Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es handelt sich nicht um das Weinlokal neben dem Hofbräuhaus; es handelt sich nur um einen Tisch dieses Lokals. Er stand in der hinteren Ecke des kleinen Raumes, wo Tischdecken und eine gewisse Gepflegtheit der getäfelten Wände eine von der Münchener Bräuhaus-G'müatlichkeit unterschiedene behagliche Wärme schufen. Nebenan, in dem großen, hallenartigen und hofbräuähnlichen Hauptlokal waren schwere eichene Tische und Stühle, mächtige gußeiserne Lüster, weißblaue Embleme und langsame Münchener Bürger. Die Verbindung der beiden Gaststätten wurde durch die raschen, gefälligen, braven »Kassierinnen« aufrechterhalten, die hier wie dort bedienten, die Eigenheiten aller Stammgäste kannten und respektierten und, nie aufdringlich, immer verständnisvoll teilnahmen an allem, was ihre Kundschaft, im großen Raum an lokalen, im kleinen an künstlerischen Ereignissen bewegte. Das Lob der Münchener Kellnerin zu singen, der wahren Freundin des Studenten und des Künstlers, dem keine Frau und keine Mutter die kleinen kulinarischen Wünsche erfüllt, der klugen Psychologin, die genau, weiß, wann ihre Unterhaltung erfreut und wann sie schweigend zu servieren hat, die ohne zu fragen wittert, wie es gerade im Portemonnaie ihrer Kostkinder aussieht und bei der Empfehlung des Essens darauf taktvoll Rücksicht nimmt, die sich, niemand verletzend, mit einer freundlichen Grobheit unerbetene Zärtlichkeit vom Leibe hält, – ihr Lob zu singen, ihren Anteil an Münchens kultureller Sendung als Deutschlands Florenz der Nachwelt zu übermitteln, ist die noch unerfüllte Pflicht derer, die Münchens gute Tage miterlebt haben.
Auf dem Gesims über unserem Tisch gab es weniger Humpen und Kneipenkitsch, als sonst gewöhnlich an derlei Stätten gefunden wird, doch gemahnte die mit prächtigen Gloriabändern gezierte Klampfe am Kopfende immerhin an die künstlerische Bestimmung des Stammtisches. Unter dem Instrument war der Platz von Frank Wedekind, und außer ihm hat in den Jahren, die den Torggelstubentisch zu einem geistigen Mittelpunkt Münchens machten, selten jemand die Gitarre vom Nagel geholt, und auch Wedekind selbst nur, wenn er einmal besonders gut aufgelegt war. Musik und Gesang war ja zum allergeringsten Teil der Inhalt unserer Unterhaltungen, wenn es auch Abende gab, die ganz damit ausgefüllt waren; dann trug der Schauspieler August Weigert sächsische Biedermeierliedchen oder bayerische Schnadahüpfeln vor, Gustl Waldau sang irgendein Ulklied oder hielt eine seiner italienischen Reden, die unbeschreiblich echt klangen, ohne eine richtige Vokabel zu enthalten, oder Josef Futterer holte seinen »Fotzhobel« aus der Tasche – das ist der Fachausdruck für die Mundharmonika, die dieser Maler mit erstaunlicher Virtuosität beherrschte. Er trug stets eine ganze Anzahl davon bei sich, wechselte während eines Solokonzertes mehrmals das Instrument und sah beim Blasen gefährlich aus. Allerdings bedurfte es der Anstrengung, um ihn überhaupt zu sehen, denn bevor er loslegte, ließ er das ganze Lokal verdunkeln, klemmte sich in eine Ecke, duckte sich zusammen und legte beide Hände, zwischen denen er das Instrument zusammenpreßte, wie eine Maske vor das Gesicht. Dann klang es aber auch wie ein ganzes Orchester von Trompeten, Drehorgeln und Querpfeifen.
Wer den Tisch zum Stammplatz zuerst geeignet gefunden hatte, kann ich nicht genau sagen. Wahrscheinlich war es Hanns von Gumppenberg, der in seiner seltsamen Gemütsmischung von pastoraler Feierlichkeit, kaltschnäuziger Ironie und verstiegenem Okkultismus gern allein war und sich dann doch freute, wenn man ihn grübelnd antraf und ihm Gelegenheit gab, an die Grübelei ein Gespräch anzuknüpfen. Die Behauptung, Gumppenberg sei ein langweiliger Pedant gewesen, habe ich nie bestätigt gefunden. Im Gegenteil: seine umständlich gestreckte Redeweise, die ihm den Ruf eingetragen hat, war nur die etwas lodenmäßige Umkleidung höchst interessanter, oft verblüffender Gedanken und witziger Kritik. Der schöpferisch befähigte Mann litt tief unter der ewigen Misere des Daseins, die ihn zwang, den Rezensenten der Werke anderer zu machen; seine fast übertriebene Gewissenhaftigkeit wiederum verführte ihn zu oft ungerechter Härte des Urteils und trug ihm dadurch erbitterte Feindschaften ein, und für die Charaktere beider Beteiligten kennzeichnend ist die bekannte und übrigens verbürgte Tatsache, daß der kluge Psychologe Wedekind sich immer einige Zeit vor der Premiere eines seiner Stücke mit seinem Freunde Gumppenberg gründlich verkrachte. Er konnte dann mit größter Bestimmtheit eine freundliche Kritik erwarten, da Gumppenbergs verängstigtes Rechtlichkeitsstreben vor sich selbst die Pflicht fühlte, die persönliche Verärgerung von der sachlichen Kritik weit fernzuhalten, wie er umgekehrt über den Freund viel zu strenge ins Gericht zu gehen pflegte, um keinen Verdacht einer Beeinflussung durch private Sympathien aufkommen zu lassen. Ich denke mir also, daß Hanns von Gumppenberg vielleicht das mitten in der inneren Stadt gelegene Weinlokal als Refugium vor dem Schwabinger Künstlertum ausfindig gemacht haben könnte, um unbeeinflußt von Klüngelinteressen seinen Schoppen Tiroler zu trinken, und daß es ihm dann ganz recht gewesen sein mag, als ihn dieser oder jener seiner Freunde einmal zufällig entdeckte und sich allmählich ein neuer Kreis bildete, dem der eigentliche Begründer seine Individualität unterordnete.
Ich selbst kam erst ziemlich spät in die Gesellschaft an den Torggelstubentisch, und zwar durch Wedekind, der mich einmal nach einer Premiere vor dem Theater ins Gespräch zog und es fortsetzte, bis wir bei den Honoratioren am Platzl gelandet waren. Ich hatte bis dahin diesen Kreis gemieden, weil ich eben eine Honoratioren-Ansammlung in ihm vermutet hatte, fühlte mich aber sehr bald dort heimisch und wohler als in irgendeinem anderen Zirkel der Münchener Boheme. Das geistige Niveau der Torggelstuben-Gesellschaft überragte hoch das der bloßen Vergnügungsstätten oder des Cafés Stefanie, wo man seine Zeitungen las, manche seiner Berufsarbeiten schrieb und im allgemeinen Obdach und Wärmehalle für seine anhanglose Lebensführung suchte. Frank Wedekinds große Persönlichkeit kam in der Torggelstube voll zur Geltung. Er hatte die Fähigkeit, einen Menschen, ein Ereignis, ein Kunstwerk, eine politische oder kulturelle Streitfrage mit einer Prägnanz zu charakterisieren, die das gestellte Problem mit den schärfsten Konturen ans Licht hob und keiner Zweideutigkeit einen Ausweg ließ. Seine Kritik war oft boshaft, sarkastisch, und jede Illusion zerstörend, – sie war nie um der Gehässigkeit willen negativ. Ich habe viel öfter Lob aus Wedekinds Munde gehört als Tadel, und ich habe ihn nie andere tadeln hören als solche, die im offiziellen Wertregister nach seiner Meinung wider Gebühr obenanstanden. In einem der Münchener Theater war eine Schauspielerin tätig, die ich als überschätzten Star in jeder Kritik angriff; die Regie dieser Bühne, schrieb ich einmal, werde mit dem Ellenbogen der betreffenden Dame geführt. Als Wedekind das las und ich mich mündlich dazu noch schärfer äußerte, verzog er, wie immer, wenn ihn eine Bosheit juckte, das Gesicht: »Sie tun ihr Unrecht«, meinte er dann, »Frau R. ist eine erstklassige Schauspielerin – – für ein zweitklassiges Publikum.« Diese Kritik, die einfach das Objekt tauscht und sich gegen die Zuschauer richtet, die Routine und Virtuosität für echte Inbrunst halten, ist bezeichnend für Wedekinds Art des Urteilens allgemein; schonungslos, den Kern einer Sache erfassend und ihr Wesen vollkommen erschöpfend.
Über Frank Wedekind ist so unendlich viel Anekdotisches aufgezeichnet, daß ich darauf verzichten möchte, im Zusammenhang meiner Erinnerungen dieses Material für Geschichtensammler zu vermehren. Ich beschränke mich auf die zusammenfassende Charakteristik, zu der ich mich durch die Beobachtungen der langjährigen, fast täglichen Berührung mit dem bedeutendsten Geist berechtigt halte, den ich, abgesehen von der völlig verschieden beschaffenen geistigen Potenz Gustav Landauers, kennengelernt habe. Wedekind war ein unbedingt wahrhaftiger Mensch, was gewiß nicht bedeuten soll, daß er nie gelogen hätte. Nein, er hat, wo immer er sich selbst hätte enthüllen können, die Wahrheit verborgen gehalten oder selbst das Gegenteil von dem gesagt, was seine Wahrheit war. Aber sich selbst hat er niemals angelogen; wer seine Werke kennt, überzeugt sich davon. Und auch, wenn er andere belog, sprach er die Wahrheit, denn er ließ sie hinter der Lüge vorscheinen, sei es durch die Übertreibung der Bekräftigungen, mit denen er das Gegenteil seiner Meinung versicherte, sei es durch die Galligkeit seiner Ausdrucksweise, sei es durch sein ironisches Mienenspiel. Wedekind war ein unendlich gütiger und hilfsfreudiger Mensch, und gerade bei der Betätigung dieser Eigenschaft verkroch sich die Schamhaftigkeit seines Wesens hinter der Lüge, mit der er herzlos zu scheinen suchte. Es ist auch falsch, Frank Wedekind als Poseur auszugeben, der durch Bizarrerie oder durch Anstößigkeit des Benehmens es auf die Verblüffung seiner Umgebung abgesehen gehabt hätte. Er konnte in der Tat manchmal mit einer gesellschaftlichen Unmöglichkeit aufwarten, die seinem ahnungslosen Gegenüber die Haare hochtrieb. Doch geschah das immer nur, um den anderen aus der Ahnungslosigkeit zu reißen, daß Wedekind ihn als langweilig, geschmacklos oder fehl am Orte empfand. Als ein junges Ehepaar von der Hochzeitsreise zurückkam und besonders die junge Frau andauernd die schmalzigsten Schilderungen aller gesehenen Herrlichkeiten von sich gab, fuhr ihr der Dichter, bis zur Übelkeit angeödet von der Kitschigkeit der Unterhaltung, plötzlich mit einer Frage ins Gesicht, die sich nicht auf die Landschaften der Fahrt bezog und die arme Person blutrot vom Tische jagte. Oder: ich brachte mal den damals eben in Mode kommenden Oskar Kokoschka an den Tisch, der, ein wenig gemacht, naive Äußerungen fallen ließ. Wedekind sah ihn freundlich an und fragte mit leichtem Zucken unter der Nase: »Sie reisen in Kindlichkeit, Herr Kokoschka – lohnt sich das wieder?« Er hatte die Gewohnheit, sein mächtiges, für hundert Zigaretten eingerichtetes Etui vor sich auf den Tisch zu stellen und unausgesetzt daraus anzubieten. Ein Jüngling saß mit uns am Tisch, der sich an der lebhaften Unterhaltung mit keinem Wort beteiligte, dem berühmten Mann hingegen hingegeben ins Gesicht sah. Wedekind, schien ihn völlig zu ignorieren, bis der junge Mann zum ersten Male den Mund öffnete und bescheiden bat, sich eine Zigarette nehmen zu dürfen. Er erschrak fürchterlich, als er die wütende Antwort hörte: »Nein! Die sind nicht für Zaungäste – Fräulein Marie, bringen Sie dem Herrn bitte fünf Zigaretten!« – Gerade, wenn Wedekind grob wurde, vergaß er die Maske, die sonst sein Inneres verdeckte; gerade da posierte er gar nicht. Seine Wahrhaftigkeit nämlich lebte abseits aller Konvention. Es gab noch einen Mann am Stammtisch in der Torggelstube, dessen Charakter, wie ich glaube, fast alle falsch gesehen haben. Das war der ehemalige Theaterdirektor Emil Meßthaler, der verdienstvolle Begründer des »Intimen Theaters« in Nürnberg, der dort, Nürnbergs frühere Monopolstellung als einzige deutsche Stadt ohne Theaterzensur kulturell fruktifizierend, der modernen Dramatik wagemutig und mit hervorragendem Können als Regisseur außerordentliche Förderung zuteil werden Heß. Wedekind dankte ihm unendlich viel, denn ohne Meßthalers um alles Spießergeschrei unbekümmerte Kühnheit hätte er im Kampf gegen die klerikale Polizeiunterdrückung seiner Stücke in München nicht den Vorteil auf seiner Seite gehabt, auf die schon stattgehabten und respektvoll aufgenommenen Nürnberger Aufführungen von »Frühlingserwachen« und »Erdgeist« hinweisen zu können. Den Dank ist Wedekind auch niemals schuldig geblieben, und selbst, als er später einmal mit Meßthaler in einen schweren Konflikt geriet, der geschäftliche Ursachen hatte, lehnte der Dichter jede Inanspruchnahme des Gerichts ab mit der Begründung, er könne mit dem Manne nicht um Geld prozessieren, dem er es zum guten Teil verdanke, daß er überhaupt Geld verdiene. Meßthaler hingegen hatte es dahin kommen lassen, daß sein Verhalten gegen Wedekind – es ging um öffentliche Liedervorträge zur Laute, die der Direktor ihm arrangiert hatte – von uns allen als höchst unschön empfunden wurde und wir ihn, der heiter und anscheinend sorglos wie immer an den Tisch in der Torggelstube kam, deutlich zu schneiden anfingen. Eines Tages aber, als für niemand mehr eine Frage bestand, daß Meßthaler Wedekind um sein Vortragshonorar geprellt hätte, überraschte uns alle die Neuigkeit, daß die ganze Geschichte in freundschaftlichster Weise geregelt und das Geld freiwillig ausgezahlt worden sei. Ähnliche Dinge in Meßthalers Verhalten kenne ich noch in mehreren Varianten, teilweise ganz scheußliche Handlungen, deren letzte Konsequenz aber immer im entscheidenden Augenblick ausblieb, um statt ihrer in ängstlicher Heimlichkeit eine grundanständige Wiedergutmachung treten zu lassen. Meßthaler war ohne Zweifel Poseur; er trug sich stets nach der neuesten und elegantesten Mode, gab kolossal viel Geld für den Schneider aus und spielte den gewissensrohen Kerl, der vor keiner Niederträchtigkeit zurückschrecke. Dahinter verbarg sich ein gefühlsarmer guter Mensch, der allerdings den Frauen sehr gern gefiel und in dem Glauben lebte, dazu bedürfe es vor allen Dingen der unbeherrschten Brutalität des Kraftmenschen. Ich lernte Meßthaler früh richtig einschätzen. Bei einem Versuch, ihn für eine Zeitschrift, die ich begründen wollte, mit ein paar hundert Mark heranzukriegen, bekam ich die spöttische Antwort, er lasse sich auch dann nicht anpumpen, wenn es angeblich zu idealen Zwecken geschehe. Ein paar Tage später aber erhielt ich die gewünschte Summe mit einem Brief Meßthalers, worin er mich fragte, ob er sich nicht an dem Zeitschriftenunternehmen als stiller Teilhaber beteiligen könne; er erhoffe sich ein sicheres Geschäft davon. Als der Krieg ausbrach, war er einer der ganz wenigen, die vom ersten Tage an nur Trauer und tiefen Abscheu empfanden. Er suchte meine Gesellschaft und vertraute mir als dem einzigen ausgesprochenen Kriegsgegner, den er kannte, seine Empfindungen bei all dem wirren Geschehen an. Nach meiner Verhaftung kam er zu meiner Frau, brachte ihr Leckerbissen und Zigarren in riesiger Fülle für mich (der ganze Reichtum ist den Plünderern meiner Wohnung zugute gekommen) und erklärte, er stelle sein ganzes Vermögen zur Verfügung, wenn ich dadurch befreit werden könne. Bald danach wurde er völlig menschenscheu. Der eleganteste Mann Münchens zog sich in seine Behausung zurück, ließ sich Haare und Bart wachsen und starb aus Gram über das Unrecht und die soziale Not in Einsamkeit und selbst gewähltem Verzicht auf allen Luxus.
Von der übrigen Gesellschaft der Torggelstube, die sich zum größten Teil aus Bühnenkünstlern zusammensetzte, soll noch gesondert berichtet werden. Ich habe viele gescheite und interessante Menschen dort kennengelernt, deren Namen im geistigen Leben Deutschlands bekannt waren oder noch geworden sind. Dort saß ich mit Georg Hürth zusammen und mit Franz Werfel, dort verkehrten als Gäste Otto Ernst und Alfred Holzbock, und jeder wurde seinem Wert entsprechend gefeiert oder leicht angeulkt. Dort hörte ich auch zuerst den famosen Justizrat Max Bernstein seine Anekdoten aus langer Verteidigerpraxis erzählen. Dann mußte ich ihn 1910 in meinem Geheimbundprozeß selbst als Verteidiger in Anspruch nehmen. Als er den Tatbestand ausgiebig geprüft hatte, meinte er: »Ja, schaun S', Herr Mühsam, in der Sach' gibt's nur zweierlei, Freispruch oder Höchststraf'.« »Dann wollen wir doch lieber auf den Freispruch heraus«, antwortete ich. Bernstein schmunzelte: »Ich denk halt auch«, und nach fünftägiger fabelhafter Arbeit meines Verteidigers vor Gericht wurde ich dann eben freigesprochen. – Auch Bernstein lebt nicht mehr, und wer heute am Wedekind-Tisch der Torggelstube sitzt, – ich weiß es nicht.