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Kaum war ich den Nessektschi losgeworden, vernahm ich schon die Stimme meines Freundes, des Derwisches, der seine Ankunft in der heiligen Stadt, so wie es bei frommen Rechtgläubigen ein häufiger Brauch ist, durch vielfache Anrufung des Allmächtigen und seiner Eigenschaften kundgab.
Ich war ganz glücklich, ihn bald darauf auf mich zukommen zu sehen und zu hören, wie er sich freute, daß ich das Asyl erreicht, ehe mein Verfolger Zeit gefunden hatte, mich festzunehmen.
Auf den Vorschlag des Derwisches hin, mir für kurze Zeit Gesellschaft leisten zu wollen, nahmen wir eine der Zellen in dem viereckigen Hofe in Besitz, der einen Teil der Baulichkeiten bildet, in deren Mitte sich das Grabmal erhebt. Glücklicherweise hatte ich mein Bargeld in der Tasche, das in zwanzig Goldtomanen und einigen Silbermünzen bestand, davon wir etliche verwendeten, um dringend nötige Dinge, als eine Matte auf den blanken Fußboden und einen irdenen Wasserkrug, zu erstehen.
»Ehe wir uns hier gänzlich einrichten, muß ich einige Fragen an Euch stellen,« sagte der Derwisch. »Verrichtet Ihr regelmäßig die vorgeschriebenen Gebete? Haltet Ihr die gebotenen Fasttage? Nehmt Ihr auch die Waschungen regelmäßig vor, oder fahrt Ihr fort, in einem Zustande zu verharren, so wie wir in Meschhed lebten, was die allerbeste Vorbereitung für die ewige Verdammnis ist?«
»Weshalb sagt Ihr mir das alles?« fragte ich. »Euch kann es doch ganz einerlei sein, ob ich bete oder nicht?«
»Mir persönlich ist das auch höchst gleichgültig,« antwortete er; »doch gerade für Euch ist es von höchster Wichtigkeit. Dieses Kum ist eine Stadt, in der niemand die Lippen öffnet, es sei denn, um über religiöse Dinge zu reden oder festzustellen, wer die ewige Seligkeit verdient oder wer zu verdammen ist. Jeder, den Ihr antrefft, ist entweder ein Abkömmling des Propheten oder ein Schriftgelehrter. Alle tragen vor lauter Abtötung lange Gesichter zur Schau und betrachten jeden, der sich rosiger Wangen und lachender Augen erfreut, als ein dem höllischen Feuer sicher verfallenes Geschöpf. Sobald ich der heiligen Stadt näher komme, bemühe ich mich, meine Heiterkeit zu verbergen, zeige, je nachdem es die Umstände erheischen, umwölkte, verdüsterte, ja sogar völlig verfinsterte Mienen. Meine Knie, die sonst niemals mit einem Gebetsteppich in Berührung kommen, beugen sich hier fünfmal am Tage; ich, der sich sonst nur nach der Kibleh seines Vergnügens und seiner Launen richtet, kenne hier nur so gut, wie den Weg zu meinem Munde, die wahre Kibleh!«
»Das ist ja alles recht gut,« meinte ich, »aber was soll mir das helfen? Ich bin zwar ein Muselmann, doch alle diese Dinge so auf die Spitze zu treiben – nein, das tue ich nimmermehr!«
»Was es Euch helfen soll?« antwortete der Derwisch. »Es wird Euch vor dem Hungertode erretten oder vom Gesteinigtwerden. Auf dem Gebiete der Religion hat die Scheinheiligkeit in diesem Lande der Sonne ein weites Gebiet erobert. So sehr man im äußeren Auftreten durch die vorgeschriebenen Waschungen, Gebete und sonstige Gebräuche, welche die schiitische Lehre von ihren Anhängern fordert, den Schein eines treuen und gewissenhaften Dieners der Landesreligion vor der Öffentlichkeit zu erwecken und zu behaupten sucht; so ganz anders steht es im innersten Herzen und im verborgenen Kämmerlein des eigenen Hauses geschrieben, wohin das mißtrauische Auge des Mollas nicht zu dringen vermag. (Brugsch.) Die Priester hier kennen keinen Mittelweg; Ihr seid entweder ein Strenggläubiger oder ein Glaubensloser. Hätten sie den leisesten Verdacht, Ihr könntet an irgendeinem Glaubenssatze zweifeln, den Koran nicht wie ein lebendiges Wunder betrachten, ihn nicht mit der größten Ehrfurcht lesen, ob Ihr ihn versteht oder nicht, so würden sie Euch sehr bald zeigen, welche Macht sie besitzen. Und wenn sie in Euch nun gar einen ›Sufi‹ oder Freigeist vermuteten, sie würden Euch, beim Tode Eures Vaters und Eurer Mutter, in kleine Stücke zerreißen, jedoch beim Gedanken, durch diese Tat einen Schritt auf dem schmalen Wege zum Paradiese vorwärts getan zu haben, hohe Befriedigung empfinden. Ihr wißt wohl noch gar nicht, Freund Hadschi, daß hier der Wohnsitz des ersten ›Mudschtähid‹ Die weltliche Behörde hat keinerlei Verfügung über die Ernennung eines Mollas zum Mudschtähid oder Doktor der Theologie des Islams. Dieser akademische Grad kann nur nach langjährigem mühsamen Studieren erreicht werden. Die Achtung, welche der einzelne Mudschtähid seinen Anhängern einflößt, bildet seine Stärke, und sein Einfluß wächst mit der zunehmenden Zahl seiner Schüler. Um sich eine unabhängige Stellung zu sichern, lehnt er alle Gunstbezeugungen der persischen Regierung ab und empfängt keine Besoldung. Das Volk, von Verehrung für den geistlichen Führer seiner Religion, verschafft dem Mudschtähid die notwendigen Mittel zu einer sorglosen Existenz. (Heinrich Brugsch, Im Lande der Sonne.) (Gottesgelehrten) von ganz Persien ist? Er ist ein Mann von so großem Einflusse, daß, wenn er es sich angelegen sein ließe, das Volk jeden willkürlich von ihm aufgestellten Glaubenssatz sofort für wahr annehmen würde. Sein Einfluß ist ein so großer, daß viele behaupten, er besitze weit mehr Macht als der Schah, dessen königliche Fermane ihnen wie unnütz verschwendetes Papier erscheinen. Tatsächlich ist er aber ein ganz guter Mann, dem ich, außer daß er ›Sufis‹ steinigt und uns Wanderwische nicht höher als den Kot unter seinen Füßen achtet, nichts Böses nachsagen könnte.«
Nachdem er ausgeredet hatte, gab ich zu, es sei beklagenswert, daß ich die Ausübung meiner religiösen Pflichten nahezu vergessen hätte. Aber angesichts meiner Lage, die gebieterisch erfordere, der hohen Geistlichkeit, die mich aus nächster Nähe beobachtete, die nötige Achtung einzuflößen, wolle ich mir die größte Mühe geben, mich wieder recht in der Frömmigkeit einzuüben, machte mich auch darum sofort daran, meine Gebete herzusagen und meine Waschungen zu verrichten, als hinge von der Regelmäßigkeit dieser Pflichterfüllung meine ganze Existenz ab. Wahrlich das, was ich früher als lästige Zeremonie empfunden hatte, ward mir nun ein willkommener Zeitvertreib, der mir half, mein monotones Leben leichter zu ertragen. Des Morgens beim ersten Weckrufe stand ich auf, um meine Waschungen in der Zisterne nach den strengsten Gebräuchen der Schiiten vorzunehmen; zum Beten aber suchte ich mir einen besonders günstigen Platz aus, wo meine Frömmigkeit allen so recht in die Augen fallen mußte. Kein Angesicht schien durch Kasteiung verheerter als das meine. Selbst dem Derwisch, der ein ganz vollendeter Schauspieler war, gelangen die niedergeschlagenen Augen, die unnatürliche Schweigsamkeit, die heuchlerischen Stoßgebete, kurz, das ganze sauertöpfische, hoffärtige und bigotte Wesen des Schriftgelehrten nicht besser als mir. Da ich mich gänzlich den Gepflogenheiten des heiligen Ortes anpaßte und den strenggläubigen Muselmann spielte, es sich auch herumgesprochen hatte, ich hätte mich ins Heiligtum flüchten müssen, ward ich auch aller mir vom Derwische verheißenen Vorteile inne. Dieser, der allerwärts meine traurigen Erlebnisse verbreitete, betonte sehr zu meinen Gunsten, daß eigentlich der Doktor hätte gestraft werden sollen und ich jetzt für andrer Leute Sünden büßen müßte. Ich lernte die angesehensten Leute kennen, die alle darin einig waren, ich sei für sie das Muster eines frommen Rechtgläubigen; und hätte ich die Mauern des Heiligtums verlassen können, so wäre die Wahl eines ›Pisch-nemaz‹ (Vorbeters) bei ihren religiösen Versammlungen in der Moschee sicher auf mich gefallen.
Ich befliß mich tiefster Schweigsamkeit, die mir das beste Mittel schien, um den Ruf größter Weisheit zu erlangen; und mit Hilfe meiner Gebetsperlen, die ich unter stetem Gemurmel, zeitweiligen Seufzern und frommen Ausrufen beständig durch meine Finger gleiten ließ, eröffneten sich mir Wege, die mich zu höchstem Ansehen führen konnten. Mein Derwisch und ich wurden so reichlich mit Nahrung versehen, daß wir fast nichts auszugeben brauchten. Besonders die Frauen ließen keine Gelegenheit vorübergehen, uns Geschenke von Früchten, Honig, Brot und anderm zu bringen, für die ich ihnen mit freundlichen Worten dankte und mich hier und da durch einen selbstgeschriebenen Talisman erkenntlich erwies.