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Die Emeute

Ralph ging in den nächsten Tagen nicht aus. Er schützte ein leichtes Unwohlsein vor und benutzte die Ruhe, die ihm das Alleinsein gewährte, um seine Lage nach allen Seiten hin zu überlegen. Es war ihm fürs erste darum zu tun, sich den Forderungen Georgianas zu entziehen. Jetzt, da diese Angelegenheit in ihrer ganzen Schärfe und Dringlichkeit an ihn herantrat, fühlte er denn doch, daß derartige Dinge sich nicht so leicht erledigen ließen, wie er früher geglaubt hatte. Er überlegte mit kaltem Blute, ob er sich von Lady Georgiana durch einen Mord befreien sollte. Aber seltsamerweise widerstrebte ihm dieses Mittel. Es war eine Frau, und nach Ralphs Begriffen konnte man sich einer Frau auch durch andere Mittel entledigen, als durch den Mord. Auch haßte er sie nicht, wie er Richard gehaßt hatte und wie er – das fühlte er – Eliza hassen könne.

Ralph war nicht ganz unempfindlich gegen die Treue und Aufopferung, die ihm Georgiana gezeigt. Er fühlte in der Tiefe seines Herzens, daß sie die einzige Person auf der Welt sei, die ihn wirklich liebte.

Und dann kam noch ein anderer Grund zu seinem Bedenken, ein Grund, der ihm von einer Gewalttat abriet. Eliza auf rechtmäßige Weise zu heiraten, in Neuyork, vor der ganzen Welt und also auch vor Georgiana, darauf hoffte er nicht mehr. Seine Pläne in bezug auf Eliza waren dunkel und geheimnisvoll geworden. Es schwebte ihm Raub, Entführung, Gewalt vor. Dabei konnte ihm Lady Georgiana nie hinderlich sein. Und hatte er Neuyork erst verlassen, um es nie wiederzusehen – was lag ihm dann an der bisherigen Geliebten! Sie mochte dann sehen, wie sie mit ihrer Enttäuschung und Verzweiflung zurecht kam.

Im übrigen wollte er sich seiner Lage ganz klar bewußt werden und bei Mr. Büchting um Elizas Hand anhalten. Sollte er Mr. Everett um Rat fragen? Er schwankte, unterließ es aber, weil er im großen und ganzen seinen Oheim für einen Schwachkopf hielt und nicht viel auf seinen Rat gab. So schrieb er denn einen langen Brief an Mr. Büchting, in dem er ihm auseinandersetzte, daß er Eliza stets geliebt habe, aber auch wohl gewußt hätte, daß sie Richard ihm vorzöge, daß er dies bei den glänzenden Eigenschaften Richards ganz natürlich gefunden habe und daß jetzt, da er sah, daß Eliza ihr Herz noch keinem anderen geschenkt, allmählich die Hoffnung in ihm aufgetaucht sei, der glückliche Begleiter Elizas durch das Leben werden zu können. Er verkenne durchaus nicht den großen Abstand zwischen sich und der herrlichen Tochter Mr. Büchtings. Aber Geld komme ja bei der Familie Büchting nicht in Betracht, das wisse er, und da Miß Eliza schwerlich überhaupt jemals einen Mann finden werde, der ihrer ganz würdig sei, so habe er den Entschluß gefaßt, unter den Bewerbern mit aufzutreten, wollte jedoch vorher bei Mr. Büchting anfragen, ob er dieser Bewerbung nicht etwa ungünstig gestimmt sei.

Mr. Büchtings Antwort erfolgte sofort, er schrieb etwas förmlich:

»Mein lieber Herr Kapitän! Seien Sie überzeugt, daß ich gegen keinen Bewerber etwas einzuwenden habe, dem meine Tochter ihr Herz schenkt. Es ist dies das einzige Erfordernis, um mich jeden Mann als Schwiegersohn willkommen heißen zu lassen. Ich glaube, damit habe ich Ihnen den Weg angedeutet, den ich in dieser Hinsicht einschlagen werde. Der Diskretion, um die Sie mich gebeten, können Sie selbstverständlich versichert sein.«

Ralph hatte das erwartet und schrieb nun an Eliza selbst. Es war ein eigentümlicher Brief, zusammengesetzt aus kluger Berechnung und gewaltiger Leidenschaft. Er legte Eliza in seiner Weise sein ganzes Leben dar, sprach lange von seiner Liebe zu Richard, von der tiefen Trauer, die er noch immer um den Toten trage, und rechtfertigte dann seine Kühnheit mit seiner Liebe und mit den freundschaftlichen Beziehungen, in denen er seit so langer Zeit zu der Familie stehe.

»Es ist ein Urteil über Leben und Tod, das Sie mir sprechen!« schloß er seinen Brief. »Alle meine Gedanken, Wünsche, Hoffnungen sind mit dieser glühenden Leidenschaft verschmolzen. Entweder Sie erhören mich und ich werde leben; oder Sie weisen mich von sich und ich suche den Tod. Was Sie mir auch antworten mögen – mich verhindern, Sie zu lieben, können Sie nicht.«

Auch Elizas Antwort erfolgte sehr schnell und war ebenfalls kühl gehalten. Sie schrieb:

»Ich trage noch eine Erinnerung in meinem Herzen, die ich nicht vergessen kann. Sollte ich sie aber vergessen, sollte der Tag kommen, daß die Hoffnungen, die ich noch hege, töricht und eitel sind, sollte ich den Gedanken fallen lassen, was jener mir gewesen – nun, so werde ich mir alles das zurückrufen, was Sie mir geschrieben, falls Sie sich dessen noch erinnern, und es Ihnen anheimgeben, ob Sie dann ihre jetzigen Wünsche erneuern. Freilich zweifle ich daran, daß dieser Tag bald kommen wird.«

»Immer noch er, er zwischen uns!« flüsterte Ralph vor sich hin, als er den Brief gelesen. »Nun, wir werden sehen, ob die Glut der Leidenschaft dieses Eis nicht schmelzen kann! Laß uns nur erst zusammen in der Wildnis oder auf weitem Meere sein!«

Seine Besuche im Hause Büchting setzte er fort. Man tat von allen Seiten, als sei nichts geschehen. Doch blieb Eliza nie mit Ralph allein.

Inzwischen galten Alsonso und Jeannette als Brautpaar. Alfonso hatte schon am Tage nach dem Feste an seine Eltern geschrieben, und Sie um ihre Einwilligung gebeten, deren er sicher sein konnte. Nichts Seltsameres, zugleich Anziehenderes und Komischeres konnte man sehen, als dieses junge Paar. Obgleich Jeannettes Glück und Seeligkeit ihr aus den Augen sprachen, und obwohl Eliza am besten wußte, wie es um das Herz der teuersten Freundin stand, schien sie dennoch sehr unglücklich zu sein. Es war fast, als sehe sie in Don Alfonso einen bösen Menschen, einen Räuber, der ihr nicht nur ihr eigenes Herz gestohlen, sondern sie auch von Eliza trennen wollte, was jedenfalls in ihren Augen das größte Verbrechen war. Ihr Schmerz war oft so wahr und groß, daß Alfonso in eine Art Verzweiflung geriet und auf dem besten Wege war, sich Vorwürfe darüber zu machen, daß et die heilige Freundschaft dieser beiden Mädchen durch seine frevelhafte Dazwischenkunft entweiht habe. Niemals liebte ein Mädchen aufrichtiger, als Jeannette – sie konnte es nicht ertragen, wenn Alfonso auch nur eine halbe Stunde entfernt war, sie zitterte stets für ihn – und dennoch ließ niemals ein liebendes Weib den Geliebten mehr empfinden, daß sie ihm mit ihrer Liebe gegen ihren eigenen Willen eine Gnade erzeige, als Jeannette dies mit Alfonso tat.

Daraus entstanden natürlich zuweilen die heitersten Szenen. Oft bedurfte es nur des Erscheinens Elizas, um Jeannette, die Hand in Hand mit Alfonso stand, die Tränen plötzlich in die Augen zu treiben; fünf Minuten darauf, wenn Eliza, die stets das rechte Wort fand, eine Bemerkung über Alfonsos trübsinniges Aussehen machte, brachen alle wieder in Lachen aus. Jeannette hatte ganz recht, wenn sie erklärte, Alfonso müsse sich gedulden; ihr jetziges Zusammenleben mit Eliza sei eigentlich nur ein einziges langes Abschiednehmen, und nur ein Tyrann könne sie daran verhindern, ihrem Schmerz Ausdruck zu geben. Genug, wenn jemand, der die Verhältnisse nicht genauer kannte, Zeuge solcher und ähnlicher Szenen geworden wäre, so hätte er glauben müssen, Alfonso sei der größte Störenfried in dieser Familie und werde am besten tun, lieber heute als morgen das Haus zu verlassen.

Wurde Ralph Zeuge solcher Auftritte, so mußte er an sich halten, um seine Verachtung nicht zu zeigen. Daß man Jeannette verführen und verderben könne, das begriff er; aber eine Farbige heiraten – pfui! Er hatte Mühe, nicht offen seine Geringschätzung Alfonso zu zeigen. Er unterschätzte überhaupt den stillen, bescheidenen jungen Mann, der sich übrigens so fern als möglich von ihm hielt, da es ihm fehl schwer wurde, das Grauen zu unterdrücken, das er bei dem Anblick des Mörders empfand.

Als die Zeit verstrichen war, während deren er, wie er Lady Georgiana mitgeteilt, von Neuyork abwesend sein müsse, schrieb ihr Ralph, daß er zurückgekehrt sei und daß seine Zeit vollständig dadurch in Anspruch genommen werde, seine Militär-Angelegenheiten zu ordnen und einen Priester zu finden. Er fürchtete sich vor einem Wiedersehen und hätte es am liebsten vermieden.

Mit Booth hatte er fast jetzt täglich Zusammenkünfte. Selbst in die Presse des Nordens drang das Gerücht von bevorstehenden Aufständen, und es herrschte eine düstere Stimmung, trotz der herrlichen Siegesnachrichten, die aus dem Süden und aus dem Westen einliefen.

Der Telegraph meldete, daß Vicksburg, die letzte starke Position der Rebellen am Mississippi, gefallen sei. Außerdem war es dem General der Rebellen-Armee, Lee, nicht gelungen, die Unions-Armee zu zersprengen und einen kühnen Angriff auf Washington zu wagen. Mehrere Tage lang hatten die beiden Heere im heißen Kampfe bei Gettysburg miteinander gerungen, endlich aber war Lee gezwungen worden, zurückzugehen. Damit war die Uebermacht des Nordens entschieden. Man wußte, daß es dem Süden nicht gelingen werde, abermals eine große Armee zu organisieren, und daß seine Hilfsmittel in jeder Beziehung erschöpft seien. Die letzten Zuckungen des Riesenkampfes konnten wohl noch eine Zeit lang währen, konnten noch viele Opfer kosten, aber der Sieg war dem Norden gesichert.

Dennoch lastete, wie erwähnt, über Neuyork eine düstere Stimmung. Der Tag der neuen Konskription nahte heran und man fürchtete allgemeine Unruhen. Hatte auch die große Mehrzahl der Bürger des Nordens mit bewundernswerter Aufopferung Haus, Hof und Familie verlassen, um für die Aufrechterhaltung der Union in den Tod zu gehen, so gab es doch in den großen Städten des Nordens genug Gesindel, das sich den Gesetzen nicht fügen wollte und von den geheimen Freunden des Südens aufgestachelt und mit Geld unterstützt wurde. Auch war das Konskriptionsgesetz nicht beliebt, denn es duldete noch Loskauf, gestattete also den Reichen, sich der Pflicht fürs Vaterland zu entziehen und die Aermeren für sich in den Tod zu senden. Der herrschende Groll wurde durch die Copperheads genährt. Friedensgelüste, Anklagen gegen den Präsidenten, daß der Krieg unnütz in die Länge gezogen werde, wurden laut. Die Rowdies von Neuyork sehnten sich schon lange, wieder irgendeinen ihrer rohen Streiche, die in der letzten Zeit durch das schärfere Regiment vereitelt worden, ausüben zu können. Die Beleidigungen der Neger auf offener Straße, die Angriffe auf Personen, die der vollständigen Unterdrückung des Südens das Wort redeten, mehrten sich. Banden von Irländern durchzogen unter Geschrei und Gesang die Stadt, der Pöbel erhob sein Haupt, denn er witterte Aufruhr und Plünderung.

Sprachen Mr. Büchting oder Mr. Everett davon zu Ralph, so lachte dieser und sagte, man werde den Pöbel niederkartätschen. Und doch wußte niemand besser als er, daß es auf eine allgemeine Metzelei und Plünderung abgesehen sei. – – –

Es war am 13. Juli vormittags, als Ralph einen Brief von Lady Georgiana erhielt, der ihn aufforderte, sogleich zu ihr zu kommen, da sie ihn notwendig sprechen müsse. Der Kapitän, der seine Pläne bereits entworfen hatte und dem es jetzt gleichgültig geworden war, was Lady Georgiana tue, gab dem Ueberbringer einige Zeilen, in denen er erklärte, daß er gerade jetzt keine Zeit habe, da er sich dem Stadtkommandanten wegen der zu befürchtenden Unruhen zur Verfügung gestellt habe und sogleich auf Wache ziehen müsse. Kaum hatte ihn jedoch der Bote der Lady verlassen und Ralph war im Begriff, nach dem Kontor zu gehen, als er Stimmen im Vorzimmer hörte und, als er die Tür öffnete, eine verschleierte Dame mit dem Diener sprechen sah. Er erkannte an der Stimme und der ganzen Gestalt und Haltung sogleich Lady Georgiana, winkte nun sofort dem Diener, das Vorzimmer zu verlassen und bat die Lady, bei ihm einzutreten.

Es war eine wilde, tückische Entschlossenheit über ihn gekommen. Er wußte, daß er im Begriff war, etwas zu wagen, das ihn aus dem Kreise der Menschen ausschloß, in dem er bisher gelebt, das ihn ächtete, das ihm im allergünstigsten Falle erst nach vielen Jahren verziehen werden könne. Er hatte alle Mittel, die ihm zur Verfügung standen – und dazu rechnete er selbstverständlich auch Mr. Everetts Vermögen! – so weit es ihm möglich war, zu barem Gelde gemacht, denn nur das bare Geld hatte Wert. In seinem Bureau lagen ganze Rollen von Zwanzig-Dollar-Stücken. Außerdem hatte er sich als Disponent Mr. Everetts Zahlungen in einigen der Hauptstädte des Nordens zu sichern gewußt, die er, wie er geschrieben, selbst erheben wolle. Er hatte mit der Vergangenheit gebrochen. Was lag ihm also an Lady Georgiana? Sie mußte zufrieden sein, daß er sie überhaupt noch als Lady behandelte.

»Aber, Georgiana,« sagte er düster und vorwurfsvoll, »wie können Sie es wagen, selbst hierher zu kommen?«

»Ich muß es wohl, da Sie mich meiden,« antwortete sie, den Schleier zurückschlagend. – Sie hatten sich beide seit Jahren in der Vertraulichkeit nur Du genannt; ohne es zu wissen, änderten sie jetzt den Ton.

»Aber bedenken Sie, Ihr Ruf –!« sagte Ralph.

»Ich kümmere mich nicht um meinen Ruf, er ist ohnehin verloren,« antwortete Georgiana scheinbar ruhig, »Ralph, Sie betrügen mich!«

»Wieso? Ich bin wie ein gehetzter Hund. – Die Geschäfte sind in entsetzlicher Verwirrung – und ich muß alles selbst besorgen – –«

»Wollen Sie mich mit solchen Ausreden täuschen?« fragte Lady Georgiana. »Lange habe ich Ihnen geglaubt – nun weiß ich, was ich von Ihnen zu halten habe. Ralph – Gott wird mit Ihnen ins Gericht gehen! Ich komme nur, um wenigstens ein einziges Mal die bestimmte Frage an Sie zu richten, ob Sie mich heiraten wollten, oder nicht? Die Antwort weiß ich voraus ...«

Ralph war auf eine so plötzliche, unerwartete und stürmische Aufforderung nicht vorbereitet gewesen. Ja, im allerletzten Hintergrund hatte noch der Gedanke geschlummert, daß er, wenn alle anderen Pläne fehlschlügen, vielleicht dennoch den Wunsch Georgianas erfüllen und sie und ihre zwei Millionen heiraten könne. Er war deshalb einen Moment zweifelhaft, ob er dem finsteren Trotze der sich seiner bei ihrem Erscheinen bemächtigt hatte, die Zügel schießen lassen, oder ob er sich mäßigen und noch einen Aufschub versuchen solle.

»Georgiana,« sagte er, »was berechtigt Sie zu einem solchen Auftreten? Können Sie sich nicht vorstellen, daß ein Mann beschäftigt, so beschäftigt ist, um alle angenehmen Zerstreuungen darüber zu vergessen?«

»Nein! Man vernachlässigt nie eine Frau, die man liebt und die man heiraten will,« antwortete Lady Georgiana fest, »Glauben Sie auch nicht, daß ich betteln werde. Ich könnte Sie töten, aber nicht betteln – ich kann auch mich töten. Zerstreuungen nennen Sie es, wenn wir uns sehen? Zerstreuungen, wie sie Ihnen ja auch Ihr geheimer Klub bietet? Nein, Ralph, ich weiß jetzt alles. Monatelang habe ich mit mir selbst gerungen – noch damals, als ich Sie auf Mr. Büchtings Feste zu Miß Eliza von Liebe sprechen hörte, hoffte ich, daß Sie sich mir wieder zuwenden könnten. Das ist jetzt vorbei. Wenn Sie das nicht bindet, was uns für ewig aneinander fesseln sollte, so ist meine Ehre, mein Dasein verloren. Miß Eliza Büchting verachtet Sie – und doch verweigern Sie mir das, was Sie mir seit Jahren schuldig sind, was Sie mir zugeschworen haben.«

»Sie sprechen von Miß Eliza, von einem Feste – was geht das mich an?« fragte Ralph, in dem der Trotz wieder auftauchte, da er sich durchschaut sah. »Sie sagen, Sie seien selbst auf Mr. Büchtings Feste zugegen gewesen –«

»Ja, das war ich!«

»Und zu welchem Zwecke, wenn ich fragen darf?« rief Ralph.

»Die Zeit, in der ich Ihre Worte für die Wahrheit selbst hielt, ist für mich vorbei,« antwortete Lady Georgiana, und aus ihren sonst so milden blauen Augen funkelt es wie Haß oder Verachtung. »Ich ahnte längst, daß Sie mich verraten wollten, aber ich glaubte nicht an die große Schmach. Ich wollte mich selbst überzeugen und ich wußte mir eine Eintrittskarte für des Mr. Büchtings Fest zu verschaffen. Da sah und hörte ich, wie Sie um Miß Eliza herumgirrten, und wie diese Dame Ihnen mit einer Bewegung antwortete – mit einer Bewegung, die mich über Ihren Charakter aufgeklärt hätte, auch wenn ich vorher keine Ahnung von Ihrem Verrat gehabt hätte. So antwortet man nur einem Manne, den man verachtet. Aber ich war an Sie gefesselt. Man bringt Opfer, um seinem Kinde einen ehrlichen Namen zu verschaffen! Nun, wie ist es? Wollen Sie sich wenigstens mit mir trauen lassen – oder bin ich für Sie nur eines jener Wesen, die man vor die Tür stößt, wenn man ihrer überdrüssig ist?«

Ihre Stimme hatte einen hohlen, scharfen Klang, als käme sie aus einer ausgebrannten Brust. Ralph sah sie fast mißtrauisch an, als könne er sich der Besorgnis nicht erwehren, im nächsten Augenblick einen Dolch oder einen Revolver in ihrer Hand zu sehen.

»Um Himmelswillen, Georgiana, was soll das heißen!« rief er dann mit künstlichem Erstaunen. »Was ist denn vorgefallen? Was kann diese Veränderung in Ihrem Wesen rechtfertigen?«

»Und was rechtfertigt Ihre Heuchelei?« erwiderte sie scharf. »Denken Sie denn, ich wüßte nicht, daß Sie während der letzten Zeit Neuyork nicht verlassen haben? Weshalb also meiden Sie mich? Können Sie das geringste für eine Frau empfinden, die Sie ihrer Verzweiflung überlassen in einer solchen Lage?«

»Weibliche Uebereilung!« rief er halb spottend, halb verdrießlich. »Ich konnte nichts in der Angelegenheit tun – deshalb bin ich nicht zu Ihnen gekommen. Ich wußte, daß Sie drängen würden, und ich wollte erst mit vollendeten Tatsachen vor Ihnen erscheinen. Es gibt keinen Pfaffen hier in Neuyork, der nicht schwatzte, namentlich wenn es sich um zwei stadtbekannte Persönlichkeiten handelt, wie wir es sind. Und das darf nicht sein, wenigstens nicht eher, als bis – als bis es ohne Gefahr für mich geschehen kann. Sie irren sich in einem Punkt, Georgiana! Miß Eliza ist mir nicht unhold – wie Sie glauben – man wünscht diese Verbindung. Mr. Everett, von dem ich abhänge, besteht darauf – ich könnte große pekuniäre Nachteile erleiden. Aber in zwei Tagen bin ich im reinen. Uebermorgen wäre ich zu Ihnen gekommen, um Ihnen die Hindernisse mitzuteilen, die unserer Verbindung bisher im Wege gestanden haben, aber auch, um Ihnen zu sagen, daß sie beseitigt sind, und daß uns nichts mehr trennt.«

Lady Georgiana hatte ihm mit scharfem, durchdringendem Blick ins Antlitz geschaut.

»Ich glaube Ihnen nichts mehr,« sagte sie kurz. »Ich habe alles überlegt und gefunden, daß ein Mann, der nicht jedes Hindernis beseitigt, wenn er eine Frau in der Lage weiß, in der ich mich befinde, ein kaltes, grausames Herz haben muß. Ich habe Sie beobachtet als ich Ihnen jene Mitteilung machte, und ich habe nur Verdruß und unangenehme Ueberraschung auf Ihrem Gesicht gelesen. Dennoch mußte ich mich beugen; es handelte sich ja nicht mehr um mich allein! Kommen Sie mit mir. Mein Wagen steht an der nächsten Ecke. Ich habe einen Prediger gefunden, der uns im Geheimen trauen wird, der jede Verantwortlichkeit übernimmt. Sollten einige legale Formen heute nicht beachtet werden können, so wird sich das später verbessern lassen. Also, kommen Sie? – oder überlassen Sie mich meinem Schicksal!«

»Georgiana, Sie sind in diesem Augenblick zu aufgeregt – irgend jemand muß Sie gegen mich aufgehetzt haben,« erwiderte Ralph kühl. »Frauen nehmen keine Vernunft mehr an, wenn sie Vorurteile haben. Ich muß jetzt zu meinem Obersten, wenn ich nicht wegen Insubordination auf einige Monate ins Gefängnis wandern will. Ich wiederhole Ihnen aber, daß Sie mich übermorgen bei sich sehen werden, und meine Mitteilungen sollen derart sein, daß Sie mich um Verzeihung bitten werden wegen der seltsamen Beschuldigungen, die Sie gegen mich aussprechen, und die mich glauben lassen, daß es vielleicht besser wäre, wenn uns nicht ein so enges Band vereinigte – –«

Eine laute Stimme im Vorzimmer unterbrach ihn. Ralph, der gespannt aufhorchte, vernahm sie und sofort zeigte sich eine starke Befriedigung auf seinem Gesicht. Unmittelbar darauf öffnete Booth die Tür.

»Der Narr von einem Diener will mich zurückweisen!« rief er im Eintreten. »Ah – es ist in der Tat eine Dame hier – ich glaubte es nicht – ich bitte tausendmal um Verzeihung!«

Georgiana nahm gar keine Rücksicht auf ihn. Sie war auf dem Standpunkt der Verzweiflung angekommen, bei dem jede Rücksicht schwindet, bei dem die Meinung der ganzen Welt dem erstorbenen Herzen gleichgültig wird.

»Kommen Sie mit mir, Ralph?« fragte sie kaum hörbar.

»Aber, Mylady, ich bitte Sie! Mein Freund Booth wird mir bezeugen, daß ich zum Obersten beschieden bin. Er will mich abholen – –«

Lady Georgiana wurde blaß. Es war, als müsse sie umstürzen – sie griff mit der Hand in die Luft. Dann richtete sie das starre Auge nach oben.

»Herr Gott, erhöre mich!« sagte sie laut und feierlich. Sie schritt an Booth, der sie mit Neugierde und Ironie anblickte, vorüber aus der Tür.

Einige Sekunden lang sahen sich die Männer schweigend an. Dann brach Booth in ein lautes Lachen aus.

»Eine Szene!« rief er. »Nun, ich glaube, Du bist sie los auf ewige Zeiten. Sie ging ab, wie eine Heldin im Drama. Ich werde die Geste, diesen Blick meinen Kollegen vormachen. Sie müssen rasenden Beifall damit hervorrufen.«

»Glaubst Du, daß sie sich ein Leid antun wird?« fragte Ralph, im Zimmer auf und ab gehend.

»Ach, Unsinn, wir ängstigen uns viel zu sehr wegen der Frauen!« antwortete der Schauspieler. »Es sind die biegsamsten Geschöpfe – wie Rohr! Eher will ich glauben, daß sie Dir etwas Arsenik oder Blausäure beibringt.«

»Dazu wird sie wohl keine Zeit finden,« sagte Ralph. Dann fügte er mit wilder Entschlossenheit hinzu: »Nun, es ist vorbei! Sie weiß jetzt, woran sie ist. Es ist vielleicht das einzige Wesen auf der Welt, das mich wirklich geliebt hat. Weg damit! Man muß mit Allem brechen können!«

»Weißt Du, weshalb ich komme?« fragte der Schauspieler.

»Wie soll ich das wissen! Um mir die Parole zu bringen?«

»Die werden wir kaum nötig haben! Es fehlt uns nicht an Elementen, um ganz Neuyork gen Himmel zu sprengen. Nein, ich habe Deinen Freund Dantes gesehen!«

»Ah!« rief Ralph. »Und wo?«

»Ich kam von einem Bekannten, der die Leitung des Aufruhrs im westlichen Viertel übernommen hat,« antwortete Booth. »Plötzlich sah ich an einer Straßenecke den Mann, der mir, seitdem ich ihn in Richmond gesehen, nicht aus der Erinnerung gekommen ist – wahrhaftig, ein Heldenvater ersten Ranges! Auch er mochte mich erkennen, ich glaube, sein Auge vergißt selten jemand. Er schien mir verbergen zu wollen, wohin er gehe. Ich dachte natürlich sofort an Dich und rief einen leeren, gerade vorüberfahrenden Mietswagen an, setzte mich hinein und rief ziemlich laut dem Kutscher zu: Einen Dollar, wenn ihr mich schnell nach Astor-House bringt! An der nächsten Ecke aber ließ ich ihn umbiegen und langsam, als ob er leer wäre, die Straße hinab fahren. Dein Mann trat in das Haus des Gärtners Bird, in der Fieldstraße 7. Da ich eine ganze Stunde in einem schräg gegenüberliegenden Laden wartete, und er nicht wieder herauskam, vermute ich, daß er dort wohnt.«

»O, das wird richtig sein!« rief Ralph, dessen Augen leuchteten. »Dieser Bird ist ein früherer Diener oder Gärtner des Mr. Büchting. Man wird ihn dort untergebracht haben. Wer ist unser Bevollmächtigter in jenem Viertel?«

»Mr. Rockyll, im letzten Hause der Fieldstraße, das keine Nummer trägt – es wird gewöhnlich mit Rockyll-House bezeichnet und ist im ganzen Viertel bekannt.«

»Ich will sogleich dort hin!« rief Ralph. »Und wo treffe ich Dich?«

»Unser Hauptquartier ist in Boys-Klub,« antwortete Booth. »Wir sind angewiesen, uns, so oft es nur möglich ist, dort zu treffen. Du wirst die Straßen draußen schon ziemlich unruhig finden. Die Leute ziehen singend und lärmend zur Konskription. Und natürlich mischen sich unsere Agenten und die Rowdies überall hinein. Willst Du Rockyll treffen, so mußt Du allerdings eilen. Denn ich habe ihm den Auftrag gebracht, vom westlichen Viertel aus mit der Rebellion anzufangen. Es wohnen dort eine Menge Irländer, die des Teufels sind. Die soll Rockyll gegen die Stadt hetzen. Der Haufe wird unterwegs anwachsen wie eine Lawine.«

Ralph hatte bereits seinen Hut in der Hand.

»Und die Parole!« rief er.

»Gettysburg,« antwortete Booth. »Du wirst sie kaum nötig haben. Man wird rufen: Nieder mit den Niggern! Man wird kein Blatt vor den Mund nehmen.«

»So komm!« rief Ralph. »Ich danke Dir! Nimm!«

Er drückte ihm Geld in die Hand und zog ihn mit sich fort.

Auf der Straße fanden sie bewegtes Leben, das indessen hier noch nicht in Aufruhr oder auch nur in Unruhe ausgeartet war.

»Und wenn ich Dich im Boys-Klub treffe – hast Du nicht Lust, Dir die schöne Jeannette Corizon ein wenig näher anzusehen?«

»Ah, der Teufel, ja!« rief Booth. »Ich habe sie mir zeigen lassen – sie ist verteufelt hübsch. Ich bin von der Partie! Rechne auf mich!«

»Nun, dann ist alles gut!« rief Ralph; sein Gesicht, das in der letzten Zeit bleicher geworden war, leuchtete vor Aufregung. »Adieu, Booth! Auf Wiedersehen!«

Er nahm einen Wagen und fuhr nach dem westlichen Viertel und feuerte den Kutscher durch das Versprechen eines reichlichen Trinkgeldes zur Eile an.

Was Lady Georgiana tun werde, wußte er nicht, daß sie aber etwas tun werde, daran zweifelte er nicht. Doch war ihm alles, was sie begann, in diesem Augenblick gleichgültig. Er dachte nur an Dantes und Eliza. Dantes mußte fallen. Was Eliza betraf, so schwebte ihm das, was er zu tun habe, nur unbestimmt vor. Er wollte den Augenblick entscheiden lassen. Das beste schien ihm, eine entsetzliche Gefahr über das Haupt der Familie Büchting heraufzubeschwören, und dann im Augenblick der höchsten Not als Retter aufzutreten, ähnlich, wie er es damals in Liberty-Plantation getan, nur in einer viel gräßlicheren Form. Dann wollte er bestimmte Bedingungen stellen; erklären, daß er ohne Eliza nicht leben könne, und wenn das alles nicht half, – nun denn, erreicht mußte es werden, auf die eine oder andere Weise – er wollte es dem Zufall überlassen!

Es währte fast eine Stunde, ehe er die entlegene Straße erreichte. Auf einem freien Platz in der Nähe sah er eine Menge Menschen, die lebhaft schrien und Waffen schwangen. Sein Wagen mußte hier durch. Man wollte ihn aufhalten, aber er rief: »Gettysburg!« und: »Ich will zu Master Rockyll!« Darauf ließ man ihn vorbeifahren.

Er traf Mr. Rockyll, einen wütenden Copperhead, den er übrigens schon aus einigen Versammlungen der Freunde des Südens kannte, in der Tür.

»Booth schickt mich!« rief er ihm entgegen. »Ich habe erfahren, daß hier im Viertel, ganz in der Nähe, einer der ärgsten Abolitionisten wohnt, ein Mensch, der dem Süden bereits unsägliches Unheil zugefügt hat. Auch die Schlacht von Gettysburg soll er durch Spionendienste und durch Verrat des Leeschen Planes zugunsten des Nordens entschieden haben. Er ist der Erste, der den Tod verdient.«

»Wer ist es?« fragte Mr. Rockyll.

»O, er nennt sich mit tausend verschiedenen Namen,« antworte Ralph. »Er schleicht überall herum, meist unter der Maske eines Missionars. Er wohnte bei dem Gärtner Bird.«

»Ah, Bird ist ein wütender Abolitionist!« rief Rockyll. »Es würde nichts schaden, wenn wir dem das Haus demolierten – es wäre ein guter Anfang!«

»Nun, dann vorwärts!« rief Ralph. »Wir werden nicht leicht eine so gute Gelegenheit wiederfinden, einen der ekelhaftesten Abolitionisten unschädlich zu machen.«

»Ich bin bereit!« rief Rockyll, der über seinem Rocke eine weite Bluse trug, die ihm einerseits das Ansehen eines gewöhnlichen Mannes gab – er war einer der reichsten Grundbesitzer Neuyorks! – und andererseits dazu diente, nicht weniger als drei Revolver zu verbergen. »Meine Jungen erwarten mich bereits auf dem Field-Platz. Es ist eine tapfere Schar. Ich denke, Bird wird nach wenigen Stunden sein Haus mit der Laterne suchen können!«

Ralph lachte und drückte ihm die Hand. Es war eine wilde Wut über ihn gekommen. Er sehnte sich danach, Blut fließen zu sehen und sich im Getümmel des Kampfes zu berauschen.

Als die beiden auf dem Field-Platz angelangt waren, wurden sie mit wildem Geschrei empfangen.

»Wohin? Wem gilt's zuerst?« tönte es von allen Seiten.

»Zuerst Bird, dem Gärtner!« antwortete Rockyll. »Er verbirgt sich bei einem Niggerfreund ersten Ranges, einem Schuft, der die Schlacht von Gettysburg verraten hat!«

Furchtbarer Lärm folgte diesen Worten. Der Verlust der Gettysburg-Schlacht war der empfindlichste Punkt für alle Freunde des Südens.

»Dieser Bird war immer ein Heuchler, ein Duckmäuser, ein Abolitionist!« rief man von allen Seiten. »Nieder mit ihm!«

Fünf Minuten darauf tobte eine Schar von mehr als zweihundert Menschen die Field-Straße entlang. Nur ungefähr fünfzig von ihnen waren bewaffnet, die Mehrzahl bestand aus Neugierigen. Aber sobald die Leidenschaft einmal entflammt ist, pflegt sich die Neugierde in Teilnahme zu verwandeln. Die erhitzten Gemüter wurden fortgerissen. In den Straßen schlossen sich die meisten Fenster, denn der Pöbel warf in blinder Wut mit Steinen nach allen Richtungen.

Vor Birds Hause macht die Menge plötzlich halt. Ein Hagel von Steinen flog in die Fenster, zertrümmerte sie im Nu. Dann schwangen sich die Vordersten durch die Fenster in das innere Stockwerk des Hauses.

»Nieder mit den Niggerfreunden!« tönte es aus hundert Kehlen. »Tod allen Abolitionisten!«

Wäre es der Schar genau bekannt gewesen, wie das Haus eingerichtet war, und daß sich hinter dem Hause ein großer Garten befand, so hätte man sämtliche Ausgänge besetzt und den Garten umzingelt. Dann wäre es wahrscheinlich um die Bewohner des Hauses geschehen gewesen. Glücklicherweise aber hatte sich Dantes am Fenster befunden und die Menge heranziehen sehen. Kaum war ihm unter den Männern Ralphs Gestalt aufgefallen, als sich ihm, wenn auch nicht die Gewißheit, doch die Möglichkeit aufdrängte, daß dieser Angriff ihm selber gelte. Er rief Richard sogleich einige Worte zu, ergriff einen kleinen Koffer, in dem er Papiere und wichtige Dokumente aufbewahrte, und eilte nach dem Garten, wo Mr. Bird mit seiner Frau beschäftigt war. Richard, der ebenfalls seinen Handkoffer ergriffen und sich mit zwei Revolvern bewaffnet hatte, folgte dem Missionar auf einer Treppe, die vom ersten Stockwerk in den Garten hinabführte. Kaum war das geschehen, als sie das Klirren der Scheiben und das wütende Geheul der Menge horten.

Im Augenblick waren Mr. Bird und seine Frau benachrichtigt, und alle flohen nach der großen Allee, die sich längs der einen Gartenmauer hinzog. An deren Ende befand sich ein Tor, das auf einen freien Platz mündete. Nicht fern von diesem Platz befand sich eine Wache. Erreichten sie diese, so waren sie wenigstens für erste gesichert.

Die Frau war im ersten Augenblick so erschrocken, daß ihr Mann sie führen mußte, aber sie faßte sich doch bald wieder. Richard beruhigte sie mit der Versicherung, daß ihnen jeder Schaden ersetzt werden sollte. Schon hörten sie Stimmen hinter sich. Man hatte vom Hause aus die Fliehenden bemerkt, und eine Schar von ungefähr zwölf Personen, geführt von Ralph, folgten ihnen in wilder Eile. Ralph hatte den Missionar erkannt. Wer der junge Mann an seiner Seite war, erriet er nicht. Richard hatte einen leichten grauen Sommermantel umgeworfen, dessen Kragen in die Höhe geschlagen war, so daß er nicht erkannt werden konnte.

Wären Dantes, Richard und Mr. Bird allein gewesen, so hätten sie natürlich das Tor bald genug erreicht. Da sie aber die Frau nicht verlassen wollten, so konnten sie nicht schnell genug vorwärts kommen, und die Entfernung zwischen ihnen und den Verfolgern verringerte sich mit jeder Minute. Es wurde bereits mit Revolvern hinter ihnen geschossen. Dennoch waren sie dem Tore ganz nahe. Eine Kugel pfiff an dem Kopfe des Missionars vorüber. Richard wandte sich ein wenig zurück. Er sah, daß Ralph allen voraus war. Plötzlich wandte sich Richard ganz um und schlug seinen Mantelkragen zurück.

Ralph, im vollen Laufe, stürzte noch einige Schritte vorwärts. Dann aber fuhr er, wie vom Blitz getroffen zurück, streckte mit einem entsetzlichen Schrei die Hände aus und sank, immer die starren Augen auf Richard gerichtet, der den Revolver schußfertig in der Hand hielt, nieder, wie von einer unsichtbaren Macht hingeschmettert. Seine Begleiter glaubten, er sei verwundet und riefen: »Rache! Rache!« Inzwischen hatten Dantes, Bird und dessen Frau das Tor erreicht. Nun eilte Richard, der einen Augenblick unentschlossen gewesen war, ob er nicht auf Ralph schießen solle, ihnen nach. Er schloß das hohe Tor hinter sich und steckte den Schlüssel in die Tasche. Glücklich erreichten sie die Wache.

Rockyll und einige andere von den Aufrührern waren um Ralph bemüht, der sich in einem seltsamen, für seine Begleiter ganz unerklärbaren Zustand befand. Zuweilen schloß er die Augen und streckte die Hände wie abwehrend aus, dann öffnete er die Augen rasch und weit, blickte verstört um sich und zuckte, als ob ihn innere Krämpfe erschütterten. Er wollte sich erheben, fiel aber wieder zurück. Seine Begleiter hatten sich überzeugt, daß er nicht verwundet sei, und umstanden ihn nun mit erstaunten Blicken, während von dem Hause des Gärtners her das Geschrei der Aufrührer, die das Haus zerstörten, herüberdrang.

»Er hat Krämpfe!« sagte endlich ein Irländer, »gebt ihm etwas zu trinken.«

Es wurde Ralph eine Flasche gereicht, aber er konnte sie nicht halten, seine Hand flog hin und her, wie vom Fieber geschleudert. Darauf setzte man ihm die Flasche an die Lippen, nun trank er gierig. Doch seine Blicke blieben immer noch verstört, bis endlich seine Züge, die bis dahin den Ausdruck des Schreckens gezeigt hatten, allmählich einen anderen, den des Hasses und der Wut, annahmen. Seine Gedanken hatten sich wieder gesammelt, die furchtbare Beängstigung, die ihn bei dem Anblick Richards überkommen, war verschwunden, und mit dem wilden Schrei: »Rache! Rache!« richtete er sich auf.

»Aber was gab es denn? Was hatten Sie?« fragte Rockyll.

Ralph konnte ihm noch nicht antworten. Er streckte nur den Arm nach der Richtung des Tores aus. Dann endlich rief er: »Folgen! Folgen!« – und tat selbst einige Schritte nach dem Tore zu. Noch aber war er nicht Herr seiner Bewegungen. Er taumelte und mußte sich gegen einen Baumstamm lehnen.

»Der Alte ist ein Verräter!« sagte er dann in abgebrochenen Sätzen. »Der Junge aber viel schlimmer – ein Mörder! – Er hat mich töten wollen. Ich glaubte ihn tot – da ist er wieder – ich hielt ihn für ein Gespenst, Zorn, Wut und Schrecken überfielen mich. Aber nun muß er sterben, er und der Alte! Wer folgt mir? Wenn wir sie töten, erhält jeder, der mir geholfen, fünfhundert Dollars!«

»Vorwärts! Ein Hurra für den großmütigen Herrn!« riefen die Begleiter Ralphs, die sich inzwischen noch um die Hälfte vermehrt hatten. Ein Teil war bereits bei dem Tor beschäftigt und brach es auf. Ralph hatte Rockylls Arm genommen und schritt nun ebenfalls dem Tore zu.

Ein wildes Heer von Gedanken durchzog seinen Kopf. War das wirklich Richard? War er es nicht? War es am Ende nur eine Richard ähnliche Person, die der Alte gedungen, um Ralph damit zu schrecken? Jedenfalls hatte er denselben Menschen in dem Pavillon auf Mr. Büchtings Feste gesehen. Oder war es dennoch Richard selbst? Wenn er es wäre!

Er hatte das Peleton Feuer auf ihn geben, hatte ihn rückwärts in das Wasser stützen sehen. Aber die Möglichkeit war doch vorhanden, daß er durch irgendeinen Umstand gerettet wurde. Bei diesem bloßen Gedanken schlugen Ralphs Zähne zusammen, halb in Schrecken, halb in fieberhafter Glut. Wenn Richard nun öffentlich auftrat? Wenn er, Ralph, fliehen mußte, ohne auch nur irgendeinen seiner Zwecke erreicht zu haben – nein, es war nicht möglich, es durfte nicht sein – es war ja Wahnsinn, nur daran zu denken! Weshalb hielt sich denn Richard verborgen, wenn er es wirklich war? Eine Wolke legte sich vor Ralphs Augen, wenn er sich diesen Gedanken klar zu machen versuchte. Es gelang ihm nicht, irgendetwas in ihm rief: Es ist Richard! So groß kann keine Ähnlichkeit, so stark keine Täuschung sein!

Aber weshalb lebte er mit diesem Dantes verborgen in Neuyork, anstatt sich aller Welt zu zeigen und die Millionenbraut heimzuführen?

Bei diesem Gedanken erlangte Ralph seine ganze Kraft wieder. Nein, Eliza durfte nicht Richard angehören! Mit den Händen, mit den Zähnen wollte er sie ihm entreißen! Und vor allem handelte es sich darum, jetzt Richard und Dantes mit einem Schlage zu vernichten. Später wollte er weiter darüber nachdenken.

Hinter Mr. Birds Garten war ein großer freier, mit Gras bewachsener Platz. Ein Neger kam gerade darüber her. Er ward mit Revolverschüssen empfangen, ehe er noch an eine Gefahr dachte, und sank von mehreren Kugeln getroffen nieder. Die empörte Bande trat ihn mit Füßen, bis er tot war.

Der Haufe hatte sich jetzt durch Nachzügler aus Birds Hause auf ungefähr fünfzig Mann verstärkt. Die Wache lag gerade gegenüber auf der anderen Seite des Platzes. Sie war jetzt das Ziel der Empörer. Ralph bemerkte, daß sich in dem Gitter, das den Vorhof der Wache umschloß, Dantes und seine jungen Begleiter befanden. Er trieb also die Genossen zur Eile an. Die Wache konnte höchstens aus sechs oder acht Mann Milizsoldaten bestehen, die sich leicht überwältigen ließen. So stürmten sie denn über den grünen Platz dahin, gerade auf die Wache zu.

Aber Ralph hatte sich geirrt. Aus dem Innern der Wache trat ein Mann in der Uniform der Regulären, und ihm folgten ungefähr zwölf Soldaten, die sogleich an das Gitter traten und sich schußfertig machten. Die Bande stockte. Jeder begriff, daß der Angriff schwer sei, wenn die Wache ernst verteidigt werde.

Ralph stand in der Mitte des Hauses, mit geballten Fäusten, und blickte nach dem Gitter hinüber, wie ein Tiger durch das Gitter seines Käfigs auf den Knaben blickt, der ihn neckt. Er begriff, daß hier nichts mehr auszurichten sei. Aber unmöglich konnte er von hier fortgehen, ohne Maßregeln für die Vernichtung seiner Feinde getroffen zu haben.

»Hört, Kinder,« sagte er zu den Irländern, die ihn umdrängten, »ich bin ein Mann, der nicht viele Worte macht. Wer mir die Leichname jener beiden Männer zeigt, dem zahle ich zehntausend Dollars. Mr. Rockyll, der mich kennt, ist mein Zeuge und weiß, daß ich in der Lage bin, mein Versprechen zu halten. Es ist Euch ein leichtes, hier im geheimen aufzupassen und die beiden Niggerfreunde totzuschießen, sobald sie die Wache verlassen. In drei Stunden ist ganz Neuyork in Aufruhr und brennt an zwanzig verschiedenen Enden, dann kümmert sich keine Seele mehr um das, was Ihr hier tut. Zuerst müßt Ihr noch eine Zeitlang auf dem Platze bleiben; dann tut Ihr, als ob Euch das Warten langweilig werde und verbergt Euch in der Nähe; kommt der Dachs aus dem Bau, so wißt Ihr, was ich Euch versprochen habe. Sind es mehrere von Euch, so teilt Ihr Euch die zehntausend Dollars, und ich gebe jedem einzeln noch hundert Dollars extra als Trinkgeld. Ich meine, das wäre kein schlechtes Geschäft, wie?«

»Ein Hurra für den Gentleman,« riefen die Irländer.

Ralph gab ihnen ein Zwanzigdollarstück als Angeld, ermahnte sie aber, sich nicht zu betrinken. Dann verließ er mit Mr. Rockyll den Platz. Sie wandten sich dem Innern der Stadt zu. Dort trennte sich jedoch Ralph sehr bald von seinem neuen Bekannten.

Er wollte allein sein, um ungestört zu überlegen. Sehr ungern hatte er den Platz vor der Wache verlassen; aber seine Anwesenheit konnte dort nichts helfen und sein Hauptplan war nur in der Stadt selbst auszuführen.

Er ging in ein Kaffeehaus und bestellte sich ein berauschendes Getränk. Dann stützte er den Kopf in die Hand. Er zitterte noch immer. Dieses Zittern hatte ihn überhaupt seit jenem ersten Schrecken im Pavillon nur selten verlassen. Es war gewissermaßen ein geheimes Erbeben, ein leichtes Vibrieren der Nerven.

War es Richard? Gleichviel, ob er es war oder nicht, er mußte handeln, als sei er es.

Die Absicht des Missionars war ihm klar geworden; er erriet, daß dieser ihn mit Seelenangst habe foltern wollen. Wußte Mr. Büchting von dem Vorhandensein Richards? Ohne Zweifel, selbst Eliza mochte es wissen. Er erinnerte sich der Zeit, in der die Umwandlung mit ihr vorgegangen war – er erinnerte sich jener von ihm für gespenstig gehaltenen Erscheinung auf dem Bahnhof, in der Nacht, als der Zug von Chicago vorüberfuhr. Damals waren Dantes und Richard angekommen. Er hatte nun auch den Schlüssel zu den häufigen Entfernungen Mr. Everetts. Ohne Zweifel hatte er Richard besucht. Aber weshalb hatte Richard seinen einstigen Freund nicht angeklagt? Darin lag das Rätsel, das nur lösbar wurde, wenn Ralph annahm, Dantes habe ihn allmählich vernichten wollen und selbst nicht einmal Mr. Everett die ganze Wahrheit gesagt. Ralph kannte seinen Oheim gut genug, um zu wissen, daß der nimmermehr ein so furchtbares Geheimnis verbergen könnte, wenn es ihm anvertraut worden war.

Nun gleichviel, die Würfel waren gefallen – es blieb ihm keine Wahl mehr! Richard lebte! Bei diesem Gedanken krampfte sich sein Herz zusammen. Also hatten doch die anderen, die sogenannten Gerechten, die Scheinheiligen, die er in seinem Innern haßte und verachtete, über ihn gesiegt! Nein, noch nicht! Noch lag es in seiner Hand, den schwersten und entscheidensten Schlag zu führen, sie alle zu vernichten, und Richard – wenn er es war – unglücklicher zu machen, als durch den Tod! Und er war entschlossen, diesen letzten Schlag zu wagen. Nur ein einziges Mal trat ihm der Gedanke, zu Lady Georgiana zu eilen und sofort mit ihr zu fliehen, verführerisch entgegen. Aber er stieß ihn zurück. Er wollte Richard und Eliza nicht glücklich sehen; sein rachsüchtiges Herz hätte ihm dann nimmer Frieden gegönnt; er hätte auf Erden keine Ruhe gefunden. Aber er hätte vor wilder Wonne aufjauchzen mögen, wenn er daran dachte, daß er vielleicht schon in wenigen Stunden Eliza in seinen Armen halten werde, ja, was war das Leben, wenn es ihm nicht die Genugtuung gewährte, die er suchte, die einzige, nach der er lechzte! Fort mit Lady Georgiana und ihren zwei Millionen, fort mit der friedlichen Ruhe, die ihm vielleicht an ihrer Seite in einem fremden Lande winkte – er war nicht der Mann für solche Langeweile, er mußte in Feuer, in Anstrengung und Aufregung leben!

Nach einer halben Stunde war er mit sich im Reinen und nahm einen Wagen, um nach dem Boysklub zu fahren. Er kam nicht weit. Die Straßen waren von Menschen gesperrt. Neger hingen an den Laternen. Die Milizen wurden verhöhnt. »Nieder mit den Niggern!« donnerte der Pöbel. »Nieder mit den Niggerfreunden! Wir wollen Frieden! Nieder mit Lincoln und den Abolitionisten!« Der größte Teil der Menge war berauscht, aber die geheimen Treiber und Agenten hatten sich ihre Nüchternheit bewahrt und schürten das Feuer. Von einem Bekannten, den Ralph traf, hörte er, daß bereits einige Häuser von »Niggerfreunden« demoliert worden seien, und daß sich der größte Teil der Konskriptionspflichtigen im vollen Aufstande befinde.

Ralph ging zuerst nach seiner Wohnung, die nur ungefähr tausend Schritte vom Boysklub entfernt lag, und steckte alles Geld, das er tragen konnte, in Gold und Papieren zu sich, bewaffnete sich, nahm seine Karte als Offizier und begab sich dann nach dem Boysklub. Als er das Haus verließ, kam ihm Mr. Everett entgegen. Das Gesicht des alten Mannes zeigte eine entsetzliche Blässe und die Spuren des gewaltigsten Schreckens.

»Was haben Sie, Oheim?« fragte Ralph kurz.

»Ich wollte einen Freund besuchen – ich fand sein Haus zerstört –« antwortete Mr. Everett mit Mühe.

»Ah, Du warst in der Fieldstraße!« dachte Ralph.

Laut aber sagte er:

»Es scheint heute böse zu werden. Wir müssen an Mr. Büchting denken, auf den das Gesindel nicht gut zu sprechen sein soll. Ich werde sogleich zu ihm gehen!«

»Tue das, tue das!« antwortete Mr. Everett und schwankte in das Haus.

Im Boysklub fand Ralph nicht sogleich Booth; wohl aber kamen ihm eine Menge anderer Bekannten entgegen. Man war überzeugt, daß der Aufstand gelingen, daß man die Behörden von Neuyork absetzen könne und dadurch einen heilsamen Druck auf den ganzen Norden zugunsten des Südens üben werde. Ralph hörte auf alles das nur mit halbem Ohr. Als Booth eintrat, ging er sogleich auf ihn zu und nahm ihn beiseite. Sie sprachen nur fünf Minuten miteinander, aber sehr lebhaft. Dann drückten sie sich die Hand. Beide lachten laut auf.

Ralph ging sogleich nach Mr. Büchtings Hause. Die Straßen waren hier voller Neugierigen, die allerdings viel Lärm machten und mancherlei Unfug trieben, aber es doch nicht auf bestimmte Häuser und Personen abgesehen zu haben schienen. An Mr. Büchtings Hause waren sämtliche inneren Rouleaux niedergelassen. Das Haus sah aus, als wäre es leer.

Ralph klingelte. Als der Portier erschien, fragte er nach Mr. Büchting.

»Die Herrschaften sind auf dem Lande,« antwortete der Portier.

Das war ein Donnerschlag für Ralph. Er konnte wohl hier in der Stadt eine Horde Menschen nach seinem Willen leiten, aber auf dem Lande, unter einer friedlicheren, besonneneren Bevölkerung ... Dennoch schien ihm etwas in den Mienen des Portiers zu liegen, das ihn nicht alle Hoffnung verlieren ließ. Dem Mann, den er oft ein paar Dollars in die Hand gedrückt, damit er von ihm erfahre, wo sich die Familie Büchting befinde, wenn sie ausgegangen war, sah etwas verlegen aus.

»Wahrscheinlich wird Mr. Büchting sein Haus demoliert finden, wenn er zurückkommt,« sagt Ralph. »Ein Glück für ihn, daß er abwesend ist. In kurzer Zeit sind die Empörer vor dem Hause.«

»O, mein Gott,« stöhnte der Portier, »dann – dann muß ich Ihnen sagen, daß die ganze Familie oben ist. Mr. Büchting hatte mir nur den Befehl gegeben, niemand vorzulassen, ausgenommen, – einige alte Bekannte –«

»Zu denen ich doch hoffentlich gehöre!« sagte Ralph. »Nun, ich komme in der Absicht, Mr. Büchting zu warnen. Vielleicht genügt es, wenn Sie es tun. Nur empfehle ich Eile!«

»Nein, nein, dann gehen Sie nur selbst hinauf!« rief der erschreckte Portier. »Ich will in der Eile meine paar Sachen zusammenpacken.«

Er war ein Neuyorker und mit dem Hause von Mr. Büchting übernommen, also noch kein echter und treuer Diener der Familie.

Ralph ging an ihm vorüber und rief dem ersten Diener, den er auf der Treppe sah, die Worte zu:

»Melden Sie mich sogleich Mr. Büchting! Ich bringe eine wichtige Nachricht.«

Dann folgte er hastig dem davoneilenden Diener, um zu erfahren, in welchem Zimmer die Familie sich befinde. Er trat auch fast zugleich mit dem Diener in Mr. Büchtings Kabinett.

»Verzeihen Sie,« sagte er, »daß ich so stürmisch erscheine. Aber Sie müssen sofort Ihr Haus verlassen. Vielleicht in zehn Minuten schon wird ein Pöbelhaufen das Haus umlagern, und da in anderen Teilen der Stadt die furchtbarsten Dinge geschehen sind, so glaube ich Ihnen ernstlich raten zu müssen, Ihr Leben zu retten. Sie stehen auf der Liste der Geächteten.«

Mr. Büchting, der den Kapitän mit ernster und entschlossener Miene empfangen hatte, konnte diese Nachricht nicht unwahr finden, im Gegenteil, die klang nur zu wahrscheinlich. Freilich hatte Mr. Büchting keine Ahnung von den Greuelszenen, die in der Tat stattfanden. Er war der Ansicht gewesen, daß die Revolte binnen kurzer Zeit erstickt werden würde. Ralph ließ ihm gar keine Zeit zum antworten, sondern gab ihm kurz und schnell eine Schilderung davon, was bis jetzt geschehen. Er brauchte kaum zu übertreiben.

»Am Abend wird ein großer Teil von Neuyork in Flammen stehen,« sagte er. »Die Militärbehörden können nichts tun. Ihre Kräfte sind zerstreut, und können sich nicht mehr konzentrieren. Ich zweifle allerdings nicht daran, daß die bestehenden Autoritäten binnen wenigen Tagen des Aufstandes Herr sein werden. Aber inzwischen können Tausende von Menschenleben und Millionen von Eigentum verloren gehen. Besinnen Sie sich nicht, Mr. Büchting! Nehmen Sie in der Eile, was Sie für das Wichtigste halten. Und suchen sie einen sicheren Zufluchtsort irgendwo bei einem nicht so prononcierten Bekannten. Ich begleite Sie, wenn Sie es mir erlauben. Im allgemeinen bin ich vom Volke gut gekannt und man respektiert mich auch ein wenig. Ich bitte Sie dringend, rufen Sie Ihre Damen!«

Mr. Büchting war unentschlossen. Es war nicht die Art dieses Mannes, so leicht vor seinen Gegnern zu fliehen. Und doch mußte er sich sagen, daß jeder Widerstand töricht sei. Der Aufstand war plötzlich gekommen, Ralphs Nachricht von der vorauszusehenden Ohnmacht der zerstreuten Truppen klang so wahrscheinlich, daß sich fürs erste keine Unterstützung durch die Behörden erwarten ließ. Sollte sich Mr. Büchting mit seinen wenigen Dienern gegen Hunderte von berauschten Menschen verteidigen? Andererseits war es ihm peinlich, Ralph zum Danke verpflichtet zu sein. Ja, durfte et ihm überhaupt trauen? Er kannte ihn jetzt ganz genau, wußte mehr von ihm, als Ralph ahnte. Es widerstrebte seinem innersten Gefühl, diesem Menschen auch nur die geringste Verpflichtung zu schulden – und doch konnte es Ralph aufrichtig meinen, er liebte nun einmal Eliza und wollte sie retten. Durfte ein Vater die Mitteilung Ralphs verachten?

»Ich wüßte in der Tat kaum, wohin wir uns begeben könnten,« antwortete Mr. Büchting nach kurzem Schweigen. »Meine Freunde hier in Neuyork können jeden Augenblick ebenfalls angegriffen werden; wissen Sie, ob es möglich ist, das Freie zu erreichen und auf dem Lande Zuflucht zu finden?«

»Man muß es jedenfalls versuchen,« antwortete Ralph. »Benachrichtigen Sie sofort die Damen, versehen Sie sich nur mit dem notwendigsten – es bangt mir bei jedem Geschrei, das ich höre.«

»Wollen Sie mich hier erwarten?« fragte Mr. Büchting.

»Gewiß, wo Sie wollen; aber bleiben Sie nicht zu lange!« rief ihm Ralph nach.

Ein böses Lächeln flog über Ralphs Gesicht, als Mr. Büchting die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann trat er zum Fenster, schob den Vorhang ein wenig zurück und blickte hinab auf die Straße. Sie befand sich scheinbar noch in demselben Zustande der Unruhe wie vorher. Aber zwischen den Lärmenden und Schreienden sah Ralph einige bekannte Gestalten, die auf dem gegenüberliegenden Trottoir standen und Mr. Büchtings Haus fortwährend im Auge behielten. Das waren also bereits die Sendboten seines Freundes Booth. Er wußte nun, daß das Haus umstellt war, und daß man den Bewohnern folgen würde, durch welche Pforte sie es auch verließen.

Wenige Minuten darauf kam Mr. Büchting zurück.

»Meine Familie ist damit einverstanden, daß wir uns entfernen,« sagte er. »Don Alfonso will uns begleiten. Er will Miß Jeannette nicht verlassen, die jetzt, nachdem die Einwilligung der Eltern Alfons' eingetroffen ist, seine erklärte Braut ist.«

Ralph war nicht ganz einverstanden mit dieser Begleitung, die ihm einen Gegner mehr schaffen konnte. Aber er wußte nichts dagegen einzuwenden.

Die beiden Männer besprachen dann die Einzelheiten der Flucht. Sie wollten in Gruppen das Haus verlassen, Ralph sollte Mrs. Büchting und deren Gesellschafterin führen und mit den beiden Damen bis zur nächsten Ecke vorausgehen. Mr. Büchting und Don Alfonso sollten ihnen mit Eliza und Jeannette folgen. Den Dienern wollte Mr. Büchting befehlen, das Haus zu verlassen, sobald es angegriffen werde, damit ihr Leben nicht in Gefahr gerate. Von seinem eigenen Wagen wollte Mr. Büchting keinen Gebrauch machen, um nicht Aufsehen zu erregen, wenn das Tor geöffnet werde. Auch drängte alles zur Eile.

Kaum war dieses Gespräch beendet, als die Damen mit Alfonso ins Zimmer traten. Sämtliche Damen waren tief verschleiert; Alfonso sah sehr ernst, fast düster aus. Er hatte einen Sommermantel umgenommen, unter dem er gut bewaffnet schien.

Von einer langen Begrüßung konnte nicht die Rede sein. Alle gingen sogleich der großen Treppe zu. Plötzlich aber blieben sie stehen, denn es klang ein donnerndes Geschrei unten von der Straße herauf.

Mit einem einzigen Satze war Ralph am Fenster.

»Die Bestien!« rief er, »da sind sie schon. Vorn können wir nicht mehr hinaus. Gibt es einen Ausgang durch den Garten.«

»Jawohl, vorwärts! Mir nach!« rief Mr. Büchting.

Alle eilten die Treppen hinab, nach dem Garten. Mr. Büchting rief einem Diener zu, man möge keinen Versuch zur Verteidigung machen, – dann hatten sie den Garten erreicht. Dieser stieß an den Garten eines Hauses in der Nebenstraße, deren Besitzer mit Mr. Büchting befreundet war. In diesem Nebengarten befand sich ein sehr wasserreicher Brunnen, aus dem Mr. Büchting für gewöhnlich das Wasser zur Besprengung seines Gartens holen ließ. Er hatte also den Schlüssel zu der Pforte, die sich in der Mauer befand. Schnell wurde sie geöffnet, und die sieben Personen eilten in den Nebengarten.

Dieser Garten, sowie das Haus waren sehr still und ruhig. Die Fliehenden durchschritten den Garten und gelangten auf den Hof.

»Ich werde vorausgehen nach der Straße,« rief Ralph, »um zu sehen, ob alles sicher ist.«

Einige Minuten darauf kam er zurück.

»Alles still!« rief er. »Und ein wunderbarer Zufall – gerade an der Ecke halten zwei Mietswagen. Ich habe sie angerufen – sie fahren vor.«

»Gott sei gelobt!« rief Mr. Büchting. »Also, Sie kennen unser Ziel, Kapitän. Nehmen Sie den ersten Wagen – oder lassen Sie uns allein fahren –«

»Auf keinen Fall!« rief Ralph. »Ich begleite Sie, bis Sie die Stadt hinter sich haben. Ich kann Ihnen noch nützen mit meiner Bekanntschaft. Bitte, steigen Sie ein.«

Die letzten Worte sagte Ralph fast kalt und befehlend zu Eliza und Jeannette, die gerade neben dem ersten Wagen standen und in der Verwirrung des Augenblicks sogleich der Weisung gehorchten.

»Mistreß Büchting, wollen Sie hier einsteigen?« fuhr Ralph fort. »Nein, bitte, nehmen Sie den nächsten Wagen – vielleicht steigt Mistreß Bone bei uns ein – –«

»Ich werde mir die Freiheit nehmen!« sagte Alfonso, dessen Blick unablässig auf Ralph ruhte. Als habe er eine Ahnung, daß hier nicht alles mit rechten Dingen zugehe. »Onkel, Tante, Sie folgen uns – der Weg ist –?«

»Nur hinein!« rief Ralph fast zornig. »Jeder Augenblick ist kostbar. Ich weiß den Weg.«

In dem zweiten Wagen saß bereits Mr. Büchting mit seiner Frau und der Gesellschafterin. Alfonso war in den ersten gestiegen. Ralph folgte ihm. Sein Gesicht war finster. Alfonsos Anwesenheit konnte ihm alles verderben.

»Vorwärts, Ihr wißt!« rief er dem Kutscher zu.

Der Wagen rollte fort, einer Nebenstraße zu. Der zweite Wagen folgte. Aber schon in der nächsten Straße war das Gewimmel so groß, daß die Wagen im Schritt fahren mußten. Alfonso sah öfters hinaus, nach dem zweiten Wagen.

»Lassen Sie das Hinaussehen!« rief Ralph. »Sie können alles damit verderben. Man wird aufmerksam. Mr. Büchting weiß, wohin wir fahren, und sollten wir wirklich auf einige Zeit getrennt werden, so treffen wir uns an einem bestimmten Punkte wieder.«

Alfonso befolgte eine Zeit lang Ralphs Weisung. Als er aber an einer Ecke wieder hinaussah, war kein zweiter Wagen hinter ihnen.

»Halten wir!« rief er.

»Zum Teufel, nein!« schrie Ralph. »Sie verderben alles. Der zweite Wagen ist hinter der Ecke. Da ist er!«

Alfonso warf einen flüchtigen Blick hinaus und schien befriedigt.

»Vorwärts, Kutscher!« rief Ralph. »Wir kommen jetzt in leere Straßen. Lassen Sie die Pferde ausgreifen, was sie können!«

Der Kutscher trieb seine Pferde gewaltig an, und der Wagen flog mit rasender Schnelle davon. Der zweite Wagen befand sich, wie Alfonso sich überzeugen konnte, ungefähr hundert Schritte hinter ihnen.

So ging es fast eine halbe Stunde lang fort, dem südwestlichen Teil von Neuyork zu. Niemand sprach ein Wort. Ralph glaubte zu bemerken, daß die Damen unter ihren Schleiern sehr ernst und blaß seien. Alfonsos Miene war entschlossen, ein wenig nachdenklich. Sein Blick begegnete oft dem kalten, forschenden Blicke Ralphs. Keiner traute dem anderen. Alfonso ahnte, seit er Ralphs wahren Charakter kannte, überall Verrat, wo der Kapitän im Spiele war, und Ralph las das in den Augen Alfonsos; er mußte also auf seiner Hut sein und vielleicht den entworfenen Plan ändern.

»Halt!« rief er jetzt dem Kutscher zu.

Sie befanden sich auf einem Platze, der schon außerhalb der Stadt lag, der mit schönen alten Bäumen bewachsen und von einigen kleinen Häusern umgeben war.

»Hier wollten wir uns treffen,« sagte Ralph. »Nun, die anderen sind ja hinter uns.«

Sie saßen einige Minuten still im Wagen. Als der zweite Wagen sich näherte, lehnte sich Ralph weit aus dem Fenster, das er geöffnet hatte, als wolle er den Ankommenden etwas zurufen. Er machte dabei eine Bewegung mit der Hand, die die im Wagen Sitzenden nicht bemerken konnten. Der zweite Wagen fuhr vorüber und hielt vor einem der kleinen Häuser.

»Sie sind es nicht!« rief Ralph, sich nach dem Innern des Wagens wendend. »Nun, sie müssen jeden Augenblick kommen. Wir sind rasend schnell gefahren. Wollen wir inzwischen aussteigen? Wir haben hier nichts mehr zu befürchten.«

Er stieg bereits aus, blickte nach der Richtung, von der her der Wagen mit Mr. und Mistreß Büchting kommen mußte, und sah auch nach dem andern Wagen hinüber, der vor dem Nebenhause hielt. Alfonso und die beiden jungen Damen waren noch im Wagen geblieben und überlegten, ob sie aussteigen sollten.

»Ah, das sind auch Flüchtlinge!« sagte Ralph. »Sogar Bekannte!«

Und er ging zu den anderen hinüber. Unter diesen befand sich Booth, der jedoch in seinem Wagen geblieben war.

Ralph trat dicht zu Booth heran.

»Nun,« sagte er, »die anderen sind doch aufgehalten?«

»Vielleicht schon in Stücke zerrissen!« antwortete der Schauspieler. »Weshalb zögern wir?«

»Alfonso, der Narr, ist mit in meinem Wagen,« erwiderte Ralph. »Wie werden wir ihn los? Ich möchte hier noch keine Gewalt anwenden, und der Bursche ist gut bewaffnet.«

»Zum Teufel, da komme ich am Ende um meinen Anteil an der Beute!« sagte Booth leise.

»Das wollen wir bis jetzt noch nicht annehmen,« antwortete Ralph. »Und doch bin ich in Verlegenheit, wie ich mich seiner mit Geschick entledigen soll.«

»Ja, was ist da zu tun?« sagte Booth, »ich habe wahrhaftig nicht Lust, die Fahrt umsonst unternommen zu haben.«

»Nun, Du würdest doch mit dem Spanier fertig werden, wenn es mir gelänge, Eliza allein fortzubringen?« flüsterte Ralph.

»Ich sollte meinen!« antwortete Booth.

»So gib Achtung!« sagte Ralph, »und sorge dafür, daß der Spanier mir nicht folgt.«

Er verließ den Wagen und kehrte mit ernstem Gesicht zu seinen Begleitern zurück.

Alfonso war ebenfalls ausgestiegen und stand am geöffneten Wagenschlag. Als Ralph herantrat, machte er sich an dem anderen Wagenschlag zu schaffen, als schließe er nicht genau. Dabei flüsterte er dem Kutscher einige Worte zu.

»Meine Bekannten dort,« sagte er dann, »haben mir eine Nachricht mitgeteilt, die mich stutzig macht. Sie sagen, sie seien an einem Wagen vorübergekommen, der von der empörten Volksmenge aufgehalten worden sei; es haben ein Herr und zwei Damen darin gesessen.«

»Dann bleiben wir! Zu meinen Eltern!« rief Eliza, sich von ihrem Sitze erhebend.

Auch Jeannette stieß einen Ruf des Schreckens aus.

»Nicht so hastig, meine Damen!« rief Ralph. »Ich spreche von einer Möglichkeit, nicht von einer Gewißheit. Ich mußte Ihnen sagen, was ich erfahren. Wollen Sie aussteigen? – Ich habe nichts einzuwenden. Geben Sie mir die Hand, Miß Corizon.«

Er half Jeannette, die dicht an dem geöffneten Wagenschlag saß, aus dem Wagen.

»Da kommen sie!« rief Ralph dann plötzlich und deutete auf einen Wagen, der in der Ferne, in einer schmalen Seitenstraße sichtbar wurde.

Seine Absicht war erreicht. Alfonso blickte nach der Richtung, auch Jeannette sah dorthin. Da schwang sich Ralph mit dem Ausruf: »Vorwärts, Kutscher!« in den Wagen, in dem Eliza saß. Der Kutscher, der die Zügel straff gehalten und sichtlich auf den Ruf gewartet hatte, ließ die Pferde anziehen und seine Peitsche niederfallen. Der Wagen flog davon.

Im ersten Moment stand Alfonso wie vom Donner gerührt. In den letzten Minuten hatte die Besorgnis um Mr. Büchtings Schicksal ihn nicht an Ralph denken lassen. Er rannte – allerdings unwillkürlich – dem Wagen nach und beschleunigte seinen Lauf zu einer wunderbaren Schnelligkeit, die es ihm vielleicht möglich gemacht hätte, den Wagen einzuholen.

Da hörte er hinter sich einen Schrei, und als er sich umblickte, sah er Jeannette von einigen Männern umringt.

»Gottverfluchter Verräter!« rief er Ralph nach. Dann wandte er sich totenblaß und mit zitternden Lippen zurück zu Jeannette.

*

Als Dantes mit Richard, mit Mr. Bird und dessen Frau die Wache erreicht hatte, sagten sie sich, daß sie auch hier nur auf kurze Zeit geschützt seien, und überlegten sogleich, wie sie die Wache verlassen und einen ganz sicheren Aufenthalt aufsuchen könnten. Dieser Plan war jedoch nicht leicht, da sich auch in den benachbarten Straßen Volkshaufen zeigten, von denen man nicht wissen konnte, ob sie nicht mit denen, die Birds Haus gestürmt, in Verbindung ständen. Einige Beruhigung gewährte es ihnen, daß sich ein Detachement regulärer Truppen im Wachthause befand, die vor Begierde brannten, sich mit dem Pöbel zu messen.

Inmitten dieser Truppen sahen sie den Haufen, der von Ralph geführt worden war, herankommen und auf dem freien Platz halt machen. Dantes blickte unverwandt zu dem Haufen hinüber, und sein scharfes Auge schien alles zu erraten, was dort vorging.

»Man wird die Wache nicht angreifen,« sagte er. »Der Elende sieht ein, daß er den Kürzeren ziehen würde. Aber er spricht mit seiner Bande und wird uns ohne Zweifel bewachen lassen. Nun, das ist gleichgültig. Wir werden diesen Meuchelmördern zu begegnen wissen. Erkannt hat er Dich, Richard! Das letzte Bedenken, das ich gegen Dein öffentliches Auftreten hatte, fällt nun fort. Wir gehen zu Mr. Büchting.«

Der junge Mann stieß einen Freudenruf aus und drückte dem Missionar die Hand. Der höchste, sehnlichste Wunsch seines Herzens sollte endlich erfüllt werden, er sollte Eliza wiedersehen!

»Der Angriff galt nur mir,« fuhr Dantes fort, »dafür bürgt das Entsetzen, das er bei Deinem Anblick empfand. Hätte er gewußt, daß Du es warest, so hätte er Dich niedergeschossen; denn dieser Mensch ist nicht besser als ein reißender Tiger. Es war nur auf mich abgesehen. Er wollte mich töten, weil er mich für den einzigen Eingeweihten hielt. Und ich weiß nun auch, wer mich verriet. Es war ein junger Mann, ein Schauspieler, den ich in Richmond mit Staunton zusammen gesehen, der also auch ohne Zweifel mit dem Kapitän bekannt ist. Ich achtete nicht auf ihn, aber er muß mir gefolgt sein und meinen Aufenthalt an Pettow verraten haben. Am meisten beschäftigt mich die Frage: Was wird der Mörder jetzt tun, da er weiß, daß Du lebst? Wird ihn nicht die Furcht verjagen? Oder wird er versuchen, jetzt zu vollenden, was ihm einmal mißlungen ist?«

»Mein lieber, verehrter Freund!« rief Richard. »Das ist mir gleich! Ich habe ihm Auge in Auge gegenübergestanden und fürchte ihn nicht. Flieht er, um so besser! Warum soll die Welt die Scheußlichkeiten, die er begangen hat, erfahren!«

»Auch mir wäre das recht,« sagte Dantes. »Ich überlege nur, ob er den Aufruhr, der jetzt wahrscheinlich schon in ganz Neuyork herrscht, nicht benutzen wird, um eine neue Schändlichkeit zu begehen. Er liebt Eliza, oder vielmehr, er hält seine tierische Leidenschaft für Liebe. Sollte er jetzt, da er weiß, daß er niemals seinen Zweck erreichen kann, nicht zu einem letzten verzweifelten Mittel greifen?«

»Dann lassen Sie uns eilen!« rief Richard. »Und wäre es auch nur, um Mr. Büchting und Eliza zu warnen.«

»Wir wollen uns bei dem Offizier erkundigen, wie wir am sichersten in die Stadt gelangen,« sagte Dantes.

Er sprach mit dem Offizier. Der Platz war inzwischen ganz leer geworden. Auch in den Nebenstraßen zeigten sich keine Banden mehr, sie waren tiefer in die Stadt hineingezogen, wo es mehr zu plündern gab und wo mehr Abwechselung war. Der Offizier fand es also ganz unbedenklich, wenn der alte Herr und sein jüngerer Begleiter die Wache verließen. Dantes bat jedoch um eine Begleitung von wenigstens sechs Soldaten bis zur nächsten belebten Straße; auch diese wurde ihm gewährt.

Dantes und Richard nahmen herzlichen Abschied von Mr. Bird und dessen Frau, die noch auf der Wache blieben und erst später die Zerstörungen, die an ihrem Hause und Garten verübt worden, ansehen wollten. Ein Papier, das eine Anweisung auf Mr. Büchting enthielt, und das Dantes dem Gärtner in die Hand gedrückt, hatte den bekümmerten Mann über den Schaden beruhigt, den ihm der Pöbel zugefügt hatte, obwohl sich der Verlust eines Eigentums, das man liebgewonnen, nicht so leicht verschmerzen läßt.

Dantes und Richard verließen durch eine Hintertür die Wache, begleitet von den Soldaten. Sie eilten so schnell als möglich durch eine kleine Straße fort. Die von Ralph gedungenen Irländer hatten ihre Wachen überall ausgestellt, und zwei Männer schossen auch auf Dantes und Richard, jedoch ohne sie zu treffen. Dann ließen sie helle Pfiffe ertönen, um ihre Genossen zu benachrichtigen, und folgten den Davoneilenden. Das konnte gefährlich werden. Dantes hielt es jedoch für das beste, mit Richard in einen Mietswagen zu steigen. Die Soldaten aber warfen sich auf die Irländer und entwaffneten sie bald. So waren denn Dantes und Richard für den Augenblick vor Verfolgung sicher. Sie sahen noch andere Irländer wie rasend die Straße heraufstürzen, denn die von Ralph versprochene Belohnung gab ihnen Flügel. Aber es war vorauszusehen, daß die Soldaten, die von einer herankommenden Patrouille unterstützt wurden, die ganze Schar der Verfolger aufhalten würden.

Dantes und Richard beschlossen, nicht unmittelbar zu Mr. Büchting, sondern erst zu Mr. Everett zu fahren, um von ihm zu hören, ob sich irgend etwas zugetragen habe. Für den Fall, daß Ralph ihnen begegnete, war Richard entschlossen, von seinen Revolvern Gebrauch zu machen. Außerdem wollten sie sogleich einige Polizeibeamten bitten, sich ihnen anzuschließen, um Ralph, wenn er ihnen begegnete, verhaften zu lassen.

In Mr. Everetts Hause brach ein wahrer Sturm des Staunens und der Freude aus, als Richard plötzlich nicht wie ein Gespenst, sondern frisch und blühend erschien. Mr. Everett wurde durch den lauten Jubel herbeigelockt, und da er vermutet hatte, daß Dantes und Richard ein Unglück zugestoßen sei, so war seine freudige Ueberraschung groß, als er die beiden wohlbehalten vor sich sah. Er warf sich mit solchem Ungestüm in Richards Arme, daß die Diener glaubten, auch er sehe Richard zum erstenmal.

»Wo ist Ralph?« fragte Dantes sogleich.

»Zu Büchting gegangen, um ihn zu warnen,« erwiderte Mr. Everett. »Die Volkshaufen sollen es auf Büchting abgesehen haben.«

»Um Gotteswillen, dann ist kein Augenblick Zeit zu verlieren!« rief Richard. »Dann will er dieselbe Rolle spielen wie in Liberty-Plantation.«

»Was ist das?« fragte Mr. Everett befremdet. »Was sagst Du von Ralph?«

»Mein lieber Everett,« sagte Dantes und legte seine Hand vertraulich auf die Schulter des Bankiers, »wir müssen Dir endlich einmal mitteilen, was wir Dir so lange verschwiegen. Ralph ist es, den Eifersucht und Neid getrieben haben, Richard nach dem Leben zu trachten, und der die Mörder gedungen hatte. Ralph war es, der heute morgen das Haus Bird stürmen ließ, um mich zu töten, denn er wußte, daß ich den Sachverhalt kannte. Wir haben alles von ihm zu fürchten. Deshalb verschwieg ich Dir die volle Wahrheit und bat Dich, die Anwesenheit Richards geheim zu halten.«

Der Bankier stand wie gelähmt. Offenbar konnte er die ganze Größe und Furchtbarkeit dieser Anklage nicht mit einemmal fassen. Richard trat zu ihm und legte ihm die Arme um den Nacken.

»Mein lieber Vater,« sagte er, »wir hätten Dir gern diese Mitteilung erspart. Aber die Ereignisse sind zu ernst geworden; jede Unvorsichtigkeit könnte nicht nur uns, sondern auch anderen tödliche Gefahr bringen. Ralph, den ich für meinen besten, meinen nächsten Freund hielt, trug den Verrat gegen mich im Herzen, wollte meinen Tod. Später magst Du die Einzelheiten erfahren, die Dich über manches aufklären werden, was Dir bisher geheimnisvoll und dunkel bleiben mußte. Für jetzt mag es Dir genügen, daß ich Dich gewarnt habe. Die bösen Anschläge meines Feindes sind ja zunichte geworden. Nun komm, mein lieber Vater! Wir müssen uns so schnell als möglich überzeugen, ob Ralph nicht eine neue Verräterei ausgebrütet hat.«

Mr. Everett sprach noch immer kein Wort. Er erwiderte nur die Umarmung Richards und drückte seinem Liebling die Hand. Endlich aber rief er hastig:

»Wird Eliza nicht tödlich erschrecken, wenn sie Dich so plötzlich und unvorbereitet sieht?«

»Sie ist durch ihren Vater bereits davon unterrichtet, daß Richard wahrscheinlich noch lebt,« sagte Dantes. »Sie erwartet ihn also, wenn auch nicht gerade heute. Und an solchen Tagen der Aufregung wie heute erfährt man das Unglaubliche, Unerwartete ruhiger als sonst; das Gemüt ist dann empfänglicher und elastischer, es öffnet sich weiter und kann auch das Außergewöhnliche aufnehmen. Gerade wenn Eliza in Gefahr ist, wird es ihr nur natürlich erscheinen, wenn Richard plötzlich als ihr Retter vor sie hintritt.«

Als sie in die Straße einbiegen wollten, in der Mr. Büchting wohnte, schallte ihnen wildes Geschrei entgegen, und ein einziger Blick genügte, um sie erkennen zu lassen, daß die Aufrührer bereits durch die Fenster des Erdgeschosses in Büchtings Haus eingedrungen waren. Zugleich vernahmen sie aber auch aus dem wütenden Geschrei der Menge, daß der Besitzer und seine Familie sich durch eine Nebenpforte gerettet haben mußten, denn sie seien nirgends zu finden. Das Haus war nicht mehr zu retten; die wütende Bande daraus vertreiben zu wollen, wäre vergebliches, wahnsinniges Bemühen gewesen. Es handelte sich nur darum, zu erfahren, wie und durch wen Mr. Büchting und seine Familie gerettet waren und wohin sie geflüchtet seien. Hatte Ralph seine Hand dabei im Spiele, so lag die Gefahr eines Verrates, wie er schon in Liberty-Plantation von ihm versucht worden, sehr nahe. Bei Dantes stand es fest, daß Ralph, der jetzt Richard unter den Lebenden wußte, fliehen müsse. Welches Interesse konnte Ralph daran haben, vor seiner Flucht Eliza und ihren Eltern noch einen Liebesdienst zu erweisen? Das lag nicht im Charakter Ralphs; eher war eine Schändlichkeit zu vermuten.

Dantes, der die Pforte zu dem Nachbargarten sehr gut kannte – denn durch diese Pforte hatte er Richard am Abend des Festes in den Pavillon geführt und später das Fest wieder verlassen, kam sogleich auf den Gedanken, daß Mr. Büchting mit seiner Familie auf diesem Wege geflüchtet sei. Er ging mit Everett und Richard nach der Nebenstraße und erkundigte sich bei einem der Bewohner. Dieser berichtete denn auch, daß ungefähr vor einer Viertelstunde Mr. Büchting mit vier Damen und zwei Herren in zwei Wagen gestiegen und fortgefahren sei. Dantes ließ sich beschreiben, wie die Personen sich in den beiden Wagen verteilt hatten, und wurde ruhiger, als er vernahm, daß auch Alfonso in denselben Wagen gestiegen sei, in dem Ralph mit Eliza und Jeannette Platz genommen hatte. Es schien jetzt in der Tat keine Gefahr mehr vorhanden zu sein. Und doch lag etwas Beängstigendes in dem Gedanken, den Kapitän in Elizas Nähe zu wissen, um derentwillen er das Verbrechen gegen Richard verübt hatte und die ihm doch für immer verloren war, da Richard lebte.

Schweigend und in Gedanken versunken, voll innerer Unruhe gingen die Männer die kurze Nebenstraße hinauf und bogen dann in eine Hauptstraße ein. Kaum waren sie darin, da sahen sie einen Haufen verwilderter Kerle auf sich zukommen, von denen einer einen furchtbaren Knüttel schwang und laut schimpfte.

»Dieser Houstin ist ein Lump, und wir wollen es ihm eintränken!« rief er. »Wäre er nicht dazwischen gekommen, so hätten wir den Büchting mitsamt seinen Weibern zerrissen. Nun, er hat ohnehin fürs erste genug, und ich denke, wir besorgen ihm und Houstin am Abend noch einen zweiten Denkzettel.«

Die drei Männer standen unwillkürlich still und blickten einander an.

»Wer ist Houstin?« fragte Dantes leise den Bankier.

»Ein Beamter des obersten Gerichtshofes,« antwortete Everett. »Er ist allgemein geachtet und beliebt und hatte bisher eine vermittelnde Stellung eingenommen. Er wohnt nicht weit von hier – man kann das Haus sehen.«

»Hin zu ihm!« rief der Missionar. »Ich fürchte, wir haben uns zu früh beruhigt.«

Sie eilten die Straße hinauf, so schnell es ihnen das Menschengetümmel erlaubte, und hatten das Haus Houstins bald erreicht. Einige Kerle mit großen Knütteln standen davor. Einer unter ihnen, ein großer, starker, schon bejahrter Mann, hatte sich in die Tür gestellt und blickte unablässig in das Innere.

»Nun Patrick, sehe ich Dich einmal wieder?« fragte Dantes, dicht an den Mann herantretend.

Dieser fuhr zusammen, sah den Missionar mit seinen weit geöffneten, etwas geröteten Augen starr an und riß dann, als komme er plötzlich zur Besinnung, seine Mütze vom Kopfe.

»Heilige Mutter Gottes,« stammelte er, »Sie sind es Herr – –«

Er wollte die Hand des Missionars ergreifen und sie küssen. Dantes wehrte ihn ab und sagte streng:

»Du siehst mir nicht danach aus, als hättest Du das Versprechen gehalten, das Du mir damals in Sidney gegeben hast! Was tust Du hier? In diesem Hause ist ein Mr. Büchting mit einigen Damen. Was habt Ihr mit ihnen gemacht?«

»O Herr, Sie kennen sie? Wenn ich das gewußt hätte!« stammelte der Irländer. »Es hieß, das seien schlechte Menschen, die den Krieg in die Länge zögen, um uns alle auszuhungern. Ja, die sind noch drinnen –«

»Sage mir kurz, was geschehen ist?« unterbrach ihn Dantes.

»Ja, Sir, das ist sehr einfach,« antwortete Patrick. »Wir wußten, daß zwei Wagen hier vorbeikommen würden, und hatten unsere Order. Den ersten, in dem ein junger Herr saß, den ich kenne, sollten wir vorbeilassen, den zweiten nicht. Das haben wir getan. Und da der Herr im zweiten Wagen, der Mr. Büchting hieß, wie toll um sich schlug und einen Revolver hervorzog, so haben wir ihn unschädlich gemacht, und ich glaube, er lebte jetzt nicht mehr, wenn nicht ein Mann aus diesem Hause herzugekommen wäre und uns gesagt hätte, Mr. Büchting hätte nun genug und wir sollten ihn nur in Ruhe lassen.«

Das Gesicht des Missionars war furchtbar streng und finster geworden.

»Also Du kanntest den jungen Herrn im Wagen?« fragte er dann. »Wie hieß er?«

»Kapitän Pettow.«

»Und wer hat Dir den Befehl gegeben, den zweiten Wagen nicht vorbeizulassen?«

»Ein Schauspieler, ein durchtriebener Bursche, Booth heißt er.«

»Also Verrat!« sagte Dantes mit schwerer Stimme zu Everett und Richard, die bleich und starr wie Bildsäulen diesem schnellen Zwiegespräch zugehört hatten. »Nun gebe Gott, daß wir nicht zu spät kommen. Der Plan ist leicht zu erraten. Aber vielleicht hat die Anwesenheit Alfonsos ihn gestört.«

»Was weißt Du noch?« fragte er den Irländer.

»Nichts weiter, als daß Booth mit einigen Genossen in einen Wagen stieg, sobald wir über Mr. Büchting hergefallen waren und dem Kapitän Pettow nachfuhr.«

»Wohin fuhren sie?«

»Bei meinem Seelenheil, ehrwürdiger Herr, das weiß ich nicht. Es war mir, als riefe Booth dem Kutscher den Namen Pouvly-Square zu, aber ich kann mich geirrt haben.«

»Du bleibst hier!« sagte Dantes. »Ich habe nachher noch mit Dir zu sprechen! – Nun zu Mr. Büchting!« wandte er sich dann zu seinen Begleitern und eilte mit jugendlicher Behändigkeit in das Haus.

In Mr. Houstins Wohnung fanden sie Büchting auf einem Sofa liegen. Er blutete aus mehreren Kopfwunden, die ein Arzt verband, und schien besinnungslos zu sein. – Mistreß Büchting und ihre Gesellschafterin standen mit gefalteten Händen regungslos dabei. Erst als Dantes, Everett und Richard eintraten, schrie Mistreß Büchting auf:

»Sie haben ihn gemordet! Und mein Kind – mein Kind! Mein Gott ...«

Sie hatte Richard erkannt und fuhr zurück, als sähe sie ein Gespenst. Richard eilte auf sie zu und ergriff ihre beiden Hände.

»Teuerste Frau,« rief er, »noch ist nichts verloren. Sie sehen es – denn ich bin wieder bei Ihnen!«

»Still, still!« flüsterte Dantes. »Er erwacht!«

In der Tat schlug Mr. Büchting die Augen auf. Dantes trat sogleich auf ihn zu und beugte sich über ihn.

»Wohin sollten die Wagen fahren?« fragte er.

»Pouvly-Square,« flüsterte Büchting.

»Nun dann vorwärts!« rief Dantes. »Everett, Du bleibst bei Büchting; seine Wunden sind nicht gefährlich. Vielleicht kommen wir noch zur rechten Zeit. Alfonso wird die beiden Mädchen nicht ohne Kampf den Verrätern überlassen haben. Wenn nur der Platz genau angegeben ist, wenn das nicht wieder eine Täuschung ist – –«

Schon hatte er Richards Hand ergriffen, und ohne auf die erschreckten Blicke der anderen zu achten, riß er den jungen Mann mit sich fort.

»Du bleibst bei uns, Patrick!« rief er unten dem Irländer zu. »Und wenn ich Dich heißen sollte, Deinen Knüttel zu gebrauchen, so lasse ihn arbeiten, und wäre es auch auf dem Schädel des Kapitäns und des Schauspielers.«

»Mir recht, Sir, wenn Sie es befehlen,« sagte der Irländer.

Dantes rief den nächsten Wagen an und alle stiegen hastig ein. Dem Kutscher ward befohlen, zu fahren, so rasch er könne; stürzten die Pferde, so sollten sie ihm vergütet werden.

Richard saß schweigend, etwas blaß, die Lippen aufeinandergepreßt, neben dem Missionar. Er hatte seine Fassung verloren, und das war freilich kein Wunder. Nachdem er so viele Gefahren glücklich überstanden, mußte er beim ersten Male, als er das Haus betrat, erfahren, daß Eliza vor wenigen Minuten von seinem Todfeind geraubt worden sei! Das konnte ihn allerdings an aller Gerechtigkeit zweifeln lassen, das mußte ihm unsere ganze Welt als einen Spielball des höhnischen Zufalls zeigen. Nur zehn Minuten waren verloren, aber wie folgenschwer konnte dieser Verlust werden!

Es war eine weite Fahrt; für die beiden Männer wurde sie zur Ewigkeit. Der Wagen hatte kein Verdeck. Dantes und Richard standen aufrecht und blickten vor sich die Straße hinab. Endlich sahen sie die Bäume des Platzes am Ende einer Straße schimmern, und eine Minute darauf sahen sie eine Gruppe von Menschen, die miteinander zu kämpfen schienen.

»Vorwärts! Vorwärts!« rief Richard.

Der Wagen flog über das Pflaster. Als er die Chaussee erreichte, die den Platz durchschnitt, stürzte eines der Pferde. Im Augenblick waren Dantes und Richard aus dem Wagen.

Es war der Moment, in dem Alfonso seinen Feinden zu erliegen drohte. Er hatte sich, als er Jeannette angegriffen sah, mit Verachtung des eigenen Lebens mitten unter die Schar der Angreifer gestürzt und sie teils mit Faustschlägen, teils mit vorgehaltenem Revolver zurückgetrieben. Es wäre ein Leichtes für die Genossen des Schauspielers oder für den selbst gewesen, Alfonso mit einem Revolverschuß niederzustrecken. So rücksichtslos aber Booth auch jede Tat im geheimen ausgeführt hätte, er wußte doch, daß der Mord eines Mannes, wie Alfonso de Toledo – einer wegen seines Reichtums durch ganz Amerika bekannten Persönlichkeit – großes Aufsehen erregen müsse. Auch konnte er seinen Genossen nicht unbedingt vertrauen. Er hatte sie in der Eile zusammengerafft und sie waren gern auf ein Abenteuer eingegangen, bei dem sie sich ein wildes Vergnügen versprachen. Aber sie kannten Don Alfonso, und wenn sie auch vollkommen dazu entschlossen wetten, ihm ein junges Mädchen – und namentlich eine Quarterone – abzujagen, so wußten sie doch, daß der Mord eines Mannes aus so bekannter Familie und auf offener Straße nicht ungeahndet bleiben werde, und da Don Alfonso bis jetzt von seinen Schußwaffen noch keinen Gebrauch gemacht hatte, so waren auch sie nicht in dem Grade gereizt, um jede Ueberlegung zu vergessen. Mit einer Kraft, die für einen so feingebauten und scheinbar schwächlichen Mann wie Alfonso es war, wunderbar erschien, hielt der junge Mann die Angreifer von Jeannette fern. Diese dachte übrigens gar nicht an die eigene Gefahr, sondern nur an Elizas Entführung. Sie stand ganz still, mit gefalteten Händen, an einen Baum gelehnt, und starrte, scheinbar geistesabwesend, auf das Getümmel vor sich.

Als Booth den Wagen mit rasender Schnelle herankommen sah, ahnte er Unheil. Es handelte sich nun darum, sich entweder Jeannettens schnell zu bemächtigen, oder den Plan aufzugeben. Es waren im ganzen fünf Männer. Zwei von ihnen stürzten sich von hinten auf Alfonso und suchten ihn auf die Erde zu reißen. Alfensos Revolver entlud sich und einer von Booths Genossen schrie auf. Er war in den Arm getroffen. Ein Schrei der Rache ertönte aus dem Munde der anderen. Aber in diesem Augenblick erschienen Dantes und Richard auf dem Kampfplatz, brachen mitten in das Gewühl ein, warfen die Angreifer weit von Alfonso weg und hoben den jungen Mann empor.

Booth stand starr wie eine Bildsäule. Er kannte Richard von früher her, er wußte ihn tot – blitzschnell ahnte er einen Teil der Wahrheit. Auch Ralph mußte wissen, daß Richard lebte, und hatte deshalb den verzweifelten Entschluß gefaßt, sich heute noch Elizas zu bemächtigen. Daß sein eigenes Spiel verloren sei, daß er Jeannette aufgeben müsse, sah er wohl ein. Im Grunde lag ihm nicht viel daran. Er war auf den Plan eingegangen, wie auf jedes andere beliebige Abenteuer. Jeannette mit seinem Blute zu erkaufen, dazu hatte er keine Lust.

Sobald er also wieder Herr seiner selbst geworden war – und dazu hatte er genügend Zeit, denn Dantes, Richard und Alfonso wandten sich sogleich zu Jeannette – eilte er seinen Genossen nach, stieg mit ihnen in den Wagen und fuhr davon. Er wußte genug von dem alten Missionar, um zu ahnen, daß mit diesem Manne nicht zu scherzen sei; und Richard Everett sowie Alfonso de Toledo waren ebenfalls keine verächtlichen Gegner.

So waren denn die vier Personen plötzlich auf dem stillen Square für sich allein – Patrick, der Irländer, stand seitwärts bei dem Kutscher und half ihm das von dem Sturz des Pferdes beschädigte Geschirr ausbessern. Alfonso war sehr bleich, obwohl seine Brust von der Anstrengung des Kampfes hoch wogte. Er konnte kein Wort sprechen. Als Dantes ihn fragte, ob er nicht wisse, wo Eliza sei, deutete er nur mit der Hand nach der Richtung, in der Ralph mit Eliza verschwunden war. Jeannette hatte jetzt den Blick erhoben und sah Richard an, als ob ihr das Wunderbare seiner plötzlichen Erscheinung gar nicht zum Bewußtsein komme, dann aber rief sie plötzlich:

»Herr Gott im Himmel – Mr. Richard! Und Eliza ist fort!«

Ein Tränenstrom stürzte aus ihren Augen, und sie schluchzte, als wollte ihr das Herz brechen; Alfonso eilte auf sie zu und schloß sie in seine Arme.

Es war eine tief ergreifende, traurige Szene; Dantes und Richard begriffen sehr wohl, daß sie, wenn auch nicht für Jeannette und Alfonso, doch für Eliza zu spät gekommen waren.

»Alfonso, mein lieber Sohn,« sagte Dantes, »ich begreife Deine Erregung. Aber bedenke, mit welcher Angst wir eine Nachricht über Eliza erwarten. Wo ist sie?«

»Fort, mit dem Verräter!« antwortete Alfonso. »Er wußte, als wir hier hielten, um meinen Oheim zu erwarten, es so einzurichten, daß er mit Eliza allein im Wagen blieb, und befahl dem Kutscher, die Pferde anzutreiben. Ich wäre ihm gefolgt, hätte man nicht auch Jeannette angegriffen ...«

»Es war ein im voraus überlegter Plan!« sagte Dantes traurig. »Und wohin er Eliza führt, das wird niemand wissen, denn er selbst wird noch keinen bestimmten Ort im Auge haben. Nun, Eliza ist ein wackeres Mädchen, und Schlimmeres, als den Tod, hat sie nicht zu fürchten! Ihnen augenblicklich zu folgen, wäre vergeblich. Wir müssen den Telegraphen arbeiten lassen nach allen Richtungen. Fasse Dich in Geduld, mein lieber Richard! Gott hat Dich gerettet, als Du es nicht hofftest. Er wird auch über Eliza wachen! Es ist bestimmt von der Vorsehung, daß dieser Verräter nicht triumphieren soll. Es ist kein leichtsinniges, schwaches Geschöpf, das er mit sich nimmt. Es ist ein Wesen voller Mut, Kraft und Verstand, das einem Menschen wie Ralph wohl die Spitze bieten kann, selbst wenn er Gewalt gebrauchen sollte. Wir haben keinen Grund, das schlimmste zu fürchten. Jetzt müssen wir zu Elizas Eltern zurückkehren. Jede Verfolgung ohne Ziel wäre unnütz.«

Er reichte Richard die Hand. Der drückte sie stumm. Ja, er hatte in den entsetzlichen Lagen, in denen er sich befunden, auf Gott vertrauen gelernt. Wo alle Menschenkraft nicht mehr ausreicht, da gibt es zuletzt noch eines, das man Zufall, Vorsehung, Fügung nennen mag – wie man will – und das über all unserer Berechnung steht! Auch Richard vertraute auf Eliza. Wenn es irgendein weibliches Wesen gab, das Ralph Pettow die Spitze bieten konnte, so war es Eliza Büchting. Entführen konnte sie Ralph, aber sie vom Wege der Pflicht, der Ehre, der Treue ablenken, das hätte weder er noch irgendein Mensch vermocht!

Eine kleine Stunde darauf hielt der Wagen wieder vor Mr. Houstins Hause, das jetzt nicht mehr bewacht wurde. Dantes ging zuerst allein hinauf, um sich nach Mr. Büchtings Schicksal zu erkundigen. Seine Wunden waren nicht unbedeutend, aber sie ließen ihm sein volles Bewußtsein.

Dantes teilte also ihm und Mistreß Büchting alles mit, was er wußte, und sprach seine feste Hoffnung aus, daß Ralphs Pläne, welcher Art sie auch sein mochten, nicht gelingen würden. Mit stummem Schmerze empfingen die Eltern die Nachricht. Nun war ihnen Richard wiedergegeben und Eliza verloren! Niemand sprach es aus, aber jeder fühlte, daß Ralph, wenn alle seine Pläne mißlängen, vor dem äußersten nicht zurückschrecken, daß er Eliza töten werde.

Es ward beschlossen, daß die Männer sich in die Arbeit, die jetzt nötig geworden, teilen sollten. Mr. Everett sollte nach Büchtings Haus gehen, um sich zu überzeugen, welchen Grad die blinde Zerstörungswut des aufgestachelten Pöbels dort erreicht habe, und zu retten versuchen, was zu retten sei; Richard sollte auf die Polizei eilen, seine Erlebnisse zu Protokoll geben und die Verfolgung des Kapitäns Ralph Pettow beantragen; Dantes endlich sollte die Telegraphen in Bewegung setzen. Everett beschrieb ihm Ralphs Anzug, Mistreß Büchting Elizas Kleid. Nun kamen auch Jeannette und Alfonso herauf; Jeannette warf sich Mistreß Büchting zu Füßen und bat, sie zu töten, zu verstoßen, denn sie sei schuld, daß es Ralph gelungen war, Eliza zu entführen. Sie war außer sich; man konnte für ihren Verstand fürchten.

Am Abend oder in der Nacht sollte Mr. Büchting in Mr. Everetts Wohnung geschafft werden.

Inzwischen raste der Aufruhr weiter. Die Neger wurden auf der Straße erschlagen, wo sie sich blicken ließen, Milizen und Reguläre lieferten den Aufrührern heftige Kämpfe. Keine Stunde verging, in der man nicht von irgendeiner Seite her Gewehrfeuer hörte. Die Häuser hervorragender Führer der Abolitionisten und der Kriegspartei wurden geplündert, zerstört und verbrannt. Der Pöbel triumphierte, die Behörden waren machtlos.

Am Abend trafen Dantes, Richard und Everett in der Wohnung des Bankiers zusammen. Everett berichtete, daß alles im Innern von Mr. Büchtings Hause zerstört sei, doch habe der treue Portier einen großen Teil vom baren Gelde und Wertpapieren glücklich beiseite geschafft und zu Mr. Everett gebracht. Everetts weniger prononzierte Stellung sowie sein verwandtschaftliches Verhältnis zu Ralph Pettow retteten ihn vor Angriffen.

Weniger gut waren des Missionars und Richards Nachrichten. Richard hatte man auf der Polizei gar nicht anhören wollen. So großes Aufsehen sein Wiedererscheinen auch in ruhigen Zeiten gemacht haben würde, so wenig achtete man darauf mitten in einem Aufstande, der ganz Neuyork mit Untergang bedrohte. Allerdings hatte ein junger Schreiber seine Aussagen endlich zu Protokoll genommen; aber an eine regelmäßige Verfolgung des Kapitäns Pettow als Mörder und Entführer war nicht zu denken.

Ebenso wenig hatten die Telegraphenbeamten dem Missionar versprechen können, seine Depeschen nach allen Städten des Südens, Westens und Nordens zu befördern. Die telegraphische Verbindung war teils unterbrochen, teils befanden sich die Bureaus in den Händen der Aufrührer; auch wurden die Drähte für Regierungsdepeschen benutzt. Man mußte abwarten, bis der Aufstand unterdrückt war. Und wenn der Pöbel triumphierte, so zeigte sich wenig Aussicht, daß man gegen einen seiner Hauptführer mit Energie vorgehen werde.

Mr. Büchting ward glücklich während der Nacht in Mr. Everetts Wohnung geschafft. Er lag im Wundfieber. Mistreß Büchting, deren Kraft nur durch die gefährliche Lage ihres Gatten aufrecht erhalten wurde, verließ keinen Augenblick sein Bett.

Auch Dantes und Richard blieben in Everetts Hause.


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