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Fast das einzige Dogma, das Martin Hewitt in Bezug auf seine Methode aufstellte, war das, welches die sich aneinanderreihenden Wahrscheinlichkeiten betraf. Manchmal, wenn ich Bemerkungen über die anscheinend geringfügige Art seiner Anhaltspunkte machte, von denen er sich – oft im Gegensatz zu aller Wahrscheinlichkeit – führen ließ, antwortete er, daß aus Geringfügigkeiten, die auf denselben Punkt hinwiesen, durch Uebereinstimmung enorm wichtige Betrachtungen sich ergäben. Wenn ich einen Mann suchte, pflegte er zu sagen, von dem ich wüßte, daß er schielt, ein Mal auf der rechten Hand hat und hinkt, und einen Mann träfe, der nur die erste Eigentümlichkeit hat, so würde der Anhaltspunkt geringfügig sein, weil Tausende von Menschen schielen. Wenn nun aber derselbe Mann durch Zufall ein Mal auf der rechten Hand sehen ließe, so würde sich die Wichtigkeit des Schielens und des Mals hundert- ja tausendfach erhöhen. Getrennt sind sie wenig, zusammen sind sie viel. Das Gewicht des Beweises ist nicht nur verdoppelt – die beiden Kleinigkeiten, die auf denselben Punkt hinwiesen, werden ein kräftiger Beweis. Und wenn man dann noch beobachtet, daß der Mann hinkt, so macht das Hinken, das an und für sich nur eine Kleinigkeit ist, die Wahrscheinlichkeit zur Gewißheit – der Gesuchte ist gefunden. Ist das Bertillonsche System nicht nur eine Anhäufung von Geringfügigkeiten? Tausende von Menschen sind gleich groß, Tausende haben gleich lange Füße, Tausende haben denselben Kopfumfang – Tausende stimmen in irgendeinem Einzelmaß überein. Aber wenn man die Maße vereinigt, ist die Identität eines Menschen für immer festgestellt. Bedenken Sie nur, wie selten zwei Ihrer Bekannten in zwei ihrer besonderen Eigenschaften ganz übereinstimmen – wenn es überhaupt vorkommt.
Ganz unerwartet sollte Hewitts Dogma mir seine Wahrheit beweisen.
Das alte Haus, in dem unsere Wohnungen lagen, enthielt außer den meinen noch einige Junggesellenzimmer, während sich in den unteren Etagen Bureauräume befanden, unter denen auch diejenigen Hewitts waren. Im obersten Stock nach hinten hinaus bewohnte ein dicker, älterer Herr namens Foggatt drei oder vier Zimmer. Erst nachdem ich lange im Hause wohnte, hörte ich zufällig durch den Portier den Namen dieses Herrn, der weder ein Schild an seiner Tür noch, wie die anderen Hausbewohner, seinen Namen auf der Tafel im Hausflur stehen hatte.
Herr Foggatt schien nur wenige Bekannte zu haben, aber er lebte anscheinend in sehr guten Verhältnissen. Man konnte oft leere Champagnerkörbe von oben kommen sehen, und manches Stillleben wurde an mir vorbeigetragen, das wie dazu geschaffen schien, den gelben Neid in der Seele eines armen Journalisten zu wecken. Herr Foggatt hatte nichts Einnehmendes in seinem Aeußeren. Bei seiner Wohlbeleibtheit mißfiel die unangenehme Art, den Hals lang zu machen und mit hervorstechenden Augen um sich zu starren. Er sah ziemlich gewöhnlich aus, hatte etwas Arrogantes in seinem Wesen und machte einen etwas verdächtigen Eindruck, ohne daß man hätte sagen können, weshalb. Hübsch war er also nicht. Eines Tages wurde er erschossen in seinem Wohnzimmer aufgefunden.
Das kam so: Hewitt und ich hatten im Restaurant zusammen gesessen und waren spät in meine Wohnung zurückgekommen, um zu rauchen und zu plaudern. Plötzlich hörten wir einen Knall. Hewitt meinte, es sei ein Schuß. Da Schüsse in Miethäusern zu den ungewöhnlicheren Ereignissen zählen, stand ich auf und ging in den Hausflur. Auf der Treppe traf ich Frau Klee, die Portiersfrau, die mir aufgeregt sagte, der Schuß käme aus Herrn Foggatts Wohnung und sie fürchte, daß sich ein Unglücksfall mit einem Revolver zugetragen, den er immer auf dem Kamin liegen hätte. Wir gingen mit ihr hinauf und klingelten.
Niemand öffnete. Man konnte aber einen Lichtschein sehen, der, wie Frau Klee richtig sagte, bewies, daß Herr Foggatt zu Hause sei. Wir klingelten und klopften ohne Erfolg, und Frau Klees Vermutung: »Es ist etwas passiert« wurde zur quälenden Gewißheit. Schließlich öffnete Hewitt die Tür, die von innen verschlossen war, mit einem kleinen Feuerhaken.
Es war wirklich etwas passiert. Im Wohnzimmer saß Herr Foggatt, den Kopf über den Tisch gebeugt, ruhig und lautlos. Der Kopf sah gräßlich aus. Daneben lag ein großer Revolver – Armeegröße. Frau Klee lief mit leisem Stöhnen auf den Hausflur zurück.
Laufen Sie, Brett, sagte Hewitt, holen Sie einen Arzt, einen Schutzmann!
Ich sprang die Treppen hinunter, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Erst ein Arzt, dachte ich. Vielleicht ist er nicht tot. Da ich keinen Doktor in der nächsten Umgebung wußte, brauchte ich fünf Minuten, um einen zu finden, und weitere fünf, um mit einem Polizisten zurückzukommen.
Es war kein Zweifel möglich: Foggatt war tot. Der Doktor folgerte aus der Pulverschwärze und andern Umständen, daß der Mann sich selbst erschossen habe. Sicher war, daß niemand durch die Tür die Wohnung verlassen haben konnte, denn sonst hätte er an meiner Tür vorbeikommen müssen. Auch deshalb war es unmöglich, weil der Schlüssel an der Innenseite der verschlossenen Tür gesteckt hatte. Es waren zwei Fenster im Zimmer; das eine war eingeklinkt, während die Klinke des anderen nicht schloß. Von diesem Fenster ging es zwanzig Meter oder mehr nach unten, ohne jeden Mauervorsprung, der als Stützpunkt für den Flüchtling hätte dienen können. Die Fenster der anderen Räume waren geschlossen und eingeklinkt. Es war also sicherlich Selbstmord anzunehmen, wenn nicht einer jener Unglücksfälle vorlag, welche leicht Leuten passieren können, die unbedacht mit Schußwaffen spielen. Bald wurden die Räume von der Polizei besetzt, und wir wurden gebeten, uns zu entfernen.
Wir sprachen bei der Verwaltersfrau in der Küche vor; ihre Tochter bemühte sich, sie mit Kognak und Wasser zu beruhigen.
Sie müssen sich nicht so aufregen, Frau Klee, sagte Hewitt; was wird sonst aus uns allen? Der Doktor glaubt, es war ein Unglücksfall.
Dabei zog er ein Fläschchen Maschinenöl aus der Tasche, das ihm die Frau geliehen hatte, und gab es der Tochter dankend zurück.
Es kam wenig heraus bei der gerichtlichen Untersuchung. Der Schuß war gehört, der Körper tot aufgefunden worden, das war der ganze Tatbestand. Keine Freunde oder Verwandten des Toten meldeten sich. Der Arzt gab sein Urteil auf Selbstmord oder Unglücksfall ab, die Polizei neigte zur selben Ansicht. Nichts war gefunden worden, was auf die Anwesenheit einer zweiten Person in jener verhängnisvollen Nacht hingedeutet hätte. Andererseits erwiesen seine Papiere, sein Bankguthaben etc., daß Foggatt in guten Verhältnissen gelebt hatte und augenscheinlich keinerlei Veranlassung zum Selbstmord vorlag. Es war der Polizei unmöglich gewesen, Verwandte von ihm aufzufinden; auch keine intimen Freunde, nur Klubgenossen, gelegentliche Bekannte etc. fanden sich ein. Der Staatsanwalt gab also die Leiche frei, da er annahm, daß ein Unfall die Todesursache gewesen sei.
Na, Brett, fragte mich Hewitt, sind Sie auch der Meinung des Staatsanwalts? Ich antwortete, daß mir diese Auffassung als durchaus richtig und vernünftig erschiene und ich mich ihr nur anschließen könne.
Na ja, sagte er, von seinem Standpunkt hat der Staatsanwalt ja recht, er ist eben ungenügend informiert. Nichtsdestoweniger liegt weder Unfall noch Selbstmord vor. Foggatt ist von einem ziemlich großen, tatkräftigen jungen Mann, vielleicht einem Matrosen, sicher aber einem Turner, erschossen worden – ich glaube, ich könnte den Mann erkennen, wenn ich ihn sähe.
Woher wissen Sie das?
Aus den einfachen Schlußfolgerungen, die Sie selbst ebensogut machen könnten, wenn Sie nur nachdenken wollten.
Aber warum haben Sie das nicht bei der Untersuchung gesagt?
Lieber Freund, die Leute wünschen keine Schlußfolgerungen, Mutmaßungen, sie verlangen Beweise. Wenn ich die Spur des Mörders hätte, hätte ich der Polizei Mitteilungen gemacht. Wie die Sache steht, ist es ganz gut möglich, daß die Polizei ebensoviel davon weiß wie ich selbst – oder mehr. Sie sagen davon bei der Untersuchung nichts – da müßten sie auch sehr dumm sein.
Aber wenn Sie recht haben, wie ist der Mann dann heraus gekommen?
Kommen Sie, wir sind gleich daheim, wir wollen uns das Haus einmal von hinten ansehen. Wir wissen, daß er nicht durch die Flurtür kommen konnte; ich bin sicher, daß er da war, der Kamin steht außer Frage, da ein ordentliches Feuer drin brannte, also muß er durchs Fenster herausgekommen sein. Nur ein Fenster ist möglich, dasjenige, dessen Klinke nicht schloß – denn alle anderen waren fest eingeklinkt. Also stieg er aus diesem Fenster.
Aber wie? Das Fenster liegt einige zwanzig Meter hoch.
Ja, gewiß, so hoch ist es. Aber warum reden Sie sich ein, daß die einzige Art, durch ein Fenster zu entkommen, nach unten ist? Sehen Sie einmal da hinauf. Das Fenster ist im obersten Stock und hat ein sehr breites Fensterbrett. Ueber dem Fenster ist nichts als die glatte Fläche der Giebelwand; aber etwas nach rechts, einen oder zwei Fuß über dem Fenster, endigt eine eiserne Dachrinne. Bemerken Sie wohl, daß es keine aus Blei gegossene, sondern eine kräftige eiserne Dachrinne ist, die noch dazu am Ende von einer Eisenstütze gehalten ist. Wenn ein großer Mann auf der Kante des Fensterbrettes stünde, sich mit der linken Hand stützte, sich nach rechts hinüberbeugte, so könnte er das Ende der Dachrinne gerade mit der rechten Hand erfassen – die ganze Länge ist sieben Fuß drei Zoll – ich habe es gemessen. Ein geschickter Turner oder ein Matrose könnte die Dachrinne mit einem leichten Sprung erreichen und sich dann aufs Dach ziehen. Sie werden mir erwidern, daß er sehr geschickt und sehr kaltblütig sein müßte. Das stimmt. Und gerade diese Tatsache kommt uns zu Hilfe, denn sie verengert das Feld der Nachforschung. Wir wissen, nach was für einem Menschen wir uns umsehen müssen. Denn da ich sicher bin, daß der Mann im Zimmer war, weiß ich, daß er es auf diesem Wege verlassen hat. Er muß auf irgend eine Weise herausgekommen sein, und da jeder andere Weg unmöglich war, bleibt nur dieser, so schwierig er auch sein mag. Daß er das Fenster noch hinter sich angelehnt hat, beweist des weiteren seine Geschicklichkeit und Kaltblütigkeit in solcher Höhe vom Erdboden.
All das war einfach, aber der Hauptpunkt blieb mir dunkel.
Sie sind nicht im Zweifel, daß außer Foggatt noch ein Mann im Zimmer war, sagte ich; woher wissen Sie das?
Wie ich vorhin schon bemerkte: durch in die Augen springende Beweise. Sie sollen erraten, welche es sind. Sie sprechen so oft von dem Interesse, mit dem Sie meiner Arbeit folgen, das muß eine Uebung für Sie sein. Sie sahen das Zimmer ebenso wie ich. Erinnern Sie sich des Bildes, denken Sie an die zahlreichen Kleinigkeiten, die im Zimmer herumlagen, und was sie wohl mit dem Fall zu tun hatten. Schnelles Beobachten ist die erste Bedingung für meine Arbeit. Haben Sie zum Beispiel eine Zeitung gesehen?
Ja, es lag eine Abendzeitung auf der Erde, aber ich habe sie nicht näher betrachtet!
Nichts weiter?
Auf dem Tisch stand eine Kognakflasche, die aus dem Flaschenständer auf dem Büfett genommen war. Uebrigens, fügte ich hinzu, das sah aus, als ob nur eine Person im Zimmer gewesen sei.
So sah es vielleicht aus, obgleich es kein Beweis ist. Weiter.
Auf dem Büfett stand eine Obstschale, daneben ein Teller, auf dem ein paar Nußschalen, ein Stück Apfel, ein Nußknacker und ein Stück Apfelsinenschale lagen. Es war natürlich das gewöhnliche Mobiliar da, aber kein Stuhl an den Tisch gezogen, außer dem von Foggatt selbst. Das ist alles, was ich bemerkte, denke ich. Warten Sie – ein Aschenbecher stand auf dem Tisch und eine halb gerauchte Zigarre lag daneben – aber nur eine.
Ausgezeichnet, ausgezeichnet, was Gedächtnis und bloße Beobachtung betrifft. Sie haben alles gesehen und haben nichts vergessen. Jetzt ist Ihnen doch sicher klar, woher ich weiß, daß der andere das Zimmer gerade verlassen hatte?
Nein, keine Ahnung; oder war vielleicht zweierlei Asche im Aschenbecher?
Das ist eine ganz gute Idee, aber es war nicht der Fall – es war nur ein wenig Asche darin, die ganz zu der angerauchten Zigarre paßte. Erinnern Sie sich nicht, was ich tat, als wir hinuntergingen?
Sie gaben der Portierstochter ein Oelfläschchen, glaube ich.
Stimmt. Gibt Ihnen das keinen Wink? Jetzt wissen Sie's doch?
Nein.
Dann werde ich Ihnen nichts sagen. Sie verdienen es nicht. Denken Sie einmal drüber nach. Die Sache springt Ihnen ja in die Augen. Sie sehen es, Sie erinnern sich, wollen nur nicht begreifen. Ich werde Ihre Denkfaulheit nicht unterstützen, indem ich Ihnen sage, was Sie bei ein bißchen Nachdenken von selbst wissen können. Leben Sie wohl, ich muß fort. Ich habe einen Auftrag, den ich nicht vernachlässigen darf.
Sie wollen dies also nicht weiter verfolgen?
Hewitt zuckte die Achseln. Ich bin kein Schutzmann, sagte er. Wenn mir jemand den Auftrag geben würde, dann gern. Es ist sehr interessant, aber ich kann mein Geschäft nicht vernachlässigen. Natürlich werde ich meine Augen offen und mein Gedächtnis in Ordnung halten. Manchmal läuft einem solch ein Fall in die Arme; dann werde ich natürlich als guter Bürger handeln und dem Gesetze helfen. Auf Wiedersehen!
Ich bin selbst sehr beschäftigt und dachte kaum mehr an Hewitts Rebus – und wenn ich daran dachte, fand ich keine Lösung. Eine Woche nach der Untersuchung machte ich eine Ferienreise und sah sechs Wochen lang nichts von Hewitt. Nach meiner Rückkehr hatte ich noch ein paar Tage frei, und wir gingen eines Abends zusammen ins Restaurant, um etwas zu essen.
Ich war hier öfter in letzter Zeit, sagte Hewitt. Man ißt hier ausgezeichnet. Nein, nicht an den Tisch, sagte er, mich beim Arm fassend, als ich auf eine einsame Ecke lossteuerte; er kommt mir zugig vor. Er ging an einen größeren Tisch, an dem ein dunkler, schlanker und großer junger Mann saß, und wir nahmen ihm gegenüber Platz,
Wir saßen kaum, als Hewitt schon mitten in einer Unterhaltung über Radfahrkunst war. Da unser vorhergehendes Gespräch sich um literarische Fragen gedreht, und ich noch nie bei Hewitt das leiseste Interesse für Radelei bemerkt hatte, überraschte mich dies etwas. Als Journalist war ich jedoch ein wenig bekannt mit diesen Dingen und konnte die Unterhaltung aufnehmen. Während wir sprachen, sah ich das Gesicht des jungen Mannes gespannt aufleuchten. Er war ein recht hübscher Mensch, mit dunklem und doch klarem Teint, aber hartem Blick und hervorstehenden Backenknochen, was ihn unliebenswürdig erscheinen ließ.
Während Hewitt weiterschwatzte, milderte sich sein Ausdruck zu einem angenehm interessierten.
Natürlich, sagte Hewitt, wir haben ja jetzt auch gute Fahrer. Aber tüchtiger waren doch die vor zehn, fünfzehn Jahren, die jetzt halb vergessen sind. Osmond war tüchtiger als irgendeiner, und ich möchte den sehen, der Furniwell übertroffen hätte. Und dann Cortis – keiner siegte je über Cortis – ausgenommen – wer war das doch? Ich kann nicht drauf kommen …
Liles, sagte der junge Mann uns gegenüber, plötzlich aufsehend.
Ach ja – Liles war es, Peter Liles. War es nicht in einem Meisterschaftsfahren?
Meilen-Meisterschaftsrennen 1880; Cortis gewann aber alle drei übrigen.
Ja, wahrhaftig. Ich sah Cortis, als er zuerst den alten Rekord von zweieinhalb Meilen übertraf.
Und nun ging es los. Hewitt sprach ohne Unterbrechung von Zweirädern, Dreirädern, Wettfahrern, Hermann und Walters, Erdmann und Wende, Hymes und Wildner: eine Unterhaltung, auf die der junge Mann lebhaft einging, während ich stumm dabei saß.
Es schien, als sei unser junger Freund bis vor einigen Jahren selbst Rennfahrer gewesen, und er zeigte nun auf Hewitts Bitte eine hübsche, goldene Medaille, die an seiner Uhrkette hing. Wie er sagte, hatte er sie in jenen alten, großen Tagen des Radfahrsports gewonnen, jenen Tagen der schlechten Wege, als noch jeder Wettfahrer die Folgen der Unglücksfälle auf dem Gesicht trug. Er wies auf eine Narbe auf seiner Stirn und beschrieb einen bösen Fall, der ihn zwei Zähne gekostet hatte. Die Lücken waren sichtbar, wenn er lächelte.
Nun brachte der Kellner das Dessert, und der junge Mann nahm einen Apfel. Nußknacker und Obstmesser lagen auf unserer Seite des Tisches, und Hewitt reichte ihm ein Messer.
Nein, danke, sagte er; ich poliere Aepfel nur und schäle bloß die ganz dickschaligen. Und er begann in seinen Apfel zu beißen, wie es nur ein Schuljunge oder ein gesunder Athlet tut. Plötzlich wendete er den Kopf, um beim Kellner Kaffee zu bestellen. Der Kellner kehrte uns den Rücken zu, und jener mußte zweimal rufen. Zu meinem unaussprechlichen Erstaunen griff Hewitt über den Tisch, nahm den halbgegessenen Apfel vom Teller des jungen Mannes, steckte ihn ein und starrte gleich darauf mit geistesabwesender Miene auf einen gemalten Amor an der Decke.
Unser Nachbar wendete sich wieder zu uns, sah zweifelnd auf seinen Teller und warf dann einen scharfen Blick auf Hewitt. Er sagte jedoch nichts, zahlte, trank ruhig seinen Kaffee aus und ging.
Sofort stand Hewitt auf und folgte ihm mit einem Schirm, der in der Nähe gestanden hatte.
Gerade als er die Tür erreichte, traf er mit unserem Tischnachbar zusammen, der zurückgekommen war.
Ihr Regenschirm, nicht wahr? fragte Hewitt, indem er ihm diesen reichte.
Ja, danke. Aber des Mannes Augen hatten einen noch härteren Ausdruck als vorher, und er biß die Zähne fest aufeinander, als ich ihn ansah. Er ging. Hewitt kam an mich heran. Zahlen Sie und gehen Sie nach Hause, sagte er. Ich komme später – es handelt sich um den Fall Foggatt. Als er ging, hörte ich eine Droschke abfahren und gleich darauf noch eine.
Ich zahlte und begab mich nach Hause. Es war zwölf, als Hewitt heimkam. Doch ging er zuerst in sein Bureau, bevor er zu mir heraufstieg.
Walter Mason, sagte er, ist der Mann, nach dem die Polizei morgen wegen des an Foggatt verübten Mordes suchen wird. Er ist ein schneidiger Kerl und hat mich zweimal im Laufe des Abends reingelegt.
Sie meinen den Mann, der uns im Restaurant gegenübersaß?
Ja. Seinen Namen weiß ich natürlich von der goldenen Medaille, die er so freundlich war, uns zu zeigen. Aber er hat mich um die Adresse gebracht. Er hatte Verdacht auf mich, das war klar, und ließ seinen Schirm stehen, um zu sehen, ob ich ihn so scharf beobachtete, daß der Schirm mir auffiel, und ich ihn ihm nachbringen würde. Ich war unklug und ging in die Falle. Er nahm eine Droschke, ich auch, und so fuhr ich immer hinter ihm her. Unsere beiden Kutscher haben ein gutes Geschäft dabei gemacht. Schließlich hielt er vor einem Hause, dessen Adresse ich mir natürlich gemerkt habe, in dem er aber sicher nicht wohnt. Er ist viel zu schlau, als daß er mich vor seine eigene Höhle führen würde. Aber sicherlich kann die Polizei aus der Adresse etwas herausfinden. Uebrigens, haben Sie wirklich nie die Lösung des Rätsels herausbekommen, woher ich so genau wußte, daß es ein Mord war? Jetzt wissen Sie's natürlich!
Es hat etwas mit dem Apfel zu tun, den Sie stahlen, vermute ich.
Etwas damit zu tun? Das will ich meinen, Sie Unschuldsengel. Rufen Sie doch 'mal nach Frau Klee, wir wollen uns ihr Maschinenöl noch mal borgen. In der Nacht, in der wir Foggatts Tür aufbrachen, sahen Sie die Nußschalen und den angebissenen Apfel auf dem Büfett liegen und erinnerten sich auch später daran; und doch kamen Sie nicht darauf, daß der Apfel möglicherweise den Beweis in sich trage. Natürlich konnten Sie nicht zu meinen Schlüssen kommen, denn ich hatte zehn Minuten Zeit, den Apfel in Augenschein zu nehmen und mit ihm zu tun, was nun folgt. Aber Sie hätten wenigstens die Möglichkeit eines Beweises sehen können. Erstens nämlich war der Apfel weiß. Sie wissen doch aus Erfahrung, daß ein angebissener Apfel, wenn er lange liegt, eine rötlich braune Farbe annimmt. Die verschiedenen Apfelarten bräunen sich verschieden schnell, immer am Kerngehäuse anfangend. Das ist eins von den tausend Dingen, auf die die wenigsten Leute achten, die aber für einen Mann in meinem Beruf von ungeheurer Wichtigkeit sind. Eine Kalville wird sehr schnell braun. Der Apfel auf dem Büfett war eine Reinettenart, die am Griebs in zwanzig bis dreißig Minuten braun wird und an den anderen Teilen eine Viertelstunde mehr dazu braucht. Als wir ihn sahen, war er weiß mit einem ganz schwachen bräunlichen Anflug am Kerngehäuse. Schlußfolgerung: Jemand hat vor fünfzehn bis zwanzig Minuten davon gegessen.
Ich sah den Apfel näher an und bemerkte, daß er die Spuren von sehr unregelmäßigen Zähnen trug. Als Sie fort waren, ölte ich ihn ein und nahm in meinem Zimmer, wo ich immer etwas Gips für solche Fälle liegen habe, einen Abdruck von der Stelle, auf der die Zahnspuren am besten zu sehen waren. Ich brachte dann den Apfel zurück, damit die Polizei Gebrauch davon machen könne, wenn sie wollte. Als ich meinen Abguß ansah, war mir klar, daß der Person, die in den Apfel gebissen hatte, zwei Zähne fehlten, einer unten und einer oben, fast übereinander, und daß die anderen Zähne, wenn auch ganz gesund, so doch sehr unregelmäßig in Größe und Gestalt waren. Nun hatte aber der Tote, wie ich sah, eine vollständige Reihe scharfer, regelmäßiger, falscher Zähne. Deshalb mußte jemand anderes diesen Apfel gegessen haben. Spreche ich klar?
Völlig. Nur weiter.
Es waren noch andere Schlußfolgerungen zu ziehen, die alle, wenn auch in weniger auffallender Weise, auf denselben Punkt hinwiesen. Zum Beispiel ist es ungewöhnlich, daß ein Mann in Foggatts Alter in einen ungeschälten Apfel beißt, wie ein Schuljunge – das deutet auf einen jungen, gesunden Menschen hin. Wie ich folgerte, daß der Betreffende groß, kräftig, ein Turner oder vielleicht Seemann sei, habe ich Ihnen schon auseinandergesetzt, als wir uns Foggatts Fenster von außen ansahen. Es ist auch ganz klar, daß kein Diebstahl beabsichtigt war, da man nichts erbrochen fand und sah, daß vor dem Morde eine freundschaftliche Unterhaltung stattgefunden hatte; Zeugen: das leere Glas und der Apfel. Ob die Polizei von diesen Dingen Notiz nahm, weiß ich nicht. Wenn sie ihre besten Leute aufgeboten hätte, dann sicher. Aber der Fall sah für den oberflächlichen Beobachter so absolut wie Selbstmord oder Unglücksfall aus, daß sie das wohl nicht tat. Wie gesagt, war ich damals nicht imstande, mich der Sache zu widmen, aber ich hielt die Augen offen. Der Mann, nach dem ich auszublicken hatte, war groß, jung, kräftig und geschickt, hatte sehr unregelmäßige Zähne, im oberen wie im unteren Kiefer eine Zahnlücke, ganz vorn. Möglicherweise war es jemand, den ich schon einmal gesehen hatte. Kurz, ehe Sie von der Reise zurückkamen, war mir in dem Restaurant, in dem ich aß, ein junger Mann aufgefallen, den ich einmal in den Bureauräumen unseres Hauses gesehen zu haben glaubte. Er war groß, jung u. s. w. Aber ich war jenen Abend durch einen Klienten, der mich begleitete, verhindert, ihn genauer anzusehen – ich gab mir auch weiter keine Mühe, da es ja mehr große junge Leute gibt und mir niemand Auftrag gegeben hatte, mich um die Sache zu kümmern. Aber als ich ihn heute an einem leeren Tisch sitzen fand, nahm ich natürlich die Gelegenheit wahr, seine nähere Bekanntschaft zu machen.
Sie haben ihn sehr geschickt ausgefragt.
Ach, es ist das Leichteste von der Welt, einen Radfahrer auszufragen. Am allerleichtesten ist es natürlich bei einem Anfänger, aber bei einem Veteranen geht es fast ebensogut. Wenn man einen gesunden jungen Mann vor sich hat, der die Schulter etwas vornüber hängen läßt und wohl noch gar eine Medaille an der Uhrkette trägt, so kann man es getrost mit einem Radrenngespräch versuchen. So lockte ich Herrn Mason in die Falle, las seinen Namen auf der Medaille und hatte Gelegenheit, seine Zähne zu beobachten – von diesen sprach er sogar selbst. Nun gibt es zwar, wie ich schon sagte, eine Menge großer, athletischer junger Leute, und es gibt auch viele, die Zahnlücken haben. Jetzt sah ich aber, daß dieser große und athletische junge Mann gerade zwei Zähne verloren hatte, einen im Oberkiefer, einen im Unterkiefer, schräg übereinander! Die Trivialitäten, die auf denselben Punkt hinwiesen, wurden zu wichtigen Betrachtungen. Und überdies waren seine Zähne sehr unregelmäßig, meinem Gipsabguß ähnlich, wenn ich mich nicht sehr täuschte.
Er nahm einen Gipsabguß aus der Tasche und fuhr fort:
Das war genug, mich aufmerksam zu machen. Aber die größte Chance gab er mir, als er sich umdrehte und seinen Apfel (ungeschält, eine andere wichtige Kleinigkeit) auf dem Teller liegen ließ. Es war wirklich nicht sehr manierlich von mir, ihn zu stehlen, und ich riskierte, seinen Verdacht zu erregen, aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Hier ist er.
Er zog den Apfel aus der Rocktasche. Die abgebissene Seite paßte genau auf den Gipsabguß.
Da hilft kein Leugnen, sagte Hewitt. Das Bild seiner Zähne ist der kräftigste Beweis, das ist so gut wie seine Unterschrift oder sein Daumenabdruck. Man findet nie zwei Menschen, die gleichmäßig beißen, ob der Zahnabdruck nun deutlich ist oder nicht. Hier ist übrigens Frau Klees Oel. Wir wollen von diesem Apfel auch einen Abdruck nehmen.
Er ölte den Apfel, nahm ein bißchen Gips, feuchtete es an und machte einen Abguß. Die Zahnabdrücke waren ganz gleich.
Das genügt, däucht mir, meinte Hewitt. Morgen nehme ich all dies und trage es nach dem Polizeipräsidium.
Ist das genügendes Beweismaterial?
Ganz genug. Der Mann ist gefunden, und alles übrige ist Angelegenheit der Kriminalpolizei.
*
Ich hatte mich am nächsten Morgen kaum zum Frühstück gesetzt, als Hewitt eintrat und mir einen dicken Brief hinlegte.
Von unserem Freund von gestern abend, sagte er. Lesen Sie.
Der Brief war nicht datiert und lautete wie folgt:
Herrn Martin Hewitt
Wohlgeboren.
Geehrter Herr!
Ich muß Ihnen mein Kompliment für die Geschicklichkeit machen, mit der Sie heute meinen Namen herausbekamen. Für den Moment war es mir noch möglich, Sie um die Adresse zu betrügen, die Sie nun aus dem Anwaltsverzeichnis wohl auch ersehen haben, da ich zugelassener Rechtsanwalt bin. Das wird Ihnen jedoch wenig nützen, da ich mich an einen Ort begebe, an dem es wohl selbst Ihnen schwer fallen wird, mich zu finden. Ich kannte Sie vom Sehen, und es war dumm genug von mir, mich auf diese Art ausfragen zu lassen. Ihr etwas unhöfliches Besitzergreifen von meinem Apfel verblüffte mich zuerst – ich war sogar eigentlich im Zweifel, ob Sie ihn wirklich genommen hatten – gab mir aber den besten Wink, daß Sie ein falsches Spiel mit mir trieben, obgleich die Handlung mir unverständlich war. Inzwischen ist mir eingefallen, daß ich in der Nacht, in der jener Schurke sein wohlverdientes Ende fand, einen Apfel, statt des zuerst angebotenen Weines, zu mir genommen hatte. Daher erkläre ich mir nun, daß Sie wahrscheinlich die Reste der Aepfel miteinander vergleichen wollen – obgleich ich mir nicht anmaße, Ihr System durchschauen zu können. Doch habe ich von vielen Ihrer Fälle gehört und bewundere aufrichtig Ihre Tüchtigkeit. Ich weiß nicht, von wem Sie Auftrag haben, mich zu verfolgen, noch inwieweit Sie mit meinem Verhältnis zu dem Elenden, den ich getötet habe, vertraut sind. Jedoch habe ich soviel Achtung vor Ihnen, daß ich in Ihren Augen nicht als gemeiner Verbrecher dastehen möchte. Ich gebe zu, daß ich ein sehr heftiger Mensch bin – aber selbst jetzt kann ich das eine Verbrechen, zu dem mich meine Heftigkeit getrieben hat – ich nehme an, daß ich diese Tat ein Verbrechen nennen muß – nicht bereuen. Aber Foggatt stellte meinen Vater als Schurken hin, ließ ihn an der Schande sterben. Er hat meine Mutter gemordet – sie starb an gebrochenem Herzen. Daß er außerdem ein Dieb und Heuchler war, hätte mich sonst kaum aufgeregt.
Ich erinnere mich meines Vaters nur wenig. Ich fürchte, er war ein schwacher Charakter. Er hatte zu wenig Verständnis für die komplizierten Geschäfte, die er machte. Foggatt war dagegen ein raffinierter Geschäftsmann. Da er selbst seinen Namen in der Geschäftswelt unmöglich gemacht hatte und auch über keine Mittel mehr verfügte, trat er in eine ganz geheime und formlose Partnerschaft zu meinem Vater, der wie ein Schulknabe den Ratschlägen Foggatts folgte, ohne ihre Tragweite zu verstehen. Mein Vater vertraute ihm absolut, kaufte und verkaufte und unterzeichnete, was nur zu unterzeichnen war, mit der alleinigen Verantwortung, während Foggatt den größeren Gewinnanteil einheimste. Zuletzt kamen drei Gesellschaften, für die mein Vater haftete, auf einmal zu Fall. Betrug war ihre ganze Geschichte, und während Foggatt sich mit der Beute zurückzog, mußte mein Vater Ruin, Schande und Gefängnisstrafe auf sich nehmen. Es gab kein Mittel, Foggatt verantwortlich zu machen, und nichts konnte meinen Vater befreien. Nach dreijähriger Gefangenschaft starb er. Damals wußte ich noch von nichts. Ich erinnere mich nur, meine Mutter gefragt zu haben, warum ich keinen Vater hätte, wie andere Jungen. Sie selbst war immer blaß und vergrämt und über die kleinste Trennung von mir traurig.
Nach und nach lernte ich die Ursache ihres Kummers kennen und ich fürchte, mein Charakter entwickelte sich früh, denn ich erinnere mich, daß ich mit einem Küchenmesser den Mann erstechen wollte, der meinen Vater und meine Mutter unglücklich gemacht hatte.
Eines erfuhr ich jedoch nie: das war der Name jenes Mannes. Ich war siebzehn Jahre alt, als meine Mutter starb; ich glaube, nur ihre Liebe zu mir und der Wunsch, mich auf dem rechten Weg zu sehen, hat sie so lange erhalten. Trotz der kärglichen Verhältnisse hatte sie es fertig gebracht, eine Summe zu ersparen, die mir das Studium ermöglichte, und im übrigen nahmen sich die Anwälte meines Vaters in großmütiger Weise meiner an. Mein übriges Leben tut hier nichts zur Sache. Der Name Foggatt war mir unbekannt geblieben. Ich lernte den Mann durch Zufall im Klub kennen und verstand erst später sein merkwürdiges Benehmen bei dieser Gelegenheit. Eine Woche später hatte ich, wie schon öfter, im selben Hause, in dem Sie wohnen, einen Anwalt geschäftlich aufzusuchen und prallte auf der Treppe gegen Herrn Foggatt. Er erschrak sichtlich, was mir unverständlich war, wurde blaß und fragte, ob ich zu ihm käme.
»Nein,« antwortete ich; »ich wußte gar nicht, daß Sie hier wohnen; ich habe hier zu tun. Ist Ihnen nicht wohl?«
Er sah mich zweifelnd an und sagte, daß ihm nicht sehr gut sei.
Ich traf ihn danach noch zwei- oder dreimal, er wurde jedesmal liebenswürdiger, und zwar in solch kriechender Art und Weise, daß es mir unangenehm war. Natürlich war ich trotzdem höflich zu ihm. Einmal, da er ein gutes Bild gekauft hatte, bat er mich, zu ihm hinauf zu kommen. Im Gespräch bemerkte er so ganz nebenbei, indem er seinen Revolver vom Kaminsims nahm: »Sie sehen, ich bin auf unwillkommene Besucher vorbereitet. Haha!«
Da ich natürlich annahm, er spräche von Einbrechern, konnte ich sein gezwungenes Lachen nicht verstehen. Als wir die Treppe zusammen hinuntergingen, sagte er: »Ich denke, wir verstehen uns jetzt ganz gut, Herr Mason, was? Und wenn ich irgendwas für Sie tun kann, würde ich mich freuen. Ich kenne die Schwierigkeiten, die ein junger Anfänger hat. Haha!« Wieder lachte er gezwungen und fügte hinzu: »Vielleicht kommen Sie morgen abend einmal her, ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen!«
Ich willigte ein, neugierig, was sein Vorschlag sein könne, vielleicht war er ein guter Kerl, der mir wohl wollte, und sein unbeholfenes Benehmen nur eine natürliche Schüchternheit. Ich hatte nicht solchen Ueberfluß an guten Freunden, als daß ich einen hätte zurückweisen mögen. Ueberdies war es vielleicht etwas Geschäftliches.
Ich ging am nächsten Abend hin und wurde sehr, ja fast zu liebenswürdig empfangen. Wir sprachen von allem Möglichen und ich wurde schon ungeduldig. Er bot mir mehrere Male Wein und Zigarren an, aber viele gymnastische Uebung hat mich längst von beidem entwöhnt, und ich lehnte ab. Endlich kam er auf mich zu sprechen. Er fürchte, meine Chancen hier wären nicht groß, aber in Südafrika hätten junge Anwälte mehr Aussichten.
»Wenn Sie dahin gingen,« sagte er, »ein kluger Mensch, mit etwas Kapital – Sie würden bald eine gute Praxis haben. Oder Sie könnten in eine ältere Firma eintreten. Ich würde Ihnen gern zehntausend Mark dazu geben, oder auch etwas mehr, wenn Ihnen das nicht genügte – –«
Ich war starr. Warum bot mir der Mann zehntausend Mark oder mehr, »wenn mir das nicht genügte«. Was sollte das heißen? Natürlich stand es außer Frage für mich, das anzunehmen, dazu hatte ich zu viel Selbstachtung! Er sprach indessen weiter und ließ einen Satz entschlüpfen, der mich wie ein Schlag ins Gesicht traf.
»Ich möchte nicht, daß Sie mir Vergangenes nachtrügen,« sagte er. »Ihre verstorbene – Ihre liebe verstorbene Mutter – hatte – fürchte ich – einen ungerechten Verdacht – es war sicher so am besten für alle Teile. Ihr Vater schätzte …«
Ich stieß meinen Stuhl zurück und sprang auf. Dieser Elende war der Schurke, der meinen Vater entehrt und meine Eltern ermordet hatte! Er lebte in Todesangst vor mir, ohne zu wissen, daß ich ihn nicht kannte, und versuchte, meine Gnade zu erlangen, mir das Andenken an meine Mutter für zehntausend Mark abzukaufen – zehntausend Mark, die er meinen Vater für sich stehlen ließ. – – Ich sagte keinen Ton. Aber als ich der trostlosen Jahre, die meine Mutter durchlebt hatte, gedachte, wurde ich zum Wolf. Trotzdem, glaube ich, hätte mich ein Ton aufrichtiger Reue von ihm zurückgehalten. Aber er schlug die Augen nieder, murmelte was von »unwürdigem Verdacht« und keinem »bösen Willen«. Plötzlich blickte er auf und sah mein Gesicht; dann fiel er vor Angst in seinen Stuhl zurück, kreidebleich, und vermochte vor Schreck kein Glied mehr zu rühren. Ich nahm seine Pistole vom Kamin und erschoß ihn.
Die Ruhe und Ueberlegung, mit der ich dann handelte, überraschen mich noch. Ich nahm den Hut und ging zur Tür. Aber auf der Treppe hörte ich Stimmen. Die Tür war von innen verschlossen, und ich ließ sie so. Dann ging ich zurück und öffnete ein Fenster. Nach unten ging es gähnend in die Tiefe, oben war eine glatte Wand. Aber etwas nach rechts endete eine eiserne Dachrinne. Es war der einzige Weg zu entrinnen. Ich trat auf das Fensterbrett und zog das Fenster hinter mir zu, denn an der Flurtür wurde schon geklopft. Vom Ende des Fenstersimses ergriff ich die Dachrinne und schwang mich aufs Dach. Ich kletterte über viele Dächer, ehe ich in einer anstoßenden Straße eine Leiter gegen das in Reparatur befindliche Haus gelehnt fand. Das war eine gute Gelegenheit, und ich benützte sie. –
Ich habe mir Mühe gegeben. Ihnen alles wahrheitsgetreu zu schildern, damit Sie (der einzige, der um meine Tat weiß, soweit ich orientiert bin) meine Strafbarkeit richtig abschätzen können. Wieviel davon Sie schon kennen, weiß ich nicht. Ich bin im Unrecht, bin verhärtet und schlecht, daran zweifle ich nicht, aber ich erzähle die Dinge, wie sie waren. Sie sehen die Tat natürlich von Ihrem Standpunkt, ich von meinem; und ich – gedenke meiner Mutter. In der Hoffnung, daß Sie einem Mann – einem Verbrecher, wollen wir sagen – die merkwürdige Grille verzeihen, den, der ihn aufjagen soll, zu seinem Vertrauten zu machen, verbleibe ich Ihr ergebener
Walter Mason.
*
Nachdem ich dies merkwürdige Dokument gelesen, gab ich es Hewitt zurück.
Was halten Sie davon? fragte Hewitt.
Mason scheint ein starker Charakter zu sein, sagte ich. Dumm ist er nicht. Und wenn seine Geschichte wahr ist, so ist Foggatt kein Verlust für die Mitwelt.
Hm! Wenn die Geschichte wahr ist. Ich persönlich glaube daran.
Wo aber war der Brief aufgegeben?
Gar nicht. Er ist ohne Marke in meinen Briefkasten gesteckt worden. Er muß es selbst getan haben. Einfaches, liniertes Schreibpapier, fuhr Hewitt fort, indem er den Brief gegen das Licht hielt. Kuvert mit Wasserzeichen, Adler-Mühle. Ganz einfach und unauffällig.
Wohin ist er wohl gegangen?
Das ist unmöglich zu erraten. Man könnte fast an Selbstmord glauben wegen des Ausdruckes: »an einen Ort, wo selbst Sie mich nicht finden werden,« aber das traue ich ihm nicht zu. Die Sorte Mensch ist er nicht. Es läßt sich gar nichts sagen. Etwas kann man an seiner letzten Adresse immerhin erfahren. Aber wenn solch ein Mann sagt, er glaubt nicht, daß man ihn findet, wird es wirklich schwer halten. Seine Meinung ist nicht zu verachten.
Was werden Sie tun.
Den Brief ans Polizeipräsidium schicken. »Es lebe die Gerechtigkeit!« – ohne jede Gefühlsäußerung. Was den Apfel anlangt, so werde ich denselben Ihnen verehren, wenn die Polizei es erlaubt. Bewahren Sie ihn auf als Andenken an Ihre absolute Unfähigkeit, logisch zu denken, und sehen Sie ihn an, wenn Ihre Arroganz zu groß wird. Es wird Ihnen gut tun.
*
Das ist die Geschichte des vertrockneten halben Apfels, der auf meinem Schreibtisch zwischen ein paar hübschen Bronzen und antiken Vasen steht. Von Walter Mason hörten wir nie wieder etwas. Die Polizei tat ihr Möglichstes, aber er hatte keine Spur zurückgelassen. Seine Wohnung war ganz geordnet, und er war augenscheinlich ohne jede Vorbereitung und ohne das leiseste Zeichen seiner Zukunftspläne zu hinterlassen, fortgegangen.