«
Er schwieg und stand in der tiefsten Bewegung seines Innern von seinem Sitze auf, während seine beiden Zuhörerinnen noch keine Worte finden konnten, um ihr Erstaunen über den unerwarteten Aufschluß auszudrücken, oder die Sache selbst als eine wirkliche zu besprechen.
Eine lange, bängliche Stille trat ein, während welcher der Major im Gemach auf und nieder schritt, und endlich vor dem alten Klavier stehen blieb, auf dem er die Tasten, deren voller Klang längst verhallt war, mit leiser, zitternder Hand berührte, um ihren Ton noch einmal zu versuchen. »Ach!« rief er, könnten die unvergeßlichen Klänge, welche Juliane diesem Instrument zu entlocken wußte, sich wieder beleben, oder könnten jene Stunden sich wieder beleben, in denen ich hier neben ihr saß und auf ihr Spiel lauschte, das sie mit ihrer süßen, frommen Gesangstimme begleitete! Aber Alles ist verklungen wie ihr Gesang, und der bange Nachhall aus vergangener Zeit spricht nur als Stimme des Schmerzes. O könnte ich doch ihr Lieblingslied noch einmal hören, das alte geistliche Lied:
Und wenn mir die Gedanken
Vergehen wie ein Licht,
Das hin und her thut wanken,
Bis ihm die Flamm' gebricht &c.
Er versuchte es, die alte Weise des Liedes auf den Tasten des Klaviers wieder anzuschlagen, und es gelang ihm, die ihm immer in der Erinnerung gebliebenen Töne auf dem Instrument deutlich und ausdrucksvoll zusammenzufügen. In diesem Augenblick aber, während die andächtige Kirchenmelodie auf dem halbverstimmten Klavier seltsam ergreifend durch das Zimmer tönte und Madelon und Röschen im Innersten davor zusammenschauerten, erhob sich plötzlich draußen, erst leise beginnend und allmählig immer vernehmlicher sich aufschwingend, eine wunderbare Stimme, die zitternd und abgebrochen, wie mit geisterhaften Tönen, die Worte des Liedes zu der Melodie anhub:
»Und wenn mir die Gedanken
Vergehen wie ein Licht,
Das hin und her thut wanken,
Bis ihm die Flamm' gebricht,
Alsdenn fein sanft und stille
Laß mich, Herr! schlafen ein,
Nach Deinem Rath und Wille,
Wenn kommt mein Stündelein!«
Den Major hatte ein starres Entsetzen ergriffen, als die unsichtbare Stimme laut wurde, deren Ursprung noch räthselhaft blieb. Seine Züge verzerrten sich zu einem krampfhaften Lauschen und in allen seinen Geberden zuckte es wie ein wahnsinniger Schmerz, welchen der geisterhaft flüsternde Gesang, der wie aus fernen Erinnerungen der Vergangenheit in die Gegenwart herüberschwebte, gewaltsam in ihm aufzuregen schien. Eben wollte es in derselben langsam abgemessenen Weise pathetisch die zweite Strophe anheben, als der Major sich nicht länger hielt, sondern seiner nicht mehr mächtig, mit einem lauten Entsetzensschrei hinausstürzte, indem ihm Madelon und Röschen erschrocken folgten.
Draußen fanden sie die alte Christine auf dem Gange sitzen, welche sich durch die offen gebliebene Tapetenthür nachgeschlichen und die Erzählung des Majors mit angehört hatte. Als Eichen zum Schluß derselben die ihr wohlbekannte Melodie auf dem Klavier anstimmte, ward die Alte so sehr von Erinnerungen hingerissen, daß sie unwillkührlich das Lieblingslied ihrer Herrin zu singen begann, welches sie noch ganz in der feierlichen Ausdrucksweise der seligen Frau von Ramberg vorzutragen verstand.
Sie war also die unsichtbare Sängerin gewesen, aber der Major eilte hastig über den Gang fort, ohne sie zu bemerken. Er eilte, als wenn sich ein Gespenst an seine Fersen geheftet hätte, und auf seinem Zimmer angekommen, warf er sich erschöpft und kraftlos in einen Sessel und verhüllte sein Haupt, das von einer fieberhaften Gluth erhitzt wurde. Anfangs, von seiner Phantasie und der Aufregung des Augenblicks verlockt, meinte er wirklich, die Gesangstimme der abgeschiedenen Freundin aus Geisterferne herüber vernommen zu haben, doch jetzt glaubte er, um sich zu beruhigen, daß er wieder von einer Täuschung seiner verwirrten Sinne überwältigt worden sei, denn in einsamen, träumerischen Stunden, wo er ganz die Vergangenheit in sich zurücklebte, war es ihm oft, als wenn die unvergeßliche Stimme ihn noch umtöne. Es that ihm weh, daß er seine jungen Freundinnen durch den leidenschaftlichen Ausbruch seines Gefühls so erschreckt hatte. Aber wie er sich auch selbst zu beschwichtigen suchte, es gelang ihm nicht, ruhig zu werden. Bald glaubte er wieder das Flüstern der Geisterstimme zu vernehmen, bald überredete er sich selbst, der Gesang könne unmöglich ein Trug der Phantasie gewesen sein, weil er mit solcher Gewalt wirklicher Klänge sein Ohr und Herz getroffen. Schmerz, Verzweiflung und Grausen bestürmten ihn bis zur Ermattung, und in dieser verzehrenden Unruhe ließ es ihn nicht in seinem Zimmer, er sprang auf und rannte wie ein Verfolgter von Gemach zu Gemach, als ob er dem bösen Dämon seiner Gedanken entfliehen wollte.
In diesem Zustande gelangte er in das Zimmer, in welchem Rosalie die von Narciß gefertigte Büste des Vaters verborgen hatte, weil sie ihr hier, wo derselbe nie hinzukommen pflegte, am sichersten vor Entdeckung geschienen. Der Zufall wollte, daß der Major gerade auf die Stelle, wo das Bild in einen durchsichtigen Schleier gegen den Staub verhüllt stand, aufmerksam wurde und es erblickte. Die Abenddämmerung, welche bereits das Zimmer verfinsterte, hinderte ihn, es sogleich zu erkennen, aber indem er es aufhob und verwundert gegen das Fenster hielt, war es ihm fast, als sähe er sein eignes Bild vor sich. »Was ist das?« rief er entsetzt aus. »Noch eine Geistererscheinung, welche mich verwirren und vernichten will? Aber ich muß sehen, ob ich wirklich das räthselhafte Gespenst von Stein bin, das ich in meinen Händen halte!«
Er stürzte fort, der nahe gelegenen Küche zu, wo er, seiner Besinnung kaum mehr mächtig, einen lodernden Brand vom Heerde aufraffte, der ihm zur Leuchte dienen sollte. Niemand bemerkte ihn und so eilte er wieder zurück, um das Unbegreifliche beim Fackelschein deutlicher in Betracht zu ziehn. Er beleuchtete die Züge der Büste, er beleuchtete sein eignes Antlitz, das ihn aus dem steinernen Bilde so wunderbar ähnlich, aber um so schreckensvoller anblickte.
»Wer ist das? Wer bin ich?« Er ließ das Werk des Künstlers langsam zur Erde gleiten und trat wankend vor den Spiegel, um sein Gesicht darin zu schauen und es mit dem Bilde zu vergleichen. Aber indem er die Fackel gegen den Spiegel kehrte, um ihn zu erhellen, sank er plötzlich, von der zu tiefen Erschöpfung aller seiner Sinne gebrochen, ohnmächtig zu Boden. Der Feuerbrand entfuhr seinen Händen und stürzte zischend auf das daneben stehende Kanapee, dessen brennbarer Stoff sogleich hoch empor loderte.
Die Flamme griff mit reißender Schnelligkeit um sich und wühlte sich hastig durch Wand und Decke fort, um ihrer gefräßigen Gier Alles, was sie erreichen konnte, zu opfern. Die knisternde Gluth, welche die Schläfe des Ohnmächtigen umspielte, erweckte ihn endlich aus seiner Betäubung, und er fand noch so viel Zeit, sich aus dem bereits ganz mit Rauch erfüllten Gemach zu retten. Er wankte hinaus, wo ihm das Angstgeschrei und der Hülferuf seiner Hausgenossen schon herzzerschneidend entgegendrang, aber obwohl das Feuer schon den größten Theil des innern Gebäudes in kurzer Zeit ausgehöhlt hatte und in seinem zerstörenden Lauf eben den Giebel des Hauses bestrich, so schien Eichen doch kaum über die Gefahr und das Unglück, zu dem er aus der Ohnmacht so plötzlich erwacht war, bestürzt zu sein.
Er schritt durch einen von der Flamme noch unberührten Gang des Hauses, der ihn zu dem äußersten Ende desselben auf einen nach der Straße hinausgebauten Altan führte, wohin das verzehrende Element noch nicht gedrungen war. Hier stand er und blickte still zu, wie das Feuer an der andern Seite geschäftig tobte und in Gestalt einer goldglänzenden Säule aus dem Dache herausschlug, während das krachende Gebälk zusammensank und unten auf der Gasse das dumpfe Getös der Menge, welche die Rettungswerkzeuge herbeibrachte und alle Anstalten zur Hülfe traf, verwirrt durcheinander schwirrte. Eichen ahnete nur dunkel, wie der Hergang sein möchte, und was zu der auf einmal so veränderten Scene, wie er sie vor sich sah, Anlaß gegeben haben könnte, aber je länger er der allmähligen Zerstörung seines Hauses zublickte, je mehr fühlte er sich von einer milden Ruhe angesprochen, die sein Gemüth mit einer längst entbehrten Erquickung durchzog. Es war ihm, wie wenn er plötzlich von einer Gewissenslast frei würde, die ihn so lange gedrückt hatte, als er die freudlose Pracht, welche jetzt ein Raub der Flamme wurde, bewohnte, und so starrte er gedankenlos lächelnd in das Spiel des Feuers, dessen helllodernder Strom sich ihm immer mehr zu nähern drohte, ohne für seine und des Hauses Rettung besorgt zu sein.
Vielleicht wäre er aus seiner unthätigen Ruhe schnell erwacht, wenn er die Gefahr hätte bemerken können, in welcher sich Madelon und seine Tochter Rosalie in diesem rathlosen Augenblick befanden. Das Zimmer, in dem sie der Ausbruch des Feuers überraschte, war zwar noch nicht von der Flamme erreicht, aber die Treppe, welche von dort aus hinunterführte, der einzig mögliche Ausweg zur Rettung, brannte bereits, und eine erstickende Dampfwolke, deren Qualm immer unerträglicher wurde, erfüllte das Gemach, so daß die Geängstigten nicht mehr zu bleiben wußten. Verzagend standen sie am Fenster, durch das nur noch Hülfe zu erhoffen war, und streckten rufend die Hände aus, um aus der unten versammelten Menge, die um das brennende Gebäude beschäftigt war, ihren Retter herbeizuwinken. Dieser zögerte lange, doch endlich, als Gefahr und Angst aufs Höchste gestiegen waren, fingen ihre Hoffnungen an, sich wieder zu beleben.
Ein junger Mann ward unten bemerkbar, der sich durch den Volkshaufen hervordrängte und unverwandt zu dem Fenster hinaufblickte, an dem sich die verlassenen Damen befanden. Eine Leiter war alsbald herbeigeschafft und angelegt, und er gab ihnen als Verheißung der herannahenden Hülfe ein Zeichen mit dem Schnupftuch. Röschen erkannte ihn sogleich, und sich selbst vergessend und von Freude und Erwartung hingerissen, rief sie aus: »Es ist mein Narciß!« – »Narciß?« fragte Madelon erstaunt, und vor Ueberraschung vergaß sie fast die Schrecken ihrer Umgebung, aus denen der Heraufklimmende, welcher das nicht hohe Fenster bald erstieg, sie zu befreien kam.
Narciß hatte die letzte Stufe der Leiter erreicht und stand vor ihnen. Er sollte nicht nur die Geliebte retten, – und dies beneidenswerthe Glück machte ihn trunken – sondern auch Die, deren Liebe er entflohen war, und deren Wangen sich jetzt durch seinen unvermutheten Anblick zu einer helleren Röthe entzündeten, als durch die Gluth der in ihrer Nähe sprühenden Flamme. Madelon stand zunächst neben ihm, und da der Augenblick drängte, konnte er nicht umhin, ihr zuerst die Hand zum Herabsteigen zu bieten, aber sie trat schnell und mit einer abwendenden Geberde zurück, als er den Arm nach ihr ausstreckte, und stellte sich hinter Röschen, so daß diese den Anfang machen und zuerst die Leiter betreten mußte.
Narciß führte das bebende Mädchen glücklich in seinen Armen hinunter, und ein freudestrahlend der Blick aus ihren Augen lohnte ihm für seinen treuen Dienst. Aber es war keine Zeit mit Herzensergießungen zu verlieren, denn Narciß hatte das Rettungswerk, zu dem ihn sein Schicksal bestimmt, noch nicht vollendet. Er eilte wieder hinauf, wo ihm Madelon verwirrt und bangend entgegenblickte.
»So sehen wir uns wieder, Narciß?« flüsterte sie ihm zu, als er sich ihr nahte und sie ihm zitternd ihre Hand überließ. – »O romantische Venus, ist das Feuer auch gegen die Göttinnen des Romanticismus so ungalant?« erwiederte Narciß leise lächelnd, denn wie wenig die obwaltenden Umstände auch den Witz begünstigen mochten, es war ihm, als könne er sich ihr nur mit einem solchen Scherzwort zur Anknüpfung ihres beiderseitigen Verhältnisses wieder nähern. Dies sagend, führte er die schöne Verzagende hinunter.
Unten fand sich auch der alte Marquis herzu, der bereits auf anderem Wege den Gefahren entkommen war. Der neue Schreck, der dem politischen, von dem er sich noch nicht erholt, auf dem Fuße gefolgt war, hatte ihn so überwältigt, daß er sich schwankend an Madelon lehnte, welche ihm hülfreich ihren Arm zur Unterstützung bot.
»Hilf Himmel! Dort steht mein Vater! Wer rettet ihn?« rief jetzt Rosalie, und deutete entsetzt auf den Alten, zu dem der Zug der Flamme, die an dem einen Theil des Hauses schon gelöscht war, sich hinzuwälzen drohte, und wo der Major noch immer bewegungslos und einem Erstarrten ähnlich verweilte.
»Spielen Sie Ihre Heldenrolle weiter!« sagte Madelon zu dem neben ihr stehenden Narciß, der nicht säumte, das Letzte und nicht Gefahrloseste, das noch zu thun übrig war, zu unternehmen.
Seltsam war die Erkennungsscene, als Eichen, der durch den Zuruf seines herannahenden Retters aus seiner krampfhaften Betäubung erwachte, gewahr wurde, wem er seine Befreiung aus der schrecklichen Lage zu danken habe. Geneigt, Alles für einen Traum zu nehmen, schritt er zweifelhaft herab und konnte den jungen Franzosen, der ihn besorgt geleitete, nicht genug betrachten. –
»Nun seht Ihr, das kommt von der deutschen Romantik heraus!« stöhnte der Marquis an Madelons Arm mit tragikomischer Ironie. »Ihr meintet ja, auch auf einer Winterreise kann man warm werden, und nun habt Ihr ja bei dieser detestabeln deutschen Feuersbrunst einmal etwas recht glühend Romantisches erlebt, wonach Euch immer verlangte. Wohl bekomm' es Euch, schöne Madelon, aber was mich betrifft, so werde ich an diesen Schreck zeitlebens zu denken haben, denn meine Brust ist so angegriffen, daß mich jeder Athemzug wie mit Messerstichen verwundet. Nein, bei meinem Heiligen, in diesem Deutschland ist nicht gut leben, und wenn man auch jetzt in Paris verrückt geworden ist, so will ich doch lieber in meinem Paris mit verrückt werden, als hier bei den überspannten Deutschen verbrennen!«
»Seht, lieber Marquis, wie romantisch das ist!« lächelte Madelon, und zeigte auf die Flamme, deren letzter röthlicher Strahl eben am schwarzen Saum der Nacht im wunderbarsten Farbenspiel verglühte. »Da habt Ihr eine sehr kurze und bündige Definition der Romantik vor Euch, und hatte der gute Romantiker Dubois nicht Recht, wenn er Den einen Narren schalt, der eine andere Definition der Romantik haben wollte, als die man im Leben erlebt?« – –