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Mein liebes, treues Herz! Ich durfte gestern nicht weiter schreiben. Vielleicht war es auch gut so. Mir ist der Kopf zuweilen noch recht schwer und Schatten scheinen mir vor meinen Augen vorüberzuziehen. Ich durfte auch heute noch nicht reisen, sonst hättest Du ja mich anstatt meines Briefes erhalten. Wie sehr danke ich Dir, daß Du meinen Vater bewachst! Ich bin so ruhig, wenn ich an ihn denke, als wüßte ich ihn unter der Obhut eines Engels. So will ich denn brieflich mit Dir weiterplaudern. Meine gute Mutter ruht dicht neben mir auf dem Sofa. Sie erholt sich allmählich von den schweren Schlägen, die uns betroffen. Ich glaube, auch sie hätte heute noch nicht reisen dürfen.
Ich wußte also, daß Justus in meiner Nähe war, weiter nichts. Woher er erfahren, was mit mir geschehen ist, woher überhaupt Kunde von meinem Verbleib nach Neuyork gelangt, das war mir noch ein tiefes Rätsel. Da ich aber Justus White als einen durch und durch wackeren Mann kenne, als einen Mann, der unserer Familie treu ergeben ist, so gewährte mir der Gedanke an seine Nähe eine gewisse Beruhigung. Freilich mußte ich jede Hoffnung, ich könne mich mit seiner Hilfe der Gewalt des Kapitäns entziehen, aufgeben, als wir, wie ich Dir gestern am Schlusse meines Briefes mitteilte, das Lager der Rebellen-Freischar erreichten. Ich begriff, daß ich nun ganz der Willkür des Kapitäns anheimgegeben sei. Flucht war unmöglich, meine Befreiung konnte – so glaubte ich – nicht mehr anders ausgeführt werden, als durch einen Kampf, vor dem ich zurückschauderte, und durch eine große Menschenschar. Mit diesem Gedanken saß ich auf dem Wagen und betrachtete, ohne eigentlich zu wissen, was ich sah, das Lager. Der Kapitän hatte den Wagen verlassen und sprach mit einem Manne, den ich für den Führer der Freischar hielt.
Da plötzlich sah ich, daß die Rebellen die Köpfe in die Höhe reckten, hörte hinter mir den Hufschlag eines Pferdes, und schon im nächsten Augenblicke gewahrte ich neben mir Justus Whites dunkles Gesicht.
»Miß Büchting, zu mir!« rief er mir zu. »Folgen Sie mir, sonst sind Sie verloren!«
Dabei streckte er die Arme nach mir aus. Fast unwillkürlich – denn ich ahnte noch gar nicht, was eigentlich seine Absicht sei – hob ich mich empor, er ergriff mich, zog mich zu sich auf das Pferd, rief es an und sprengte fort. Ich war wie betäubt. In jeder Viertelstunde der letzten Tage, ich möchte sagen, selbst im Schlafe, hatte mich der Gedanke beschäftigt, wie es mir möglich sei, zu entfliehen, oder auf welche Weise es meine Freunde versuchen würden, mich zu befreien. Und nun sah ich mich plötzlich an der Seite eines Freundes, auf einem wie rasend dahinjagenden Pferde! Ich schloß die Augen. Wildes Rufen und Schreien erscholl rings um mich her, Schüsse krachten, und ein ganz seltsames, eigentümliches Pfeifen, das ich mehrmals dicht an meinem Ohr hörte, ließ mir keinen Zweifel darüber, daß die Schüsse auf mich oder auf Justus gerichtet waren. Aber eine Minute genügte, uns aus dem Bereiche der Waffen unserer Gegner zu entfernen.
»Sie sind hinter uns!« flüsterte Justus. »Aber verlieren wir den Mut nicht! Wir entkommen ihnen dennoch!«
Ich hatte die Augen geöffnet und sah, daß Justus hinter sich blickte. Sein ebenholzschwarzes Gesicht verriet eine ungeheure Aufregung, aber zugleich auch einen unerschütterlichen Entschluß. Es ergriff mich wie eine Ahnung, daß ein Mensch in jeder äußeren Gestalt schön sein kann, wenn ein edles Gefühl ihn belebt. Und gewiß war diese Hingebung an mich, an die Tochter eines Mannes, der ihm keinen großen Dienst erwiesen, sondern ihn nur freundlich behandelt hatte, eines der edelsten Gefühle, würdig des gebildetsten und aus dem sogenannten besten Blute entsprossenen Mannes. Es war mir, als ob Ruhe und Zuversicht plötzlich in mich einzögen. Auch ich sah mich um.
Ungefähr sechs Reiter jagten hinter uns her. Sie mußten uns erreichen. Denn obwohl das Pferd meines Freundes – ich werde ihn nie mit einem geringeren Namen nennen! – stark und kräftig war, so bemerkte ich doch, daß unsere Verfolger auf schlanken, flüchtigen Vollblutpferden ritten, von denen unser Pferd in kurzer Zeit überholt sein würde.
»Wir müssen in die Höhle!« sagte Justus, der dieselbe Bemerkung gemacht haben mußte.
Zugleich und noch ehe ich ihn recht verstand, sah ich rechts vor mir ein Gebäude, am Abhang eines bewaldeten Hügels, umgeben von mehreren kleinen Gebäuden. Wir sprengten daran vorüber. Ein Schuß hinter uns belehrte uns, daß sich uns die Verfolger bereits bis auf Schußweite genähert hatten.
»Nun, Miß Büchting, folgen Sie mir ohne Bedenken!« rief Justus. »Es gibt keine andere Zuflucht, und sie wird uns retten, bis Freunde kommen.«
Er hielt sein Pferd an. Wir befanden uns gerade vor einem Stück grauen Felsens, in dem sich eine Oeffnung befand, wie eine große Tür, die zu einem Keller führt. Justus hob mich vom Pferde und trug mich mit einigen weiten Schritten bis an die Oeffnung. Dann nahm er meinen Arm und führte mich hastig einige Holzstufen hinab. Ich sah in eine schwarze Nacht hinein. Mit großer Sicherheit schritt Justus weiter. Eine kühle, nicht gerade unangenehme Luft wehte mich an. Mich ergriff ein leichter Schauder. Aber ich glaube, ich wäre in einen Abgrund gesprungen, wenn mir Justus gesagt hätte, daß es notwendig sei. Bei dem Gedanken, auch nur auf kurze Zeit aus der Gewalt des niedrigen Menschen befreit zu sein, dessen Blicke ich im Geiste immer noch auf mich gerichtet sah, hätte ich vor Freude laut aufschreien mögen.
»Es ist die Mammut-Höhle, Miß Büchting,« sagte Justus, als wir langsam weiter gingen. »Sie müssen nun hinter mir bleiben. Ich kenne den Weg genau. Wir sind, wenn wir verfolgt waren, oft genug in diese Höhle geflüchtet, und ich kenne jeden Winkel. Auf jeden Fall werden wir uns solange hier aufhalten können, bis Mr. Dantes und Mr. Richard angelangt sind und uns befreien.«
Kaum hatte er das Wort gesprochen, als ein furchtbares Krachen, schrecklicher als der schwerste Donnerschlag, den ich je gehört habe, folgte. Der Donner hallte an den Felsenwänden, die uns umgaben, hundertfach wider; ich glaubte, sie würden einstürzen. Ich fürchtete, in die Knie zu sinken und klammerte mich an den Arm meines Führers.
»Aengstigen Sie sich nicht, Miß Büchting,« sagte Justus. »Sie schießen hinter uns her. Aber das schadet uns nichts. Der Weg ist winkelig. Natürlich wird man uns verfolgen; darauf müssen wir gefaßt sein, aber ich weiß Schlupfwinkel, in die niemand dringt. Und ohne Fackeln werden sie schwerlich mehr als hundert Schritte folgen körnten. Ehe sie aber Fackeln erhalten und anzünden, sind wir ihnen weit voraus. Und sollte Kapitän Pettow in meine Nähe kommen – nun, ich habe eine gute Büchse und ein paar gute Revolver bei mir! – Halten Sie nur immer meine Hand fest. Ich bin hier zu Hause!«
Du weißt, meine teuere Jeannette, daß ich Höhlen nicht liebe. Wir beide lehnten es damals, als wir in Cincinnati waren, ab, die Mammut-Höhle zu besuchen, ich bin gerade nicht furchtsam, glaube ich, aber ich liebe nichts mehr, als die freie Natur und Gottes blauen Himmel; ich finde, man kann ihn nicht genug ansehen, und deshalb vermisse ich ungern sein freundliches Dach über mir. Bei dem Gedanken also, in dieser Höhle einige Zeit bleiben zu müssen, ergriff mich anfangs eine große Beklommenheit. Aber welche Qual konnte größer sein, als mich ganz in der Gewalt eines schlechten Menschen zu befinden! Und die Hoffnung, ihm für immer entflohen zu sein, ließ mich alles andere gern ertragen. Freilich, so wenig Zeit ich auch zum Nachdenken hatte, kam es mir doch in den Sinn, daß es uns schwer sein werde, die Höhle zu verlassen, ohne von unseren Feinden bemerkt zu werden, falls sie nicht etwa einen anderen Ausweg hatte, und davon war mir nie etwas zu Ohren gekommen. Richard und Mr. Dantes allein konnten uns nicht helfen, sie mußten mit einer zahlreichen Schar Bewaffneter kommen.
Wir mochten ungefähr eine Viertelstunde lang bald schneller, bald langsamer gegangen sein, als Justus mich bat, still zu stehen. Er lauschte zuerst einige Minuten lang, und da wir nichts hinter uns hörten, so zündete er einen Wachsstock an, den er bei sich trug. Nie werde ich vergessen, was ich empfand, als ich bei dem schwachen Licht die Felsenwände erblickte, die uns umgaben, und hinter ihnen die unendliche Nacht, in der sich der spärliche Schimmer der kleinen Kerze schon nach wenigen Schritten verlor! Wahrlich, durch dieses geringe Licht ward die Nacht erst wirklich sichtbar, und mit Grauen blickte ich in die Abgründe, die sich überall zu öffnen schienen. Ich war vorher mit einer verhältnismäßigen Sicherheit gegangen. Jetzt, als wir unseren Weg fortsetzten, glaubte ich jeden Augenblick zu straucheln und in das Nichts zu versinken. Justus sprach mir jedoch guten Mut ein. Er sagte, er sei diese Wege sehr oft gegangen, er habe sogar früher einmal eine Zeitlang als Führer in der Höhle gedient, und er kenne jede gefährliche Stelle, werde sie also auch zu vermeiden wissen. Ich beruhigte mich zwar ein wenig, aber eine gewisse Beklemmung, eine Empfindung, als sei ich in einem lebendigen Grabe, kehrte mir doch wieder.
Wir gingen, so schnell es uns der jetzt mehr und mehr ebene Boden erlaubte, weiter. Hin und wieder machte mich Justus auf verschiedene Schönheiten der Höhle aufmerksam. Er nannte mir mancherlei Namen: Das Sternenzimmer, die gotische Kapelle – wie wir sie ja aus Beschreibungen schon kennen –, aber ich hatte keinen Sinn dafür. Auch konnte ich bei dem schwachen Licht nur die allernächsten Punkte sehen. Endlich erreichten wir einen Fluß.
Ja, mein Herz, in dieser Höhle gibt es einen Fluß, der, wenn auch nicht breiter als ungefähr vier Ellen, doch ziemlich tief ist, und den man überschreiten muß, um in den zweiten, entlegeneren Teil der Höhle zu gelangen. Justus sagte mir, daß wir erst in dieser zweiten Hälfte sicher seien; er werde den Kahn, der sich dort an einer bestimmten Stelle befindet, mit sich nehmen, sodaß unseren Verfolgern die weitere Verfolgung abgeschnitten ist. Ich nahm sitzend in dem Boote Platz, Justus bat mich aber, niederzukauern, da die Decke der Höhle sich zuweilen tief niedersenke. Auch sei der Fluß sehr angeschwollen, ganz wie der Green-River draußen, mit dem er in Verbindung steht.
Der Fluß heißt Lethe, wie jener Fluß aus der griechischen Mythologie. Ich fügte mich unbedingt den Anordnungen meines Führers, ich kauerte mich auf dem Boden des schmalen Bootes nieder. Vorsichtig ruderte Justus und leitete das Boot oft mit den Händen. Zuweilen hätte ich die Decke über uns mit der Hand reichen können. Mir verging fast der Atem. Nur das Vertrauen in die Sicherheit meines Führers hielt mich aufrecht; wenn ich meinen Blick auf sein ruhiges, entschlossenes und ehrliches schwarzes Gesicht richtete, fühlte ich Mut und Zuversicht in mein Herz zurückkehren.
Glücklich erreichten wir denn auch eine Stelle auf der anderen Seite, auf der eine Landung möglich war. Justus zog den Kahn auf das felsige Ufer, führte mich noch ungefähr 1000 Schritt in das Innere der Höhlen, die sich fest noch geräumiger als die vorderen ausdehnten, und sagte dann, wir könnten nun ruhen.
Erschöpft sank ich auf ein Felsstück. Ich schloß eine Zeitlang die Augen. Es war mit ein Bedürfnis, mich zu erholen. Als ich wieder um mich blickte, sah ich, daß Justus sauber auf einer Serviette kaltes Fleisch und Brot ausgebreitet hatte. Auch eine Flasche mit Sherry stand daneben. Es war mit jedoch noch nicht möglich, irgendetwas zu genießen. Alle meine Fibern zitterten. Ich bat ihn, zu essen und mit fürs erste zu erzählen, wie er von meinem Schicksal unterrichtet worden sei. Darauf teilte er mir folgendes mit:
Er sei Leutnant in einem der neu errichteten Neger-Regimenter und habe vor ungefähr vierzehn Tagen einen Brief von Mr. Dantes erhalten, den er von Afrika her kennt, und für den er dieselbe Verehrung fühlt, wie mein Vater, mein Oheim und Mr. Everett; in diesem Briefe hatte Mr. Dantes, der in der Zeitung seine Ernennung zum Leutnant gelesen und zugleich seinen Garnisonsort erfahren hatte, ihn um Nachrichten über sein Leben gebeten. Er habe sogleich Mr. Dantes geantwortet und dabei zufällig erwähnt, daß er wohl noch wenigstens vier Wochen in Cincinnati bleiben werde. Am 13. Juli abends habe er nun plötzlich eine Depesche von Mr. Dantes erhalten, mit der einfachen Anfrage: »Sind Sie noch in Cincinnati?« Er habe sogleich bejahend geantwortet und darauf sei ihm in der Nacht noch eine ausführliche Depesche zugegangen, mit genauer Angabe dessen, was mit mir geschehen, und der Bitte, auf jeden Zug, der in Cincinnati ankomme, zu achten. So hatte er uns denn auf dem Bahnhofe aussteigen sehen, war uns gefolgt, hatte später eine Depesche an Mr. Dantes geschickt und dann genau auf das Hotel acht gegeben, in das mich Pettow geführt. Als ich spät noch einmal das Fenster öffnete, um frische Luft einzulassen, war es ihm gelungen, mir einen Zettel heraufzuwerfen, der mich beruhigen sollte. Am folgenden Morgen war er mir dann gefolgt, hatte aber zugleich einem Freunde eine Depesche gegeben, mit dem Auftrage, sie an Mr. Dantes zu befördern. In dieser meldete er, daß Pettow mich nach dem Süden führte. Dieselbe Nachricht hatte er auf dem Eisenbahnhofe zurückgelassen, da er voraussetzte, daß Mr. Dantes sich dort nach ihm erkundigen werde. Es ließ sich also voraussehen, daß Dantes und Richard – auch von dessen Wiedererscheinen hatte ihn der Missionar unterrichtet – mit dem nächsten Eisenbahnzuge in Cincinnati eintreffen würden, und Justus war fest überzeugt, daß Mr. Dantes unsere Spur finden, auch die geeigneten Mannschaften sammeln werde, um Pettow und seinen Verbündeten die Spitze zu bieten. Er sagte, es handele sich nur darum, einen, höchstens zwei Tage in der Höhle auszuharren. Dann würden unsere Gegner vertrieben sein und wir könnten die Höhle frei wieder verlassen.
Auf meine Frage, ob es denn auch wirklich unmöglich sei, daß die Verfolger uns hier erreichten, antwortete er mir, es gebe allerdings einen Weg hierher, auf welchem man den Fluß nicht zu überschreiten brauche – den sogenannten Weg durchs Fegefeuer – aber dieser sei so gefährlich, außerdem auch so unbekannt, daß er nicht glauben könne, unsere Verfolger würden ihn einschlagen. In diesem allerschlimmsten Falle bliebe uns jedoch noch ein Ausweg. Es schien mir, als sei er etwas befangen bei dieser Mitteilung, und ich fragte deshalb nicht weiter.
Wohl aber fragte ich ihn, wie er zu der Mitteilung gekommen, daß ich von Pettow das Schlimmste zu befürchten habe. Darauf erwiderte er mir, daß Mr. Dantes zweite Depesche seht ausführlich gewesen sei. Der Missionar habe ihm darin mitgeteilt, Pettows Absicht sei es, mich auf jeden Fall von Mr. Richard zu trennen, ja mich zu töten, wenn er fürchte, eingeholt zu werden. Und dann teilte er mir zögernd mit, – was Du jetzt gewiß schon weißt, meine teuere Jeannette – daß Pettow es gewesen, der Richard nach dem Leben getrachtet hatte.
Ich war von dieser Nachricht vollkommen niedergeschmettert. So unglaublich sie mir anfangs schien, so sagte mir doch eine innere Stimme, daß sie wahr sei, und Pettows Gestalt stand nun in ihrer ganzen gräßlichen Wahrheit vor meinem Geiste. Laß mich darüber hinweggehen! Ich möchte nie mehr daran denken!
Nun wußte ich, daß allerdings mein Leben in Gefahr sei, und ich mußte Justus beistimmen, als er mir sagte, daß er, falls wir wirklich von Pettow weiter verfolgt und sogar angegriffen würden, entschlossen sei, den ersten tödlichen Schuß auf Pettow zu richten. Nur wenn dieser Mensch nicht mehr lebe, seien Richard und ich außer Gefahr.
Alle diese Erzählungen waren von langen Pausen unterbrochen, in denen Justus vorsichtig in die Nacht der Höhle hinauslauschte. Wir hörten jedoch nicht das leiseste Geräusch. Von der erdrückenden Stille, von der Einsamkeit einer solchen Höhle hast Du keinen Begriff.
Justus sagte mir, daß seine Lebensmittel, wenn wir etwas sparsam damit umgingen, ungefähr für drei Tage reichten. Nach drei Tagen aber würden Mr. Dantes und Richard uns ohne Zweifel zur Hilfe kommen. Das Gerücht, daß zwei Personen in die Höhle geflüchtet und verfolgt worden seien, müßte sich inzwischen längst durch die ganze Gegend verbreitet haben, und Mr. Dantes sei im Einziehen von Nachrichten und im Verfolgen einer Spur so geschickt wie nur irgend ein Indianer. Er bat mich, ganz beruhigt zu sein und womöglich die Nacht durch zu schlafen, damit ich mich am folgenden Tage wohl fühle und auf alle Ereignisse gerüstet sei.
O, Jeannette, könnte ich Dir jemals beschreiben, mit welchen Gedanken ich mich in einer großen und geräumigen Nische, die mir Justus zeigte, niederlegte! Meine Eltern, Richard, Du, meine Freunde – Ihr alle standet vor mir, und ich unterhielt mich mit Euch. Ich dachte daran, ob es wohl ähnlich sein würde, wenn ich tot sei! Diese entsetzliche Stille? Ach, wie geräuschvoll ist die ruhigste Nacht über der Erde gegen dieses erdrückende Schweigen der Unterwelt – ja, es ist Todesschweigen! Ich half mir endlich damit, daß ich meine Uhr in die Nähe des Ohres legte. Während ich dem einförmigen Ticktack lauschte, schlief ich wirklich ein.
Ich wachte mit dem Gedanken, daß die Höhle einstürze, mit einem Schrei auf. Schwarze Nacht rings um mich her. Justus hatte die Wachskerze ausgelöscht. Erst als er mir einige Worte zurief, beruhigte ich mich ein wenig. Ich bat ihn, den Wachsstock anzuzünden. Er tat es, umstellte ihn aber von allen Seiten mit Felsstücken, die auf dem Boden lagen. Ich fragte ihn, warum er diese Vorsicht gebrauche.
»Ich habe vor ungefähr einer halben Stunde etwas wie fernes Geräusch gehört,« antwortete er mir. »Es ist sehr leicht möglich, daß es nichts weiter war als herabbröckelndes Gestein. Aber es könnte doch auch möglicherweise von Menschen hergerührt haben. Freilich könnten es auch unsere Freunde sein. Wenn Mr. Dantes, woran ich kaum zweifele, einen Extrazug genommen hat, so könnte er bereits in der Nähe sein. Erlauben Sie mir, Miß, daß ich Sie auf ungefähr zehn Minuten verlasse. Ich kenne eine Stelle, von der aus man jedes auch noch so leise Geräusch sehr, sehr weit hören kann. Bleiben Sie ruhig in dieser Nische, und sollten Sie Schritte hören, so löschen Sie nur die Kerze aus. Ich werde mich schon zu erkennen geben.«
Er ging, und ich blieb in ängstlicher Erregung zurück. Der Schlaf in der Nacht hatte mich ein wenig gekräftigt. Ich sah nach der Uhr – vier Uhr morgens. O, welcher lange Tag lag vor mir! Ich mußte mir immer wieder zurückrufen, welcher Gefahr ich entgangen sei, um mich mit der Gegenwart zu versöhnen. Aber war ich ihr denn entgangen? War die Gefahr vorüber? Justus schien mir besorgt zu sein. Gab es wirklich keinen anderen Weg bis hierher? Oder konnten nicht unsere Verfolger ein anderes Boot nach dem Lethe geschafft haben? Ich vermochte kaum zu atmen. Die Brust war mir beengt.
Da unterbrach ein fernes Krachen, demjenigen ähnlich, das mich am vergangenen Tage, kurz nach meinem Eintritt in die Höhle, so gewaltig erschreckte, das beängstigende Schweigen. Ein zweites Krachen folgte, ein drittes. Das mußten Schüsse sein – Justus war angegriffen, vielleicht schon getötet. Ich sprang auf. Alle Vorsicht vergessend raffte ich mein Täschchen sowie einige von den Sachen auf, die Justus bei sich führte und dieser auf seiner Lagerstatt zurückgelassen hatte. Dann lauschte ich atemlos – wieder fielen einige Schüsse, und sie folgten so schnell aufeinander, daß ich wohl erraten konnte, Justus habe sie nicht allein abgefeuert.
Plötzlich hörte ich eilige Schritte und die Stimme meines Freundes.
»Miß Büchting! Miß Büchting!« rief er.
»Wir müssen fliehen!«
Dabei war er dicht bei mir. Er konnte vor Aufregung nicht sprechen und deutete nur mit der Hand nach der Richtung, in der wir am vergangenen Tage gekommen waren. Ich eilte vorwärts. Er blieb hinter mir, um mir den Rücken zu decken. Nach wenigen Minuten erreichten wir das Boot. Justus schob es sogleich in den Fluß. Es schien mir, als sei er höher als am vergangenen Tage.
»Nun legen Sie sich der Länge nach auf den Boden des Bootes,« sagte Justus. »Es gibt kein anderes Mittel, uns zu retten. Verlieren Sie nur den Mut nicht. Was auch kommen möge. Gott wird mit uns sein.«
Der schwarze Mann von verachteter Rasse sprach diese Worte mit einer so tiefen, inneren Gläubigkeit und Zuversicht, daß es mir warm und vertrauensvoll durchs Herz ging. Seltsame Fügung, meine Sicherheit der Hand eines Mannes anvertraut zu sehen, vor dem Pettow und seine Freunde – ich weiß es recht gut – mit Abscheu auszuspeien pflegten! Und dieser Mann sollte mich retten vor einem sogenannten Freunde, einem Manne, der mit mir groß geworden, der mich zu lieben behauptete, einem Manne, der die beste Erziehung genossen! O, teuerste Jeannette, niemals fühlte ich mehr als in jenem Augenblicke, wie töricht alles Geschwätz über Rassenunterschiede ist, und daß unter jeder Hautfarbe ein edelmütiges Herz schlagen kann, gleichviel welcher Art auch sonst die äußeren Manieren und Gewohnheiten sein mögen!
»Ich werde das Boot schwimmend lenken,« sagte Justus, nachdem ich mich der Länge nach auf den Boden des Kahnes niedergestreckt und die Augen geschlossen hatte. Dabei stieß er das Boot ab. Der Fluß war so hoch angeschwollen, daß hin und wieder der Rand des Bootes an die Felsenecke stieß und Justus das kleine Fahrzeug niederdrücken mußte, um es weiterzuschieben.
Meine Ansicht war, daß wir nach der vorderen Abteilung der Höhle, nach dem Eingange zu, zurückkehren wollten. Ich dachte, Justus würde unseren Verfolgern zuvorkommen und den Ausgang vor ihnen erreichen.
Das Boot wurde von Justus langsam vorwärts geschoben. Unter mir plätscherte das Wasser. Ich fühlte an der schweren Luft, daß der Raum über mir bis zur Decke der Felsenwölbung nur wenige Zoll betragen konnte, und ich hörte auch meinen Freund tief und schwer Atem holen. Zuweilen hielt er inne. Dann erzählte er.
»Kapitän Pettow und seine Genossen haben den Fegefeuerweg entdeckt,« sagte er. »Es waren ihrer, soviel ich bei dem Scheine der Fackeln, die sie trugen, zu erkennen vermochte, ungefähr zwölf, die den gefährlichen Weg gewagt. Drei habe ich getroffen, das weiß ich. Aber der Kapitän ist wahrscheinlich nicht dabei. Ich sah ihn wenigstens nicht genau. Sie haben mir den Tod geschworen – nun, ich lache darüber! Diesen Weg hier folgt uns niemand. Es kennt ihn keiner außer mir und einigen Genossen, vielleicht auch Mr. Dantes, denn ich weiß, daß er sich vor einigen Jahren mehrere Tage lang in dieser Höhle aufgehalten hat. Und er kennt, er weiß ja alles! Hätte er mich retten können, so wäre ich nie nach Amerika gekommen. Aber er konnte mich später wenigstens loskaufen und zu Mr. Büchting führen. Deshalb wage ich gern mein Leben für ihn und für Mr. Büchtings Tochter, Gott wird mit uns sein! Aber nie war der Fluß so hoch!«
Ich antwortete ihm nicht, denn ich fühlte, daß ich es nicht konnte. Die Zunge war mir fest geworden, ich vermochte kaum zu atmen. Zuweilen wollte der Kahn nicht mehr vorwärts. Ich fühlte, welche Gewalt Justus anwenden mußte, um ihn unter den Felsen fortzuzwängen. Ich hörte es an seinem tiefen, gewaltsamen Stöhnen, daß der riesenstarke Mann mit dem Aufgebot seiner ganzen Kraft arbeitete.
»Können Sie es noch fünf Minuten ertragen, Miß Büchting?« fragte er dann. »Beten Sie! Beten Sie!«
Ja, ich betete! Ich fühlte, daß ich nur noch wenige Minuten diesen entsetzlichen Mangel an Luft ertragen könne, daß ich dann aufschreien, mit den Händen emporfahren, irgendetwas tun müsse, was mir doch nichts helfen könne. Es war der Tod, der an mich herantrat. Blitze flammten mir scheinbar vor den Augen, ein dumpfes Klingen und Dröhnen erfüllte mein Ohr, das Herz begann mir mit furchtbarer Macht zu schlagen, ein Zittern ging mir durch alle Glieder – dann durchflog es mich wie elektrische Schläge.
»Mut! Mut!« hörte ich eine Stimme, wie aus dem Wasser heraus, wie das Röcheln eines Sterbenden.
Jetzt konnte ich nicht mehr – ich stieß einen Schrei aus – ein Felsstück streifte meinen Kopf – zum Glück für mich, denn der Schmerz zog meine Gedanken, die sich verwirrten, auf einige Momente von dem gräßlichen Bewußtsein meiner Lage ab – dann war es mir, als ob eine Welle von blauem Licht wie eine Brandung über mich hereinschlage – ich verlor die Besinnung – –
Als ich zu mir kam, vermochte ich zwar die Augen aufzuschlagen, und ich sah über mir in den blauen, wolkenlosen Himmel, den ich so lange nicht gesehen, aber ich konnte mich nicht regen, alle meine Glieder waren wie erstarrt. Erst der Gedanke an meinen Begleiter und an die Möglichkeit eines Unglücks, das ihm zugestoßen sein könne, gab mir plötzlich soviel Kraft, die Erstarrung, die mich umfangen hielt, abzuschütteln und mich aufzurichten. Nun sah ich, daß ich mich noch in dem Boot befand. Dicht zu meinen Füßen floß ein ziemlich breiter Fluß, dessen jenseitiges Ufer von schönen Bäumen eingefaßt war. Ein wenig vor mir, in einer Art Felsennische am Ufer, mit den Füßen noch im Wasser, lag mein treuer Freund und Retter, Justus White, ganz starr und regungslos, mit dem Gesicht auf der Erde. Seine rechte Hand hielt noch den Strick des kleinen Bootes, der dazu gedient hatte, es in der Höhle am Ufer zu befestigen.
Ich sprang auf. Der Gedanke, daß Justus tot sei, daß er für mich sein Leben geopfert, ergriff mich mit unbeschreiblicher Pein. Ich stieg ans Land und beugte mich über ihn – kein Atemzug! Ich versuchte, ihn ganz aus dem Wasser zu ziehen, und es gelang mir. Dann zog ich auch das Boot auf das felsige Ufer. Es lagen die Tasche meines Freundes, seine Büchse und seine Revolver darin. In meiner Angst wußte ich nichts weiter zu tun, als die Sherryflasche zu öffnen, mir etwas Wein in die hohle Hand zu gießen und ihm die eiskalten Schläfen damit zu waschen. Zu meiner unsäglichen Freude bemerkte ich, daß er ein wenig zu atmen begann, dann ergriff ihn ein Krampf, alle seine Glieder dehnten sich wie in Todeszuckungen, und ich fürchtete, er werde vor meinen Augen verscheiden. Als die Zuckungen ein wenig nachließen, öffnete er die Augen. Es schien ihm zu ergehen, wie vorher mir; er konnte sich nicht regen. Ich füllte nun das kleine Glas, das sich in der Tasche befand, mit Sherry, hielt es ihm an die Lippen und ließ ihn den Wein tropfenweise einschlürfen. Das Bewußtsein mußte ihm zurückgekehrt sein, denn er dankte mir mit einer Bewegung seiner Augen. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus und versuchte sich aufzurichten. Ich bat ihn, den Rest des Weines auszutrinken. Das schien ihn zu beleben. Er atmete tief; auch ihn schien der Luftmangel erstickt zu haben. Er sah mich eine Zeit lang schweigend an. Dann richtete er sich auf, so daß er kniete, faltete die Hände und betete in einer Sprache, die ich nicht verstand, wohl in der Sprache seines Vaterlandes. Ich kniete neben ihm nieder, und unsere Gebete stiegen vereint empor.
»Es ist gelungen, Miß Büchting!« sagte er dann mit großer Anstrengung. »Ich hatte die Hoffnung aufgegeben. Die Notwendigkeit, mit dem Kopf unter Wasser zu bleiben und nur auf Sekunden emportauchen, um atmen zu können, hat meine Kräfte erschöpft und mich bewußtlos gemacht. Doch es ist gelungen. Ich habe nie Aehnliches erlebt.«
Ich ließ ihm Zeit, sich zu erholen, und unterbrach ihn mit keiner Frage. Ich reichte ihm noch ein Glas Wein, das er begierig austrank. Dann bat er mich, selbst zu trinken. Ich mischte mir ein Glas Wein mit dem silberhellen Wasser, das neben der Felsennische aus dem Gestein niedertropfte, und trank. Nun fühlte ich neue Lebenskraft zurückkehren. Ich begriff, daß wir vor allem körperliche Stärkung notwendig hätten und reichte meinem Freunde Brot und Fleisch und aß selbst. Er sah mich dankbar lächelnd an und wollte meine Hand küssen, aber ich ergriff, ehe er es verhindern konnte, die seinige und küßte sie – die Hand, die mich meinen Eltern, dem Leben, Dir, Richard, wiedergegeben. Welch höllisches Gelächter würde Pettow angeschlagen haben, hätte er gesehen, daß die Tochter des reichen Mr. Büchting dem Neger die Hand küßte!
»Miß Büchting,« sagte Justus dann, »ich glaube, daß wir das Schwerste überstanden haben, denn unmöglich können unsere Freunde jetzt noch fern sein. Wir haben ein großes Wagestück unternommen, und daß es gelungen ist, verdanken wir nur Ihrer Ausdauer! Ich habe ein einzigesmal in meinem Leben diesen Weg gemacht, aber damals war der Fluß niedrig. Es war schwer, aber im Verhältnis zu heute eine Kleinigkeit. Hier dicht daneben ist nämlich die Stelle, an der der Arm des Green-River, der die Mammut-Höhle durchschneidet, in die Höhle tritt. Bei niedrigem Wasserstande ist es, wenn auch nicht leicht, doch ungefährlich, sowohl in die Höhle hinein-, als herauszugelangen. Aber das Wasser war so hoch wie selten. Und gerade hier – am Einfluß – verengt sich der ohnehin schmale Kanal. Ich mußte mit dem Aufgebot meiner ganzen Kraft das Boot niederdrücken, und dabei blieb ich selbst mit dem Kopf unter Wasser. Nur an wenigen Stellen konnte ich Luft schöpfen. Außerdem wirkte mir die heftige Strömung des Wassers entgegen. Genug, ich hatte es aufgegeben – ich war in Verzweiflung. Da endlich sah ich Licht. Aber ich glaubte untersinken zu müssen. Es war mir genug, Sie gerettet zu haben. Wenigstens hoffte ich das!«
»Mein lieber Freund,« antwortete ich ihm, »Sie tragen einen Lohn in Ihrem Herzen, dem kein irdischer Lohn gleichkommt. Erholen Sie sich! Und dann lassen Sie uns überlegen, was nun zu tun ist. Wäre es nicht möglich, Cincinnati zu erreichen?«
Er blickte eine Zeit lang bedächtig vor sich hin.
»Ich möchte Ihnen folgendes vorschlagen, Miß Büchting,« sagte er dann. »Es ist Morgen, und wenn ich alles richtig überlege, so müssen Mr. Dantes und Mr. Richard bereits auf dem Wege hierher sein. Ich will jedoch annehmen, Sie seien noch nicht gekommen. Ich will also sehr vorsichtig handeln, nicht um meinet-, sondern um Ihretwillen. Bleiben Sie hier. Diese Stelle ist wohl nur wenigen Menschen bekannt. Und wäre sie es auch, so wird doch niemand auf den Gedanken kommen, daß es uns gelungen sei, bei diesem hohen Wasserstande ins Freie zu gelangen. Man wird vermuten, wir seien noch irgendwo in der Höhle versteckt und wird uns dort suchen. Ich möchte also allein aufs Kundschaften ausgehen. In dem Hotel am Eingange der Höhle ist ein Freund von mir Aufwärter. Ich könnte von ihm vielleicht etwas Genaueres erfahren. Wir ziehen das Boot ganz aufs Ufer, verbergen es hinter den Steinen, und auch Sie nehmen eine Stellung ein, in der Sie nicht vom Flusse oder vom jenseitigen Ufer aus bemerkt werden können. Einige Lebensmittel sind noch vorhanden, und sollte ich auch in einigen Stunden nicht zurückkehren, so ängstigen Sie sich nicht. Ich komme gewiß.«
Er sagte das alles mit einer so herzlichen Ueberzeugung, daß ich ihm unwillkürlich seine Hand innig drückte.
»Wir müssen dies schon um Mr. Richards und Mr. Dantes Willen tun,« fuhr er fort; »denn wenn sie erfahren, daß wir uns in die Höhle geflüchtet haben, und daß wir verfolgt werden, so werden sie unseretwegen in großer Sorge sein. Auch möchte ich versuchen, Mr. Pettow auf Schußweite nahe zu kommen ...«
»Sie wollen ihm ans Leben?« unterbrach ich ihn.
»Gewiß!« antwortete er ruhig und ernst. »Dieser Mensch ist dem Gesetz verfallen, und da er keinen Augenblick davor zurückschrecken würde, Sie oder Mr. Richard zu töten, so ist es die Pflicht eines jeden Menschen, ein solches Ungeheuer unschädlich zu machen.«
Ich vermochte ihm nichts zu erwidern, obgleich mir vor dem Gedanken graute, daß um meinetwillen Blut vergossen werden sollte. Auch sah ich, daß Justus unruhig geworden war, und da ich die Lebhaftigkeit der Schwarzen kenne, die nicht eher Ruhe haben, als bis sie den Entschluß, den sie einmal gefaßt, ausgeführt haben, so widersprach ich ihm nicht. Er zog das Boot auf die Felsen, als sei es ein Spielzeug, und verbarg es so geschickt, daß es vom Flusse und vom Ufer aus nicht bemerkt werden konnte. Dann sagte er mit, ich solle mich nur in das Boot setzen. Seine Büchse und den einen Revolver, beide geladen, ließ er mir zurück und nahm nur den einen Revolver mit sich.
Darauf riß er die Tressen, Achselschnüre und Sterne von seiner Uniform.
»Man soll mich nicht erkennen!« sagte er. »Bewahren Sie die Kleinigkeiten auf, zum Andenken an das wunderbare Abenteuer, das wir überstanden haben.«
»Ich werde sie wie Kleinodien betrachten,« antwortete ich ihm.
Und in der Tat – diese Kleinigkeiten, wie Justus sie nannte, sollen für mich ewig teure Erinnerungszeichen bleiben. Ich gebe sie nie heraus.
So verließ er mich und kletterte den Felsen hinauf wie eine Eidechse. Ich blieb in einer schwer zu beschreibenden Stimmung zurück. Wenn ich den Fluß zu meinen Füßen, die Bäume am anderen Ufer, den blauen Himmel über mir sah, so meinte ich im Paradiese zu sein und hätte laut aufschreien mögen, vor Entzücken. Und wenn ich dann wieder bedachte, wie wenig getan sei, und daß ich vielleicht schon in kurzer Zeit meinem Todfeinde wieder gegenüberstehen könne, so ergriff mich unendliche Angst. Ich hätte das Boot in den Fluß schieben, auf das andere Ufer hinüberfahren und in den Wald fliehen mögen, nur um die Gewißheit zu haben, daß ich mich von Pettow entferne. Auch bei mir stand es jetzt fest, daß er entschlossen gewesen, mich lieber zu töten, als mich aufzugeben.
Es war sechs Uhr morgens, als mich Justus White verließ. Nichts störte meine Einsamkeit. Hinter einem Felsstück verborgen, blickte ich hinaus in die morgendlich frische Natur auf den Tau, den die Sonne aufsog. Kleine Vögel kamen bis dicht vor meine Füße und pickten die Brosamen unseres Mahles auf; die Fische spielten in dem dunkelgrünen Gewässer des Flusses, Eidechsen schlüpften die Felsspalten entlang. Selbst ein Fuchs kam dicht heran, blickte mich eine halbe Minute lang ganz verwundert an und zog sich dann wieder zurück. Es war mir seltsam zumute. Ich fühlte, daß ich ein Wagnis auf Leben und Tod bestanden hatte. Ich wußte, daß vielleicht nur hundert Schritt von mir im Schoß der Erde meine Verfolger nach mir suchten. – –
Da unterbrach ein fernes Krachen meine Gedanken. Ich kenne den Knall von Büchsenschüssen zu gut, als daß ich nicht sogleich gewußt hätte, es handele sich um ein Gefecht. Also mußten Unionstruppen auf Jacksons Freischar gestoßen sein, Unionstruppen, die vielleicht von Richard und Dantes geführt wurden. Das Gewehrfeuer war heftig und ziemlich entfernt. Ich lauschte mit verhaltenem Atem. Der Kampf dauerte ungefähr zehn Minuten. Dann wurde alles wieder still.
Ach, mein armes Herz, was hast Du in jenen Stunden erduldet! Wie war die Entscheidung ausgefallen? Wer hatte gesiegt? So wie ich Richard und seinen ehrwürdigen Freund kannte, wußte ich, daß sie nicht davor zurückbeben würden, die Freischar auch mit einer Handvoll Leute anzugreifen. Wieder ergriff mich eine Unruhe, die ich kaum zu bemeistern vermochte. Es war mir, als sehe ich Richard tot. –
Da plötzlich rauschte es dicht neben mir. Das Blut erstarrte mir zu Eis. Irgend jemand, einer oder auch mehrere Personen, schienen gewaltig mit dem Wasser zu ringen. Ich hörte ein heftiges Aechzen und Stöhnen. Sollten unsere Verfolger in der Höhle den Weg entdeckt haben, auf dem wir geflohen und uns gefolgt sein? Einige Sekunden lang war ich wie erstarrt. Dann kam es über mich wie todeskalte Entschlossenheit. Ich hätte nimmer geglaubt, daß ich jemals etwas Aehnliches empfinden könnte, wie ich es in jenem Augenblick empfand. Meine Hand griff nach dem Revolver und ich spannte den Hahn. Ich wollte mein Leben, meine Ehre verteidigen.
Ich bückte mich tiefer hinter die Felswand und sah durch eine Spalte nach dem Fluß.
»Alle Teufel, ein Stück Arbeit, das man nur ums Leben tut!« sagte eine Stimme, die ich nicht kannte.
»Ja, nur ums Leben oder um der Rache willen!« antwortete eine andere Stimme. Und diese kannte ich. Es war die Stimme Pettows.
Blitzschnell schossen mir die Gedanken durch den Kopf. Es war nicht sehr schwer, den Zusammenhang zu erraten. Meine Verfolger in der Höhle mußten erfahren haben, daß sie ihrerseits verfolgt würden, daß sie die Höhle nicht verlassen dürften, ohne gefangen zu werden. So hatten auch sie den Ausgang gewählt, den Justus eingeschlagen. Wenn auch schwierig, war das Unternehmen ihnen doch leichter geworden, da sie nicht, wie Justus, in dem engen Kanal ein Boot fortzuschieben hatten.
»Gut, daß ich den Weg kannte,« sagte die andere Stimme; »er hat mich schon einmal gerettet.«
Jetzt tauchten ihre Köpfe vor mir auf. Jeannette, es ist mir unmöglich, zu beschreiben, was ich sah. Dieses bleiche, hohläugige Gesicht Pettows – kein Teufel kann furchtbarer gedacht werden! Eine entsetzliche Abspannung, verbunden mit ohnmächtiger Wut und kaum zu ertragendem Ingrimm, stand auf seinem Gesicht, das mir, seitdem ich es nicht gesehen, um zehn Jahre gealtert erschien! Sie hielten sich beide mit den Händen an dem felsigen Ufer fest.
»Laß uns einige Minuten hier ruhen, ich kann nicht weiter,« sagte der andere – es war Jackson, wie ich später erfuhr.
»Auch ich kann nicht weiter – es war ein hartes Stück Arbeit!« sagte Pettow, und sie schwangen sich mühsam ans Ufer und setzten sich auf dieselbe Stelle, auf der noch vor kurzem Justus gesessen.
Ich hielt den Atem an. Aber ich war ruhig. Ich war felsenfest entschlossen, zu schießen, sobald Pettow mich entdeckte, denn ich wußte, daß er mich töten, mich in den Fluß werfen oder erwürgen werde, wenn er mich sehe.
»Dein Vögelchen ist Dir entgangen,« sagte Jackson. »Daß ein Mann ein Boot durch diesen Kanal geschafft hat, ist unmöglich, das siehst Du ein. Sie müssen sich irgendwo in der Höhle versteckt haben.«
Pettow murmelte einen entsetzlichen Fluch. Er hatte die Hände ineinander verschlungen und rieb sie, wie in Gedanken versunken; seine Finger waren weiß, blutlos, wie erstarrt.
»Ja,« sagte er dann, »ich glaube es. Kein Mann bringt ein Boot hindurch. Ich selbst hätte es nicht gekonnt, und doch – doch weiß ich, was man kann, wenn man der ganzen Welt Trotz bieten will! Nun, das eine weiß ich – die nächste Kugel, die ich absende, gilt dem Richard Everett und die zweite ihr! Oder auch umgekehrt – wie es sich macht – ich weiß es noch nicht.«
Er ließ seinen Kopf auf die Brust niedersinken. Ich sah sein Gesicht nur von der Seite; es war aschfahl, wie das eines Toten. Ein unaussprechlich boshafter, rachsüchtiger Zug verzerrte es. Ich hielt meinen Revolver fest.
»Halt! Hörst Du nichts?« flüsterte Jackson dann. »Sind das nicht Schritte?«
Mein Herz pochte so laut, daß ich glaubte, die beiden vor mir müßten es vernehmen.
»Kann sein!« sagte Pettow. »Aber was geht das uns an, hier vermutet uns niemand.«
»Ich glaube es auch!« sagte Jackson. »Aber schau – was ist das?«
Wieder war es mir, als zerschnitte ein Messer mein Herz. Jackson hatte einen Handschuh, den ich aus meiner Tasche verloren, auf dem Felsboden entdeckt und hob ihn empor.
Der bloße Anblick eines Gegenstandes, der Pettow an mich erinnerte, schien dem Elenden neue Lebenskraft zu geben. Das Blut schoß ihm in die Wangen. Er starrte den Handschuh an.
»Er gehört ihr!« sagte er kaum hörbar. »Sie haben sich gerettet – hierher – –«
»Unmöglich!« sagte Jackson.
»Und doch!« rief er, »es ist ihr Handschuh – ich kenne ihn. O, wenn ich wüßte, wo sie wäre! Sie können nicht fern sein! Komm Jackson – wir haben keine Waffen, die Revolver sind durchnäßt – aber ich habe Hände, ich habe Zähne ...«
Und er fletschte die Zähne wie ein wildes Tier.
Dabei war er aufgesprungen. Ich kauerte mich nieder – er mußte mich sonst sehen. Und er mußte mich bereits gesehen haben, denn er stieß einen Schrei aus – einen Schrei, wie ich ihn nie vorher gehört habe.
Ich hatte meinen Revolver erhoben und streckte ihm die Mündung entgegen, den Finger am Drücker.
Was darauf geschah, weiß ich kaum. Gesehen habe ich es, denn meine Augen waren offen. Aber es geschah alles blitzschnell – noch jetzt geht es mir wirr im Kopf herum, wenn ich daran denke – aber ich muß es Dir beschreiben. Eine Gestalt sprang von oben herunter, gerade auf Pettow zu, und riß ihn zu Boden. Ich sah nur ein blondlockiges Haupt, wie ich es früher so oft und seitdem nur in meinen Träumen gesehen – ich sah ein gewaltiges Ringen, es war mir, als hörte ich, wie die Muskeln der beiden Männer sich spannten und krachten – Jackson war bereits verschwunden – dann sah ich beide ins Wasser rollen.
»Das Boot!« rief eine Stimme.
Ich sah, daß Dantes und Justus vor mir standen. Ich sprang auf und trat aus dem Boote. Justus ergriff es, schob es ins Wasser und sprang hinein. Dantes nahm meine Hand.
»Ruhig, meine Tochter!« sagte er.
Ich weiß nicht, wie es mir möglich war, noch zu sehen, zu denken. Nur um Richards willen hielt ich mich aufrecht. Da sah ich einen blonden Kopf auftauchen – dann sogleich daneben einen schwarzen. Eine Hand erhob sich und schlug nach Richard – aber Richard wehrte ab und erwiderte den Schlag. Der schwarze Kopf verschwand. Wir sahen ihn nicht mehr. Richard kam nach dem Ufer geschwommen. Justus stand, die Büchse an der Wange, die Mündung auf den Fluß gerichtet. Aber es tauchte niemand wieder auf.
So war ich denn frei, war gerettet. Und Richard stand vor mir, das Wasser floß ihm aus dem Haar und von den Schultern. Er reichte mir die Hand. Ich sank ihm ans Herz. Und zum erstenmale brachen Tränen aus meinen Augen – ach, Tränen, himmlische, glückliche, erleichternde Tränen! – –
*
Ich will Dir nun noch in aller Kürze und Ruhe erzählen, was vorgegangen und wie sich alles so wunderbar zum Guten gefügt.
Richard und Mr. Dantes hatten die telegraphische Depesche unseres Freunde White noch in derselben Nacht erhalten. Daß Pettow mit mir die westliche Richtung nach Cincinnati eingeschlagen, wußten sie durch die Benachrichtigung einer Dame in Neuyork, über die ich später mit Dir sprechen werde. Nun war, wie ich schon früher erwähnte, Mr. Dantes davon unterrichtet, daß sich Justus White in Cincinnati befand, und er telegraphierte deshalb auch an diesen. Auf die Benachrichtigung, daß White Pettow und mich auf dem Bahnhof in Cincinnati habe aussteigen sehen, hatte Mr. Dantes sogleich Richard mitgeteilt, daß er nach Cincinnati mitreisen werde. Es war anfangs die Absicht des Missionars gewesen, Richard nicht mit sich zu nehmen, da er Pettows Haß gegen Richard fürchtete. Aber Richard – doch das alles weißt Du ja wahrscheinlich durch Alfonso besser als ich. Es ist sehr vernünftig von Alfonso, daß er nicht ebenfalls hierher gekommen. Ich hätte es ihm nie verzeihen, wenn er Dich in Deiner Seelenangst verlassen hätte.
Genug, Dantes und Richard, begleitet von einigen Polizeibeamten und Freunden, waren in der Nacht, die ich in der Höhle durchlebte, in Cincinnati angelangt. Dort war soeben die Nachricht eingetroffen, daß Jackson mit seiner Freischar in der Nähe der Mammut-Höhle hauste, und auch über mein Schicksal, über die Flucht eines Negers mit einer Weißen in die Höhle waren unbestimmte und natürlich falsche Berichte verbreitet. Es hieß, ein Neger aus dem Süden habe eine schöne Pflanzerstochter geraubt und sei mit ihr in die Höhle geflohen. Mr. Dantes und Richard errieten sofort den Zusammenhang, und da Dantes alles kann, was er will, und alles durchsetzt, so brach er noch in derselben Nacht mit einem Bataillon Regulärer und einer Abteilung von dem schwarzen Regiment des Leutnants White nach der Mammut-Höhle auf.
Das Gewehrfeuer, das ich vernommen, rührte von dem heftigen, aber kurzen Kampfe her, der zwischen den Unionstruppen und der Freischar entstand. Jacksons Reiter hatten sich zurückziehen müssen, und durch einige Gefangene, bald darauf aber auch durch Justus, hatten meine Freunde erfahren, was vorgegangen war. Sie wußten nun, daß sich Pettow mit Jackson, einem Dutzend anderer Südländer und einem Führer, der die Höhle genau kannte, in der Mammut-Höhle befanden, und daß ich dem Tode entgangen sei. Sie sandten also nur ungefähr dreißig Soldaten mit einem Offizier in die Höhle und eilten dann zu mir. Daß sie dort in einem Augenblick eintrafen, der entscheidend für mein Leben werden konnte, habe ich Dir bereits oben erzählt. –
Nun ängstige Dich nicht weiter um mich, mein teuerstes Herz! Ich bin ganz ruhig. Jede telegraphische Nachricht meldet mir ja, daß es unter Deiner aufopfernden Sorgfalt mit meinem innig geliebten Vater besser geht. Soeben haben wir Deine Depesche erhalten, daß er zum erstenmal das Bett verlassen hat. Auch wir reisen nun in den nächsten Tagen, wenn nicht morgen schon. Und das Wiedersehen! O, Jeannette – welch himmlisches Gefühl ist es doch um das Wiedersehen! Wie erscheinen selbst die Leiden, die man um den Geliebten erduldet hat, als eine süße Erinnerung! –
Du wirst wissen wollen, ob der elende Mensch, dessen Name nie mehr unter uns genannt werden soll, den verdienten Tod gefunden hat. Wir haben es nicht genau erfahren. Obgleich die ganze Gegend, schon um Jacksons willen, auf das eifrigste durchsucht worden ist, hat man keine Spur von beiden gefunden. Es scheint kaum anders möglich, als daß der Elende, durch Richards starken Schlag betäubt, seinen Tod im Green-River gefunden hat. Und sollte es nicht sein, so fürchte ich ihn nicht. Gott muß es doch gewollt haben, daß Richard und ich wieder vereint worden sind; er wird uns also auch vereint für einander erhalten!
Vorgestern, um Dir die Wahrheit zu sagen, fürchtete man für mich. Ich war sehr angegriffen, ich phantasierte zuweilen. Aber da ich die Nacht schlafen konnte, so erlangte ich meine Ruhe wieder und konnte die gräßlichen Bilder der letzten Tage aus meinet Erinnerung verbannen und mein Gemüt nur mit dem Glück der Gegenwart beschäftigen. Jetzt bin ich ruhig und könnte, wie gesagt, reisen. Nur wegen meiner teuren Mutter, die erschöpfter ist als ich, bleiben wir noch hier.
Habe ich nötig zu erwähnen, daß Richard und Mr. Dantes meinen Retter wie einen Bruder, einen Sohn betrachten?
Richard hat in Whites Hand das Gelübde abgelegt, daß sein ganzes ferneres Leben der Befreiung der schwarzen Menschenrasse aus der Sklaverei, ihrer geistigen Fortentwicklung, ihrem leiblichen Wohle gewidmet sein soll.
Dantes hat seinen Segen dazu gegeben.
Richard meint, für die weißen Menschen sorgten Millionen, für die Schwarzen nur wenige. Um so eifriger wolle er nun Zeit, Geld und geistige Kraft an die Veredelung eines Menschenstammes wenden, dem ein Mann wie Justus White entsprossen sei.
Daß die Zukunft meines Retters für immer gesichert ist, brauche ich Dir wohl kaum zu sagen und sage ich auch nur Dir! Möge ihn der Himmel in dem Kampfe behüten, in den er nun bald zieht.
Lebe wohl, mein Herz, mein Liebling! Bald umarmt Dich Deine glückliche
Eliza.«