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Oft wenn die Erdschollen des Lebens dicht auf mein Haupt herunterrollen und mir es schon ist, als würde ich, wie so viele andere, in dem dumpfen Grabe dieser Zeit lebendig begraben, da zerreißt zuweilen die dunkle Nacht des Grabes wie eine Wolke auf hoher Alp, und unten weithin in der Ferne, wie ein verlorenes Eiland mitten zwischen Eisbergen, liegt meine grüne Heimat und mein Jugendleben da. Dann treten oft längst vergessene, ehrwürdige Greise und Männer und ihre Söhne und Töchter mit ihren freundlichen, kameradschaftlichen Gesichtern mir wiederum so lebendig neu entgegen, als läge nur eine lange, öde Nacht zwischen heute und sonst.
Doch sind viele Jahre vergangen, seitdem ich ihre Gesichter nicht mehr gesehen habe. Viele von ihnen ruhen auf dem kleinen Gottesacker dort an der alten Kirche und ihrem Glockenturme, der mein ältester und treuester Freund ist, der immer noch zuweilen freundlich über die Berge in meine Träume herübernickt und mit seiner milden Glockenstimme mir zuruft: »Wo bleibst du denn so lange?«
Wie gute Engel ziehen diese Stimmen des Heimwehs mir überall nach, sie finden mich im Gedränge des Marktes, sie schleichen mir nach in das Theater und klingen oft mit einem einzigen Waldhorntone durch das rauschendste Konzert wie aus tiefgrünem Waldesdunkel zu mir her.
Heimat! – welche Seligkeiten schließt nicht das einzige Wort in sich! Ach, wir Männer der neuesten Zeit haben die Heimat verloren, deshalb sind wir auch alle so unglücklich! Heimat, Vaterland, Glauben und Frieden – das alles ist dahin! Dafür haben wir schöne Worte gefunden, reiben uns die Hände und sagen: »Unsere Heimat ist die Welt, unser Glaube die Freude und unser Frieden? –der Kampf!« Als ob nicht die Heimat das Herz wäre, mit welchem wir die Freuden und die Leiden der ganzen Welt erst fühlen lernten! Als wenn nicht der Frieden des heimatlichen Lebens die Palme des Kampfes sein sollte!
Ist, wie die Blume, nicht auch der Mensch ein Gewächs der Heimaterde? Wurzelt die eine mit materiellen Wurzeln in dem Boden und lebt durch ihn und mit ihm, so hängt der andere mit geistigen Wurzeln nur um so inniger mit ihm zusammen.
Was ihr mir auch bieten mögt, ich werde doch nie die fernen Berge und Täler, nie die Fichtenbäume, die über meiner Wiege gerauscht haben, nie vergessen die Nachbarn meines Vaters und ihre Kinder, meine Spielgenossen!
Tausend Geschichten, die pflanzenartig dort aufwuchsen und Zeit hatten, sich mit und an den Menschen auszuleben und abzurunden, stehen in meiner Jugenderinnerung da, wie seltsame, glänzende Bilder in einer altgotischen Kirche. Gesicht an Gesicht schauen sie aus goldenen und silbernen Blumen und Ranken mich gar freundlich an wie einen alten Bekannten.
Unter diesen Bildern steht obenan der patriarchalische Abraham, ein alter Bauer, der einen langen, grauen Bart hatte und auf dem Kopfe ein Samtbarett trug.
Er war in der ganzen Umgegend deshalb bekannt, weil er, vorzüglich in seinen älteren Tagen, immer oben auf dem Berge an der Straße saß und unverwandt nach Osten schaute, als müßte von dorther eine langersehnte Botschaft kommen.
Wenn ich von der Schule oder Universität in die Ferien und meiner Heimat zuwanderte und schon mitten aus den Bäumen heraus das väterliche Haus erkennen konnte, traf ich auch jedesmal den alten Abraham oben auf dem Berge unter einer uralten, einsamen Fichte sitzen, vom Alter gekrümmt, in den dürren Händen den langen Stab, die mit langen Wimpern überschatteten Augen hinausgerichtet auf die nach Osten zu laufende böhmische Straße.
Er hatte jedesmal eine herzliche Freude, wenn er mich sah, und rief mir, ohne daß ich ihn fragte, immer zu: »Er ist noch nicht da!« Diese Worte taten mir in der Seele weh; denn daran hing eine ganze Geschichte, lustig und traurig zugleich, wie man will. »Er ist noch nicht da!« sagte ich da für mich und ging vorüber.
Mir haben diese Worte etwas zu wehmütig Sehnsüchtiges, daß ich sie heute noch nicht vergessen kann – weder die Worte, noch den, von dem sie gesagt wurden, noch den alten Abraham, der sie mir zurief.
Abraham wohnte an einem Hügel, von dem eine reiche Quelle in vielen Wässerungsgräben herunterrann und den Rasen ringsumher grün erhielt. Das Wohnhaus lag so verborgen hinter hohen Apfel- und Birnbäumen, daß man nur die Feueresse und den aufsteigenden Rauch sehen konnte. Hinter dem Hause zog sich die Strecke seiner Felder über den Hügel hinüber und dort taleinwärts, wo die Wiesen, von einem Erlenbachs durchschnitten, dahingebreitet waren. Gleich an die Wiesen grenzte sein Fichtenwald, welcher hier und da mit Laubholz untermischt war.
Gingen so Abrahams Felder und Wiesen in gleichem Zuge fort, so machte doch sein Wald eine Ausnahme, indem in die Mitte desselben eine große Heide hineinzüngelte, auf welcher ein altes, halbverfallenes Häuschen stand, welches nebst dem Grund und Boden des öden Landes früher einem Köhler und jetzt dessen Tochter Friederike angehörte.
Dieses Mädchen hatte Abraham, als ihr Vater in ihrer frühesten Jugend verstorben war, aus der Einöde mitleidig zu sich genommen, indem er öfters sagte: »Ich habe ein Zicklein im Walde gefunden und ziehe mir es auf!«
Dieses Mädchen wuchs mit Abrahams Söhnen, von welchen der eine Ismael, der andere Isaak hieß, geschwisterlich heran.
Nicht ohne Bedeutung hatte Abraham nach dem Vorbilde seines Namenspatriarchen seine Söhne also benannt.
Es hatte sich nämlich in seiner Familie die Sage erhalten, daß sie vor undenklichen Zeiten in Asien gewohnt, von den Arabern und mit diesen von Ismael, dem Sohne Abrahams und der Magd, abstammte und nur zufällig nach Deutschland verschlagen worden wäre.
Was wahr oder falsch an dieser Sage ist, kann dahingestellt sein, doch mag nur in Deutschland, wo seit Jahrhunderten alles Volksleben tot ist und mehr ein Individuen- und Familienleben sich herausgebildet hat, eine solche Sage so lange sich erhalten und sogar bis in die neueste Zeit auf das Schicksal der Familie, welcher sie angehörte, Einfluß haben.
Da Abraham nicht genug von den Örtlichkeiten Palästinas und der umliegenden Länder hören konnte, so unterhielt er mit meinem Vater, welcher Schullehrer im Dorfe war, einen fortwährenden Verkehr.
Zuweilen kam Abraham in unser Haus, noch öfter aber ließ er meinen Vater abends zu sich aus ein Glas Bier bitten.
Wenn mein Vater dorthin ging, so nahm er mich gewöhnlich mit und gab mir Bücher und Landkarten zu tragen. Schon unter der Türe empfing uns der Patriarch mit der Hand und führte uns in die Stube, welche der ganzen Familie gemeinsam war. Auf dem weißen, ahornen Tisch lag immer schon die große Nürnberger Bibel mit Holzschnitten ausgeschlagen.
Während nun beide die Örtlichkeiten des heiligen Landes, wie solche nach und nach in den einzelnen Kapiteln der Bibel genannt waren, auf der Landkarte von Palästina aufsuchten, saß ich gewöhnlich bei Ismael und Isaak und der freundlichen Friederike. Ismaels Seele war tief und geheimnisvoll wie der See Genezareth und hatte ebenso wie dieser zuweilen seine gefährlichen Sturmschauer. Seine Lieblingsneigung war Herumschweifen in Feld und Wald, wozu später die Jagd kam, auf welche er den Jäger des Ritterguts häufig begleitete.
So oft ich in späteren Jahren, wo wir Kinder mehr herangewachsen waren, mit meinem Vater abends in dem Hause Abrahams war, hatte Ismael etwas mit seinem Schießgewehre zu tun oder mit sonst einem Geschäfte, das dieser seiner Neigung entsprach. Bald richtete er ein Tellereisen zum Fuchsfange vor, bald schmolz er Blei über der Kienspanleuchte, welche einen Teil des Zimmers erleuchtete, und goß Posten, zuweilen saß er aber auch still und in sich gekehrt da und horchte dem Gespräche unserer Väter zu.
Es konnte nicht fehlen, daß zuweilen das Gespräch der beiden an ihrem Tische lauter wurde, zumal wenn mein Vater auf das schöne Klima des Gelobten Landes, auf den süßen, klaren See Genezareth und die herrlichen Städte, welche dort in alter Zeit geblüht hatten, oder den fischreichen Jordan, dessen Name im Hebräischen gleichbedeutend ist mit Rhein, wie mein Vater gern auseinandersetzte, zu sprechen kam. Bei solcher Gelegenheit fingen die Augen Abrahams feurig zu rollen an, und seine Arme streckten sich von selbst aus, indem er rief: »Hör' ich nicht das Rauschen des Windes, und kommt er nicht über die gesegneten Berge herüber? Hör' ich nicht die Wogen des heiligen Stromes Jordan heranbrausen? Ich werde dich nicht sehen, Land meiner Väter! Wenn ich in der Todesstunde ringen werde nach Auflösung, wird kein guter Engel kommen und mir die Erde der Heimat von dort, wo der Brunnen des Lebendigen fließt zwischen Kades und Bared, auf mein Haupt streuen, daß ich ruhig sterben kann!«
Bei einem solchen Ausrufe fuhr Ismael immer in die Höhe und stand da mit verschränkten Armen, indem sein wildes Auge an der Decke der Stube herumschweifte, als wollte er dort oben den Wegweiser suchen, der ihn zu jener Stelle führte; denn er wußte gar wohl, daß dort zwischen Kades und Bared bei dem Brunnen am Wege zu Sur der Engel des Herrn Hagar gefunden und zu ihr gesprochen hatte: »Hagar, Sarai Magd, wo kommst du her? und wo willst du hin?« und weiter: »Du wirst einen Sohn gebären, des Namen sollst du Ismael heißen, darum, daß dich der Herr erhört hat! Er wird ein wilder Mensch sein!« Und Ismael der Zweite wußte es gar wohl, daß er nur der natürliche Sohn seines Vaters Abraham war, der dort am Tische saß, und daß die Zeit kommen werde, wo auch er das väterliche Haus mit dem Rücken werde ansehen müssen! Er wußte und glaubte ebenso fest wie sein Vater Abraham, daß keiner von ihrem Geschlechte selig sterben konnte, wenn ihm in der Sterbestunde nicht eine Handvoll Erde vom Gelobten Lande auf das Haupt und die Brust gestreut wurde.
Abraham brachte bei einer solchen Unterredung häufig ein seltsames Kästchen von unerkennbarem Metalle und ganz von fremdartigen, eingegrabenen Schriftzügen bedeckt und mit Henkeln versehen, durch welche ein Riemen zum Umhängen gezogen war, aus dem Schranke heraus, stellte es auf den Tisch und sagte mit gerührter Stimme: »O ich Unglücklicher! Sehen Sie herein, Herr Schulmeister! Es ist kein Stäubchen mehr darinnen, das mich erlöste in meiner Sterbestunde. Als ich meinem Vater, da er im Sterben lag, den letzten Rest der heiligen Erde, welche uns von unsern Vorfahren Übermacht worden war, auf das Haupt streute, da sah er mich noch einmal an, mit einem Blicke, den ich nie vergessen werde, und sprach: »Ach, wie willst aber du sterben, Abraham?« Das ist es, Herr Schulmeister, was die Tage, welche ich noch zu leben habe, mir verkümmert.«
Mein Vater, welcher mit ganzer Seele an Deutschland hing, das zu jener Zeit wenigstens dem Namen nach noch ein Reich war, fing da gewöhnlich zu zürnen an und warf die Worte hin: »Er ist sonst ein vernünftiger Mann, Abraham! Er ist ein gläubiger Christ, und was noch mehr ist, Er handelt wie ein Christ, aber bei alledem ist Er ein Narr! – Mag es seine Richtigkeit haben, daß Seine Familie aus Palästina stammt, so ist sie, wie Er weiß, doch seit Jahrhunderten hier mitten in Deutschland eingebürgert – Sein Urgroßvater, Sein Großvater, Sein Vater, Er und Seine Kinder sind hier im Vogtlande geboten und erzogen, ganz ehrliche und brave Vogtländer seid Ihr und keine Ismaeliten! Hier ist Seine Heimat, hier ist die Erde, die man uns allen einst auf den Leichnam legen wird und unter welcher wir vielleicht recht gut ruhen werden! Wenn wir bis auf Adam und Eva zurückgehen, so stammen wir alle aus Asien her. Müßte nun jeder Mensch in seiner Sterbestunde eine Handvoll asiatischer Erde haben, die endlich Kot wie alle ist, so müßten wir geradezu halb Asien aus Transportschiffen nach Europa herüberschaffen. Abraham! tu' Er diesen sündhaften Aberglauben von Sich und lerne Er Seine wahre Heimat kennen!«
Abraham aber entgegnete einmal: »Wenn ich nicht wenigstens den Trost hätte, daß meine Vorfahren einst vor Gott und Menschen etwas gegolten hätten, und müßte ich es hinnehmen, nur ein deutscher Bauer zu sein, der sein Lebtage nichts von einem Vaterlande, weder in der Stadt auf dem Markte, noch auf der Gerichtsstube, noch in der Kirche hört, Herr Schulmeister, ein Bauer, der im Lande nur dann zu finden ist, wenn Steuern fällig sind, müßte ich das hinnehmen, so will ich lieber ein eingebildetes Vaterland haben, als so eins, das mich nur als einen Prägestock zum Geldmachen gebraucht. Zum Vaterlande, dächt' ich, gehörte mehr, als daß wir an einem Orte sechzig Jahre essen, trinken und schlafen.«
Das war meinem Vater, welcher freilich ein ähnliches Steckenpferd ritt und viel Rühmens davon machte, ein Mitglied des heiligen, deutschen, römischen Reiches zu sein, zu viel gesagt.
Wenn das Gespräch diese Wendung genommen hatte, dann griff er gewiß nach seinem Hute und rief: »Komm, Juli! Nichts für ungut, Abraham! Gute Nacht!«
Ohne Aufenthalt trotteten wir dann nach Hause, indem mein Vater immer noch unterwegs vor sich hinbrummte: »Ein alter, hochmütiger Narr ist er. Er will einer sein! Immerhin! Komm, Juli!«
Mein Vater hatte nicht ganz unrecht. Trotz einem Altadeligen war Abraham auch auf seine Ahnen, welche er durch das ganze alte Testament und die profane Weltgeschichte hindurchzählte, heimlich stolz.
Dieser Stolz schlug auch noch darinnen tiefere Wurzeln, daß sein Geschlecht sich immer nur durch einen männlichen Nachkommen fortgepflanzt hatte. Freilich machte er selbst eine Ausnahme, da er zwei Söhne, neben dem ehelichen Isaak noch einen außerehelichen, Ismael, hatte. An den letzteren mochte er aber nicht gern erinnert sein, da er sich hier sehr gedemütigt fühlte.
Ich war, wie gesagt, von früher Kindheit an mit den beiden Söhnen Abrahams und seiner Pflegetochter bekannt. Waren meine Lernstunden beendigt, dann flog ich immer zu ihnen, zumal in der Zeit, wo wir alle noch in den früheren Kinderjahren lebten.
Bei anbrechendem Frühlinge, wo alle Bäche und Quellen überströmten, hatten wir am Hügel bei den kleinen Wasserfällen der Quelle vor Abrahams Hause zu schaffen. Ismael und ich waren sehr geschickt im Bauen kleiner Wassermühlen, welche aus einem Stäbchen bestanden, in das wir kleine Schaufeln von Spänen einsetzten, so daß ein ziemliches Mühlenrädchen fertig wurde. Dieses Rädchen setzten wir dergestalt in den rinnenden Wassergraben, daß es mit den beiden Endchen auf zwei in das Land gestoßenen, hölzernen Gabeln lag und von dem abwärts strömenden Wasser herumgetrieben wurde.
Isaak dagegen hatte eine große Geschicklichkeit, allerlei Hirtenpfeifen aus Weidenruten zu machen, in welche eben der Saft getreten war, so daß sich nach einigen Schlägen mit dem Messerrücken die Rinde da löste, wo sie durch Kreiseinschnitte von der übrigen getrennt war.
Friederike suchte aber ringsumher die jungen Butterblumen zusammen und flocht sich und jedem von uns daraus einen Kranz.
Wenn das sprühende Wasser unsere Mühlen recht freudig überall im Graben drehte, und wir saßen oben mit unfern Butterblumenkränzen und bliesen auf unseren Frühlingspfeifen, mit welchen die Lerchen aus dem ersten blauen Frühlingshimmel zusammenschmetterten, dann gab es für uns eine endlose Freude.
Das Kind gebraucht so wenig äußerliche Mittel zu seinem Glücke, weil sein inwendiger Poet noch lebendig ist. Nur die älteren Menschen, welche in einer verdorbenen Zeit selbst verdorben worden sind, kennen kein rechtes Glück mehr, weil sie die Poesie verloren haben. Hat es ja Menschen gegeben, deren ganzes Herz nach und nach Speck geworden ist. Fahret dahin in eurer Verdammnis!
Ich will die nächsten bunten Blätter der ersten Jugendzeit überschlagen.
Ismael war von uns der ältere. Er mochte wohl zu der Zeit, von der ich jetzt rede, achtzehn Jahre, Isaak sechzehn, Friederike fünfzehn Jahre alt sein, als sie einst mit der Schafherde ihres Pflegevaters im Walde bei dem halbverfallenen Häuschen ihres Vaters hütete.
Dort saß sie am Brunnen unter dem alten, breitästigen, dichten Lindenbaume, der sie vor der warmen Maisonne beschützte.
Munter weideten und sprangen die Lämmer um sie her, ohne daß sie hinsah, denn der getreue Spitz kreiste wachsam um die Herde herum und ließ zuversichtlich kein Lamm abirren. Über ihr im Baume jagte sich neckend ein Turteltaubenpaar und badete sich gurrend in der Sonne.
Sie merkte auf das alles nicht. In der Hand einen Strauß seltener Waldblumen, auf dem Hute ein Tannenreis, an ihre Schulter den Schäferstab gelehnt, saß sie träumend da.
Sie war nicht betrübt, und dennoch rollte aus ihrem blauen Cyanenauge eine große Träne; sie war nicht fröhlich, und doch zog um ihren Mund ein wechselndes Lächeln.
Über die Heide hin streckten sich längere Schatten, ein frischer Waldhauch regte die Wipfel der Bäume und verbreitete in dem Waldheiligtume einen süßen Weihrauchduft; doch Friederike war in sich so versunken, daß sie selbst wie eine Blume mit blühen half, ohne weiter an etwas klar zu denken.
In Friederikens Herz hinein blickten seit kurzem zwei schwarze, glänzende Augen, die sie überall hin verfolgten und an denen sie sich inwendig nicht satt sehen konnte. In ihre Seele hinein klangen immerfort die Worte: »Ich bin dir gut!« und in ihrer rechten Hand zuckte noch immer der Händedruck, welchen ihr Ismael mit auf den Weg gegeben hatte, als er ihr und ihrer Herde das Hoftor aufmachte.
Es war ihr, als hätte sie heute zum erstenmal Ismael gesehen, oder als wäre von seiner Gestalt plötzlich der Schleier heruntergefallen, durch welchen sie ihn bis jetzt nur wie einen Schatten teilnahmslos erblickt hatte. Noch nie war sein braunes Gesicht ihr so schön vorgekommen als heute, wo er sie erst angeblickt und dann verstohlen gesagt hatte: »Ich bin dir gut!«, noch nie so schlank und gewandt als heute, wo er den schweren Torriegel mit einem Rucke zurückwarf.
Während sie so zum erstenmal recht lebhaft an ihren Spielgenossen dachte, kam um das halb verfallene Haus der blonde Isaak herum. Er hatte die Sonntagsjacke an und das rotseidene Tüchel um den Hals. Sie bemerkte ihn nicht eher, als bis er vor ihr stand und sagte: »Ei, guten Tag, Friederike!«
Kaum hatte sie bei diesen Worten erschrocken die Augen aufgeschlagen, so rief sie verwundert: »Und nun gar so geputzt?« »Je nun!« antwortete Isaak, »das sind Geschichten! und ich dächte, da brauchte man sich gar nicht so sehr zu verwundern, wenn ein ordentlicher Mensch etwas Ordentliches anzieht!« »Sieh' doch!« entgegnete Friederike, was du mir weismachen willst! Geh', du bist doch nicht aufrichtig!«
»Nun, so will ich es dir nur sagen,« erwiderte Isaak kleinlaut und verschämt, »und du kannst es auch geradezu wissen, daß ich das Tüchel umgetan habe, weil du gesagt hast, daß es mir gut stände, und weil – weil ich dir auch gefallen möchte! und weil ich dich auch heiraten möchte!«
Friederike lachte über diesen Antrag unaufhaltsam und schlug einmal um das andere die Hände vor der Brust zusammen, indem sie rief: »Ach, ich kann nicht mehr lachen, ach, es sticht mir ja das Herz ab! Isaak, du gehst doch nicht etwa gar in das Wirtshaus und trinkst? Und das Gesicht, das du machst! Nein! geh! geh, Isaak! Du machst mich bös! und ich rede gewiß kein Wort mehr mit dir, so schwer es mir auch fallen sollte! Wenn ich nach Haus komme und dein Vater schaut mich an, werde ich mich zu Tode schämen müssen! Geh nur! Geh nur! guter Isaak!«
Isaak aber lagerte sich zu ihren Füßen und sagte: »Darf doch auch der Spitz zu deinen Füßen sitzen und gar die Schnauze auf deine Hand legen, und der ist doch nur ein Hund; weshalb soll nun gerade ich, der ich dich doch lieber habe, nicht bei dir sein?«
In diesem Augenblick fiel ein Schuß mitten in den Lindenwipfel hinein, daß die Blätter herunterstäubten.
Isaak und Friederike waren aufgesprungen und schauten sich erschrocken um. Da trat Ismael aus dem Walde und kam auf sie zu. Schon von weitem rief ihm Friederike zu: »Du garstiger, häßlicher Ismael, wie hast du mich erschreckt! Konntest du uns denn nicht gar totschießen?«
»Ismael sagte erhitzt: »Der Schuß mußte hinaus, denn es konnte sein, daß ich seiner später nicht mehr Herr war! Friederike!« Mit diesem Worte faßte er hart ihre Hände, daß sie zitternd und erbleichend vor ihm stand, »Friederike! ich bin dir herzlich gut, das weißt du, aber wenn du einen anderen, oder den Isaak lieber hast, so sage es nur gerade heraus; es ist doch besser, auf einmal und recht schnell zu wissen, wie man daran ist!«
Isaak aber trat ihm entgegen und rief erzürnt: »Großer, ich sage dir, Friederiken heirate ich! Da steh davon ab, sonst wird es zwischen uns beiden nicht gut!«
Ismael, ohne jedoch die Hände Friederikens loszulassen, wendete den Kopf seitwärts und sprach verächtlich: »Du Kleiner, denkst wohl, ich soll überall dein Knecht sein und dir nachstehen, weil du meinst, du wirst einmal ein reicher Bauer? Nimm dich in acht und schneid' dich nicht in den Finger, geh nach Hause und lies die Geschichte von Kain und Abel und merk' dir, was ich sage, daß, wenn es so sein sollte, ich gewiß nicht den Abel spielen würde!«
Friederike riß sich von Ismael los und schrie: »O, ich Arme, ja, ich will nur gar in das Wasser springen, ehe ihr euch einander ein Leid antut! Sagt nur dem Vater, wenn ich abends nicht nach Haus komme, daß ihr mich in den Wasserdümpfel gejagt habt!«
Ismael, welcher ebenso heftig als nach ausgebrauster Hitze weich war, wischte zuerst eine Träne aus dem Auge. Wie das Isaak sah, fing er auch zugleich mit Friederike bitterlich an zu weinen.
Sie reichten sich alle drei wortlos die Hände und setzten sich in das lange Heidegras. Keines getraute sich das andere anzusehen, bis endlich Ismael in die Worte ausbrach: »Ich denke nur, daß eins von uns dreien durch diese Geschichte recht unglücklich werden wird. Wenn ich mir es recht überlege, so ist Friederike besser daran, wenn sie einmal einen reichen Bauer, als einen bekommt, der gar nichts hat, wie ich, und der mit dem zufrieden sein muß, was man ihm gutwillig, wie ein Almosen, der Schande halber zuwerfen wird! Aber sieh, Friederike, denke nur, wenn du mich lieb hättest, wie könnte ich denn auch von dir lassen?«
Schon wollte Isaak ihm entgegnen, als Friederike, welche mit klugen Gedanken lange dagesessen hatte, jetzt sagte: »Da fällt mir ein, daß die Leute im Dorfe bei Heiratsgeschichten immer zum Pfarrer gehen und ihm die Sache vortragen! Wie wäre es nun, wenn auch wir zu ihm gingen und erzählten ihm, daß wir alle drei uns einander lieb hätten, und daß doch nur zwei miteinander glücklich sein könnten?«
»Das war aber klug von dir!« sagte Isaak und war ganz damit zufrieden. Nur Ismael ließ sich lange zureden, bis ihm endlich Friederike in das Ohr sagte: »Der Pfarrer weiß auch: was Gott zusammenfügt, soll der Mensch nicht scheiden!« »Nun,« sagte Ismael, »morgen ist Sonntag, da wollen wir nach der Predigt zu ihm gehen!«
So geschah es wirklich.
Am folgenden Vormittage, als der Pfarrer aus der Kirche zurückkam und seine Tochter ihm eben erzählte, daß der Kalbsbraten gar nicht braun werden wolle, sie möge feuern so arg als sie wolle, und daß auch im Garten kein Spargel mehr herausgekommen wäre, da es nicht mehr geregnet hätte, und der Seelsorger über diese Hiobspost ohnedies verdrießlich geworden war, pochte etwas leise und bescheiden an die Tür. Auf seinen Ruf »Herein!« tat sich die Tür auf, und Friederike mit Ismael und Isaak traten schüchtern herein.
»Was wollt ihr?« rief ihnen der Pfarrer zu. Da beide Jünglinge vor Verlegenheit nicht zu Worte kommen konnten, so fing Friederike errötend und stammelnd an:
»Herr Pfarrer, ich werde Ihnen nun bald ein Schüsselchen Erdbeeren bringen können, sie haben im Walde schon abgeblüht und grün angesetzt! Ich habe aber dafür ein Schüsselchen Morgeln!« Mit diesen Worten packte sie das Gefäß, welches sie im Taschentuchs trug, schnell aus und stellte es behutsam auf den Schenktisch. »Sie ist ein gutes Kind!« sagte der Pfarrer.
»Und hier,« fing Ismael an, »habe ich Ihnen ein Paar junge Waldtauben gestern geschossen!« »Schöndienerei!« sagte der Pfarrer und griff den Tauben unter die Flügel, um das Fett zu prüfen.
Nur Isaak hatte nichts bei sich; denn die kluge Friederike hatte nur Ismael den Plan mitgeteilt, den Herrn Pfarrer mit einer guten Gabe zu gewinnen, und der gute Junge war schon früh um vier Uhr mit der Flinte in den Wald geschlichen und war durch dick und dünn gestiegen, bis er endlich die Tauben berückt hatte, welche er nun zum Opfer brachte. Ein Auerhahn war ihm nicht in den Schutz gekommen.
»Und was wollt ihr nun?« fragte der Pastor. »Nehmen Sie nichts für ungut, hochehrwürdiger Herr Beichtvater,« sprach verschämt das Mädchen, »der Ismael und Isaak sind mir alle beide gut und wollen mich heiraten!«
»Heiraten?« fragte der Pfarrer laut lachend; »Gundchen!« – rief er seine Tochter – »so komm nur einmal herein und sieh einmal das Mädchen dir an! Sieh nur, der Backfisch will schon heiraten! Daß dich! – gib mir einmal meinen Hut her, ich will mit dem alten Abraham reden, damit er nur weiß, was von seiner Erziehung Gutes herauskommt.«
Ismael sah zornig darein, aber der Pfarrer fuhr jetzt, indem er den Hut aufstülpte, ihn hitzig mit den Worten an: »Er Waldstreicher! will mir wohl noch gar Blicke zuwerfen? Wart, ich will dir schon das Christentum predigen, sittenlose Brut!«
Friederike fing an zu schluchzen, der Pfarrer aber eilte zum Hause hinaus, das Dorf hinunter, den Hügel hinauf und trat zu Abraham ein, welcher eben in der Bibel von der Austreibung der Hagar und ihres Sohnes las.
Vor ihm stand das verhängnisvolle Kästchen, das er immer sehen mußte, wenn er recht andächtig die heilige Geschichte lesen wollte.
Kaum sah er jedoch den Pfarrer eintreten, so stand er auf und ging ihm freundlich entgegen.
»Man weiß,« fing dieser salbungsreich zu predigen an, »daß Gott die Sünde der Väter heimsucht bis in das dritte und vierte Glied! Dieser Fluch bewährt sich auch an Ihm, Abraham! Er hat Seine Jugendsünde gut machen wollen, indem Er die Frucht derselben, Seinen Ismael, in das Haus ausgenommen hat. Aber siehe da! die Hand Gottes weiß den Sünder da am sichersten zu finden, wo er sich am geborgensten hält. Ich habe öfters mit Schrecken daran gedacht, welche Freiheiten Er Seinen Kindern, insbesondere dem Ismael, gestattet. Da ist die saubere Frucht Seiner Erziehung! Eben kommen Sein Ismael und Isaak benebst dem angenommenen Mädchen Friederike in mein Haus und bringen mir vor, daß sie sich einander heiraten möchten! Was sagt er dazu, Abraham? Nicht wahr, das ist so etwas Ismaelitisches nach Seinem Sinne? Immer erschrecke Er, immer schlage Er die Augen zu Boden, denn die Strafe seiner Jugendsünde steht vor Ihm wie ein Gewappneter, um Ihn jählings zu verderben!
»Höre Er weiter! Er hat heute in der Kirche gehört, daß man selbst dann sehr häufig sündige, wenn man die frühere Sünde wieder gut machen wolle! So ist es auch mit Ihm; denn Er wird nun ein Teilnehmer aller ferneren Sünden, die Ismael schon durch seine Existenz begeht! Ich habe es leider hören müssen, das; Sein Ismael allen Mädchen im Dorfe umher den Kopf verwirrt; wo er an einem Hause oder Garten vorüberrennt, da dreht gewiß auch ein Gänschen ihm ihren Hals nach! Hat doch der böse Feind sogar meiner Tochter, einem Mädchen ganz nach dem Herzen Gottes, vorigen Donnerstag in der Nacht im Traume den Namen Ismael auf die Zunge gelegt, daß ich vor Schreck aus dem Bette herausfuhr und hinüberging, wo sie schlief, um sie aus ihren argen Träumen zu wecken. Ich habe noch heute davon den Schnupfen und den Husten! Und deshalb komme ich nun zu Ihm, damit ich Ihm sage: es ist nicht besser in Seinem Hause; denn hier hat er auch Seine alberne Friederike betört, es ist nicht besser in meinem Hause, und es wird nirgends besser werden, bis Er dieses Kind der Sünde, diesen Bastard, fort und aus dem Hause und unter die Soldaten gejagt hat, wo er hin paßt! Ich sage Amen!«
War nun Abraham schon an sich sehr reizbar und hatte er nicht minder schon immer in Ismael einen ewigen Vorwurf einer früheren verwerflichen Neigung vor sich gesehen, hatte er schon öfter sich die Frage vorgelegt, was er mit Ismael, der nun erwachsen war, anfangen sollte, da er nicht willens war, seine Güter zu zerstückeln, war ihm überdies zuweilen das Beispiel Abrahams vor die Augen getreten, der die Magd mit ihrem Sohne verstoßen hatte, und fand er darin eine geheime Mahnung, es auch so zu machen, so trat dies alles in verstärkterem Maße vor seine Seele, als jetzt von dem Pfarrer so schonungslos sein früherer Fehltritt gerügt wurde.
Er zitterte vor Zorn und Verlegenheit an allen Gliedern.
Als aber jetzt Ismael trotzig in die Stube trat und sagte: »Der Herr Pastor mag nun sagen, was er will, so bleibt es doch dabei!«
»Bei was bleibt es?« rief ihn Abraham an. »Daß ich Friederiken zu meiner Frau nehme!« »Ohne meinen Willen?« fragte Abraham. »Ich hoffe zu Gott, mit Euerm Willen!« entgegnete Ismael. »So habe ich hier nichts weiter zu schaffen!« murrte der Pastor, dem eben einfiel, daß der Sonntagsbraten nunmehr braun geworden sein müsse, und begab sich fort.
Abraham war in den Armstuhl zurückgesunken und starrte lange vor sich auf den Boden hin, indem er einen Gedanken zu verfolgen schien.
Endlich erhob er sich und sagte zu Ismael, der noch immer vor ihm dastand: »Warte ein wenig, mein Sohn!«
Mit diesen Worten entfernte er sich aus einige Minuten und kam dann mit einem schweren Geldbeutel zurück. Er zählte dreihundert Goldstücke auf den Tisch und sagte dann: »Ismael, du sollst nicht sagen, daß ich dich nackt und bloß in die Welt hinausgestoßen hätte!«
»Ihr wollt mich doch nicht fortjagen?« fragte Ismael bestürzt. »Doch! doch!« entgegnete Abraham. »Hier streich' das Geld ein und da nimm das Kästchen und häng' es um!«
In Ismaels Augen blitzte es rätselhaft auf; ihn ergriff ein heiliger Schauer, als ihm sein Vater den Riemen über die Schulter warf, das Geld in eine Geldkasse streifte, diese zuzog und ihm um den Leib schnallte.
Abraham sprach: »So gehe denn hin in das Land unserer Väter und bringe mir von der heiligen Erde beim Brunnen, der dort fließt zwischen Kades und Bared, damit ich selig sterben kann! So kniee nieder, damit ich dich segne! Der Engel des Herrn gehe vor dir her mit Palme und Schwert und bahne dir deinen Weg, er behüte deinen Ausgang und Eingang, er führe dich über Berge und Meere dorthin in das Land, wo Gott gewandelt ist unter den Menschen, wo er gesprochen hat zu den Erzvätern und den Propheten, dorthin, wo die Engel auf einer Leiter niederstiegen zu dem schlafenden Jakob, dorthin, wo die Erde getrunken hat das rinnende Blut unseres Heilandes!
»Der Herr wird dich erretten vor dem Strick des Jägers und vor der schädlichen Pestilenz. Er wird dich mit seinen Fittichen decken; denn er ist deine Zuversicht. Er hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich behüten aus allen deinen Wegen, daß sie dich auf Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Auf Löwen und Ottern wirst du gehen und treten auf die jungen Löwen und Drachen!
»Gottes Gnade sei mit dir und führe dich sicher in die Heimat zurück, wo ich dir aufbewahren werde die Braut deiner Seele!«
Nun schloß er Ismael an seine Brust, küßte ihn zu tausend Malen, dann aber sagte er: »Nun geh, zieh dahin und erbarme dich deines Vaters, damit auch dir Gott gnädig sei!«
Ismael war so erschüttert, daß er nicht sprechen konnte. Er küßte die Hände des Vaters und nahm den Wanderstab.
Unter der Türe standen schluchzend Isaak und Friederike. Ismael drückte die Geliebte zum erstenmal an sein Herz, er küßte zum erstenmal ihren Mund, indem er mit halberstickter Stimme sagte: »Ich komme wieder, Friederike! Bleibe mir treu!«
Als er sich jetzt von ihr losriß, stürzte sie laut schreiend auf die Kniee und rief: »Wenn du gehst, so bleibe ich nicht einen Augenblick länger hier in diesem Hause, und müßte ich betteln gehen durch die ganze Welt!«
Ismael legte noch einmal seine bebende Hand auf ihr Haupt, dann rief er wie in Todesangst: »Ich will gehen, aber wehe euch allen, wenn ihr mir nicht dieses Kleinod bewahrt! Ich will gehen in die Wüste, Gott wird mich nicht verlassen, und ich werde wiederkommen; aber erbarme sich Gott über euch, wenn diese da mich nicht bei meiner Heimkehr als meine Braut begrüßen kann! Doch nur zehn Jahre, zehn Jahre nur, es ist eine gute, lange Zeit, soll euch mein Wort binden; dann – dann –« seine Stimme brach hier in den Worten: »dann tut, was ihr wollt!«
Als er sich nun hinwegwandte, schrieen alle laut auf. Er aber zog mit langen Schritten die Straße hinaus.
Als am andern Morgen im Hause Abrahams alle Hausgenossen still an ihre Geschäfte gingen und nur Friederike mit verweinten Augen ihre Habseligkeiten zusammenpackte, fragte Abraham: »Du willst also doch das Haus verlassen?« Friederike erwiderte: »Was würden nunmehr auch die Leute denken, wenn ich mit Isaak hier bliebe?« »Wo willst du aber hin?« »In die Hütte meines Vaters! Bis sich für mich eine andere Aussicht findet, will ich Beeren und Kräuter suchen und nach der Stadt tragen. Gott wird mich nicht umkommen lassen im Walde!«
»Wenn du nicht anders willst,« versetzte Abraham, »so kannst du hinausziehen; aber Not sollst du nicht leiden, auch soll der alte Ackerknecht Hans mit dir hinziehen und das wüste Land urbar machen! Ich gebe dir auch die scheckige Kuh, drei Ziegen und neun Schafe mit. Ich will schon selbst zuweilen bei dir nach Ordnung sehen!« Friederike fiel ihm mit heißer Danksagung um den Hals.
Eine Stunde darauf fuhr der alte Hans einen Wagen mit allerlei Hausgeräte über den Berg hinüber, hinterdrein ging Friederike mit gesenktem Haupte und trieb die scheckige Kuh, die Ziegen und die Schafe, welche nunmehr ihr gehörten, vor sich her.
Hans war nun unermüdlich tätig, das kleine Haus im Walde herzustellen, Bretter und Schindeln aufzunageln, neue Türschwellen zu machen, im Stalle Balken einzuziehen, und war überall zur Hand, so daß es im Hause gar bald wohnlich wurde.
Dann teilte er die Heide in Acker- und Weideland und fing an nach Herzenslust zu graben und zu ackern, während Friederike die Wirtschaft bestellte und ihre kleine Herde abwartete.
So lebten beide vom ersten Jahre in das zweite hinüber und so fort in ruhiger Reihenfolge der Tage.
Friederike hing einer stillen Trauer nach und kam mit den Leuten des Dorfes fast nie zusammen; deshalb wurde sie spottweise in der Umgegend die Waldfee genannt.
Nur Abraham besuchte sie zuweilen und half ihrer kleinen Wirtschaft nach Kräften auf, indem er oft sagte: »Aus Fahrlässigkeit habe ich früher hier alles liegen lassen, nun bin ich dein Schuldner und muß wieder gut tun!«
Öfter kam auch Isaak zu ihr. Sie schien aber seine flehenden, liebenden Blicke nicht zu verstehen, obschon sie gegen ihn sonst freundlich war.
Von Ismael getraute sich keines zu reden. Als er aber im dritten Jahre noch nicht wieder da war, geschah es fast nach stiller Übereinkunft, daß beinahe an jedem Abende sowohl Abraham, als auch Isaak und Friederike oben auf der Anhöhe bei der alten Fichte sich trafen, wo die böhmische Straße nach Osten hinläuft.
Sie wußten alle, warum sie solange hinaussahen, aber keines sagte weshalb.
Wenn nun die Nacht hereinbrach, dann sprach nur Abraham: »Er ist noch nicht da!«
So war es jahraus jahrein. Jahr um Jahr verstrich, aber er war noch nicht da; das zehnte Jahr kam, aber er war immer noch nicht da.
Als die längste Frist, welche sich Ismael zu seiner Heimkehr gesetzt hatte, nun gleichfalls verstrichen war, wurden die fast nie unterbrochenen, fast unwillkürlichen Bewerbungen Isaaks um die Hand Friederikens immer wärmer und offener.
An einem schönen Sommerabende, wo sie wieder oben bei der Fichte zusammen waren und hinaus auf die Straße geschaut hatten, bis es dunkel geworden war und Abraham endlich mit den Worten aufbrach: »Er ist immer noch nicht da!« blieb Isaak bei Friederike stehen, ohne den Vater zu begleiten, wie er sonst immer getan hatte.
Er sah Friederiken lange sprachlos an, dann faßte er ihre Hand und sagte: »Ismael kommt nicht mehr wieder, und wir harren vergebens! Hast du noch nie daran gedacht, Friederike, daß auch unsere Jugend hingeht und nicht wiederkommt? Es ist nicht möglich, daß du allein bleibst; denn wer soll dich warten und pflegen, wenn du krank wirst? Auch ich kann die Wirtschaft nicht ohne Gehilfin länger führen. Wenn du nun endlich doch einen Gefährten für den Rest des Lebens nehmen mußt, so sage mir nur, wer dich lieber haben könnte als ich, der ich dir von Jugend auf zugetan war? Mit wem könntest du auch von unserem Ismael reden, ohne daß er es übel aufnähme, da es mir doch eine Herzenserleichterung ist, von ihm recht viel zu reden, wenn du willst? Gute Friederike, nimm keinen Fremden zum Mann und werde du meine Frau!«
Lange hatte Friederike keine Worte, sondern nur Tränen. Endlich sagte sie: »Guter Isaak, warte nur noch drei Monate lang, ist er dann immer noch nicht da, dann will ich deine Frau werden, da es nun denn doch nicht anders werden soll! Aber bis dahin rede kein Wort davon!« »O du Gute! du Liebe!« rief Isaak aus, »ich will dich halten und pflegen wie meinen Augapfel! Ich will nicht von dir lassen mein Leben lang!« »Nun, so gehe deinem Vater nach,« erwiderte Friederike, »und führe ihn, damit er nicht strauchelt. Er wird zusehends schwach und hinfällig. Gute Nacht!« So schieden die befreundeten Seelen.
Jeden Abend kamen sie wieder auf die Anhöhe, aber Tag um Tag, Woche um Woche verging und auch der dritte Monat zog vorüber. Er war aber noch nicht da.
Als der Winter kam, fuhren über den Berg herüber drei große, vollgeladene Wagen, an welchen lange, seidene Bänder flatterten. Nun kamen vier scheckige, geputzte Kühe mit vergoldeten Hörnern, dann folgte eine Herde Schafe mit ihrem Leithammel, der eine neue, helle Glocke umhängen hatte. Hinterdrein gingen Abraham, geführt von Isaak, dem Bräutigam und der bleichen, schönen Braut Friederike. Fast alle Einwohner des Dorfes waren dabei und trugen Krüge und Kannen voll Bier und Wein. Die jungen Burschen taten Freudenschüsse in die Luft mit großen Pistolen aus dem Siebenjährigen Kriege, und alle jauchzten laut auf, daß Berg und Tal erklangen. So festlich wie diese Hochzeit war noch keine im Dorfe gefeiert worden.
Diesem Feste hinterdrein erschien dem jungen Paare ein ruhiger, stillheiterer Zug seliger Tage. Abraham aber ging immer noch jeden Abend hinaus auf die Anhöhe, verfolgte die Straße mit seinen Blicken, bis die Sonne untergegangen war, und sagte dann, wie immer: »Er ist noch nicht da!«
So waren wiederum drei Jahre verstrichen. Abraham war achtzig Jahre alt und so schwach, daß er das Bett hüten mußte.
Regungslos lag er oft tagelang auf seinem Lager, so daß die Seinigen oft wähnten, er wäre gestorben. Wenn sie ihn aber anriefen, so taten sich die Wimpern auf, und groß und klar schauten, wie zwei Sterne, daraus hervor die lebendigen Augen.
Als der dreizehnte Jahrestag der Auswanderung Ismaels gekommen war und der schönste Frühlingshimmel über die blühenden Berge und Täler mit Lerchengewirbel und Käfergeläute sich hinüberbreitete, rief Abraham seinen Sohn Isaak an das Bett und flüsterte: »Ich will noch einmal hinaus auf den Berg!«
Da tat Isaak weiche Betten und Decken auf den leichten Rollwagen und fuhr darauf den alten Vater hinaus in die Maisonne. Neben ihm ging sein holdes Weib mit ihrem Erstgeborenen, einem freudigen Knaben, welchem sie den Namen Ismael gegeben hatten.
Oben angekommen bei der alten Fichte, dort, wo die böhmische Straße sich nach Osten hinzieht, ließ Abraham sich auf die untergebreiteten Decken auf die Erde legen und schaute mit wunderbaren Augen in die Ferne.
Isaak und Friederike standen daneben Hand in Hand und sahen sich still freundlich und wehmütig an. Selbst ihr kleiner Sohn spielte ruhig mit Blumen zu des Großvaters Füßen.
Schon war die Sonne untergegangen, es zuckten nur noch hier und da blasse, gelbe Wölkchen am Himmel, aber schon stieg in Osten ein heller Stern auf.
Da richtete sich Abraham auf dem Lager plötzlich in die Höhe, daß er saß, und deutete hinaus auf die Straße.
Alle bemerkten einen rüstigen Wanderer in der Ferne mit großen Schritten einherschreiten. Friederike schmiegte sich an Isaak an.
Immer näher kam die hohe Gestalt des Wanderers. In der Nachtdämmerung waren seine Züge nicht zu erkennen, obschon er jetzt in ihrer Nähe war. Jetzt kam er vollends heran.
Ein hoher, gewaltiger Mann in einem fremden Auszuge, mit bärtigem, dunklem Gesicht und freier, offener Stirn, unter welcher altbekannte Augen sie anleuchteten, stand vor ihnen da. Wie er aber sagte: »Gott grüß euch!« riefen alle miteinander: »Ismael! Ismael!«
»Da bin ich wieder bei euch!« sagte er, »bei euch nach langer Gefangenschaft, Sklaverei und argen Leiden, wieder bei euch, bei dir, herzlieber Vater!«
Bei diesen Worten kniete er zu ihm nieder, der ihn mit beiden Armen umschlang und an sich zog.
Nach einer Weile richtete sich Ismael wieder auf und hielt das bekannte Kästchen empor mit den Worten: »Habt aber auch ihr mein Kleinod bewahrt?« Friederike schlang sich weinend um seine Füße, Isaak aber ergriff seine Hand und sagte: »Bei Gott im Himmel! Zehn Jahre und fünf Monate lang haben wir deiner geharrt; als du auch da noch nicht kamst, vermochte ich meine teure Friederike, mir die Hand zu reichen.«
Ismael fuhr mit der rechten Hand nach dem Herzen und faßte krampfhaft in die Gewänder, als wollte er es erdrücken, indem er die Augen an den Himmel heftete und rief: »Dein Wille geschehe!«
Dann nahm er am ledernen Riemen das Kästchen von der Schulter herunter, welches ihm Abraham mitgegeben hatte, kniete zu ihm, der leise betete, nieder auf die Erde und sagte mit weicher Stimme: »Vater, hier hast du heilige Erde, gegraben am Brunnen des Lebendigen, der da fließet zwischen Kades und Bared, heilige Erde, befeuchtet mit dem Wasser desselben!«
Abraham legte seine Hände auf des Sohnes Haupt und sprach mit fester Stimme:
»Nach kurzer Frist wirst du mit mir sein dort oben bei den Vätern, bei dem Gotte Abrahams, Isaaks und Jakobs! Nicht die Erde hat einen Lohn für deine Treue, keine Vergeltung für deinen Gehorsam, für deine Leiden und deine Liebe! Deiner harren aber Gottes Heerscharen und die Seligkeit, die dir oben bereitet ist.«
Jetzt nahm Abraham aus dem geöffneten Kästchen eine Handvoll Erde und sprach in abgerissenen Bibelstellen weiter: »Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn!«
»Meine Seele in seine Hände!« Nun streute er sich die heilige Erde auf die Brust und sank zurück in die Arme des langen Schlafes.
Ismael kniete betend neben ihm, dann stand er schnell auf, reichte seinem Bruder und Friederiken die Hand, küßte und segnete ihren kleinen Sohn und verschwand laut weinend im Schatten der Nacht.
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