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An Eduard Mörike
Tübingen, 6. September 1823
Mein lieber Eduard. In meiner Kammer sind die Läden zu, die Fenster offen, und Du weißt ja, wie gern ich so ein flüsterndes Helldunkel habe; auf der Straße hört man Leute vorbeigehen und in seiner schwarzen Werkstätte den Schmied hämmern. Mein Stubenbursche hat sich, um eindämmern zu können, ein Kissen auf das Sofa gelegt. Die Türe ist fest verschlossen. Ist Dirs nicht auch recht, wenn ich jetzt ein bißchen bei Dir bin? Ich begleitete eben den Waiblinger, der Dich tausendmal grüßen läßt, bis Jettenburg, und auf dem Rückweg bekam ich ein Heimweh nach Dir und hielt es fast für unmöglich, daß ich jetzt nicht bei Dir sein sollte. Und da wird mirs oft so schwer ums Herz, als wenn wir nicht mehr zusammenkommen könnten, oder als wenn ich Deiner gar nicht mehr würdig wäre. Du bist jetzt mit Deinem Geiste dort, wo man den Sand der Zeit nicht mehr tropfenweise rieseln hört, Dein Herz schlägt wie ein voller aber klarer Bach über dieses Leben hinüber, und jeder Schlag desselben pocht an die schwere, eiserne Gittertüre des Grabes. Ich klebe noch am Staub, und wenn ich an Dich gedenke, ist mirs, wie wenn ich im Shakespeare gelesen hätte. Aber dies ist mir lieb, daß nur dann Dein ganzes wunderbares Selbst vor mir steht, wenn sich die gemeinen Gedanken wie müde Arbeiter schlafen legen und die Wünschelrute meines Herzens sich zitternd nach den verborgenen Urmetallen hinabsenkt. O Eduard, jetzt weiß ich erst, wie lieb ich Dich habe. Die Poesie des Lebens hat sich mir in Dir verkörpert, und alles, was noch gut an mir ist, sehe ich als ein Geschenk von Dir an . . .
An Luise Mörike
Tübingen, 10. Juli 1824
. . . Sie [Maria Meyer], die er [Mörike] gerade jetzt nur als heilige Reliquie in seinem Herzen trug, erschien wieder vor ihm mit allen Zeichen der Wirklichkeit – gemeine Menschen wurden durch Zufall in ihre Nähe gebracht, elende Gerüchte strichen an seinen Ohren vorbei, um ihn aber regte sich leise und mit Gewalt zurückgedrängt die Ahnung des Zauberkreises, den er einst betreten hatte. Maria, sein wanderndes Ich, pochte wieder an sein Herz, verlassen, krank, Fremden hingegeben, ohne Halt, ohne Stütze, in ihm allein die schönre, ätherische Seite ihres Wesens wiedererkennend. So von dem irren Geiste der Heimatlosen angehaucht, selbst in seinem Innern vielfältig hin und her bewegt, mußte er entweder die Atmosphäre des rätselhaften Wesens betreten oder jenes schon früh rege gewordene Gefühl festhalten, das im denn auch mit neuer, entschiedener Kraft ergriff und ihn weg aus dem Strudel der Empfindungen der heimischen Wohnung zuzog . . .
An seine Braut
Tübingen, 25. November 1824
. . . Mein Trauerspiel ist fertig. Es ging so . . . Am Sonntag fing ich an, doch ging es noch etwas langsam. Am Dienstag war Markt: ich ging mit Waiblinger spazieren, er erzählte mir von seiner Reise nach Venedig, als uns plötzlich abends sechs Uhr der Ruf entgegenbrüllte: »Es brennt, es brennt im Klinikum [Wohnung der Julie Michaelis, der Geliebten Waiblingers]!« Die Stadt ängstigte seit dem letzten Brande eine Weissagung, daß in Tübingen hundertsechsunddreißig Häuser abbrennen müssen. Es war schauerlich anzusehen, wie in diesem großen Gebäude, die langen Stiegen hinauf und hinab, Lichter flogen und Feuereimer, und alles schrie. Neben mir stand, wie ein Wahnsinniger, Waiblinger. – Seit Jahren hat mich kein so furchtbares Grauen ergriffen als an diesem Abend. Allein, eben dasselbe begeisterte mich so sehr zu meinem Trauerspiele, daß ich mit reißender Schnelligkeit fortschrieb. Sonnabend nachts erhielt ich von meinem Eduard einen Brief folgenden Inhalts: »Ich habe mein Trauerspiel vollendet, aber beim ersten Durchlesen desselben schien es mir, als hätte ich nicht die ganze Höhe meiner Idee erreicht, deswegen verbrannte ich es.« Dies war mir schrecklich, ich mußte die ganze Nacht weinen. Am Sonntagabend las er mir die zurückgebliebenen Reste vor, und diese noch gehören zu dem Herrlichsten, was die Dichtkunst je geschaffen hat. Betrauern Sie mit mir den Verlust eines Meisterwerks! Auch ich hätte augenblicklich mein Werk abgebrochen, dem Eduard zulieb, wenn ich nicht immer gedacht hätte, daß ichs ja nur für Sie mache, und gewiß nicht aus Ehrgeiz . . .
An Eduard Mörike
Helmin, 27. Juni 1826
. . . Und meine Gedanken sind im verflossenen Sommer. Ich möchte mit Dir in dem Hüttchen auf dem Spitzberge sitzen und das Rauschen der Tannenwipfel hören. Weißt Du, den Morgen, ehe wir mit Klärchen bei Bengels waren, bereisten wir als Maty und Heinard den Berg, wo der Wartturm steht, und zogen mit unsern Bogen in jenes Hüttchen, verloren aber das Holz zum Spannen? Und was ich eigentlich will? Eine Preisfrage gebe ich Dir auf. Besinne Dich doch und berate Dich auch mit denen, die etwas wissen können, an welchem Tage Orplid geboren wurde? Es war, soviel weiß ich, ein herrlicher Morgen. Du führtest mich an die Quelle, links von der Reutlingerstraße, dann gingen wir noch eine Weile im Wald spazieren. Als wir eben von dem Fußwege auf die Straße kommen wollten, sagte ich: »Wir sollten mit Zweigen eine Hütte bauen im Walde, und dies sollte vorstellen, wie sich Leute eine Stadt bauen; – wie möchte sie doch heißen?« »Orplid«, sagtest Du. Nun stupftest Du mich, ob ich nicht einmal das Herz haben würde, nachts zu Dir zu kommen, und sprachest auch davon, daß wir dann des Mährlens Klavier heraustragen und in der Nacht auf freiem Felde darauf spielen wollten. Es schlug zehn Uhr, ich mußte fort, aber vor des Bengels Kollegium, etwas vor drei Uhr, kamst Du zu mir, wir schwänzten und entwarfen so leichthin die Gestalt der Insel, wie ich sie noch auf einem Papier habe. Den Sonntag drauf waren schon viele Namen erfunden, und noch vor der Kirche erfandest Du den Namen »Spindel«. Nach Jakobi, also nach dem 25. Julius, muß es gewesen sein, denn am 23. nachmittags ging ich ja nach Leonberg, und den Abend, ehe ich fortging, lasen wir noch einmal im Homer, und solange wir im Homer lasen, war Orplid noch im Himmel bei den seligen Göttern. Könnten wir den wahren Tag herausbringen, dann feierten wir jedes Jahr das Fest »Orplids Geburt«, und wenn auch entfernt voreinander, wären wir uns doch nahe in demselben Heiligtum, es wölbte sich über uns das Dach eines großen Tempels, in welchem wir uns nicht sehen könnten, aber doch von denselben himmlischen Weisen beschützt wüßten. Weißt Du, wenn man in das Tübinger Schloßtor kommt und der eine spricht leise ein Wort an die Mauer, so hörens die nahe Stehenden nicht, aber der, welcher gerade gegenüber sein Ohr an die Mauer hält, versteht es: – so würden wir uns auch aus der Ferne verstehen . . .
An Wilhelm Hartlaub
Ernsbach, 20. Juli 1826
Armer Hartlaub! Ich kann mirs vorstellen, wie Dir sein wird: von Tübingen weg! Man meint, es müßte im hellen Sommer schneien, wenn man daran denkt, und das ärgste wird Dir die Trennung von dem sein, den doch niemand liebt wie wir beide. Ich habe diese Bitterkeiten vielleicht besonders herb geschmeckt; aber soviel kann ich Dir zum Troste sagen: wer zum Philister nicht geboren ist, das heißt, wer nach Geld und Gut nicht geizt, noch titelsüchtig ist, sondern glaubt, daß er die Größe dieser Welt nicht besitzen, daß er sie nur bewundern kann und daß die Liebe der Menschen mehr wert ist als ihre freundlichen Gesichter; wer einmal so ist, der wird auch sein Leben lang kein Philister; und wo es philisterhaft hergeht, da wandelt ihn ohne weiteres ein Ekel an, er geht hinaus, weiß, was er zu tun hat, und siehe! es ist ihm wieder wohl.
. . . Was einem aber nicht genommen werden kann, das sind solche Dinge, die gar nicht in den Magen kommen, Dinge von seltsamer Natur, die halb aus Feuer, halb aus Wasser bestehen müssen, weil sie durch und durch erwärmen und zugleich wie das Meer alles in sich abspiegeln. So ein Ding ist, wenn man den Shakespeare mit dem Eduard liest oder bei ihm ist, oder wenn man Freundschaft und Liebe ohne alle irdische Rücksicht fühlt, oder wenn man vor dem elendesten Holzschnitte weint, weil er den Kopf des Mozart vorstellen soll . . .
An Eduard Mörike
Ernsbach, 28. Juli 1826
. . . Du hast das einzige Mittel, zur Gewißheit zu kommen, schon genannt: wir wollen uns prüfen! Und billigst Du es nicht, wenn ich in dieser Zeit die Geschichte der Hohenstaufen recht durchmache, und willst Du's nicht auch tun? Denn dies gehört auch zu jener Prüfung. O und wenn wir dann zusammenkommen und Rat halten in aller Stille und uns die Beute teilen! Und weißt Du, wo wir das tun könnten? In Ingelfingen, wenn Du zu mir kommst, können wir ganz ungestört tageweise im Schlosse sein. Drei hohe Stiegen geht man hinauf, kommt an eine alte, nur halb feste Türe; drinnen ein altes, düstres Zimmer, auf der Seite ein ungeheurer Ofen, auf dem man die alten Kurfürsten reiten sieht; dann Zimmer an Zimmer, unheimlich, unüberzogene Betten darin; hinter diesen Zimmern finstere Rumpelkammern und heimliche Treppen. Überzüge zu den Betten schaffe ich her, und dann schlafen wir darinnen, und das im Ernste gesprochen. Ich habe schon oft gedacht, ich müßte närrisch werden, wenn ich einmal mit meinem lieben, herzigen Eduard in diesen Gemächern sein könnte. Du wirst sehen, daß ein solches Leben an unsere Ideale von dergleichen grenzt; z. B. wir gehen zuerst in das Gebäude, wo die Prinzessin wohnt, ich hole dort von der Schloßverwalterin die Schlüssel: nun weiß ganz Ingelfingen nicht, daß wir darinnen sind, wir aber können von dort in die Gassen horchen, wir hören die Leute in den Häusern plaudern. Vor einem Bette hängt ein langer, grüner Vorhang herunter; sooft ich hinsah, meinte ich, er müßte sich lüften und ein alter Fürst heraussehen und winken, warum ich ihn in seiner langen Ruhe störe. Eine einzige Mücke, wenn sie am Fenster hin und her fliegt, bringt einen sonderbaren Lärm hervor, und ihr Gebrumme vermischt sich undeutlich mit dem Rauschen der hohen Pappeln im Schloßgarten; auch den Kocher hört man hinter den Pappeln her: kurz, es ist so ein Zimmer, wo man, wenn man allein ist, sich zu Tode bängeln kann . . . Du, und wenn wir uns dann, was wir fertig hätten, vorläsen, und dann jeder des andern Sache viel schöner fände und seins nur gleich wegschmeißen möchte! Und wenn wir sagten: »Hör mal, Bruder! der Barbarossa dauert mich doch, denn ein roter Bart ist etwas Affröses, besonders bei Damen!« – Ja, ich kann mir nichts Herrlicheres denken, als daß Du mit daran willst; denn was täte ich allein in der Werkstatt? Ich meine, wir müßten uns viel lieber kriegen und immer lieber, wenn wir so an einem Stück Holze drechseln . . .
An Eduard Mörike
Helmin, 16. August 1816
. . . Du glaubst nicht, wie hell heute Orplid vor mir liegt. Dort drüben über ein Dach herein sieht ein Pappelbaum, seine Blätter biegen sich im Winde zurück, und ich weiß, der Fuß des Baumes ist naß vom Kocher; denn er steht auf der Insel, wo ich neulich mit meiner Schwester im Shakespeare las und wo ich bald auch mit Dir sitzen werde. Ja, wenn ich Dich wiedersehe die hellen Tränen habe ich eben vergossen, als ich alle die Tage durchdachte, wo wir mit Pfeilen schossen in Deinen Garten, wo die Myrmidonen starben, wo uns die Sonne Homers leuchtete in der heiligen Frühe, auf dem Berge hinter der Ammer, wo Orplid geboren ward und wir uns freudig wiederfanden in einer neuen Heimat. Aber die Schatten des Abschieds fielen weit herein: unsre Gesichter wurden dunkel davon – ich glaube, es war eine Wohltat der Götter, denn so im vollen Anblicke Orplids und unserer Liebe hätte ich es nicht vermocht, von Dir zu scheiden. Es ist sonderbar, eines Morgens kam ich zu Dir, Du sagtest: »Bauer, mir hat geträumt, wir hätten Händel gehabt.« Bald kam die Zeit, wo wir uns nicht recht kannten. Der Bogen verlor sich, Orplids Pfade wurden ungangbar, mich schraubte und plagte das alles, was sich jetzt mit mir verändern sollte, ich tat mir Zwang an: der letzte Tag war gekommen, wir gingen auseinander, ohne zu wissen wie. Wir trennten uns, wie oft in den Wolken eine Zeitlang eine Gestalt sichtbar ist, nachher verlöschen die Züge, eine Wolke fliegt dahin, die andre dorthin . . . Ja, wenn wir wieder einmal beisammen sind und auf den Inseln ins Wasser gucken, in den Büschen Versteckens spielen, mit der Wasserspritze nach Myrmidonen schießen, kurz, den alten Handel wieder anfangen, und Neues mitunter, dann soll Freude sein in der Halle zu Helmin. Wirklich bin ich immer am »Maluff« [Orplid-Drama]; bis zum Herbst muß er so prächtig abgeschrieben sein, daß man ihn nicht lesen, sondern abschlecken möchte. O mache doch auch Dein Orplidsstück, weißt Du, mit dem sonderbaren Gott, der eine Art von Hanswurst der Götter ist . . .
An Eduard Mörike
Ernsbach, 25. Februar 1828
. . . Diese kuriose Äußerung bringt uns plötzlich den sichern Mann und den Uchrucker [Buchdrucker] und den Herrn Profensor [Phantasiegestalten] in Erinnerung, die längst auf uns warten; wir lassen Shakespeare und Mozart und alle miteinander stehen, rennen aus dem Schlosse, um die Herrn zu suchen, was uns natürlich veranlaßt, in irgendeine Winkelkneipe zu schlüpfen, wo wir bei Tobak und Bier tun, als ob wir gar nicht wüßten, was Barbarossa auf deutsch heißt, bis uns der sichere Mann mit vielem Hüsteln belehrt, daß es von dem altfranzösischen Ausdruck Barbaresken herkomme und soviel bedeute als: ein Mensch ohne comme il faut, ein Ignorant. Du! wenn aber alles dies nur Geschwätz bleiben sollte? wenn Du doch nicht kämest? Gelt, ganz gewiß, Du kommst!
An Wilhelm Hartlaub
Helmin, 9. Oktober 1829
. . . Eduard war gerade mit seiner Luise spazierengegangen. Die Pfarrerin ließ mich rufen. Als Eduard kam, durfte er, unter dem Vorwande, daß er warten müsse, bis ein schöner Zwetschgenkuchen fertig wäre, nicht in die Stube; indes drängte ich mich hart an die Kammertüre: die wird geöffnet: da steht er und staunt. »Schöpfer, wo naus?« waren seinen ersten Worte. Dann trillte er mich wie toll durch die ganze Stube, schleppte mich in sein Studierstübchen. Es war, als wären wir nie getrennt gewesen. Der Uchrucker und Profenssor flammten gleich wieder vor uns auf. Dann führte er mir seine Luise vor, ein bildschönes, hingebendes, liebeatmendes, seelengutes Geschöpf. »Aber Eduard«, sagte ich, »eines muß geschehen: wir müssen nach Tübingen!« – »Morgen«, antwortete er, »gleich morgen«. Die Pfarrerin hatte unsere Betten zusammengerückt, und nun ließ sich Eduard, während wir beide unsre Pfeifen zum Bette herausstreckten, bis nachts ein Uhr fort und fort in Witzen aus; er scheint mir womöglich noch lebendiger und geistreicher als früher zu sein. »O, diese Nacht«, sagte er, »es ist kaum soviel Dunkel in ihr als in einem Elfenarsche.« Mittwochs um neun Uhr waren wir auf dem Wege nach Tübingen. Die Zeit und die Welt um uns her war für uns verschwunden: ein Zauber fiel auf unsre Sinne, wir liefen bald recht, bald irr, bald vor-, bald rückwärts, und die Sonne war schon untergegangen, als wir bei der Tobieslerin anlangten. Ulmerbier! war nun die Losung. Mörike sprudelte von Witzen. Nach acht Uhr schwärmten wir durch die winklichten Straßen der Musenstadt und übernachteten endlich im »Lamme«, schliefen aber erst um zwölf Uhr ein. Donnerstag um sieben Uhr saßen wir bei der staunenden Beck-Beckin [Kneipe]. Als die Morgennebel sich teilten, schweiften wir auf dem Schlosse in der Schloßküferei umher; von ein Uhr an erneutes Kneipen, dann eilten wir, über die Mauer hinweg, auf Pressels orplidischen Turm. Die Läden werden aufgeschlagen, die Sonne schwelgte wie ehemals auf dem Österberge; mit dampfender Pfeife schauen wir, als müßte es so sein, zu den Fenstern heraus, als ein Diener der Preßlin in den Garten kommt, Holz spaltet und uns bemerkt. »Um Vergebung! Sind Sie durch die Tür gekommen?« Mörike (vornehm grob): »Nein!« »Wie denn?« Mörike ebenso: »Durchs Schlüsselloch.« »Haben Sie mich nicht zum Narren: ich will wissen, wie Sie hereingekommen sind?« Mörike wie oben: »Wie heißt Er?« »Brodbeck«. Mörike: »Brodbeck! Kümmere Er sich nicht um das Vergangene: es ist genug, daß wir da sind.« Und nun brachte er ihn durch die tollsten Witze so weit, daß er uns tausendmal um Verzeihung bat. Wir blieben dann, solange es uns gefiel, und dämmerten dann in die »Beck-Beckei«, wo Student Eisner mit einer Kutsche harrte und uns hinauf nach Waldenbuch in die »Krone« kutschierte. Eisner schlief ein; wir plauderten bis nach zwölf Uhr . . .
Am Samstag kam der Louis [Mörike], der Gehülfe des Amtsnotars in Nürtingen ist. Mörike wird in die Studierstube gesperrt, entflieht aber mehrere Male, bis er sich endlich fixiert zu haben scheint. Bald darauf kommt er wieder und sagt, er sei fertig, worüber männiglich erstaunt; mir aber raunte er ins Ohr: »Ich habs aufgegeben, es kommt doch nichts dabei heraus.« Nun entspann sich ein so heimlicher Abend, mit Gespenstergeschichten tapeziert, daß man so recht die Empfindung der einbrechenden Nacht hatte. Um zehn Uhr legten wir uns. Im Bette, während Eduard in einem Predigtbuche nach Ideen fahndete, erfand er eine neue Person, die wir den »Pourquoi« betitelten. Der Kerl kommt nämlich, sooft er Gründe anführen will, in ein solches Stocken mit »nämlich – ä – natürlich –« und dergleichen, daß der Zuhörer kaum mehr zu atmen fähig ist; und dabei hat er die Kaprice, grade immer das erklären zu wollen, was sich platterdings von selbst versteht. Sodann stellte Eduard einen Pfarrer vor, der dem Süskind [Oberhofprediger] mit vielem Selbstvertrauen expliziert, daß »er immer das reine Euangel predige«; als ihn nun Süskind fragte, was er denn unter dem »reinen«, das er sooft nenne, verstehe, ergab es sich, daß er nämlich bloß das »Euangel« vorlese, ohne darüber zu predigen. – Der Sonntag tagte endlich. Man mußte dem Eduard das Wort geben, ihm nicht in die Kirche zu gehen, und man hielt es . . . Er hielt Kinderlehre, und nun nahmen wir von den lieben Plattenhardtern Abschied und pilgerten mit dem Louis nach Bernhausen und von dort nach kurzem Aufenthalt Nürtingen zu. Es wurde Nacht, der Mond flimmerte am Himmel, die Abendglocken tönten, und siehe da, plötzlich erwachte der »sichere Mann«, vielleicht noch herrlicher als in der glänzendsten seiner früheren Perioden. Er begann mit unmutigen Reflexionen über die Gestirne, weil er diesen nichts anhaben kann, er nannte die Sonne eine Rauthstrunsel, den Mond einen grünschissigen Blitz, einen unnaitigen Zinnteller.
Sodann sang er einen Liedervers, den er einmal gehört hatte, während er das Wasser an einer Kirche abschlug, auf eine so infame, bäurisch trillernde, wasserorgelnde Weise, daß ich fast närrisch wurde. Höre nur etwas davon:
»›Mein Glaub ist meines Lebens Ruh
Und führt mich Deinem Himmel‹ –
dui Staig von Nürtingen muß i au wieder amol woiche [weich machen], dui brunz i voll, daß 's pflatscht –
›zu,
O Gott, an den ich glaube‹ –
morge um neune ka i dort sei, no wurd uffgschnallt« usw. usw.
. . . Du, Eduard hat angefangen, den Hohenstaufen Enzius dramatisch zu bearbeiten, und mir das Versprechen geben müssen, es wirklich auszuführen. In seinem Kopfe stecken allerlei Lustspiele von einer neuen, würdigen, ans Zauberhafte grenzenden Art. In betreff seiner Amtsführung nahm ich mir die Freiheit, ihm Vorstellungen zu machen. Denn er versäumt es z. B. monatweise, Leichen und Hochzeiten aufzuschreiben, und muß dann die Data aus hundert Papierschnipfeln zusammenlesen. Als ich ihn fragte, ob er auch manchmal in die Schule gehe, antwortete er: »Auf Päderastie habe ich nie viel gehalten.« In ein paar Wochen ziehen sein Kind [Luise] und dessen Leute nach Grötzingen, anderthalb Stunden von Plattenhardt, denn in Grötzingen wohnt die an den ehemaligen Repetenten Denk verheiratete Schwester des Kindes. Bis Martini etwa wird Eduard auch anderswohin versetzt werden. Sein Studierstübchen ist getäfelt, und die Ratten poltern hinter dem Getäfel. Am ersten Tage spuckte er vor Tollheit nicht auf den Boden, sondern an die Decke, ans Getäfel, mit dem Beisatze: »Ich bin stark daran, mein Stübchen zu vergipsen.« . . .
An Eduard Mörike
Stetten, 10. November 1832
. . . Weit haben wirs in der Enthaltsamkeit gebracht, können jahrelang unser Leben fortspinnen, ohne nur zu fragen, ob dem andern das Trumm noch nicht ausgegangen sei, können ein paar Stündchen weit voneinander wohnen, ohne daß es nur einem einfiele, nach dem andern zu gucken. Für diesmal aber bin ich nicht imstande, das Maul zu halten, da ich eben Deinen »Nolten« durchgelesen und mich wieder ganz in eine schöne Zeit zurückgelebt habe, wo wir diese haushälterische Freundschaft nicht für möglich gehalten hätten. Denn »Nolten« ist, ohne Ruhm zu melden, ein Meisterstück, ausgezeichnet durch Wahrheit und psychologische Tiefe, während sich ein leiser, bänglicher Hauch von Poesie auch über die klarsten Züge des Gemäldes verbreitet. Denn unheilkündend ist der ganze Horizont, der Noltens Leben umfängt, selbst die Farbe der Gegenden, der Flug der Vögel ist wie vor Ausbruch eines Gewitters. Es ist nicht möglich, etwas zu hoffen, und allmählich geht das düstre Vorgefühl in ein Grauen über, wie es nur die Mitternacht oder Shakespeare in mir wecken konnte, ein Grauen, das überhaupt nur dann in uns entsteht, wenn wir auf recht künstlerische oder rein menschliche Weise eben bis an den Saum eines Jenseits gehoben werden, ohne dabei das Diesseits zu verlieren . . . Ich habe es bisher für unmöglich gehalten, sich so ganz in einem Produkte abzuprägen, wie Du dieses Werk zu einem Abbilde Deines Geistes gemacht hast. Unsre ganze Vergangenheit, die schönste meines Lebens, ist vor mir abgerollt. Wieder durchlebt hab ich die Stunden, als wir, ohne uns zu kennen, im Postwagen miteinander nach Ludwigsburg reisten, noch einmal bin ich mit Dir, Arm in Arm, von Waiblingers Gartenhause heimgetaumelt, habe den Quell im Brunnenstübchen unter uns rauschen hören, das Licht an der Felsenwand brennen sehen, habe mit Dir auf Orplids Turme gewacht und die Gazellen geschaut, die, über den Morgentau hüpfend, nur Fläche des Niwris eilten. Klar ist es mir geworden, warum mich in Deiner Gegenwart immer, oft ohne daß wir ein Wort gewechselt hatten, eine so tiefe Wehmut überfiel und die höchsten Fragen des Lebens bestürmten und ein geheimer Zauber wie in ein Meer von Poesie hinuntertauchte . . .
An Wilhelm Hartlaub
Stetten, 5. April 1834
. . . Grade einen Tag vor meinem Examen hörte ich einmal wieder etwas von Eduard; aber nicht Erfreuliches: er hat seine Luise nach manchen Kollisionen, wobei auch der Scheerer Amtmann [Karl Mörike] ins Spiel kam, aufgegeben. Ich schrieb ihm einen Brief voll Vorwürfen, worauf er vier Wochen in einem Gartenhause bei Hohenheim lebte, ohne etwas von sich hören zu lassen. Er schrieb dort wahrscheinlich an der »Bekehrten Phantastin« [»Lucie Gelmeroth«]. Gegenwärtig ist er Pfarrverweser in Owen, wo er schon einmal vikariert hatte. – Schade, daß der Kerl nicht weiß, was Treue heißt! Sonst müßte man ihn recht liebhaben können.
An Wilhelm Hartlaub
Stuttgart, 18. November 1837
. . . Alle Bekannten Eduards sind auf seine bei Cotta erscheinenden Gedichte begierig, von denen ich manche zu dem Schönsten zähle, was die deutsche Lyrik besitzt. Und Du darfst nur glauben, daß mir ein echtes Lied nicht weniger gilt als eine Arie von Mozart oder ein Adagio von Haydn und daß mich nichts so schnell gefangennehmen kann als solche Ergüsse, die uns jählings umwogen und aus jedem Fleck der Erde eine Insel machen, von der man ungerne wieder scheidet. –