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Doch glaube ich nunmehr darlegen zu müssen, auf welche Weise die Bürger miteinander verkehren, welche inneren wirtschaftlichen Beziehungen bestehen und wie die Verteilung der Güter vor sich geht.
Die Bürgerschaft besteht also aus Familien, die zumeist aus Verwandten zusammengesetzt sind. Denn sobald die Frauen körperlich reif sind, werden sie verheiratet und ziehen dann in die Wohnungen ihrer Männer. Dagegen verbleiben die Söhne und deren männliche Nachkommen in ihren Familien und unterstehen der Gewalt des Familienältesten, soweit dieser nicht infolge seines Alters kindisch geworden ist; dann tritt der Nächstälteste an seine Stelle. Um aber eine zu starke Abnahme oder eine übermäßig große Zunahme der Bevölkerung zu verhindern, darf keine Familie, deren es in jeder Stadt – die in dem zugehörigen Landbezirk nicht mitgerechnet – 6000 gibt, weniger als zehn und mehr als sechzehn Erwachsene haben; die Zahl der Kinder kann man ja nicht im voraus festsetzen. Diese Bestimmung läßt sich mit Leichtigkeit aufrechterhalten, indem man die überzähligen Mitglieder der übergroßen Familien in zu kleine versetzt.
Sollte aber einmal eine ganze Stadt mehr Einwohner haben, als sie haben darf, so füllt man mit dem Überschuß die Einwohnerzahl geringer bevölkerter Städte des Landes auf. Wenn aber etwa die Menschenmasse der ganzen Insel mehr als billig anschwellen sollte, so bestimmt man aus jeder Stadt ohne Ausnahme Bürger, die auf dem nächstgelegenen Festlande überall da, wo viel überflüssiges Ackerland der Eingeborenen brachliegt, eine Kolonie nach ihren heimischen Gesetzen einrichten unter Hinzuziehung der Einwohner des Landes, falls sie mit ihnen zusammenleben wollen. Mit diesen zu gleicher Lebensweise und zu gleichen Sitten vereint, verwachsen sie dann leicht miteinander, und das ist für beide Völker von Vorteil. Sie erreichen es nämlich durch ihre Einrichtungen, daß ein Land, das vorher dem einen Volke zu klein und unergiebig erschien, jetzt für beide Völker mehr als genug hervorbringt. Diejenigen Eingeborenen aber, die es ablehnen, nach den Gesetzen der Kolonisten zu leben, vertreiben diese aus dem Gebiet, das sie selber für sich in Anspruch nehmen, und gegen die, die Widerstand leisten, greifen sie zu den Waffen. Denn das ist nach Ansicht der Utopier der gerechteste Kriegsgrund, wenn irgendein Volk die Nutznießung und den Besitz eines Stückes Land, das es selbst nicht nutzt, sondern gleichsam zwecklos und unbebaut in Besitz hat, anderen untersagt, denen es nach dem Willen der Natur ihren Lebensunterhalt liefern soll. Wenn aber einmal infolge eines Unglücksfalles die Einwohnerzahl einiger ihrer Städte so sehr sinken sollte, daß sie aus anderen Teilen der Insel unter Wahrung der Größe einer jeden Stadt nicht wieder ergänzt werden kann – wie es heißt, ist das seit Menschengedenken nur zweimal infolge einer heftig wütenden Seuche der Fall gewesen –, so läßt man die Bürger aus der Kolonie zurückkommen und füllt mit ihnen die Einwohnerzahl der Städte wieder auf. Die Utopier sehen es nämlich lieber, daß ihre Kolonien eingehen, als daß die Einwohnerzahl einer der Städte ihrer Insel zurückgeht.
Doch ich komme auf das Zusammenleben der Bürger zurück. Der Älteste ist, wie gesagt, das Oberhaupt der Familie. Die Frauen dienen ihren Männern, die Kinder ihren Eltern und so überhaupt die Jüngeren den Älteren.
Jede Stadt zerfällt in vier gleiche Teile. In der Mitte eines jeden befindet sich ein Markt für alle Arten von Waren. Dorthin schafft man die Arbeitserzeugnisse einer jeden Familie in bestimmte Häuser, und die einzelnen Warengattungen sind gesondert auf Speicher verteilt. Jeder Familienvater verlangt dort, was er selbst und die Seinen brauchen, und nimmt alles, was er haben will, mit, und zwar ohne Bezahlung und überhaupt ohne jede Gegenleistung. Warum sollte man ihm nämlich auch etwas verweigern? Alles ist ja im Überfluß vorhanden, und man braucht nicht zu befürchten, daß jemand die Absicht hat, mehr zu verlangen, als er braucht. Denn warum sollte man annehmen, es werde jemand über seinen Bedarf hinaus fordern, wenn er sicher ist, daß es ihm niemals an etwas fehlen wird? Werden doch bei jedem Lebewesen Habsucht und Raubgier durch die Furcht vor Mangel hervorgerufen und beim Menschen allein außerdem noch durch Stolz, da er es sich zum Ruhme anrechnet, durch ein Prahlen mit überflüssigen Dingen die anderen zu übertreffen; für diese Art Fehler ist in den Einrichtungen der Utopier überhaupt kein Platz.
Mit den erwähnten Märkten sind andere für Lebensmittel verbunden; auf diese bringt man außer Gemüse, Obst und Brot auch Fische und Fleisch. Die Tiere sind außerhalb der Stadt auf geeigneten Plätzen, wo man Blut und Schmutz in fließendem Wasser abwaschen kann, von Sklaven getötet und gereinigt worden. Die Bürger sollen sich nämlich nicht an das Schlachten von Tieren gewöhnen, weil man der Ansicht ist, die Gewöhnung an diese Tätigkeit ertöte allmählich das Mitleid, den edelsten Zug unseres Wesens. Auch soll nichts Schmutziges und Unreines in die Stadt gebracht werden, dessen Fäulnis die Luft verpesten und eine Krankheit einschleppen könnte.
Außerdem stehen in jeder Straße, gleichweit voneinander entfernt, einige geräumige Hallen, von denen jede ihren eigenen Namen hat. Hier wohnen die Syphogranten, und jeder dieser Hallen sind dreißig Familien zugeteilt, auf jeder Seite fünfzehn, die dort ihre Mahlzeiten einzunehmen haben. Die Kücheneinkäufer einer jeden Halle finden sich zu einer bestimmten Stunde auf dem Markte ein, melden die Zahl der Esser und fordern die Lebensmittel an. In erster Linie berücksichtigt man bei dieser Verteilung die Kranken, die in den öffentlichen Krankenhäusern gepflegt werden. Im Stadtbezirk gibt es nämlich vier, ein Stück von der Stadt entfernt; sie sind so geräumig, daß man sie für ebenso viele kleine Städte halten könnte. Dadurch ist es möglich, eine auch noch so große Zahl Kranker ohne Mangel an Raum und deshalb bequem unterzubringen sowie die an ansteckenden Krankheiten Leidenden von den anderen recht weit zu entfernen. Diese Krankenhäuser sind so eingerichtet und mit allem, was zur Gesundheitspflege gehört, so reichlich ausgestattet, die Pflege ist so rücksichtsvoll und gewissenhaft, und die erfahrensten Ärzte sind so unermüdlich tätig, daß, wenn auch niemand gegen seinen Willen dort Aufnahme findet, doch wohl jeder in der Stadt im Krankheitsfalle lieber im Krankenhaus als daheim liegt.
Nachdem der Einkäufer für die Kranken die Lebensmittel nach ärztlicher Vorschrift empfangen hat, verteilt man weiterhin das Beste gleichmäßig auf die Hallen je nach deren Kopfzahl. Nur auf den Bürgermeister, den Oberpriester und die Traniboren nimmt man besondere Rücksicht sowie auf Gesandte und alle etwa anwesenden Ausländer. Doch sind letztere nur vereinzelt und selten zu sehen; aber auch für sie stehen, wenn sie sich im Lande aufhalten, bestimmte Wohnungen eingerichtet bereit.
In den erwähnten Hallen findet sich die gesamte Syphograntie, durch den Klang einer ehernen Trompete aufgefordert, zu den festgesetzten Stunden des Mittags- und Abendessens ein, mit Ausnahme der in den Hospitälern oder daheim liegenden Kranken. Indes darf sich jedermann, wenn der Bedarf der Hallen gedeckt ist, Lebensmittel vom Markt mit nach Hause geben lassen; man weiß nämlich, daß das niemand ohne Grund tun wird. Denn wenn es auch keinem verwehrt ist, zu Hause zu essen, so tut das doch niemand gern, da es für unanständig gilt und töricht wäre, sich mühsam ein schlechtes Mahl zuzubereiten, während in der Halle ganz in der Nähe ein reichliches und ausgezeichnetes Essen zu haben ist. In einer solchen Halle verrichten Sklaven alle schmutzigeren und mühsameren Arbeiten, dagegen besorgen das Kochen und Zubereiten der Speisen sowie die Vorbereitung des ganzen Mahles ausschließlich die Frauen der einzelnen Familien, und zwar abwechselnd.
Je nach der Zahl der Esser speist man an drei oder mehr Tischen. Die Männer haben ihre Plätze an der Wand, die Frauen dagegen an der Außenseite der Tische. So können sie, wenn es ihnen plötzlich übel wird, was bei Schwangeren bisweilen vorkommt, ohne Störung der Tischordnung aufstehen und zu den stillenden Müttern gehen. Diese sitzen nämlich mit ihren Säuglingen für sich in einem besonders zu diesem Zweck bestimmten Speiseraum, wo es nie an Feuer und reinem Wasser fehlt; auch sind dort Wiegen vorhanden, so daß die Mütter ihre Kleinen niederlegen oder, wenn sie wollen, am Feuer aus den Windeln nehmen, sich frei bewegen lassen und mit ihnen spielen können, damit sie wieder frisch und munter werden. Jede Mutter stillt ihr Kind selber, soweit das nicht Tod oder Krankheit unmöglich macht. Tritt dieser Fall ein, so besorgen die Frauen der Syphogranten rasch eine Amme; und das ist bald geschehen; denn die Frauen, die dazu imstande sind, bieten sich zu keiner Verrichtung lieber an, da solches Mitleid allgemeines Lob findet und der Säugling später in der Amme seine Mutter sieht.
In der Ammenstube sitzen auch alle Kinder unter fünf Jahren; die übrigen Unmündigen – dazu rechnet man die noch nicht Heiratsfähigen beiderlei Geschlechts – bedienen entweder bei Tisch oder, soweit sie noch zu jung dazu sind, stehen sie doch dabei, und zwar in tiefstem Schweigen. Sie essen, was ihnen die am Tische Sitzenden reichen, und haben keine besondere Tischzeit. Am ersten Tisch in der Mitte sitzen der Syphogrant und seine Frau. Das ist der oberste Platz, von dem aus man die gesamte Gesellschaft übersieht; denn dieser Tisch steht im obersten Teile des Speisesaales quer. An den Syphogranten und seine Frau schließen sich zwei der Ältesten an; an allen Tischen sitzt man nämlich zu viert. Falls aber ein Tempel in der betreffenden Syphograntie liegt, sitzen der Priester und seine Frau so mit dem Syphogranten zusammen, daß sie den Vorsitz führen. Auf beiden Seiten folgen dann Jüngere, danach wieder Greise; auf diese Weise sitzen im ganzen Saale die Gleichaltrigen nebeneinander und doch auch mit anderen Altersstufen zusammen. Wie es heißt, hat man diese Einrichtung deshalb getroffen, damit die Würde der Alten und die Ehrfurcht vor ihnen die Jüngeren von ungehöriger Ausgelassenheit in Rede und Benehmen abhält; denn nichts, was bei Tische gesprochen oder getan wird, kann den Nachbarn ringsum entgehen. Die einzelnen Gänge werden nicht vom ersten Platze aus der Reihe nach gereicht, sondern die besten Gerichte werden immer zuerst allen Älteren vorgesetzt, deren Plätze besonders kenntlich sind; danach bedient man die übrigen ohne Unterschied. Jedoch geben die Greise von ihren Leckerbissen ganz nach Belieben den Umsitzenden ab; um sie nämlich im ganzen Saale in genügender Menge zu verteilen, sind es nicht genug. Auf diese Weise bleibt den Älteren die ihnen zukommende Ehre gewahrt, und trotzdem wird der Allgemeinheit die gleiche Bevorzugung zuteil.
Zu Beginn einer jeden Mittags- und Abendmahlzeit wird ein Text moralischen Inhalts vorgelesen, der jedoch nur kurz ist, damit man der Sache nicht überdrüssig wird. Im Anschluß daran führen die Älteren ehrbare Gespräche, die weder trocken noch ohne Witz sind. Indessen halten sie nicht etwa während des ganzen Essens lange Reden; sie hören vielmehr auch den jungen Leuten gern zu. Ja, sie veranlassen sie absichtlich zum Reden, um von dem Charakter und Geist eines jeden einen Begriff zu bekommen, wenn er sich in der bei einem Mahle herrschenden Ungebundenheit offenbart. Die Mittagsmahlzeiten sind ziemlich schlicht, die Abendmahlzeiten dagegen reichlicher; denn auf jene folgt Arbeit, auf diese Schlaf und nächtliche Ruhe, und diese hilft nach Ansicht der Utopier besser verdauen. Bei keinem Abendessen fehlt es an Musik, und bei jedem Nachtisch gibt es allerlei Leckereien. Auch verbrennt man Räucherwerk, verspritzt wohlriechendes Salböl und bietet alles auf, um die Tischgenossen zu erheitern. Die Utopier neigen nämlich viel zu sehr zu solcher Fröhlichkeit, um ein Vergnügen, das keinen Schaden anrichtet, für verboten zu halten.
Derart also ist das gesellige Leben in der Stadt; auf dem Lande dagegen, wo man weiter auseinander wohnt, ißt jeder für sich zu Hause. Dort fehlt es nämlich keiner Familie an irgend etwas zum Leben; denn die Leute auf dem Lande sind es ja, die alles das liefern, wovon die Städter leben.