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Die letzten Ferien nach abgeschlossener Studienzeit haben unstreitig ebensoviel Wehmütiges, als sie nur immer Hoffnungsvolles haben können. Es sind keine Ferien mehr. Ich sah mich wie den Fisch, der erst noch wohlbehaglich sein helles Reich durchschwamm, mit einemmal ans Trockene geworfen, und leider fand sich ein neues Element, um eilends wieder unterzutauchen, nicht gleich in der Nähe. Als junger Doktor im Begriff, nach meiner Vaterstadt zurückzukehren, beschloß ich, vorerst einen kleinen Abstecher nach dem Gute meines Oheims, des Professors Killford, zu machen, der als Gelehrter in den besten Jahren seit einiger Zeit im Privatstande lebte. Ein vorläufiger Brief hatte mich bei ihm angesagt. Der eigene, jovialische Mann war mir immer merkwürdig gewesen. Er hatte vordem an der Universität G. als ordentlicher Lehrer der klassischen Literatur gestanden, in welcher Eigenschaft er weniger durch ausgebreitete Kenntnisse als eine geschmackvolle Behandlung seines Gegenstandes Glück gemacht und den Neid gewisser Matadore erregt zu haben scheint. Sein eigentliches Fach waren die Naturwissenschaften gewesen, wofür jedoch zum Unglück nirgend eine Stelle offenstand, allein der Eigensinn eines Ministers wollte den ehemaligen Hofmeister seines Hauses durch einen Lehrstuhl, welcher es auch wäre, in aller Eile ausgezeichnet wissen. Die hämische Art seiner Kollegen, verschiedene Neckereien verleideten indes dem tätigen Manne die aufgedrungene Stellung ganz, und wie er nicht ohne Ehrgeiz und Leidenschaft war, so nahm er kurz vor seinem Abgang noch Gelegenheit, einen dieser Gelehrten, der ihn am bittersten gereizt, durch eine scharfsinnige und schlagende Kritik eines physikalischen Programms vor der ganzen Akademie zu bestrafen. Killford hatte sich dabei hinsichtlich seiner Wissenschaftlichkeit von einer bisher kaum gekannten Seite auf eine glänzende Weise gezeigt. Seine Verehrer triumphierten, aber leider hatte er unter der Hand Anstalt zu seiner Entlassung getroffen. In einem bescheidenen Vortrag nahm er eines Tages Abschied von seinem Wirkungskreis und hinterließ bei allen Gutgesinnten die schmerzliche Betrachtung, wieviel ein solcher Mann, hätte er seinen wahren Platz einnehmen dürfen, der Akademie gewesen sein würde. Ein bedeutendes Vermögen setzte ihn instand, mit größter Unabhängigkeit seinem Studium zu leben, und seine Frau, die ihn unsäglich liebte, ließ sich den Ankauf eines Landsitzes bei einem ansehnlichen Dorfe nicht ungerne gefallen.
Killfords Haus lag vereinzelt am Ende des Orts. Noch erst vor fünf Jahren von einem Edelmanne neu erbaut, verhieß sein munteres Ansehn von außen schon eine helle, gesunde Wohnlichkeit. Der schmale, aufgemauerte Vorplatz zwischen Haus und Landstraße war durch ein Ziergärtchen ausgefüllt, dessen Rosensträucher und Schlingpflanzen in die Fenster des untern Stockes reichten; ein weißer dünner Zaun mit einer Mitteltür umhegte das Ganze.
Ich langte erst bei später Nachtzeit an, es schlug zwölfe vom Dorf, und alles lag zu Bette, nur kam mir der alte Bediente des Oheims entgegen, der auf den Fall beordert war, mich zu empfangen. Ich ließ mir ohne Geräusch mein Schlafzimmer zeigen, wo sich Erfrischungen auf einem reinlich gedeckten Tischchen von der vorsorgenden Hand meiner Tante aufgestellt fanden.
Nie aber werde ich vergessen, wie ich nach einem kurzen Schlummer gegen drei erwachte und im anstoßenden Zimmer durch die verschlossene Tür eine Mädchenstimme jemanden ansprechen und eine Unterhaltung fortführen hörte, die, wenn sie gleich nur einem kranken Kinde galt, nicht minder alten Leuten das Herz erfrischen und die Augen munter halten konnte. Wer mag meine Nachbarin sein? frug ich mich hin und her. Vom Hause selbst war niemand, dem diese Stimme angehören konnte, die Aussprache schon ließ keine Deutsche von Geburt vermuten, die Lieblichkeit des Tons ging über jede Vorstellung. »Schmerzt denn der Arm wieder so?« war die Frage der Fremden. »Wär es nur Tag«, erwiderte der Kleine, den ich sogleich für Ottmarn, Killfords zehnjährigen Knaben, erkannte. »Es wird bald werden«, versicherte die Unbekannte. »Der Mond scheint gar zu prächtig, ich zieh den Vorhang auf, so wird's dir leichter.« Ottmar bat um eine Erzählung, sie sann eine Weile und sprach:
»In jenem kleinen Tale, es heißt der [Lücke], du weißt ja, gegen die Ziegelhütte hin, befindet sich ein Stückchen Buchenwald und gleich dabei die wenigen Weingärten hiesiger Markung. Dies ist nun ein sehr wunderlicher Platz, von dem der krumme Gunnefield mir oft die besondersten Dinge erzählte. Dir ist vom Vater längst bekannt, daß von Gespenstern oder Geistern, wie einfältige Leute sich damit fürchten machen, niemals etwas zu halten ist. Verstorbene besuchen die Erde nicht mehr, was auch den Lebenden ganz recht sein kann. Allein von einer Sorte kleiner, geistartiger Wesen hab ich seit langer Zeit bestimmte Kunde und preise den glücklich, der nur einige Bekanntschaft mit diesem niedlichsten und spaßigsten Geschlecht der Erde machen durfte. Verwichenen Herbst in einer stillen Nacht begab ich mich mit Gunnefield, dem meine Neugier keine Ruhe ließ, an den bewußten Ort.« [Bricht ab.]
Soweit erzählte die Fremde. Ottmar schien eingeschlafen, kein Laut mehr ließ sich hören; mir selber flossen die Bilder des Märchens gar bald mit dem Spuk meiner eigenen Träume zusammen.
*
In meines Oheims Haus war man von jeher frühe, und ich begrüßte die Familie in der Vorstube, die sozusagen schwamm in lauter Morgensonne. So klein wie groß umringte den lang nicht gesehenen Vetter; besonders freuten mich die Kinder; sie fremdeten so lange, bis ein blonder, unbändiger Rollkopf, der mich allein noch erkannte, zur Tür herein auf mich zusprang, da denn sogleich auch die andern meine Vetterschaft in allen Gliedern spürten und jedes einen Finger meiner Hand für sich zu kriegen eilte, auch alle mit Lebhaftigkeit mir erzählten, wie Ottmar neulich auf der Schaukel verunglückt wäre. Das Kleinste auf dem Arm, kam meine Tante, ein blühendes, natürliches Weibchen, soeben aus der Krankenstube. Die Frage, wie mir's diese Nacht ergangen, führte sogleich auf meine merkwürdige Wandnachbarschaft. Man nannte mir die Tochter eines Baronets von Leithem, Mary. Der Vater hatte in früheren Jahren als Gesandter seines Hofs im Lande gewohnt und an der nur zwei Meilen von hier entfernten Residenzstadt aus einem angesehenen deutschen Hause nicht ohne Widerspruch von Seiten der Seinigen eine Katholikin zur Frau gewählt, mit welcher er nach Niederlegung jenes Amtes in sein Vaterland reiste, wo er sie durch den Tod verlor. Deutschland war ihm indes unvergeßlich geblieben. Vor einem Jahre machte er mit seiner zweiten Gemahlin, mit deren Tochter erster Ehe und seiner eignen geliebten Mary einen Besuch, und da er ganz in der Nähe das kleine Jagdschloß Bärenrieth bewohnte, das ihm von seinem ersten Aufenthalt her als Eigentum geblieben war, so machte sich diese Bekanntschaft mit meines Oheims Hause von selbst.
»Wir hatten«, fuhr die Tante fort, »Veranlassung, ihm einige Gefälligkeiten zu erweisen, er zeigte sich sehr dankbar und, gegen die Art seiner meisten Landsleute, stets heiter und gesellig; er kam öfter zu uns herüber. Killford hatte das Glück seiner besonderen Gunst, sie brachte[n] manche Stunde im physikalischen Kabinette miteinander zu. Dazwischen war immer von einer weitern Reise nach der Schweiz und dem Tirol die Rede. Als es nun endlich dazu kam, trat ein unerwarteter Übelstand ein. Mary ward krank. Doch unter uns gesagt, sie suchte einen Vorwand, dazubleiben. Niemand befand sich wohl in Lady Annas Nähe, besonders aber war sie Marys Antipathie, die immer auch am meisten von ihrer Unzartheit zu leiden hatte. Als sie daher den Vater aufs inständigste bat, sie indes hier zu lassen, wo es ihr in der Tat ganz wohl behagte, so ließ er ihr zuletzt nach vielen Tränen ihren eignen Willen, sie ward mit guter Art bei der Gesellschaft entschuldigt. Der Baronet hatte seine Gründe, warum er sie nicht gerne in der Stadt bei den Verwandten ließ; so kam sie denn zu uns, wo sie vollkommne Freiheit hat, nach ihrem Sinne zu leben. Sie findet keinen Geschmack an den Vergnügungen der großen Welt, besonders mag sie gerne einsam sein, daher sie manchen Tag da draußen auf dem Schlößchen zubringt. Du wirst« – so schloß die Tante – »ein reizendes Mädchen kennenlernen.« – »Ein wunderliches, wolltest du hinzusetzen«, bemerkte Killford lächelnd, »denn du besannst dich auf ein zweites Beiwort. Nun ja, geht mir's doch selber mit dem Mädchen, wie einem zuweilen mit Logogryphen geschieht: kaum glaubt man einen Teil des Wortes glücklich weg zu haben, so stößt man auf neue Merkmale, welche nicht stimmen, und man wird so vom Hundertsten aufs Tausendste geführt.« [Bricht ab.]
»Überhaupt aber ist's doch gewöhnlich nur unser natürlicher Egoismus, der einen fremden Charakter nicht begreifen will. Ich kann mich nicht drein finden heißt dann nur soviel: ich könnte diese, jene Eigenheit, ich könnte solche Neigungen nun einmal schlechterdings in meine Natur nicht aufnehmen. Am Ende, wenn wir lange genug zugesehen haben, wie doch dem anderen all das so natürlich ist, wagt man sich wohl einmal auch aus sich selbst hervor und ist gewonnen, eh mans dachte. So liebt meine Frau diese Mary und liebt sie just um das am meisten, warum sie sie am wenigsten liebt. Siehst du, Vetter, wenn deine Logik das verdauen kann, hier bieten Darum und Warum einander den Rücken und küssen sich über die Achsel. Schade, daß unsere Theologen ihren Vorteil nicht besser verstehen, sonst ließe sich aus solchen Phänomenen vielleicht der Abfall guter Geister ganz bequem ableiten. Ich muß doch bei Gelegenheit unsern englischen Magister ein wenig hierauf deuten.«
Auf meine Frage, wer dies wäre, vernahm ich, es wohne im Haus noch ein junger Mann, Master Thomas genannt. Er hatte sich früher im Hause des Baronets um die Erziehung und Bildung eines Neffen desselben ein bleibendes Verdienst erworben, war später für die Sache der Kirche und insbesondere der Mission gewonnen worden und hatte nun verschiedene Gegenden Deutschlands besucht. Zuletzt traf er mit Leithem hier zusammen und erhielt von dem Professor aus Freundschaft für jenen die Erlaubnis, auf einige Zeit sein Quartier im Hause zu nehmen, in der Absicht, die Bearbeitung gewisser Schriften aus Auftrag seines Instituts mit aller Muße zu vollenden. Er war mit einer Kammerfrau der Lady Leithem verlobt, die sich mit dieser jetzt auf der Reise befand. Sie hatte das Lob eines vortrefflichen Frauenzimmers, welches im Munde meiner Tante ein seltenes Zeugnis war.
Unter mancherlei heitern Gesprächen wurde das Frühstück aufgetragen. Ein gutgewachsener Mann, Herr Thomas, trat herein, und ich bemerkte, daß mein Oheim in seiner Gegenwart sich einigen Zwang antat; doch mir mißfiel der britische Hausfreund keineswegs. Anständig, ruhig war sein ganzes Wesen; seine offene, helle Physiognomie drückte ungeheuchelte Demut aus, und seine Blicke hatten, wenn sie auf jemand ruhten, etwas still Eindringendes, das keinen abschreckte.
Nun erschien auch Mary. Sie führte ihren Liebling Ottmar an der Hand, einen ernsthaft aussehenden Knaben, welcher den Arm noch in der Schlinge trug. Jedoch sie selbst! Fürwahr, mir kam im Leben nichts Ähnliches vor. Ein zierlich langer Hals erhöhte die leichte, nicht eben große Gestalt. Sehr reich geflochten laufen schwarze Zöpfe kranzartig an der klaren Stirn hin, die, von der Natur mit geistigem Finger aufs schönste gebildet, über einem Paar nachtblauer Augen steht; von da verschmälert sich das liebe Angesicht abwärts nach dem schwach vortretenden Kinn. Der dünne Mund [Lücke]. Übrigens schien mir, ich weiß nicht warum, ein blaßgelbes, einfaches Kleid, worin ich sie nie wieder sah, ein breiter Gürtel von sonderbar schwarzer Zeichnung so recht im Begriff dieses eignen Wesens zu sein. Wir tranken den Kaffee, und ich, zu einigen Mitteilungen über mein bisheriges Schicksal durch die Tante aufgefordert, war wie beschämt, vor diesen Fremden von Dingen reden zu sollen, die ihnen, wie ich mir einbildete, doch immer kleinlich gegen ihre Verhältnisse vorkommen oder doch gleichgültig sein mußten. Allein zum wenigsten Herr Thomas hörte, zwar ohne auch nur eine Miene zu verändern, mit sichtbarer Teilnahme zu; und als auf einige bekannte gelehrte Anstalten die Rede kam, bewiesen alle Äußerungen einen sehr unterrichteten und billig denkenden Mann, welcher von jener Seite die vorteilhaftesten Begriffe von unserm Vaterlande hatte.
Wir wurden durch einen fröhlichen Lärm vor der Tür, unterbrochen. Auf einmal brachte Ottmar als große Neuigkeit vor, was er soeben entdeckt hatte: »Vater«, rief er lebhaft, »die Nacht sind auf deiner Stube zwei Mäuse zumal gefangen worden, fast glaube ich aber auch, daß Mary hexen kann.« Über die Treuherzigkeit, womit das Kind dies sprach, lachte alles und am innigsten Mary. »Nun, da du meine böse Kunst einmal erraten hast, laß hören, ob du den Zauberspruch noch weißt, womit man um die Falle herumgeht, daß so ein Fang nicht fehlen kann!« Sogleich begann der Kleine den Vers:
»Liebes Mäuschen,
Da steht ein Häuschen,
Du bist geladen
Auf ein Stück Braten,
Stell dich nur kecklich ein
Heut nacht bei Mondenschein,
Mach aber die Tür fein hinter dir zu.
Hörst du?
Dabei hüte dein Schwänzchen!
Nach Tische lachen wir
Und später machen wir
Ein niedliches Tänzchen: Witt, witt!
Meine alte Katze tanzt wahrscheinlich mit.
Man lachte wiederholt und spaßte. Der Oheim aber, zwischen Scherz und Ernst, bemerkte: »Wer unsere Lady nicht kennte, der möchte in der Tat aus dieser und so mancher frühern Probe besorgen, daß sie das junge Volk tiefer, als rätlich ist, in ihren magischen Kasten sehn lasse.«
Ich setzte mein Gespräch mit dem Engländer noch eine Zeitlang fort. Wir kamen auf die Eigentümlichkeiten seines Vaterlandes. Er ließ sich's nicht verdrießen, mir alles, was ich etwa sonst aus Reisebeschreibungen teils falsch, teils halb zu wissen schien, gewissenhaft zurechtzustellen, so daß ich vor seiner Gutmütigkeit wie vor seinen Kenntnissen die größte Achtung hatte. Nachdem er mit Mary, welche regelmäßige Lektionen abwechselnd von ihm und vom Oheim erhielt, aus dem Zimmer gegangen, fing Killford an: »England war mir in frühster Jugend vor allen kultivierten Ländern durch die dunkle Idee merkwürdig geworden, die sich von dieser Kaufmannsinsel und ihrem mächtigen Verbande mit allen Teilen der Welt nach und nach in mir gebildet hatte. Mein väterliches Haus lag in der Nachbarschaft eines großen Warenlagers in Hamburg. Ich weiß, mit welcher Ehrfurcht ich die neuangekommenen Güter ansah, vor allem aber, mit welcher Wonne ich den frischen Schiffsgeruch, der an den Ballen haftete, einsog! Dieses Gefühl, eins der lebhaftesten, deren ich mir aus meiner Kindheit noch irgend bewußt bin, wiederholte sich in reifen Jahren bei jeder Gelegenheit mit dem gleichen Reiz und konzentrierte mir in sinnlicher Stärke die ganze Mannigfaltigkeit eines reichen, großartig verzweigten, kunstfleißigen Lebens! Nun aber muß ich seit einiger Zeit erfahren, daß eine so liebliche Erinnerung sich mit der allerwidrigsten Nebenidee versetzen und zersetzen will, ja mir sogar ein körperliches Mißbehagen bringt.«
»Wenn dieses Wort«, erwiderte die Tante nach einer Pause mit freundlichem Vorwurf, »auf den guten Mann gesagt ist, der eben aus der Tür ging, so treibst du doch die Unbilligkeit etwas zu weit, und diese heimliche Tücke, lieber Alter, würde niemand hinter dir suchen. Du lässest auf der einen Seite der Rechtschaffenheit eines Menschen Gerechtigkeit widerfahren und kannst dich auf der anderen an seiner Frömmigkeit erbittern, an der Art, wie er sich seinem Berufe hingibt.« – »Ei was«, unterbrach sie der Oheim, »ich kann die Traktätchen nicht leiden!« – »Was schaden uns diese?« fuhr die Tante halb gegen ihn, halb gegen mich gewendet, fort; »er ist nun drei Wochen bei uns, wann fiel er uns irgend beschwerlich? wem drang er sich auf? Droben auf seiner Stube ist er der stillste fleißigste Mensch, und hier unten bei uns zeigt er sich einfach, nüchtern, klug, verbindlich.« – »Schon recht! alles gut«, versetzte der Onkel, »wenn ich nur nicht befürchten muß, daß Citis heitere, selbständig sich entwickelnde Natur zuletzt von jenem Einflusse leide, obgleich ich mit Vergnügen bemerke, sie dreht sich, was gewisse Regionen anbelangt, noch immer lieber auf meine Seite herüber. Übrigens laß ich ihn machen, und was das fromme Gedüftel hin und her mit seinen Übersetzungen von herzkranken Seufzern betrifft, die über den Kanal herüberkommen und mehr an Teer, Hering und Kabeljau als an das Evangelium erinnern, so werd ich mich, bleibt er lang genug hier, auch wohl daran gewöhnen. Unterdessen, wenn neue Kisten kommen und Bücher ausgepackt werden, laßt mich zwanzig Schritte davon bleiben.« Er küßte seine Frau gutmütig auf die Stirne, nahm ihr das Wickelkind vom Arm, trugs eine Weile singend auf und ab und ging zur bestimmten Stunde auf sein Zimmer.
»Das wärs nun wieder!« sagte die Tante. »Es ist der eine Punkt, wo ich ihn unfreundlich finde. Es setzte neulich Streit über gelehrte Dinge zwischen den beiden, da brach es vollends auf. Dein Oheim ward um so viel heftiger, je ruhiger der andere blieb, und selbst daß sie sich nachderhand versöhnten, machte die Sache nicht besser. Jetzt aber rate mir in einer Verlegenheit. Vorgestern kommt eine schwere Sendung vom Ausland, ich weiß, es ist ein Geschenk dabei für meinen Mann; Thomas ließ mir früher ein paarmal die Absicht einer Überraschung merken, nun aber steht das Kistchen uneröffnet droben, der gute Narr scheint in Not, wie er auf diesen bösen Handel an Killford kommen soll. Der Anlaß war ganz darnach, um feurige Kohlen auf das Haupt seines Gegners zu sammeln, doch gute Seelen fürchten sich vor einem solchen Triumph, selbst wenn sie dessen sicherer wären, als hier vielleicht der Fall ist. Nach seiner zarten behutsamen Weise nimmt Th[omas] vermutlich Anstand, mich um Vermittlung anzugehen. Nun gäb ich zwar für mich Killforden gerne einen Wink, allein da bekäme er nur Zeit, sich gegen die freundliche Meinung des [Lücke] Manns zu verhärten, und ich hätte die Ehre, den ganzen Spaß wieder auszufädeln.«
Was blieb meiner Tante hier anders zu raten, als daß sie Zeit und Umstände getrost abwarten möge.
*
Im Verlauf einiger Tage lernte ich den Engländer genauer kennen. Ich hörte durch ihn, es solle noch in diesem Jahr eine Gesellschaft von Missionaren nach [Lücke] gehn, an die auch er samt seiner Braut sich anschließen werde. Da er nun seinen notdürftigen Vorrat medizinischer Kenntnisse, die freilich seinem Stande nicht ganz fehlen dürfen, so viel wie möglich an mir stärken wollte [bricht ab].
Der Ernst dieses Mannes, verbunden mit einer Innigkeit, welche durch frühere Erfahrung mit Menschen sehr hart getäuscht, einen kleinen Ansatz von Mißtrauen so gerne zu überwinden strebte, die Konsequenz und Klarheit seines Wollens zogen mich an, und um so leichter, da seine religiösen Grundsätze meiner Erziehung von Hause aus nicht fremde waren. Es haftete so gar nichts Finsteres, Pedantisches an ihm; er konnte heiter sein und selbst ein Scherzwort in die Unterhaltung einmischen. Killford, dem unser häufiger Umgang nicht gleichgültig sein konnte, zog mich gelegentlich damit auf, während die Tante eine kleine Satisfaktion darin für sich fand.
*
Leider sollte ich in einer der folgenden Nächte auf eine ganz andere Weise als in der ersten beunruhigt werden. Ein gewaltiger Lärm auf der Straße, ein hastiges Zusammenspringen im Hause, gleich darauf der schauerliche Ton schnell aufeinanderfolgender Glockenschläge vom Turm hatte mich schon aus dem Bett geschreckt, als der Oheim mit Licht bei mir eintrat. »Alterier dich nicht zu sehr! Es brennt außer dem Orte, man kann vermuten in der Ziegelbrennerei: du sollst nachkommen, läßt dir der Engländer sagen, er ist schon fort; unglücklicherweise hält mein Katarrh mich zurück!« – Rasch angekleidet, eil ich nach dem obersten Boden, die Richtung des Feuers zu merken. Nach Westen stand der Himmel abwechselnd in helleren und matteren Gluten, je nachdem der dicke vom Wind gezogene Rauch bald stärker, bald schwächer empordrang. Der nahe Horizont unserer Ebene wird dort von einem spitzauslaufenden Walde begrenzt, dessen oberste Gipfel sich mit schauderhafter Deutlichkeit in die braunrote Luft einzeichneten. Es brannte demnach im Tale, und ich erinnerte mich sogleich eines ganz vereinzelten Gehöfts in dortiger Gegend. Im Begriff die Dachlücke zu verlassen, glaubte ich jetzt ein Frauenzimmer im leichten schwarzen Mantel aus der Haustüre über die Gärten wegschlüpfen zu sehen. Nur Mary kann es gewesen sein. Ich renne angstvoll nach und habe schon Haus und Garten im Rücken; auf zwanzig Schritte erscheint sie mir wieder, schnell wie ein Vogel über Acker und Wiesen vor mir hinfliegend, zwischen Hügeln und Graben auf und nieder tauchend und in gerader Linie nach der Hellung zu. Ich stürzte mehr als einmal zu Boden und war nur froh, solang ich die schwarze Gestalt noch im Auge behielt. Aber schon wird die Landschaft ganz licht um mich her. Das Jammergetümmel von unten zerreißt schon mein Ohr, und just am Punkte angekommen, wo man die Tiefe überblickt, was für ein Schauspiel des Grausens! Ein Nebengebäude sank eben zusammen, indem nun [das] Wohnhaus von der Windseite her die gepeitschte Flamme empfängt. Jetzt hört man näher und näher das dumpfe Gerassel der Spritzen des Dorfs, die einen starken Umweg, den halben Berg umfahrend, nehmen mußten. Ich suchte verwirrt und geblendet den Pfad von der Höhe abwärts und erreichte zuvörderst mit einem Sprung die bewässerte Kluft, die zwischen Wald und Weinberg den Hügel hinabführt: da sah ich mit Verwunderung Mary allein auf einem der Mäuerchen sitzen. Sie scheint aus Angst und Erschöpfung nicht weiter zu können. Mit heftigem Schluchzen nach dem Brande hindeutend, ruft sie mir entgegen: »Ja gehn Sie nur und helfen Sie auch mit, Öl zutragen!« Mir blieb keine Zeit, den seltsamen Worten nachzudenken: nur schnell berührte mich eine Erinnerung, daß ich mich auf dem Grund und Boden jenes nächtlichen Märchens befinde, dessen frohes Getümmel auf ewig vor solchen Schrecknissen entflohen schien. Nun bin ich am Platze; allein statt daß, wie zu erwarten war, alle die hundert versammelten Hände zu dem gemeinschaftlichen Zweck der Hilfe rasch ineinandergriffen, traf ich vielmehr eine empörte Menge in einer Art von Krieg aufeinandergehetzt. Es dürfe nicht gelöscht, es solle nichts herausgetragen werden, es sei ein Frevel wider Gottes Finger, schrien die einen mit unbegreiflicher Wut, indem die andere bei weitem größere Partei die Unvernünftigen zur Seite stießen, fluchten, beschworen, so daß die tüchtige besonnene Mannschaft, der ich mich anschloß, zwar unverzüglich freien Raum für ihren Dienst gewann, doch, immerfort durch leidenschaftliche Verwünschungen von da und dort bestürmt, nicht wußte, was sie denken sollte. Ich sah, indes ich meine Eimer reichte, den Engländer aus Leibeskräften die Spritzenleute unterstützen und weder Stoß noch Guß noch fliegende Brände beachten. Das Feuer aber, wenn es hier auf kurze Zeit gedämpft war, brach nur mit desto größerer Heftigkeit an einem andern Ende aus. Auch war, das Gebäude zu retten, die Hoffnung von den Mutigsten schon aufgegeben, nur denen, die von beweglicher Habe so manches durch Fenster und Türen teils warfen, teils trugen, sollte das Wasser den Weg noch eine kurze Weile offen halten. Jetzt aber hat der letzte Mann das Haus verlassen, die Zimmerleute stehn unschlüssig, ob sie zum Überfluß noch das Gebälke niederreißen, als man mit Staunen und Entsetzen am obern Giebelfenster einen fremden Jüngling wahrnimmt, der, in das grellste Licht einer hinten hervordringenden Flamme gleichsam wie in Goldgrund gefaßt, mit vorgestrecktem Leib den derben Ast eines nahestehenden Ahorns zu packen sucht, auch wirklich, eh man noch die Leiter bringen konnte, denselben glücklich erreicht hat. Er schleudert sich und klettert mit keck gewandter Schnelle bis tief in die Krone des mächtigen Baums, an dessen glattem Stamm herab er unverletzt zur Erde kommt. Auf leichten Füßen geht der herrliche Knabe eine Strecke vorwärts, auf eine dichte Menschengruppe zu, ihm scheint das Glück, das noch eben ein Wunder für ihn getan, so nah verwandt zu sein, daß er vergessen dürfte, ihm zu danken. Sein funkelndes Auge durchläuft den Kreis, der ihn als völlig Unbekannten mit großen Blicken mißt. Er faßt einen Alten ins Gesicht, den Vater der abgebrannten Familie, dem eine Frau mit dreien Kindern sich anhängt. »Schämt ihr euch nicht«, ruft der Jüngling voll Unwillen und Schmerz, »nun die Hände zu ringen und ein Mitleid zu suchen, das ihr nicht verdient? In wenig Augenblicken zwar liegt euer ganzer Quark in Asche, als Bettler seid ihr auf die nackte Erde gesetzt; doch hättet ihrs ganz anders haben können, wärt ihr zu rechter Zeit nach Hilfe ausgegangen. Damit ihrs aber wißt, mich dauert jedes Haar, das mir bei der traurigen Posse versengt ist, und euern Dank kann ich entbehren. Hab ich doch mit dem besten Willen fürwahr nicht Hellers Wert genützt. Unsinniger Aberglaube! verrückte Frömmigkeit! Wenn ihr den Zorn des Himmels durch bedachte Gegenwehr zu reizen fürchtet, ja wenn selbst der notdürftigste Besitz mitsamt dem Hause geopfert werden sollte, so wundert mich, bei Gott, wie ihr habt wagen mögen, diese Kinder aus der Wiege zu reißen, warum ihr euch selber dem Tod entzogen!« Die Weiber heulten laut auf bei den letzten Worten, sogar die Männer, soviel ihrer den Fremden bei dem übrigen Gelärm hatten vernehmen können, murrten über eine so harte Rede. Der junge Mensch war verschwunden, ohne daß ich erfuhr, wer er sei, oder was ihn in die Gegend geführt haben möchte. Sein kurzer, grüner Jagdrock, den er von Anfang abgeworfen hatte, seine feine Gesichtsbildung ließen die beste Abkunft vermuten. Der Tag fing schwach an zu grauen, als unter durchdringendem Wehgeschrei der letzte Rest des Gebälkes stürzte. Nachdem ich indes vernommen, daß den Unglücklichen schon ein Obdach im Dorfe ausgemacht sei, blieb hier für mich nichts weiter zu tun; ich sah mich nach Herrn Thomas um, der sich jedoch bereits verloren hatte. Von einer einzigen Fackel begleitet, nahm ich den alten, sonst nicht betretnen Weg zurück, in überflüssiger Besorgnis um das Fräulein. Unter hundert traurigen Betrachtungen über das ganze Ereignis kam mir im Gehen auch jenes Rätselwort Marys wieder in Sinn, wovon mir freilich vorkam, es klinge stark nach der unglücklichen Idee der verkehrten Menge, welche dem Brande Vorschub getan. Das Wahre an der Sache aber sollte sich erst nach mehreren Tagen ergeben.
Bei meiner Heimkunft höre ich, Mary sei getrost auf die Nachricht zu Bette gegangen, daß niemand, zumal von den Kindern, mit welchen sie gute Freundschaft gemacht, keines Schaden genommen.
Wenige Minuten nach mir traf der Engländer ein; ich stand an Killfords Bette, den Hergang der Begebenheit erzählend, da jener voll Eifer herein und auf den Oheim zutrat: »Verzeihen Sie, wenn ich störe – Wissen Sie wohl, wer in der Nähe ist?« – »Wer denn?« – »Viktor.« – »Um Gottes willen«, rief mein Oheim aus, »was denkt der Junge? Sie haben ihn gesprochen?« – »Ich hütete mich wohl, ihm zu begegnen. Er war beim Feuer tätig, verwegen, ich kann wohl sagen, brav und liebenswürdig nach seiner heftigen Art. Sein Aufenthalt ist mir und jedermann noch ein Geheimnis.« – Nun sprachen beide leiser zusammen, worauf ich mich denn still entfernte, nur hört' ich die Tante noch sagen: Daß es doch Mary ja verborgen bleibe!
Den andern Tag, da ich um zehn mein Schlafzimmer öffne, erstaun ich nicht wenig, das Gefährt meines Oheims vor dem Hause zu sehn und die Tante mit Mary zur Abfahrt bereit. Es war ein sonniger schöner Maimorgen. »Haltet wacker Haus, bis ich zu Abend wiederkomme, wir machen einen kleinen Ausflug«, rief mir die Tante auf dem Vorsaal entgegen, indem sie etlichen Personen einen großen Pack alter und neuer Sachen nebst einen Vorrat Lebensmitteln zur Verteilung unter die Verunglückten empfahl und Mary bei der Hand nahm, die schon an der Treppe stand und verstohlen freundlich bei allem darein sah; obgleich, wie mir deuchte, nicht ohne einiges Befremden über die eilige Expedition.
Der Oheim bezeichnete mir, wie sie weg waren, ein altes freiherrliches Ehepaar, das, in der Nachbarschaft wohnend, dem Fräulein schon seit Jahr und Tag um einen längeren Besuch anliege; »und«, setzte er hinzu, »da der Jammer von gestern dem Mädchen heftig zusetzt [so ohne Lücke] passend sein, daß man sie einige Tage aus diesen aufgeregten Umgebungen wegnehme.«
Zwar vor dir braucht man den eigentlichen Grund nicht zu verstecken, Vetter. Es ist nichts ungezogener, als den Gast, nachdem man irgendeine Heimlichkeit erst bei ihm blicken lassen, nachher mit allerlei Flausen und hustenden Gesprächsabläufen davon ausschließen wollen.« Und sofort hatte Killford kaum den Mund zu einer ausführlichen Erklärung aufgetan, als ihm der Geistliche des Orts gemeldet wurde, den er auf seiner Stube zu empfangen sogleich mit einiger Verwunderung sich anschickt.
Im hintern, größeren Garten treffe ich Herrn Thomas an. »Sie finden mich so wie ich Sie nachdenkend über die letzten Begebenheiten, die Ihnen zum Teil rätselhaft und wohl gar verdächtig sein mögen. Seit Ihrem Eintritt in dies Haus entging mir Ihr Interesse für Lady Mary und ihre Familie nicht. Sie machen hierin keine Ausnahme von den vielen Deutschen, welche mit Leithems Bekanntschaft gefunden: aber nicht ebenso unbillig und nicht so hämisch wie jene werden Sie diese Erscheinung von der Seite ansehen, nachdem Sie ihr einigermaßen nahekommen. Ich nehme es daher getrost auf mich, Sie etwas tiefer in das Innere dieser Verhältnisse blicken zu lassen, wenn Sie mir jetzt zuhören mögen.« – Ich gab dem wackern Manne meinen lebhaften Anteil und meinen Dank zum voraus zu erkennen, und er begann, indem wir beide niedersaßen: »Zuerst sei Ihnen unverhohlen: daß ich sowohl als Killfords uns seit lange stillschweigend gewöhnen mußten, den jungen Wagehals, den Sie die Nacht gesehn, und Lady Leithem entschieden als ein Paar zu betrachten, wenn wir es gleich weder vor Mary, ja kaum unter uns selbst geständig sind. Auf welchen sonderbaren Wegen sie sich fanden, wie weit ihr beiderseitiges Geschick auseinanderliegt und doch wie unzertrennlich es erscheint, erfahren Sie nachher.
Zugleich ist es mir aber Bedürfnis, mich bei Ihnen über eine Angelegenheit [?] auszusprechen, worüber ich mich sonst hier wenig äußern darf; Sie wissen, wie verschieden Ihr Oheim und ich in Absicht auf die ersten Bedingungen aller [Erziehung] urteilen. Notwendig sind wir deshalb wegen Mary uneins. Er läßt ihr überall unbedingte Gerechtigkeit widerfahren, sieht daher in allem nur das unschuldige Gepräge einer liebenswürdigen Originalität, dem er auf keine Art zu nahe getreten wissen will, das er um keine Linie anders wünscht. Dagegen berg ich nicht: mir macht es manche traurige Stunde, daß ein reich begabtes Gemüt sich ganz und gar, ja recht gewaltsam gegen dasjenige verschließt, was [Lücke]. Bekümmern muß es mich, daß jede höhere Forderung [Lücke] bei ihr durch die Herrschaft einer höchst seltsam gestimmten Phantasie verdrängt wird. Zwar findet sich dabei – zum Glück – auch nicht eine Spur der gewöhnlichen weiblichen Sentimentalität. Es ist, um es mit einem Wort zu sagen, ein [krankhaftes] Bestreben, die Imagination zum einzigen Organ alles [inneren Lebens] zu erheben. Sie sieht die Welt wie durch gefärbtes Glas, daher ihr leidenschaftlicher Hang [Lücke], Erfindung von Märchen usw. Von Dichtern liebt sie wenig oder nichts, und das Schauspiel insbesondere hat sie nie stark angezogen, wie sie denn eben von dem, was mit Recht Kunst heißt, niemals einen Begriff haben wird. Sie werden, was ich hier sage, erst in der Folge besser verstehn; denn seit Sie bei uns sind, hat sich die Lady noch nicht in ihrem wahren Element gezeigt, es wird aber wohl noch Gelegenheit geben. Jetzt will ich von Marys früher Jugend erzählen, woraus man freilich sieht, wieviele Umstände von Anfang sich vereinigt haben, um jenen romantischen Überfluß und jene Abneigung gegen die [nackte] Wahrheit zu erzeugen.
Ich habe das Folgende teils aus gelegentlichen Äußerungen des Vaters, teils aber, was die zartesten Punkte betrifft, aus dem Munde meiner Braut, die eine Zeitlang das Vertrauen Marys in hohem Grade genoß. Der Baronet Alfred Leithem, schon mit dem fünfundzwanzigsten Jahre zum Witwer geworden, brachte sein Leben seitdem, entfernt von seinen schön gelegenen Gütern, meist in der Hauptstadt zu – – –« usw. [bricht ab]
»Er hatte zu Wien eine edle Familie des ältesten Adels kennengelernt, von der einige Glieder im Begriffe standen, die katholische Religion gegen die evangelische zu vertauschen. Die junge Gräfin Helene, ein eben aufblühendes, geistreiches, heiteres Kind, der Gouvernantin noch kaum entwachsen und mit der größten Strenge erzogen, empfing den Vorbereitungsunterricht im neuen Glauben zu der Zeit, da unser Baronet die kleinen Zirkel des Grafen besuchte. Er, dessen Grundsätze dem Ernste der Familie entsprachen, wurde in kurzem als der erste Hausfreund gehalten, und seine Absicht auf die Tochter mißfiel um desto weniger, da ihr zu munteres Temperament an dem gediegenen Charakter eines liebenswürdigen Mannes, der gar nicht ohne Anspruch auf Jugend und Anmut auftrat, einen sehr wünschenswerten Halt gewinnen mußte. Auch gefiel sich das Fräulein gar bald in dem Gedanken, so frühe schon einen Gemahl, und zwar übers Meer herüber, zu haben. Genug, die Verlobung fand statt, die Heirat selber sollte erst nach Jahresfrist vollzogen werden. Sir Leithem ward indessen durch ein Geschäft nach seinem Vaterlande gerufen. Des Grafen erste Sorge blieb derweile, seinem Schwiegersohn, wenn er zurückkäme, eine gute Protestantin in die Arme führen zu können. Der Unterricht war gleich anfangs durch unverhoffte Schwierigkeiten von seiten des gekränkten Klerus unterbrochen worden, und jetzt, da er aufs neue begann, fiel er einem angehenden Geistlichen anheim, bei dessen Wahl ein allzu günstiges Vorurteil für sein Talent (ja eine Grille des Grafen) entschieden haben mochte. Er selber hatte einigen Vorträgen angewohnt und wußte die tiefen Kenntnisse, die lebensvolle Darstellung, die sichtbare Wärme des Lehrers gar nicht genug zu preisen. In wenigen Wochen erstaunte man wirklich über eine ganz unglaubliche Umwandlung in des Fräuleins Betragen; sie wurde stiller, nachdenksamer, ja sie schien dem ungezwungenen Triebe eines innerlichen bildenden höheren Lebens mit [Lücke] nachzugehen. Kein Mensch vermutete, daß die Persönlichkeit des Lehrers und die geistige Speise, die er darreichte, den gleichen Anteil an dem Glück der aufmerksamen Schülerin hätte, ja daß Armin selbst (so nennen wir den jungen Mann) das Feuer seiner Reden insgeheim aus den dunkeln Augen des schönen Zöglings stahl. Er hütete sich wohl, ihr seine Leidenschaft merken zu lassen, er gab dem süßen Gift nur heimliche Nahrung bei sich. Bald aber wächst ihm ein anderer Dorn am Herzen, dessen er sich am wenigsten versah. Bei Erklärung des wichtigen Dogmas von der [Lücke] begegnet er sich plötzlich im stillen selber mit der Frage: ob er denn wohl als eigene vollkommene Überzeugung beschwören würde, was er hier als unerläßliche Bedingung ewiger Seligkeit vorzustellen mit solcher Sicherheit sich unterfange?
In den Selbstbekenntnissen, die ich gelesen, beschreibt er diesen Moment als einen der schrecklichsten seines Lebens. Er fühlte sich erblassen, und eine Art von Schwindel macht ihn verstummen; er flieht wie ein Gerichteter. Des andern Tages und so fort versucht und prüft er sich aufs neue, er glaubt sich wiederum zurechtzufinden, sein Vortrag gewinnt wieder scheinbares Leben: allein es sind von jetzt an nur mark- und geistlose [so ohne Lücke], worin er sich, gemäß den alten symbolischen Sätzen, eine gewisse Tiefe mehr nur vorspiegelt: er glaubt seine Stimme nie mächtig genug erheben zu können, ihm ist als einem, der gegen den Sturmwind spricht; täglich wird ihm die Sache ängstlicher. Er beschließt dieser Qual zu entsagen, und leicht ist ein Vorwand gefunden, den Unterricht abzubrechen. Nagende Zweifel über seinen Beruf, die längst in ihm verborgen gelegen, verzehren in der Einsamkeit sein Innerstes; allein die Glut für Helenen schlägt, alles überragend, selbst aus dieser Hölle hervor. Allein, wie wunderbar! Es ist nicht bloß das schöne Mädchen, es ist die Katholikin, die er liebt, so dunkel auch damals der Reiz dieser letzteren Beziehung noch immer in ihm liegen mochte. Wenn er sich in den Banden seiner anerzogenen Religion von jeher zu enge und zu weit empfunden hatte, so war ihm dies Gefühl nun drückender als je, ohne daß er von einer Kirche etwas Zureichendes für sein Bedürfnis erwartet hätte; und abgesehen von seinem eigenen Heile erschien es ihm in dieser verzweifelten Unentschiedenheit wie frevelhafte Anmaßung, einem andern geliebten Geschöpfe den Glauben, worin es [Lücke], zu nehmen, da er nichts Besseres, da er nicht das einzig Gute und Rechte dagegen zu bieten vermöge: denn, meint er, gut und besser, das heiße ja nichts, wo nur die volle Wahrheit einen Wert haben könne; er mußte sich fragen, ob nicht mit jenem Glauben zugleich die heiligsten Keime, die [Lücke], für immer aus des Mädchens Herzen gerissen werden, zumal wenn er bedachte, daß die Erinnerung an eine über alles geliebte Mutter, welche als eifrigste Katholikin vor Jahren gestorben, bei der Tochter viel tiefer gründe, als eine oberflächliche Ansicht ihres Wesens irgend vermuten lasse. Und so stand denn Helene vor ihm als eine mitleidswerte Heilige, die es lächelnd geschehen ließ, daß ihr ein Dieb die Krone von dem Haupte nahm, deren Wert sie nur ahnte. Sie auf dem neuen Wege weiter zu führen, sie auf den alten rückwärts zu geleiten, beides schien gleich unmöglich, gleich gewagt. Ach! rief er bei sich aus, die schöne Brücke, die sonst zu ihrem duftigen Himmel führte, der [so] farbenhelle Bogen, an dem die Schar der Engel wechselnd vor ihren Augen auf und nieder stieg, hab' ich mit einem kalten Hauch zerstört, mein eigen Werk sinkt mir zur Strafe unter den Händen zusammen. Wie kann, wie darf ich je wieder vor dem himmlischen Kinde erscheinen. Mehrere Tage vermied er das Haus, endlich trieb ihn die Sehnsucht oder vielmehr ein seltsames Gefühl von Angst dahin. Er findet bald Gelegenheit, das Fräulein unter vier Augen zu sprechen. Sie macht ihm die liebenswürdigsten Vorwürfe über sein Ausbleiben und weiß eine gewisse Bewegung kaum zu unterdrücken. Sie berührt, obwohl nur flüchtig, im Gespräch ihr Verhältnis als Braut; es war die erste Äußerung der Art in Armins Gegenwart, und besonders ist es der unbefangene Ton, was ihn dabei frappiert. ›Wir haben gestern Briefe vom Baronet erhalten, und auch für Sie stehn Grüße dabei, wenn Sie selbst lesen mögen.‹ Wie war ihm, als er das Papier aus ihrer Hand empfing – er zitterte – er sah es an und legt es wieder hin.«
Eben war Herr Thomas mit diesem [Lücke] Eingang zu seiner Erzählung fertig geworden, als man uns zu Mittag rief. Killford zeigte sich über Tische heitrer als gewöhnlich.
»Ich habe«, rief er aus, »schon oft die Erfahrung gemacht, wenn die Männer ohne die Hausfrau sich zum Essen setzen, so scheint die Sonne ganz anders, ich möchte sagen lustiger auf das Tischtuch, und wenn sie die ganze Woche durch nicht geschienen hätte. Es sei dies ohne [Lücke] für die Frauen gesagt; aber wahr ist wenigstens soviel: die Abwesenheit der Ehehälfte – sie muß nur nicht zu lange dauern – ist immer eine Art Sammelzeit für den Mann: er hat, wenn er sich nur übrigens brav stille hält, die schönsten Visionen, verabschiedete Pläne und jugendliche Gewohnheiten treten hervor, die sublimsten Gedanken melden sich in ganzen Scharen usw.«
Er sagte dies mit einem halben Blick auf Herrn Thomas, deckte aber die Anspielung sogleich mit einem andern Scherze zu. Bei alledem war zu bemerken, daß seine Munterkeit nicht die unbefangenste sei. Er fiel minutenlang in Zerstreuung, knüpfte mehrmals ein Gespräch mit dem Engl[änder] an, verließ es aber immer wieder in sichtbarer Verlegenheit.
Nach dem Essen nahm mich der Oheim auf sein Zimmer. Er riegelte die Tür. »Du sollst ein Prachtstück der Mechanik, ein Opus erster Größe sehn«, sprach er und zeigte auf den Tisch, wo man unter einem weißen Tuch das glänzende Fußgestell einer Maschine hervorblicken sah. Am Boden unten stand das leere Kistchen, worin die Sendung angekommen war. Er zog das Tuch hinweg, und ich hatte fürwahr alle Ursache, ein Meisterstück von englischer Luftpumpe zu bewundern. »Seh' einer dies Paar Glocken an«, rief der Oheim aus, »diese Gradmesser von der neuesten Erfindung, die Bequemlichkeit, Präzision und geschmackvolle Derbheit und bekomme nicht Respekt vor Menschenwitz und Fleiß.« Indem wir nun wechselseitig die Vorzüge des Apparats uns auseinandersetzten, konnte ich nicht umhin, halblaut für mich zu sagen: Das alles röche doch nicht eben unangenehm nach Teer und Traktätchen.
»Meinst du?« lächelte Killford. »Wahrscheinlich kommt der Spaß vom gnädigen Herrn, dem Baronet und meine Frau hat mir das Kistchen vor ihrem Weggehen hereingestellt. Übrigens – kurios – es wäre doch – ich habe selber schon – so? meinst du? Inzwischen wollen wir niemand davon sagen, hörst du? –«
Nun verfiel er in eine närrische ausgelassene skurrile Laune, die ich wohl früher zuweilen an ihm gesehen, und welche jederzeit eine gemischte, doch überwiegend glückliche Stimmung anzeigte. Er zog die Mausefalle hinter dem Ofen hervor; zwei zarte Mäuschen saßen darin, die er mit schmunzelnder Miene ansprach:
»Versteh' ich recht den [Lücke] Schicksalswink, du niedliches, geschwänztes Ungeziefer, wärst du nur darum in dies Loch gegangen, und hätten Kinderhände dein Leben im Gefängnis nur deshalb so lange gefristet, weil du prädestiniert warst, vor den Augen dieses wißbegierigen jungen Doktors und unreifen Praktikers durch eins der schönsten Experimente den Moment deines Hinscheidens zum wichtigsten und lehrreichsten deines Lebens zu machen? Du würdest demnach aus der gemeinsten Maschine heraus in dieses künstliche Gehäuse treten, wo auch die simpelste tierische Nahrung, die man in teurer Zeit noch ganz umsonst genießt, die atmosphärische Luft, sich dir entzieht. In meiner Gewalt seid ihr einmal, und wenn es wahr ist, was etliche gemütvolle Philosophen, worunter auch ich bin, von Immortabilität der Tiere, von Seelenwanderung und dergleichen statuieren, so steht es ganz bei mir, wie lang das seelische Prinzip noch in dem Vakuum dieser Glocke herumfahren soll, verzweiflungsvoll hinaus will, wo kein Loch ist und kein Ritzchen, bis ich die Schraube drehe und den Deckel lupfe, damit sich die mausische Psyche wo anders in der Welt ein Unterkommen suche. Was meint ihr artigen Schnäuzchen? Soll's angehn? wollen wir krepieren? Nicht doch! so grausam weih' ich das Geschenk nicht ein. Ihr habt Pardon, sollt leben! [bricht ab]