Hans Morgenthaler
Matahari
Hans Morgenthaler

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Dschungelkrank.

Im Wald drinnen ging es mit meiner Gesundheit immer bedrohlicher abwärts, immer seltener wurden die fieberfreien Tage – – da packten mich eines Morgens Aris und Hollukki, tatkräftig in mein zweifelhaftes Dasein eingreifend, auf P'hang noi's, des alten Elefanten Rücken – – jetzt ist's aber höchste Zeit! – – und so wie man ein Bündel schmutziger Sachen zur Wäscherin schickt, brachten sie mich talaus, ins offene Land, ins Dorf, zu den Menschen zurück.

Ein junger Elefant trug meine Ausrüstung. Hollukki patschte mit zwei Siamesen hinten drein, bis über die Knie im Schlamm, während Aris am Nam Dam zurückblieb, um die Arbeiten abzuschliessen und mir später Bericht zu geben.

Auf unserm Rückzug nach dem Meer kamen wir an Tung Quang vorbei, das leer und verlassen dalag. Nur ein paar zum Skelett abgemagerte, elende Hunde jammerten herum und eine räudige Katze. Die Einwohner aber waren alle vor der Cholera in die Wälder geflohen.

Jedesmal, wenn mit der Trockenzeit die Seuche kommt, schnüren die Leute ihr Bündel, nehmen ihr Leben in die Hand, eilen in die Wildnis, möglichst nahe den Bergen, wo das Wasser frisch und klar fliesst und nomadisieren herum bis die Epidemie erlöscht ist. Viele unter ihnen kehren nie wieder, sterben im Wald.

Hütten, in denen Todesfälle vorkamen, werden nie mehr bezogen, sondern dem Zerfall überlassen, gezeichnet 178 durch ringsum aufgehängte Körbchen mit Versöhnungsopfern für die schrecklichen Geister.

Einmal stiess ich fern an der birmesischen Grenze ganz im Gewirr der hohen Berge auf ein einstiges Dörfchen, das vor einem halben Jahr ausgestorben war, als die Grippe regierte. Der Dschungel hatte es jetzt im Lauf von sechs Monaten vollständig zurückerobert, Gebüsch und Gesträuch, zwei-, dreimal mannshoch, wucherte drüber, dass wir die alten Dorfwege kaum mehr wiederfanden, und alle Hütten waren vom, aus alten Strünken neu herauswachsenden Wald aufgebrochen.

Bei den letzten Hütten von Tung Quang, wo Dehng wohnte, sah ich ein schauerliches Bild. Die alte Grossmutter lag wie ein wächserner Leichnam, wie eine Mumie aus einem urzeitlichen Grab vor der Haustür, lebte aber noch. Dehng selber, zwar auch schon zu tode getroffen, sass noch aufrecht da, aber seine Augen flimmerten, seine Wangen waren hohl und wenn er – noch mit halbzuversichtlichem Lächeln – über das seltsame Gespenst sprach, das in ihm hockte, war es leicht vorauszusehen, dass er morgen nicht mehr lachen würde – –

«Brecht meine Proviantkisten auf und trinkt soviel ihr könnt von meinem grünen Pfeffermünzschnaps!» sagte ich zu jenen, die noch halbwegs am Leben waren und – gab das Zeichen zum Weitermarsch. Mehr zu helfen stand leider nicht in meiner Macht.

Es ist um so trauriger, braune Menschen sterben zu sehen, als wir nicht wissen können, was für eine Vorstellung vom Tod sie haben, Buddhisten, die erwarten 179 nach dem endlichen «aus dieser mühsamen Welt weggehen dürfen» vielleicht noch ein elenderes Geschöpf zu werden, so ein Siamese, dem seine Religion erzählt, dass er das nächste Mal vielleicht als Ochs, als Frosch oder gar als Schlange werde leben, eine Ratte werde bewohnen, die man ersäuft – – –.

Müd und unbequem und in meiner Schwäche ganz unbeholfen schaukelte ich durch den Wald, und der harte Holzsattel drückte meine matten Glieder mehr als einen Gesunden.

Und auch sonst war das ein betrüblicher Zug. Ich schämte mich fast, jetzt wirklich zu nichts Besserem mehr fähig zu sein, als auf einem Elefanten oben zu kleben und zäh zu hoffen, rechtzeitig an die gute Meeresluft hinauszukommen, eh es mit mir zu Ende sei.

Bei jedem Schwanken, bei jedem neuen Stoss erwachten mürrische, verzagte Gedanken in mir, und die zwei Reisetage wurden mir lang, bis endlich P'hang noi mich abstellte, mitten in der lottrigen Hütten- und Hühnerstalldoppelreihe Sitschon-Markt. (Markt heisst man die Dorfkernpartien, wo die Chinesenläden und Verkaufsbuden sich dicht aneinanderdrängen, fast wie in einer Stadt.)

Ich humpelte in Nai Sih's Haus, wo ich sofort auf einen Liegestuhl sank.

«Hollukki!» –

«Tuan!» –

«Schau, ob du irgendwo eine Büchse Milch auftreiben kannst – – Marke Switzerland.»

180 Die Bude, in der ich lag, war Laden, Wohnzimmer und Vorratsraum zugleich, und alle Dorfbewohner gingen aus und ein ohne sich den geringsten Zwang anzutun. Meine Kuli hatten es sich bequem gemacht, hockten auf Reissäcken oder lagen am Boden. Es war schmutzig in dem Raum, rote Betelnussspeichelmale prangten auf der Schwelle wie Blutflecken, und ich kam mir in meiner durch die Krankheit gesteigerten Empfindlichkeit dürftig vor als sässe ich in einer europäischen Arbeiterkneipe.

Auf einen in Ordnung und Reinlichkeit erzogenen Weissen macht der Schmutz und die ganze Unsauberkeit eines solchen Siamesen-Chinesenhauses anfangs einen widerlichen Eindruck. Später gewöhnt er sich daran, die romantische Betrachtungsweise erwacht in ihm, drängt sich helfend in den Vordergrund und das gefährliche «Tida apa – alles ist egal» stellt sich ein, das grosse «Sichgehen lassen und alles, alles in Gleichmut hinnehmen,» das in heissen Ländern dem Gemüt so willkommen ist, und das allmählich so Besitz ergreift von ihm, dass er sich in der schlimmsten Unordentlichkeit heimisch zu fühlen beginnt, bis Europa zuletzt für jenen, der lange im Osten lebte, überhaupt zur Unmöglichkeit wird.

Nai Sih's Frau, die ebensoviel dicker als heller war (beides, in Hautfarbe und Geist) als ihr Herr Gemahl, kam behutsam, als wäre sie meine Mutter, herangetrippelt und fragte nach meinem Wohlbefinden: «Nai Hang tjep? – Bist du krank, Herr?»

Im Kämmerchen nebenan lagen zwei Strohmatten parallel wie Ehebetten mit je einem Holzklotz als Kissen, 181 und drüber an der Wand hatte Herr Sih in brauner Unschuld eine Reihe weisser Hurenbildchen aus Zigarettenschachteln aufgesteckt, (offenbar weil sie ihm sehr gefielen) einen Wandschmuck, von dessen Primitivheit die schöne Familie keine Ahnung hatte.

Dann kam Hollukki: «Tuan, dein Feldbett ist bereit!»

Auf dem sandigen Dorfplatz vor Nai Sih's Haus wälzten sich verkommene Hunde wehleidig kläffend. Unter zehn Tieren waren nur zwei, die nicht bei jedem Schritt vor Elend und Hunger mit den Beinen einknickten.

Viele Tage humpelte ich vom Bett auf den Langstuhl, den ich dicht an der Türe aufstellen liess, so dass mein Blick einen Teil des Dorfes beherrschte.

Sitschon bestand fast nur aus zwei Hüttenreihen. Kokospalmen ragten über die Häuschen auf, hoch und fremd und mit schweren Früchten behangen. Das Strassendörflein war von Fischern und Schiffsleuten bewohnt, die den Reis des Innern nach den nächsten grossen Dörfern über die Meeresbucht führten und von dort allerlei Waren, Tuch und dergleichen aufs Land zurückbrachten. Mehr als die Hälfte der Hütten stand auf Pfählen, weil das Meer den kleinen Fluss, an dem Sitschon lag, jeden Tag während sechs Stunden bis mitten ins Dorf hinein staute.

In der Malakkahalbinsel ist es möglich, der Regenzeit auszuweichen, wie man im Winter in den Bergen über den Nebel der Kälte entflieht.

Während wir wenige Tage früher am Schwarzwasser die ganze Trostlosigkeit der Sintflut zu spüren bekamen, 182 setzte jetzt hier, etwas nördlicher und an der Ostküste, schon die Trockenzeit ein.

Mit ermüdender Regelmässigkeit stieg die Sonne Morgen um Morgen auf. So prächtig ihr Frühgold in den Kronen der Palmen lag, so angenehm ihr erster Schein nach der kühlen Nacht über den gelben Sand leuchtete – ebenso grausam und furchtbar wurde ihre Mittagsglut. Das Haus meines Gastgebers, als dasjenige eines reichen Mannes, trug ein Vordächlein aus Wellblech, und da heizte die Sonne fürchterlich herein.

Wenn der Mittag über dem Land lag, drückte er dem Tun aller Leute seinen Stempel auf. Wer sich das nur einigermassen erlauben durfte, kroch in den Schatten. Dann lag Herr Sih auf dem Bauch neben seiner Frau, langausgestreckt, an den kühlen Bretterboden geschmiegt, jedermann im ganzen Dorf ächzte «ron – heiss» und jedes Lachen und unnötige Reden war verstummt unter der drückenden Hitze.

Wie im Theater lag ich auf meinem Langstuhl, und das Leben zog an mir vorüber in farbigen Bildern. Ohne sich stark bemühen zu müssen, beherrschte mein Blick den Eingang zu den nächsten Hütten, und bald unterschied ich unter den Leuten, die auf sandigem Weg vorüberschritten, solche, die mir von Bedeutung werden, neben andern, die nie wiederkommen würden und nur für ein paar Minuten auf dem Dorfplatz Halt machten.

Das zwölfjährige Chinesenmädelchen, das in seinen schwarzen Höschen, im Seidenschlupfjäckchen und mit dem ölglatten Zöpflein so sauber aussah, wie eine 183 frischabgeregnete Zwetschge, es würde wohl noch manchmal hier vorbei in die Schule spazieren, dachte ich, während jene Wandergesellen unterm Dorfbaum, deren ganzes müdes Stelzgebein zeigt: wir kommen von irgendwo aus dem Dschungel und gehen wieder irgendwohin in den Wald zurück – bald verschwinden würden aus meiner Welt.

Sie waren einfache Leute, deren ganzes Eigentum aus zwei Tüchern, dem Hosen- und dem Halslumpen bestand, aus einer ausgedienten englischen Zigarettenbüchse, in der ein Wisch Tabak, ein paar Betelnüsse und Kupfermünzen sein mochten. Alte, weisshaarige Männlein mit Fadenbärtchen, strapaziertem Blick und kaumüden Hängelippen, schienen sie drauf zu warten, dass es kühler werde zum Heimmarsch.

Oder ein Züglein Waldfrauen kam an im Gänsemarsch, die alten (und bewährten?) die schönen, jungen in die Mitte nehmend. Sie traten in diese Vier-Bretterbuden-Stadt wie Bauerntöchter aus dem hintersten Emmental in die Bundesgasse in Bern – – – kolossal farbig und heiter gestimmt, rundum guckend und von allen beguckt. Irgend ein Rappenspaltmanöver brachte sie her von zwei Stunden weit weg durch die Mühsal der Wälder: Umsatz 33 Bananen zu 2 Satang, Reingewinn – 66 Rappen.

Furchtbar und unerbittlich steigt in den Tropen die Sonne über die Erde herauf, und brütet Tag um Tag steil und gewalttätig über dem Land, so dass der Mensch keinen Ausweg findet, nirgendshin entrinnen kann und dumpf klagend leidet. Die heisse Zeit hockte über dem 184 Dörflein wie ein Unglück. Alle Leute klagten über Schmerzen im ganzen Leib und sogar die dunkelsten Eingeborenen ertrugen die übertriebene Hitze nur schwer.

In diesen Zeiten steht das Wasser in den Trinkplätzen tief und trüb, und die Cholera macht ihre verheerenden Abstecher nach dem Süden, aus dem Riesenleib Asiens herabkriechend in die Malakkahalbinsel wie ein tausendbeiniges, auftauchendes und verschwindendes, menschenfressendes Gespenst.

Eines Morgens beobachtete ich einen leidenschaftlichen Zank auf dem Dorfplatz, «um einen zerbrochenen Teller», da gelbe Galle und ein paar Holzprügel herumflogen. Aber dann sind blaue Chinesinnen «ohne Füsse» zwischen die Streitenden gehumpelt, und bald ging jeder wieder ruhig seiner Arbeit nach. Chinesischer Jähzorn ist schön. Weil echt. Alles Echte ist schön. Immer.

Nai Nok, Herr Vogel in der zweiten Hütte schräg rechts spielte unentwegt und zäh auf einer Flöte, und in einem der wenigen Läden sass ein altes verdorbenes Weiblein, das eigentlich nicht mehr viel Grund hatte, fröhlich zu sein; aber sie lachte den ganzen Tag und war lustiger als manche schöne Junge. Sie schien von riesiger Ausdauer zu sein, diese runzlige Hosenchinesin mit ihrem gelben Ledergesicht. Sie war immer da, alle Tage, seit Jahren vielleicht. Um acht Uhr morgens war sie da, um elf Uhr, abends um sechse sass sie in ihrer Bude, die Hände über ein Knie verschränkt und an die abscheuliche Pünktlichkeit und Pflichttreue einer europäischen Batzenladenjungfer erinnernd. Stundenlang sass 185 sie allein, mit heiter strahlendem Gesicht irgendwo in die Welt hin schauend, und nur selten verkaufte sie ein paar chinesische Bonbons, Betelnüsse oder feuerrote Pfefferschoten.

«Auf was im Leben, dachte ich, mag die noch warten – – – ?»

Einmal nach Feierabend, als ich mich etwas besser fühlte und auf einem Dreibein unter Nai Sih's Ladentür sass, kam ein älterer chinesischer Herr, ein Goldschmied von Beruf, auf mich zu und streckte mir sein kleines, zweijähriges Mädchen entgegen, das vollkommen nackt war und in seiner straffen Haut drin steckte, so prall und voll wie das Fleisch in einer Leberwurst.

«Nimm's, wenn du's haben willst!» verstand ich.

Ich war ganz verblüfft, und es kostete einige Mühe, bis Hollukki ihm beibringen konnte, dass ich mit diesem kleinen Ding da nichts Rechtes anfangen könne, da ich bald nach Europa heimgehen würde, und nicht Zeit hätte, hier zu warten, bis es – gross genug wäre, «und übrigens» fuhr ich selber noch fort, da der Chinese malayisch verstand: «T'a bulih ambil – t'ada susuh! – – (Ich kann das Dinglein nicht wohl übernehmen, weil ich keine Milch für es habe).»

Und da merkte ich erst, dass er sein Herzenskind nur durch mich hatte photographieren lassen wollen.

Die dritte Hütte links vorn gegenüber war voll kleiner Kinder, und eine dicke, fette Mutter wohnte da mit allmächtigen, quabbeligen Hängebrüsten, die sie so plump zur Schau trug, dass ich fast wegsehen musste. Mit 186 dem runden Fleischgesicht und ihren wirren, bis auf die Schultern herabhängenden Haaren war sie das gegebene Motiv zu einem Titelbild für eine Naturheilvereinsbroschüre: Motto: «Gesegnete Verdauung und Vermehrung»!

Manchmal kam sie herausgestürzt und liess einen Naturschrei los: «Hee-luk-maa-nii! Luk-hee-ma-niiii!» und dann kam ein Knirps oder Hund oder ein Huhn gerannt, und oft schien sie rein nur aus allseitigem Befriedigtsein heraus so zu jauchzen.

Ich zerquälte lange umsonst mein Hirn mit der Frage, wo wohl der Vater zu dieser Familie sei, bis er eines Abends erschien. «Es ist ein Bootsmann, der in seiner zerbrechlichen Dschunk quer über den Golf nach China fährt» erklärte mir Hollukki. Als er heimkam, steckten seine Leute Kerzchen an und opferten den Göttern. – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Eines Nachmittags, als es gar so heiss war, dachte ich: «Gut, jetzt will ich eine Zeitlang krank sein! Ob wohl Nu Kiang kommen wird, um mich zu pflegen? Oder gar die Schlanke im weissen Hemdchen, die immer Lachende, die so blitzende Zähne hat und offenes, langes Haar, dass man vor Staunen ihre allzugrossen, fast ein wenig Fehleraugen über all der übrigen Schönheit vergisst?»

Jeden Morgen kamen Marktfrauen vom Land, brachten Gemüse und Fische. Unter ihnen war eine Malayin in rotblauem Sarong und weisser Bluse. Sie war mir sympathisch, weil sie eine etwas menschlichere Sprache redete 187 als die Siamesinnen. Wenn ich als Malaye auf die Welt gekommen wäre, dachte ich, könnte ich vielleicht richtig dichten.

Mein alter Bekannter, der «Zimmermann mit der Knüppelpfeife» sprach mit ihr. Er trug eine blaue, dünne Hose, die über seinem muskulösen Bauch zusammengeschnürt war. Er war ein wundervoller Mensch und schien ihren Absichten zweckentsprechend vorzukommen. Ich fragte mich lange, ob er es auf ihre letzte Harzfackel, die sie feilhielt, abgesehen habe oder sie auf seine – zwei Tikal.

«Hollukki, ich will ein bischen schlafen; wenn ich erwache, kannst du mir Citronen-Limonade geben – –» – – – – – – – – – – – – – – – –

Die Sonne sass mit versengender Glut am Himmel.

Ich spürte wie sie mich auszehrte, wie sie in meinen Hüftknochen frass – – – – – – – – – – –

Dann war der Zimmermann fort. Die schöne Malayin war noch da. Jetzt hatte sie Augen wie glimmende Kohlen – – – von ferne. Wenn die noch ein paar mal da vorbeikommt, werde ich plötzlich gesund.

Tropentage sind zeitlos. Die Sonne steht von morgens bis abends steil. Sie ist da oder ist weg. Wenn sie weg ist, ist's Nacht.

Alles Leben in den Tropen ist wuchtig da oder fehlt. Leben und Tod stehen in heissen Ländern dicht nebeneinander wie Tag und Nacht. – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Weihevolle, feierliche Abende habe ich in Sitschon verlebt: da die Chinesen den Hammer und das Werkzeug 188 beiseite legend, zur Kratzgeige griffen, und ruckweise Zupfmusik alle Gassen und mein Haus mit ihren jubilierenden Zickzackweisen erfüllte, wenn ich unterm Ladentor sass und in alle Hütten staunte, wo flackrige Öllämpchen aus den einfachsten Dingen ganze Märchen machten.

Dann bin ich etwa wie im Traum durchs Dorf gegangen, Hollukki erzählte mir von diesem Indier, er habe «banya' untong – er verdiene viel» und von jenem Chinesen, dass er schon in Bangkok war und eine schöne Frau, aber kein Geld besitze. Auf einem solchen Spaziergang entdeckte ich die Wohnung Schwarzhöschens des saubern Chinesenzwetschgleins, oder ich sah wo irgend ein anderer meiner alten Bekannten hauste. Dann fühlte ich jedesmal teilnehmend: so, das ist dein Gerümpelpalast. 189

* * *

«Die Jahre des Drachen» aus der Geschichte Buddhas.

Später bezog ich das Badehäuschen eines vornehmen Siamesen, das unter Palmen dicht am Meer lag, vor dem Dorf draussen.

Es war noch neu, einfach gebaut und sauber. Auf der kleinen Veranda standen ein paar Rohrmöbel, ich hatte seit langem zum erstenmal wieder einen Tisch und empfand es dankbaren Herzens, für einige Tage aus den Drangsalen meines Wanderlebens vollständig herausgehoben zu sein.

Mit einem Ruck erwachte da in mir die Erinnerung an frühere Zeiten, und ich gedachte an diesem stillen Plätzlein endlich, meine müde Seele entlastend, niederzuschreiben, was mich seit Wochen und Monaten so erfüllte, die ganze bunte Reihe der Erlebnisse schwarz auf weiss festzuhalten, damit mir in neuer Kraft frei und leicht zu Mut würde.

Gleich am ersten Abend setzte ich mich an den prächtigen Tisch mit der hellen Lampe, aber – statt 190 dass ich tun konnte, was ich glaubte tun zu müssen, schweiften meine Gedanken immer wieder ab, immer wieder legte ich mich auf den Liegestuhl und sah aufs Meer hinaus oder lauschte den Stimmen nach, die auf dem Weg ins Dorf vorüberzogen. Und es war mir, als ob meinem innersten Menschen ein schweres Unglück widerfahren sei, und mir ahnte bang, dass auch ich jetzt vielleicht schon jener tierhaften Unstetigkeit und rastlosen Wandersucht verfallen sei, die ein tiefer Charakterzug aller Dschungelbewohner ist.

Morgen um Morgen ging mir die Sonne aus dem Meer auf. Wenn ich aus meinem Kämmerlein trat, flammte eine Glutlohe über den hohen Himmel, und eine süsse, kühle Brise erinnerte mich an den Bergwinter. In der Frühe stand das Meer tief und leckte seine Kraft verzehrend mit tausend glänzigen Zungen über den schleimfeuchten, grünlichen Strand herauf. Spiegellichter lagen über der offenen Hochsee, und die Wände der stockhornartigen Berge, die auf beiden Seiten die Bucht umrahmten, waren rot überhaucht.

Und wenn dann die Sonne höher stieg, schimmerte der Glast der mittäglichen Fluten durch die feinästigen Palmen wie flüssiges Silber herein. – – –

Um all diese Bilder, dachte ich, auf meinem Feldbett liegend, bin ich reicher als Hunderttausende, die nie sie sehen werden. Um all das sind sie ärmer. Ganze Welten bleiben jenen zu. Darum muss ich leiden, dafür bezahlen. Das Leben ist ein strenger Prinzipal. Es schenkt nichts. Der, den es anstellt zum Genuss, muss stark sein im Dulden.

191 Das Leben bleibt aber auch kaum etwas schuldig. Nur schwer verständlich – sicher fast unverständlich ist manchmal seine Art Lohn. – – – – – – –

In seligem Losgelöstsein von der rauhen Welt lag ich in leichten Seidengewändern auf der Veranda meines Häuschens und schaute dem emsigen Kuki zu oder verschlang mit hungrigen Augen jede farbige Menschengestalt, die in rhythmischem Gang an meinem Gärtchen vorübermarschierte.

Eines Morgens besuchte mich eine dieser schöngewachsenen Fischersfrauen. Da Hollukki auf dem Markt war, verhandelte ich selber mit ihr. Sie trug einen dunkelblauen Hosenrock und ein gelbes Brusttuch, aber auch wenn sie nur in Lumpen zur mir gekommen wäre, hätten doch ihre Augen sie zur Königin gemacht. Ich setzte mich auf den obersten Tritt der Stiege, und sie kam zutraulich und lachend heran, als ich ihr winkte, das Körbchen mit frischgefangenen Fischen und Muscheln zierlich in der Hüfte aufgesetzt.

«Nai Hang sü pla?» fragte sie ganz nahe vor mir niederhöckelnd, dass ich ihren warmen Leib fühlte.

Ich musterte langsam und als ob ich etwas davon verstände, einen der Fische um den andern und fragte das schöne Weiblein, wie ich es von Aris gelernt hatte: «Hast du auch einen Mann? Hast du Kinder?» und schliesslich kaufte ich ihr alle ihre Fische ab samt dem Körbchen.

Als Hollukki zurückkam, gab es natürlich eine Szene. Aber ich schwieg bei allen seinen Vorwürfen, die er mir 192 wegen meiner Verschwendung machte und zuletzt nahm ich mein Tagebuch zur Hand und schrieb:

Es scheint Leute zu geben, für welche die Liebe eine Art Ritterdienst ist der Schönheit auf den Knien dargebracht.

Und sie muss das sein und bleiben.

Mit einer dieser schönen braunen Naturfischerinnen um ein paar Fische zu handeln und ihr schliesslich mehr abzukaufen als ich verdauen kann, halte ich für mich für nutzbringender als – – – – – als – – –. Das war wieder mein müder Kopf. Mitten in den grössten Ideen streikte er, als – – –. Der Nachsatz ist ohne Belang – –. Die Idee im Vorsatz ist gut genug und es wert, den Schluss gar nicht fertig zu denken. –

Dann überfiel mich nochmals plötzlich und wie aus heiterem Himmel Not und Elend.

Hollukki hatte mir zu Mittag grüne Chinesenbohnen aufgestellt, sehr holzige und sie waren kaum halberweicht, und kurz nach dem Essen war mir schon als hätte ich Gift eingenommen. Erst begann es mit einer Art Gehobensein, sich freier fühlen, wie wenn nach ein paar Glas Wein die Gedanken, von ihrer Erdenschwere befreit, lebhafter im Hirn herumturnen und dann – wie schnell ging das doch! – fühlte ich deutlich: aha Fieber! und ein Sausen im Schädel und ein stärker werdendes Rauschen im Blut nahm so beharrlich zu und wuchs so gleichmässig durch meinen ganzen, sonst schon müden Menschen, dass ich, kaum hatte das Übel begonnen, schon wusste, diesmal gälte es Ernst.

193 Ich legte mich auf den Langstuhl, ein bischen den Kopf möglichst hoch und rauchte und wartete der Dinge, die da sicher kommen würden. Vorsorglich nahm ich Chinin und Kalomel.

Ein wolkenschwerer Nachmittag lag über der Bucht. Die Turmberge standen schwarzblau hinter den bleiernen Fluten, und das Gekrächze der Möven und Geier klang heiser und hässlich zu mir herein.

Ohne dass ich es zu verhindern vermochte, schossen mir unbändige Gedanken durchs Hirn. Übermütige Lachkrämpfe bemächtigten sich meiner: «Das Gastspiel, zu dem wir auf Erden, ungefragt und durch die Schuld unserer Väter verpflichtet sind, ist keine Komödie, sondern ein Trauerspiel – – ha, ha, hi – – – !»

Ich zündete eine neue der schwarzen birmesischen Zigarren an, morgen würde ich vielleicht nicht mehr rauchen dürfen, und nahm nochmals Chinin.

Auf dem Golf zog ein Fischerboot in knappem, langweiligem Rudertakt vor dem Ufer hin und her.

«Hollukki, wenn ich wieder gesund bin, klettere ich auf jene Felsen, ich bin in den Bergen geboren.»

Ich möchte, dass jemand käme, um mich zu pflegen. Aber hier kommt ungerufen ebensowenig eine schöne Frau zu mir wie in Europa, und wenn ich sie rufe, will sie – vierzig Tikal im Monat – –

Alles beruht auf Gegenseitigkeit, sogar die Liebe – wenn es Liebe überhaupt gibt – – – –

Dann kamen Wolken über das Land gepeitscht, der Wind warf kühlen Regenstaub auf die Veranda herein, 194 und ein Schüttelfrost ergriff mich, dass ich mich zähneklappernd in Wolldecken hüllen musste.

Das Leben ist eine Anstrengung, der keiner ganz gewachsen ist.

Später tauchte eine braune Gestalt auf in weissem Kittel, mir wurde froh bei dem Anblick; das war Aris, endlich auch vom Schwarzwasser zurück.

«Guten Tag, Tuan – – – !»

Ich antwortete nichts. Er sollte sehen, wie schlecht es mir ging. Es ist eine eigenartige Tatsache, dass wir manchmal Leuten, die wir gern haben, gerade dann unfreundlich begegnen, wenn wir ihnen am liebsten um den Hals fallen möchten, eine grausame in vielen Menschen steckende Schwäche, zu meinen, gerade diejenigen unter unsern Freunden sollten unsere Leiden tragen helfen, die sie am tiefsten mitzuempfinden vermögen.

Aris war ganz erschrocken über die stumme Begrüssung. «Da schau in was für einem Zustand dein Herr ist!» warf mein mürrisches Gesicht ihm vor. Leise sagte er zum Kuki, als er, vom ersten Schrecken sich erholend, vollends die Stufen zur Veranda heraufstieg: «Des Tuans Kopf ist rot!»

Es ist immer unheimlich, wenn das Fieber vom Menschen Besitz ergreift. Ich weiss nicht, was schrecklicher ist für den Kranken, ob mitten im Anfall zu stehen, oder dieses leise und beständige und unaufhaltsame Zunehmen des Fiebers in sich zu spüren, das, wenn sich ihm nichts entgegenstellt, in wenigen Stunden das Ende herbeiführen kann.

195 «Hollukki, wo hast du diese Bohnen gekauft?»

«Bei einem Freund im Dorf, sehr billig, Tuan!» –

Das Chinin begann unterdessen zu wirken. Tausend Wasserfälle rauschten mir in den Ohren, heisse Fieberglut hämmerte in meinen Schläfen. Dann musste ich lachen:

«Dehng ist tot, nicht wahr, Aris?» fragte ich neugierig und triumphierend zugleich, da ich wusste, wie leicht es sei, Cholerakranken eine Diagnose zu stellen.

Weil aber Aris auch mir nicht mehr stark traute, und da er durch dieses unerwartete Wiedersehn noch ganz wie betäubt war, wich er scheu meinem fragenden Blick aus. Aber sein Sprüchlein: «Tuan, weisse Leute sterben weniger leicht!» das er ängstlich und beklommen herstammelte, enthielt eine deutlichere Bestätigung meiner Vermutung, als wenn er einfach «Ja» gesagt hätte.

Das war ein stummer Nachmittag. Aris und Hollukki sassen an der Wand, ratlos, den fiebernden Tuan vor sich, und besonders der Malaye, der weitaus der feinfühligere war, schaute stumpf und traurig aufs Meer hinaus.

«Dehngs Frau ist auch tot. Von den sieben Leuten in seinem Haus lebt noch einer!» hörte ich ihn dem Kuki ins Ohr flüstern – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Ich hatte aufgehört zu rauchen. Es war unterdessen Abend geworden. Im Dörfchen hinter grossen, zerfetzten Bananenblättern gingen die ersten Lichter auf. Hollukki arbeitete nicht. Aris sass tatenlos an der Stiege. Es 196 war dunkel und trüb auf Erden. «Aris' Gesicht ist fahl» dachte ich, «aber seine Augen leuchten!»

Ich wusste jetzt: Unaufhörlich würde auch ich einschrumpfen über Nacht, mein Blick würde leer werden wie Dehngs Blick leer wurde, die Wangen schattig und in ein paar Stunden wäre ich tot.

Aber eigentlich war mir das ein bischen gleichgültig. Was würde es nützen, sich gegen diese, alle Menschenkraft übersteigenden Mächte wie Fieber und Cholera zu wehren. Ich war nur noch von dem einen Wunsch beseelt: vergessen zu dürfen, bald würde der Unsinn aus sein.

Dann schleppten mich meine Diener aufs Bett.

Mein Hirn war ganz denken –. Ich sah weit voraus, bis in die Heimat.

Eines Abends würde zu Hause im Tagblatt stehen: «gestorben in Hinterindien am Fieber.» Einige meiner Bekannten würden Äh sagen und ein bedauerndes Üh-Gesicht schneiden, andere umgekehrt, aber fast allen, vielleicht ganz allen würde (wenigstens im Versteckten) ein selbstgefälliges Bläschen aus der Bierglasseele aufsteigen, ihr ganzer wohlgenährter Leib würde einen Ruck des «sich selber vor derartigem Ungeschick sicher wissens» tun: «Warum geht man dorthin!»

«Aris!»

«Tuan!»

«Im gelben Köfferchen sind ein paar wichtige Sachen, gib sie, wenn ich tot bin, meinem Landsmann in Thalerng – – – für meinen Vater».

197 Wind war aufgesprungen. Ein Regenschauer ging durch die Nacht, trommelte raschelnd auf dem Palmenblattdach, und das Echo der Geräusche verdoppelte und vermischte sich mit dem Wirbel meines hämmernden Blutes. Fenster und Türe standen weit offen. In grosser Ferne über dem Meer, weit ab hinter den schwarzen Küstenbergen, fast in China drüben, blitzte es matt und langweilig. – – –

Aris und Hollukki dämpften ihre Stimmen zum Flüsterton herab, mir war auf einmal, als sei ich wieder der kleine Knabe, als würden meine Eltern draussen bang für ihr krankes Kind beten – – – – – – – –

Das Entsetzen sass meinen zwei Dienern im Nacken. Das Gespenst der Cholera hing über unserm Häuschen. In den feinästigen Pinien lauerte es, in den Mähnen der Kokospalmen, und das Meer sang an diesem Abend hohl und anders als während der sonnigen, glücklichen Tage – – – – – – – – – – – – – – – –

Fern den heimatlichen Bergen zu sterben hat für unsere Nächsten zu Hause etwas Unvorstellbar-Furchtbares. Zu wissen, irgendwo an der hinterindischen Küste« verlassen und einsam, nur unter Wilden, hat er sein Leben gelassen.

In einem solchen Mangroven-Sumpf-Dorf, wo das Regenwasser vom Dach das einzige saubere ist und der Morast aus dem ganzen Hinterland mit dem Dorfabfall zu einem ekligen, bald nassen, bald trockenen Riesenkehrrichtshaufen sich mischt, wo tote Hunde, Katzen und – fast möchte man denken auch Menschen – herumliegen, 198 von Ebbe und Flut bald dorfaus, bald dorfein verschleppt, bald in der Sonne dörrend, bald faulend.

Von der in warmer Behaglichkeit und in Zusammengehörigkeitsgefühlen fast versinkenden Bürgerlichkeit aus betrachtet, haftet der grossen, weiten Welt etwas von Leere an, der einzelne, der dort hinauszog, denken die Leute zu Hause, schwebt in der lieblosen Fremde wie ein einsamer Planet in der eisigen Kälte des Weltenraumes – – – –.

Aber – – ob das stimmt?

Sind nicht auch hier teilnehmende Menschen um mich, hockt nicht der Kuki auf meine Wünsche wartend da, kommt nicht sogar Frau Sih aus dem Dorf herüber, um sich zu erkundigen (auf ihre eigene Art freilich) wie es mir gehe. Und brachte sie nicht sogar Nu Kiang mit?

O, ich könnte mir wundervoll glutige Träume ausmalen, ob denen ich mich übers Sterben – – – wegsetzen könnte. Schliesslich ist man ein Kerl, und fühlt sich stark genug, auch ohne den Beistand all seiner zehn Tanten zu gehn.

Fischer mit ihren Netzen gingen am Strand der Arbeit nach. Fackellichter lohten auf. Das Meer war in Nacht getaucht, und die tätigen, braunen Körper der Leute nahmen sich in der kleinen Welt, die das grelle Licht scharf um sie abzirkelte, aus, wie Puppen, mit denen irgendein grosses Kind spielte. Alle Geräusche waren gedämpft, erzeugten in mir zwar Eindrücke von Bewegungen, ich sah Gestalten auftauchen und herumgehen, 199 aber ohne den Lärm, den meine Vernunft als ihnen zugehörig erklären wollte, wirklich zu hören.

Dann entfernten sie sich, gingen heim um zu schlafen: morgen sei auch wieder ein Tag – – – – für sie.

Nichts als die Nacht blieb draussen, dunkel und kühl und doch voll warmem Atem. Der Wind wimmerte leise Melodien und in endlosem, immer neuem, immer wieder anderm, und doch immer dem gleichen starken Rhythmus sangen die Wellen, am flachen Strand herauflaufend. Und ihr Lied, das sie sangen, ihr wechselndes, wie die Hoffnung im Herzen der Menschen bald anschwellendes und bald ersterbendes Rauschen stahl sich zu mir ins Holzhaus herein, unhemmbar und solange, bis dass mein müdes Hirn aus dem Singsang der Fluten sich seine eigenen Melodien reimte, zu denen sich die Worte zwar auf bekannten Wegen, aber gleichsam wie auf beschwerlicher Reise nur langsam und mühselig zusammenfanden:

Wenn der Schnee von den Alpen niedertaut
Aus dem See blau der Himmel widerschaut,
Wenn die Glocken läuten von den Alpen her,
Schau ich doch die liebe Heimat nimmer mehr – –

– – – – – – – – – – – – – – –

Und auf einmal war mir, als ob ich eine alte, vertraute Stimme hörte, die von allen Seiten herkam, vom sandigen Dorfweg, aus den zackigen Kronen der Palmen, aus den dunklen Wolken von weit, weit weg übers Meer, eine glockenrein klingende Frauenstimme, die leise und gedämpft klagte:

Liebe Heimat, teure Heimat, schau ich dich wohl nimmermehr – – – ?

200 Da ergriff mich in meiner Einsamkeit verzweifelte Sehnsucht, Hollukki musste mein Tagebuch bringen, und mit taumelnden Sinnen begann ich bei Kerzenschein einen kurzen Gruss niederzuschreiben:

Meine Lieben,

Es geht mir immer noch gut – genug. Es ist hier zwar natürlich etwas anders als bei Euern weissen Gletschern –. Aber man muss und will jetzt noch ein wenig bleiben. Auch wenn das mühselig ist. All das wird einst in der Erinnerung um so wertvoller sein. Und schliesslich ist man doch dazu da, aus seinem Leben etwas möglichst Rechtes zu machen – – –

Es gibt nur eine Pflicht: Der willige Diener seines Schicksals zu sein – – – und es zu bleiben – – auch wenn das komisch oder also furchtbar werden sollte – – –

– – – aber dann packte mich das Misstrauen vor meinem eigenen Brief, und ich riss mit entschlossenem Ruck diese falsche Seite heraus. –

– – – ich versank im Strudel meiner Fantasien; Fiebergefühle und schwarze Schatten fielen über mich her, auslöschend alle Tatsachen und klaren Gedanken. Jetzt schlief ich, erwachte fast, irrte in fremden Welten herum, fiel in Bewusstlosigkeit – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – auf einmal sass ich in einer Rittersaal-ähnlichen Halle, die ganz mit blauer Seide ausgekleidet war, und blaue Flämmchen, die aus dem grossen Tisch und aus der Decke hervorbrachen, 201 verbreiteten eine milde Helle. Auf blaugepolsterten Sesseln ringsum an den Wänden sassen Menschen, viele Menschen und alle trugen mein Gesicht. Mit eingelegten schimmernden Saphirkristallen stand über der Tür geschrieben: Familienrat!

Und einer in der Versammlung, ein alter, dessen schneeweisser Bart in der Bläue des Gemaches hellaufleuchtete, erhob sich und sprach zu den Jungen, die seine Enkel zu sein schienen:

Es war einmal einer in unserer Sippe – – ein seltsamer Kauz. Er glaubte dem Leben trotzen und all das tun zu sollen, was dem Menschen nicht zuträglich ist. Schliesslich starb er im Dschungel.

Merkt es euch, tut es ihm nicht nach. Aber verhöhnet ihn nicht noch im Grab. Im Grund war er gut.

Es war eine innere Stimme, die ihn so leben liess. Und es scheint das Schicksal bester Familien zu sein, von Zeit zu Zeit solche Querschläger und Luftsprungnaturen zu zeugen – – – –.

Da erwachte ich. Kühle, bleiche Helle kündete einen neuen Tag an. Das Meer rauschte stark zum Fenster herein, und ich nahm mechanisch Kenntnis davon, dass ich noch nicht tot sei – – – – – – – – –.

*

Die Müdigkeit jener kranken Zeit, aus der alle meine Nerven wie älter geworden, gereift und um eine Einheit feiner gestimmt hervorgingen, dauerte noch viele Tage lang an. Ich war weiss geworden im Gesicht, die Augen 202 lagen tief in ihren Höhlen, und wenn ich in den Spiegel sah, schaute mich einer an, der nicht mehr von dieser Welt zu sein schien.

Aber das Fieber war ein für allemal gebrochen, und trotz meines elenden Aussehens, regte sich neues Leben.

Morgens und abends wehte eine frische Brise vom Meer her, Hollukki päppelte mir kräftige Krankenbreilein zurecht, braute würzige Hühnersuppen, und es war ihm geglückt, in einem Chinesenladen eine ganze Beige Berneralpenmilchbüchsen aufzustöbern. Ich gab mir alle erdenkliche Mühe, nur meiner Erholung zu leben, rauchte wenig, faulenzte aus Überzeugung und saugte Büchse um Büchse der köstlichen Flüssigkeit in mich hinein, wie der Verschmachtende in der Wüste das letzte Wasser aus seinem Schlauch.

So erstarkte ich wieder unter Hollukki's freundschaftlicher Pflege, langsam zwar nur, sehr langsam, aber doch rascher als ich je gedacht hätte. Und eines Tages war wieder meine alte Wanderlust wach, die eine tief in mir liegende Sehnsucht ist und zu meinem armen, geplagten Leib gehört wie mein Hirn und mein Herz, und die immer wieder aufscheuen wird so lange er lebt, solang dieses denkt und solang jenes schlägt – – –. 203

 


 


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