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Diese Beschwörung schlug aber fehl. Es regte sich in ihr jetzt etwas wie Stolz. Sie grollte Raff nicht, sie bedauerte ihn nur, daß er so wenig fähig war, sie zu verstehen, und sie dachte an Pater Sylvester. Plötzlich fand sie auch die Sprache: »Ja, Sie reden wie die anderen, aber ich bin nicht wie die anderen. Muß denn jedes Glück für den Beobachter gleich aussehen? Und wer hat es zu werten? Der außen steht oder der es in seinem Inneren trägt? Ich bin glücklich, ganz, ohne Einschränkung, in meiner Weise.«

So hatte sie doch endlich den Mund geöffnet, ja sich während des Sprechens fast ereifert! Das war ihm schon viel. »Weisen Sie mich nur ohne weiters in meine Schranken,« entgegnete er. »Woher nehme denn ich das Recht, so in Sie zu dringen? Und wenn der Mann, mit dem Sie für das Leben verbunden sind, ebenso glücklich ist wie Sie – und wie sollte er es nicht sein? – dann ist's geradezu ein Frevel von mir, an Ihnen zu rütteln.«

Bei seinen letzten Worten blickte Frau Eldrich etwas betroffen auf. Raff entging das nicht. Genug für heute! dachte er und erhob sich. »Es ist die höchste Zeit, daß ich Sie von meiner Gegenwart befreie. Alle guten Geister seien mit Ihnen!« So verließ er sie, nachdem er ihr noch die Hand gereicht.

Raschen Schrittes eilte er durch den Wald in sein Bureau zurück. Er war mit dem Erfolge dieser Zusammenkunft, wenn er dabei auch noch nichts erreicht hatte, doch nicht unzufrieden. Da durfte man ja nicht mit der Tür ins Haus fallen. Daß er sie nur dazu gebracht, ihn anzuhören, und daß sie selbst nicht stumm geblieben! Ein anderes Mal wollte er weiter vordringen.

Und sie? Vergebens suchte sie sich eines gewissen Eindruckes, den er auf sie gemacht und der für sie etwas Unheimliches hatte, zu erwehren. Sie sagte zu sich: Er ist vielleicht nicht ganz unbedeutend, aber im Grunde doch wie die anderen, ein Weltkind! Und sie pries im Geiste ihren Gustav. Wie richtig hatte sie den auch sogleich erkannt! Ja, der war für sie bestimmt, der und sonst keiner! – Nur von dem, was Raff zuletzt gesprochen, kam sie nicht so schnell los. »Und wenn der Mann, mit dem Sie für das Leben verbunden sind, ebenso glücklich ist, wie Sie – und wie sollte er es nicht sein?« Freilich, wie sollte er nicht? So fragte auch sie. Und doch fürchtete sie, er war es nicht. Mit keinem Worte mehr verriet er ihr einen Wunsch, der sie in den ersten Tagen ihrer Ehe arg bedrängt hatte; er ging jetzt nur in liebender Aufmerksamkeit und Sorge für sie auf, anscheinend ganz ihr eigenes Gefühl teilend, trotzdem fiel ihr in seinem Wesen etwas allzu Stilles, Gedrücktes auf, das sie beunruhigte. Wie kam auch Raff dazu, diese Frage aufzuwerfen? »Wenn Ihr Mann ebenso glücklich ist wie!« Sie sann und sann. – Endlich wollte sie sich wieder in ihren Thomas a Kempis versenken. Aber das ging heute nicht mehr; ihre Gedanken schweiften immer wieder von dem Buche ab.

Raff sah nun Frau Eldrich durch längere Zeit nur flüchtig. Wenn er ihr im Dorfe begegnete, drückte er ihr die Hand und wechselte mit ihr einige Worte; im übrigen schien sie ihm auszuweichen. Als er wieder einmal bei ihr vorsprechen wollte, ließ sie sich verleugnen. Und er sah sie auch gar nicht mehr in dem Walde, der zum Eisenwerke gehörte, gehen. Wählte sie einen versteckten Weg, der abseits von seinem Bureau durch einen anderen Taleinschnitt führte? Er hätte ihr gern nachgespürt; aber er mußte ja alles Auffällige vermeiden. So hielt er sich zunächst tatlos still und wartete. – Inzwischen trug sein Freund Eldrich in seinem Gesichte noch immer sein zweifelhaftes Eheglück zur Schau; er brauchte ihn gar nicht zu fragen, wie es in diesem Punkte stehe. Da wurde ihm endlich das Warten zu lange; er beschloß, wieder zu handeln und mit Anwendung einer anderen Taktik schnurstracks auf sein Ziel loszusteuern.

Ein günstiger Zufall kam ihm auch sehr bald zu Hilfe.

Eldrich war in Geschäftsangelegenheiten für den Werksherrn auf ein paar Tage verreist und sollte heute abend zurückkehren. Sein Freund Raff hatte sich aufgemacht, um ihn auf der Eisenbahnstation, die eine kleine Wegstunde vom Dorfe entfernt lag, zu empfangen. Die schon eingetretene Sommerhitze war gerade heute durch ein Gewitter in der vergangenen Nacht stark gedämpft, und ein erfrischender Hauch wehte von den Bergen nieder, während er rüstig dahinschritt. Aber was sah er da, als er von der Höhe einer kleinen Terrainwelle die Aussicht über die weite Talebene gewann? Zwischen den Feldern ziemlich fern ging eine weibliche Gestalt – ja, das war sie, Regina Eldrich, und – an einer Leine führte sie einen kleinen Hund. Unwillkürlich blieb er stehen, um sie zu beobachten und er konnte es gut, denn sie hatte ihm den Rücken zugekehrt. Das war für sie ein Gang mit Hindernissen. Der Hund wollte seiner Herrin nicht gehorchen; bald hielt er an und war mit allem Zerren nicht vorwärts zu bringen, bald wieder sprang er vom Rain in das Feld nebenan und mußte mit Gewalt zurückgerissen werden. Nachdem dieser Kampf eine Weile gedauert, hob Frau Eldrich ihren widerspenstigen Begleiter vom Boden auf und trug ihn auf den Armen weiter. Das schien ihr aber endlich auch zu viel zu werden; sie setzte ihn wieder nieder, und das alte Spiel begann. Doch wohin wollte sie denn? Ihrem Manne entgegen? Dann war sie irregegangen. Raff bog von seinem Wege ab und eilte ihr nach. Inzwischen entfernte sie sich immer mehr von der Eisenbahn. Endlich hatte er sie eingeholt. Sie hörte hinter sich Tritte und wandte sich um: da kam er auf sie zu. In ihrer Miene malte sich erzürnte Überraschung. Was wollte er hier? Wie durfte er ihr so nachstellen? Aber ehe sie noch ein Wort an ihn richten konnte – und gerade in diesem Augenblicke sprang wieder der Hund, ein junger Dackel war es, vom Pfade ab – zog Raff den Hut und sagte: »Verzeihen Sie, daß ich Ihnen gefolgt! Sie haben den Weg verfehlt; die Eisenbahnstation liegt dort drüben!« Und er wies in die entgegengesetzte Richtung.

Sie sah ihn noch immer betroffen an.

»Wollten Sie denn nicht zum Bahnhofe, um Ihren Mann zu erwarten?«

Das entwaffnete sie und, beschämt, wußte sie nichts zu antworten. Nein, daran hatte sie nicht gedacht; sie war nur zufällig hier umhergeschlendert. Freilich, vor seiner Ankunft wollte sie zu Hause sein; aber warum bereitete sie ihm nicht diese Überraschung, die ihn gewiß sehr gefreut hätte?

Raff mochte erraten, was in ihr vorging, und, seinen Vorteil wahrnehmend, blickte er sie scharf an, während er fortfuhr: »Bei Gott, wenn ich mir nicht vorhielte, daß Sie doch gewiß eine treffliche Gattin sind, ich müßte glauben, Sie laufen ihrem Manne davon!«

Jetzt entgegnete sie verwirrt: »Ich hatte allerdings nicht die Absicht, ihn auf dem Bahnhofe zu erwarten, sondern wollte nur den Waldi spazieren führen.«

»Den Waldi!« rief er, unwillkürlich lächelnd, mit einem Blicke auf den Hund, der sich jetzt fest an die Füße seiner Herrin schmiegte. »Das ist ja etwas Neues. Ich sehe Sie zum erstenmal mit dem Tierlein. Also haben Sie sich diese liebe Sorge aufgeladen?«

»Wirklich eine Sorge; er folgt ja gar nicht. Immer wieder hält er mich auf, und ich muß doch vor Gustav zu Hause sein.«

»Ich begleite Sie!« sagte er, wieder eine ernste entschiedene Haltung annehmend. Jetzt gab auch er seinen Freund preis, um sein Opfer festzuhalten und die Stunde auszunützen. Überdies wäre er auch wahrscheinlich schon zu spät auf den Bahnhof gekommen.

Sie waren während dieses Gespräches einander gegenüber gestanden. Etwas in ihr empörte sich gegen ihn, und wenn sie ihm auch nichts erwiderte, so schien es doch, als wolle sie sich nicht vom Flecke rühren. »Nun, so gehen wir!« herrschte er sie fast an. »Der Weg bis ins Dorf ist noch ziemlich weit. Und Sie weisen mich doch nicht von sich? Ich habe ja auch mit Ihnen ein ernstes Wort zu reden.«

Sie setzte ihm keinen Widerstand mehr entgegen, und beide schritten nebeneinander auf dem Wege weiter, der zunächst in den hier das Tal einfassenden Wald und dann über eine mäßig hohe Berglehne nach Hause führte.

»Wissen Sie,« begann er nach einer Weile, »daß mir Gustav seit einiger Zeit geradezu ein Rätsel ist? Ich würde davon zu Ihnen nicht sprechen, wenn nur diese Rätselhaftigkeit nicht genau mit seiner Vermählung zusammenfiele. Da hab' ich auch bei ihm schon angepocht – wir sind ja gute Freunde – und ihn kurzweg gefragt: rsaquo;Bist du am Ende in deiner Ehe nicht glücklich:rlsaquo; Und er? Obwohl er o ja! rief, stimmte mir doch seine Miene schlecht dazu, und er gab mir auch keinen anderen Grund an. Ich drang also weiter in ihn und – ich gesteh' es Ihnen – begann über Sie ein kritisches Examen. rsaquo;Ist sie etwa zu kalt gegen dich? Mir kommt das auch so vor. Aber sie liebt dich doch. Sonst hätte sie dich nicht genommen. Wie reim' ich das zusammen?rlsaquo; Er wiederholte nur immer: rsaquo;Sie ist ein Engel!rlsaquo; schwärmte von Ihnen und – ließ dabei den Kopf hängen. Ja, was ist das? dachte ich mir. Es muß doch hier etwas nicht in der Ordnung sein. Und nun frage ich Sie, und darum habe ich Sie festgehalten: Haben Sie nicht etwa ganz unabsichtlich Ihrem Manne etwas angetan, was ihn kränken muß? Erforschen Sie Ihr Gewissen!«

Frau Eldrich fühlte sich von dieser Rede arg bedrängt. Aber da half ihr ihr Dackel über den peinlichen Augenblick hinweg. Er war wieder stehen geblieben und wollte nicht vorwärts. Sie hob auf, gab ihm einige leichte Schläge mit der Hand, streichelte ihn jedoch gleich darauf, wie um ihn zu beschwichtigen, und sagte zu ihm: »Du Unerzogener, wann wirst du endlich brav sein?« Dabei drückte sie ihn fest an sich.

Raff hielt neben ihr an und lächelte wieder.

»Sie lachen mich aus.«

»Nein, ich denke mir nur, was da – übrigens bin ich kein Hundefeind – Liebe und Sorge an einen Dackel verschwendet wird. Um wieviel schöner wird es sein, wenn Sie einmal ein Kinderl so an der Brust wiegen.«

Frau Eldrich errötete bis unter die Haarwurzeln und hätte fast ihren Liebling zu Boden fallen gelassen. Raff aber fand sich nur um diesen Preis mit der Unterbrechung seiner Rede ab und sagte jetzt, da sie weiter gingen: »Sie sind mir noch immer eine Antwort auf meine Frage schuldig.«

Was war ihr nur? Sie wollte sich gegen die Art, mit welcher er in ihr Innerstes drang, auflehnen und vermochte ihn doch nicht gebührend zurückzuweisen. Nach einer kurzen Regung des Zornes überkam sie vielmehr geradezu ein Gefühl der Demut und sie entgegnete: »Ich kann Ihnen nichts anderes sagen, als daß ich die ernsteste Absicht habe, meinen Mann glücklich zu machen. Ich weiß, welche Pflicht ich auf mich nahm, als ich ihm am Altare gelobte, durchs ganze Leben treu mit ihm verbunden zu sein.«

»Dann, dann –« sagte er mit einem gemachten Humor, »will ich über meinen Freund herfallen. Was hat er denn? Warum macht er den ganzen Tag ein so trübseliges Gesicht? Eine solche Frau zu besitzen! Na, warten Sie, dem les' ich die Leviten!«

»Nein, nein!« fiel sie ein. »Er kann ja trotzdem Anlaß haben, mit mir unzufrieden zu sein.«

Da fuhr er fort: »Weiß der Himmel, was alles so ein verliebter junger Ehemann seinem Weiblein schief nimmt! Gerade in der allerletzten Zeit fällt mir sein Wesen besonders auf. Haben Sie den Dackel schon lange? Vielleicht ist er gar eifersüchtig, wenn Sie das Tier hätscheln und herzen. Er mag glauben, das geht auf seine Kosten. Aber Sie werden doch genug Zärtlichkeiten für ihn übrig haben. Und wenn nicht, warum rührt er sich nicht? Warum sagt er Ihnen nicht, was ihn drückt?« fügte er wieder mit einem Blitze aus seinem Auge bei. »Der Mann kann ja doch sein Recht in der Ehe immer durchsetzen, so oder so, biegen oder brechen! Nichts jämmerlicher als der Anblick eines solchen stillen Dulders. Wenn ich meinen Gustel im Bureau ganz in sich zusammengesunken neben mir sehe, möchte ich ihn oft plötzlich anfahren und ihm meine Freundschaft kündigen. Wo immer das Übel liegen mag, er soll sich aufraffen und sich selbst helfen. Die ich je heimführe – vielleicht ist übrigens jede so klug, es nicht dazu kommen zu lassen – von der fordere ich in der Liebe volle Hingebung und Unterwerfung; dafür soll sie aber auch, wenn sie im Leben des Schutzes und der Stütze bedarf, stets ganz auf mich zählen können.« Seine Stimme war immer lauter und entschiedener geworden, so daß sie jetzt ganz verschüchtert zu ihm aufsah.

Der Mann hatte über sie sichtlich von Minute zu Minute mehr Macht gewonnen. Wie deutsam, wie beziehungsreich war auch so vieles für sie, was er gesprochen! Sie mußte erstaunen und fand nun vollends kein Wörtlein der Abwehr mehr gegen seinen Ansturm, vielmehr hafteten besonders seine letzten Worte tief in ihrem Innern.

Um nicht fortwährend gestört zu werden, trug sie jetzt ihren Dackel auf den Armen. So ging sie neben Raff, das Haupt gesenkt, sich immer mehr in ihre Gedanken verlierend. Inzwischen waren sie in den Wald eingetreten und, nur ganz mit sich selbst beschäftigt, schlug sie bei einer Teilung des Weges eine falsche Richtung ein. Er merkte das, machte sie aber nicht darauf aufmerksam. Je länger er sie haben konnte, desto besser. Sie schien ihm jetzt schon ziemlich mürbe; vielleicht kriegte er sie noch ganz unter.

Eine Weile schwiegen beide. Und jetzt wurde ihr der Hund doch zu schwer; sie setzte ihn wieder nieder. Aber kaum hatte sie es getan, als er sich auch schon mit einem durchdringenden Gekläff losriß und, die Leine hinter sich nachziehend, in das Dickicht neben dem Pfade rannte.

»Aha, in dem regt sich schon der Jagdtrieb. Sehen Sie, dort verfolgt er ein Häslein!« rief Raff, während er mit der Hand seitwärts in die Höhe deutete.

»Was tu' ich jetzt, um des Himmels willen?« Und sie starrte ganz verzweifelt ihrem Dackel nach.

»Er kommt schon wieder zurück,« entgegnete er. »Jetzt hat er noch nicht die Geschwindigkeit und auch nicht die Ausdauer, um seine Beute zu erhaschen. Wenn nur kein Forstmann in der Nähe ist! Der knallt ihn ohne Erbarmen nieder.«

Da schrie sie aus Leibeskräften händeringend: »Waldi! Waldi!«

Der so flehentlich Gerufene verschwand jedoch im selben Augenblicke hinter einer Erhebung des Bodens. Raff lief ihm nach und war auch bald unsichtbar. Sie harrte in zitternder Erregung. Endlich erschien Raff wieder auf der Höhe mit Waldi, den er am Genicke gefaßt hatte und in der Luft baumeln ließ.

Frau Eldrich stürzte ihm entgegen und riß ihm ordentlich den Hund, der schwer keuchte und die Zunge heraushängen ließ, aus der Hand. »Hab' ich dich wieder? Was war das für eine Angst!« Und sie konnte ihn nicht genug herzen.

Unglaublich! dachte Raff. Mit welcher Leidenschaft sie an dem Tiere hängt, und –! Dann sagte er: »Sehen Sie, um das, was man liebt, muß man auch Schmerzen ertragen können. – Halten Sie jetzt die Leine nur recht fest; seine Nase könnte wieder Wild wittern.«

»Nein! Ich trag' ihn, sonst kommt er mir wieder ans.«

»Aber das strengt Sie zu stark an. Geben Sie ihn mir!«

Nicht ohne Widerstreben überließ sie ihm Waldi, den er nun auf seinen Arm nahm.

Aber da sie jetzt um sich blickte, erschrak sie aufs neue. Der Pfad war plötzlich ganz schmal geworden und wies kaum mehr Spuren von Tritten.

»Wir haben uns verirrt. Das ist nicht der rechte Weg!«

»Ja, ich sah es jetzt auch. Das heißt, hier kommen wir nur auf einem großen Umwege nach Hause. Umzukehren, hielte uns aber noch länger auf. Also weiter: Ich kenn' mich aus und führe Sie.«

»Am Ende ist Gustav früher daheim?« fragte sie bestürzt.

»Das ist nahezu gewiß, da wir ja doch nicht laufen können. Wir haben viel Zeit verloren.«

»Nein! nein! nein! Er kommt nach Hause, und ich bin nicht da!« – Immer beklemmender drang ihr das Blut zu Herzen. Wie konnte sie so gedankenlos sein? Hatte sie denn nicht die Trennung von ihrem Manne – es war die erste – schon recht bang empfunden? Mit einem anderen hier umherzuschlendern, statt ihn liebevoll zu erwarten! Und warum war es überhaupt zwischen ihr und diesem anderen so weit gekommen? Woher nahm er die Macht, sie so einzuspinnen? Es war ihr, als hätte sie gegen ihren Gustav eine Untreue begangen.

Raff bemerkte mit großer Genugtuung ihre Bedrängnis. Ja, sie ist nicht kalt und unempfindlich und liebt ihren Mann! sagte er zu sich.

Sie waren mit beschleunigtem Schritte weitergegangen. Wieder schwiegen sie, und über ihre Wangen rollten Tränentropfen. Sie schien von einem tiefen Schmerze erfaßt. Der mochte sie auch zur Eile antreiben. Raff hatte Mühe, ihr zu folgen.

»Nicht allzuschnell! Sie sollen nicht Schaden nehmen,« ermahnte er sie endlich. »Gustav wird ja wohl Nachsicht üben. Ist er doch so gut. Und einen Vorwurf macht er Ihnen schon gar nicht, tut's ihm auch weh.«

Aber auf diese Worte hätte sie erst recht fliegen mögen. War es etwa seine Absicht, sie ein bißchen zu quälen, im Fegefeuer zu läutern?

Da standen sie nun am Waldesrande auf der Kuppe eines Hügels. Von hier fiel eine Wiese ziemlich steil in das Tal ab. Unten lag die Straße, die zum Dorfe führte.

»Nun gilt's, da gradaus hinabzusteigen,« sagte er. Er gab ihr die eine Hand, um ihr zu helfen, und hielt mit der anderen Waldi fest an die Brust gedrückt.

Zur selben Zeit gingen unten mehrere Bekannte vorüber, ein Werkführer aus der Fabrik, der Dorfarzt, der Schmied und andere. Sie sahen überrascht auf. Was war das für ein Anblick! Herr Raff, der als ein starker Herzensbezwinger bekannt war, mit Frau Eldrich, die als unnahbar galt, vereint da oben! Und ihr Hündchen auf seinem Arme! Wenn sie sich auch der ganzen böswilligen Auslegung, die dieses Bild zuließ, nicht bewußt wurde, so hätte sie doch in den Boden versinken mögen. Sie so hier, während ihr Mann wohl schon zu Hause war und sie unruhig suchte! Und vielleicht läuft ihm in den nächsten Minuten der Doktor in den Weg und ruft ihm zu: »Schon wieder daheim? Ihre Frau habe ich soeben da draußen mit Herrn Raff gesehen. Hat sie denn nicht gewußt, daß Sie heute zurückkehren?« – Ihr wollte das Herz zerspringen, und die Tränen brachen im vollen Strome aus ihren Augen. Ach, wie schuldig fühlte sie sich!

Jetzt hatten sie das Tal erreicht. Aber da floß zwischen dem Bergeshang und der Straße ein Bächlein, das gerade heute mehr Wasser führte. Raff hätte es trotzdem mit einem Anlaufe leicht übersetzt; für sie war es ein entschiedenes Hindernis.

»Verwünscht!« rief er und forschte aufwärts und abwärts, um vielleicht eine günstigere Stelle zum Übergange zu finden. Ja, da lag mitten im Bache ein großer, oben flacher Stein, den man mit Absicht hingewälzt haben mochte. Raff hielt den Dackel Frau Eldrich hin: »Nehmen Sie den Bösewicht!«

Sie tat es.

Nun sprang er auf den Stein, neigte sich zu der am Bachrande stehenden Frau, faßte sie ohne Umstände um den Leib und hob sie mit einem starken Schwunge im Bogen von dem einen Ufer zum anderen, wobei er sie – mußte es sein? – so fest an sich drückte, daß der zwischen ihnen eingeklemmte Waldi laut quietschte.

Sie schrak zusammen. Jetzt nur schnell fort von ihm! »Ich danke,« stammelte sie. »Sie gehen gewiß ins Eisenwerk? Wir trennen uns also.« Und sie wollte gegen das Dorf weiter.

Er aber hielt sie an der Hand fest. Zwar war es, obwohl er zur Stunde im Eisenwerke gar nichts zu tun hatte, auch seine Absicht, sie jetzt sich selbst zu überlassen; doch sollte sie noch ein letztes Wörtlein mit auf den Weg nehmen. Sie recht nahe zu sich heranziehend, sagte er zu ihr mit einem ganz unbeschreiblichen Blicke, in dem etwas streng Gebietendes und zugleich weich Schmachtendes lag: »Noch einen Augenblick! Wär' ich Ihr Mann – und, wahrhaftig, keinem anderen als meinem Gustel hätte ich Sie gegönnt – ich wüßte mir aus Ihrem argen Versäumnis meinen Vorteil herauszuschlagen; Sie müßten, wenn ich Sie wieder habe, zur Strafe« – jetzt nahm seine Miene einen schlauen Zug an, während sein Auge blinzelte – »Sie müßten, wie schwer es Ihnen ankäme, gegen mich doppelt hingebend und zärtlich sein. So! Grüßen Sie mir schönstens Freund Eldrich. Ich beklag' es auch, daß ich ihn nicht empfangen konnte. Heute darf man Euch wohl nicht mehr ins Haus fallen. Aber morgen im Amte muß er mir viel erzählen.« Endlich ließ er sie los und schlug den Weg zum Eisenwerke ein.

Wie sie nun eilte, während sie, mächtig erregt und ganz verwirrt, mit all dem, was sie in dieser Stunde durchlebt, zurechtzukommen trachtete! –

Richtig, ihr Mann war schon zurück. Als sie sich ihrem Hause näherte, sah sie am Fenster sein Gesicht. Jetzt trat er heraus und kam ihr durch den Garten entgegen.

»Bist du schon lange da?« fragte sie atemlos. Zugleich ließ sie den Dackel laufen, der bei der offengebliebenen Tür ins Haus schlüpfte.

»Etwa ein halbes Stündchen.« Dabei küßte er sie, wie er gewöhnlich pflegte, auf die Stirn; sie machte aber diesmal eine unwillkürliche Bewegung, als wollte sie ihm die Lippen reichen, während ihre Hand, die er in der seinen hielt, zuckte.

»Verzeih! Ich hätte dich erwarten sollen. Ein unglücklicher Zufall –« Und sie schluchzte fast.

»Um Gott, was ist dir geschehen? Du bist ja ganz aufgeregt.«

»Davon will ich dir später erzählen.«

Er blickte ihr voll liebender Sorge ins Gesicht. »Mir scheint gar, du hast geweint. Regina, was ist's? Du versetzest mich in Angst.«

»O, wenn du nur nicht böse bist!«

»Böse! Was fällt dir ein!«

»Du warst drei Tage fort, und bei der Heimkehr findest du das Haus leer. Hast du mir deshalb telegraphiert?«

»Nun, jetzt hab' ich dich aber; damit ist alles gut.«

Sie gingen Hand in Hand hinein.

Eldrich, schon über den so bewegten Empfang, der ihm geworden, erstaunt, verwunderte sich nun immer mehr. Gewiß war Regina stets die sanfteste und verträglichste Frau; jetzt entwickelte sich aber in ihr eine von Minute zu Minute steigende warme Zutraulichkeit, die er an ihr sonst nur allzuschmerzlich vermißte. Und sie machte sich auch gleich daran, für ein gutes Mahl zu sorgen. – Dann saßen sie zusammen bei Tische. Oft blickte sie ihn lange gar lieblich an. Leidet er wirklich so viel? ging es durch ihre Gedanken. Und ich hab' es gar nicht gemerkt! Frag' ich ihn?

Er aber war schon glücklich, daß sie sich so liebevoll um ihn beschäftigte. Und als sie ihn jetzt wieder eine Weile sinnend ansah, fragte er sie lächelnd: »Was denkst du denn?«

Auch sie lächelte. »Soll ich dir's sagen?«

»Freilich, freilich!«

»Nein, du mußt es erraten!« Sie sprach es, leise errötend, und erinnerte sich, wie sie ihn damals, als er sich mit seiner Werbung nicht herauswagte, fragte: »Soll ich es erraten?«

Ja, war denn seine Frau heute ganz ausgewechselt? Zuerst die Trostlose und jetzt ein Schelm, der ihn zu necken schien! Aber wie er auch sann, seine liebe Einfalt erriet nichts.

Erst später, später – da blitzte ihm plötzlich eine namenlos beseligende Erkenntnis auf. Als sie sich trennen sollten, um zur Ruhe zu gehen, umarmte und küßte sie ihn. O, was war das für ein Kuß! Einen solchen hatte er noch nie von einem Weibe empfangen und noch nie einem Weibe gegeben.

Den anderen Tag kam Eldrich etwas verspätet ins Bureau. Er verspätete sich sonst nie. Dabei strahlte seine Miene. Raff, der schon da war, wußte gleich beim ersten Blicke auf den Eintretenden, wie alles stand.

Er drückte Eldrich warm die Hand. »Also glücklich zurück! Und bist du jetzt getröstet, daß du gestern bei deiner Ankunft weder die Frau noch den Freund getroffen? Die waren anderswo; aber es hat sein müssen.«

»Ja, sie hat es mir gesagt.«

»Ich habe deine Frau so lange im Zickzack herumgeführt, damit sie um so sicherer den Weg zu dir findet.«

Eldrich, tief gerührt und verlegen, warf sich nur, ohne mehr ein Wort zu sprechen, seinem Freunde an die Brust.

Da rief dieser: »Gustel, ich habe eine Riesenfreude! Wahrhaftig, wenn ich mir selbst ein prächtiges Weiblein erobert hätte, sie könnte nicht größer sein. Und raunt dir etwa einer ins Ohr, ich mache mich zu stark an deine Frau und bin dir gefährlich, so wissen wir beide das besser.« – Jetzt stellte er sich stramm vor Eldrich hin und sprach hochtönend mit einem mühsam verhaltenen Lachen: »König Gunter, dich grüßt dein Freund und Helfer, der Balmungschwinger Siegfried!« Dann fügte er bei: »Nun, paßt das nicht? Wenngleich wir mit diesen Gestalten nichts anderes gemein haben als die Anfangsbuchstaben unserer Namen – und das ist ein artiger Zufall – so hat sich doch, was sich der Sage nach zwischen diesen zweien begeben, auch zwischen uns abgespielt, nur in anderer Weise. Zur Bewältigung deiner Brunhilde bedurfte es keiner Zauberkünste, und mich braucht kein Hagen zu richten; vielmehr klingt alles harmonisch aus. – Heute müssen wir noch eine Flasche Sekt zusammen leeren auf das Blühen und Gedeihen deiner Ehe. Und ist dein erster Sprößling ein Knäblein, so trag' ich mich schon jetzt selbst zum Taufpaten an!«


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