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Wenn ich mein Album durchblättere mit den zahlreichen Studenten-, Philister- und Damenbildern, die alle mit der Zeit ihren Weg in das Junggesellenalbum gefunden haben, dann steigen Erinnerungen, frohe und ernste, rosige und tieftraurige vor mir aus den Blättern empor. Glückliche Tage fröhlicher Studienzeit, liebesselige Stunden und schwere, kummervolle Nächte, sie alle jagen in tollem Reigen noch einmal vorbei – jubelnd, lachend und schmerzlich klagend.
Jener Schwarzkopf mit dem Cerevis auf den Locken war mein lustiger Herzbruder, der nun im fernen Westen als Arzt die Yankees kurirt, und die kleine Blondine daneben mit den schelmischen Augen und den zierlich gescheitelten Stirnhaaren war seine Geliebte; vermählt haben sie sich nicht, aber geliebt haben sie sich so sehr!
Und dann die zahlreichen Blätter voll reizender Frauengestalten! Sie alle scheinen so glücklich, einige so schelmisch kokett, aber um den Mund haben sie einen beinahe traurigen Zug, als ahnten sie schon damals eine Zukunft mit dunklen, trüben Tagen.
Tempi passati!
Dann folgen die wenigen Verwandtenbilder, mit denen man mich auch beglückt hat. Sie blicken so ernst und steif und starren mich so verwundert an, als wollten sie sagen, wir kennen dich nicht. Mir gehts gerade so mit Euch, ihr Lieben, aber seid nur ruhig, ich will fortan sparsam und einfach leben, vielleicht, daß ihr mir dann später als glückliche Erben meine grenzenlose Unkenntniß verwandtschaftlicher Grade verzeiht.
Und dann kommen die beiden Bilder, auf denen meine Blicke immer am längsten ruhen.
Es giebt wohl für einen jeden von uns Ereignisse im Leben, die ihm klarer, deutlicher vor Augen stehen, als manches andere, was im Grunde viel wichtiger sein mag, Ereignisse, die uns tief ergriffen und gefesselt haben, ohne doch in unser Leben wesentlich einzugreifen. Ein solches knüpft sich für mich an die beiden Männer, deren Gestalt jene Bilder mir zeigen.
Jeder, der das Album durchblättert, läßt auf diesen Bildern seine Blicke länger haften, und noch jeder hat mich gefragt, wer die beiden Männer seien, die in dem Album so offenbar absichtlich zusammengesteckt, einen so tiefen, eigenthümlichen Eindruck auf den Beschauer hervorrufen.
Das Bild des älteren zeigt einen Mann von etwa siebenundzwanzig Jahren, eine große, kräftige Gestalt mit dunklen Haaren und dunklen Augen. Die Züge sind edel und rein, und um den Mund zieht sich ein Zug wie von Schmerz und verborgenem Leid.
Der andere ist ein Jüngling, fast noch ein Knabe. Wenn bei Jenem Ernst und Ruhe dem Gesicht einen Ausdruck von Strenge verleihen, so lassen hier die strahlenden Augen und das leichte Lächeln glücklichen Jugendübermuthes das Gesicht um so anziehender erscheinen.
Beide sind selten schöne Erscheinungen, aber bei dem einen ist die Schönheit die eines Prometheus, bei dem andern die eines Antinous.
Beide Bilder tragen eine Unterschrift. Unter dem Bilde des Aelteren steht mit scharf markirten Zügen der Name Hans Berger, unter dem andern, scheinbar von derselben Hand, nur viel undeutlicher, das eine Wort Charley.
Es ist eine kurze eigenartige Geschichte, die sich an jene Beiden knüpft, aber sie ist auch wohl werth, erzählt zu werden. Niemand kennt sie, niemand weiß mehr von ihnen, aber nun, da die Beiden längst unter dem kalten Rasen ruhen, will ich ihre Geschichte niederschreiben.
Es war in einer Decembernacht 1863. Heulend pfiff draußen der Wintersturm über die mondbeschienenen Schneedächer, und wohl wenige Menschen nur wagten sich, dem Winde trotzend, in die kalte Nacht hinaus. Traulich ist es aber an solchen Abenden in dem freundlichen warmen Stübchen, traulich vor allem, wenn der Theekessel singt und die liebe alte Pfeife, die letzte Reliquie verflossener Studentenjahre, blaue Wolken unter die Decke des Zimmers aufthürmt.
Es war nur eine kleine, wenig elegante Wohnung, die meine finanzielle Lage damals mir zu miethen erlaubt hatte, aber womit ist nicht ein unbesoldeter Assessor zufrieden, der von Jahr zu Jahr sein kleines Vermögen immer mehr schwinden sieht? Und gut meintest du es doch, altes, verräuchertes Stübchen, manche frohe Stunde habe ich in dir verlebt, und manche gute Gedanken sind in mir wach geworden, wenn ich in deinem Raume nach vollbrachter Arbeit Fontane's Balladen so oft mit Donnerstimme mir selbst deklamirte.
Ich hatte es mir an jenem Abend einmal so recht bequem gemacht. Das Feuer loderte lustig in dem kleinen Ofen, der Theekessel sang, und die »liebe Alte« zog heute ausnahmsweise ausgezeichnet. Und wie es wohl immer an solchen Abenden gehen mag, so wurden auch heute manche frohe und ernste Erinnerungen wieder einmal in mir wach.
Zuerst dachte ich an meine Knabenzeit, wie ich als wilder Taugenichts die Nachbarn so oft geärgert, wie ich in der Schule so entsetzlich faul gewesen und wie ich so zahllose Prügel dafür geerntet. Dann wurde ich Sekundaner und trug eine rothe Mütze und dann – ja, liebe, kleine Clara, ich denke noch immer an dich und deine blauen Augen, denke noch immer daran, wie wir zusammen Tanzstunde hatten und werde niemals den ersten Kuß vergessen.
Aber die glücklichsten Tage waren doch wohl die in Jena, Göttingen und Heidelberg.
Es war eine fröhliche Gesellschaft, die sich damals in der Georgia Augusta, der lustigen Universitätsstadt der hannoverschen Lande, zusammengefunden hatte. Mediciner und Juristen, Theologen und Philologen, alle Facultäten waren in unserm Kreise vertreten, und sie alle bemühten sich, ihren guten Wechsel den Bürgern Göttingens nicht allzu lange vorzuenthalten. Kein Streich war uns zu toll, kein Faß zu groß und keine Pfeife zu lang.
Als ich aber zwei Jahre später wieder nach Göttingen kam, da war der fröhliche Schwarm längst in alle Winde zerstoben, und von all den lustigen Brüdern fand ich nur einen einzigen wieder. Das ist das Loos aller studentischen Freundschaften und Korporationen; man findet sich, schließt Freundschaft und sieht sich nach der Trennung lange Jahre nicht oder auch vielleicht niemals wieder.
Jener eine aber, den ich damals in Göttingen wiederfand und mit dem ich noch so manche frohe Stunde verlebte, der sollte im Leben mir noch einmal recht nahe treten, es war Hans Berger, derselbe, von dem ich erzählen wollte.
Immer wieder mußte ich heute Abend an ihn denken, und es ist keine Täuschung, ich weiß sicher, daß ich das Gefühl hatte, als müßte die nächste Zeit uns wieder zusammenbringen. Daß meine eigenthümliche Ahnung sich aber so bald verwirklichen sollte, das hätte ich doch nicht gedacht.
Es war spät geworden. Längst hatten die Thurmuhren die eilfte Stunde verkündet, der Theekessel sang nicht mehr, die Pfeife glomm nur noch schwach, und das Feuer im Ofen war dem Ausgehen nahe.
Aber noch immer zogen die vielgestaltigen Bilder an meinem Geiste vorbei.
Unten ging die Hausthür. Merkwürdig, wie ein Alpdruck legte es sich mir auf die Brust, mir war, als wüßte ich sicher, daß die nächsten Minuten Eigenthümliches, Freude oder Leid, mir bringen müßten.
Schwere Tritte kamen die Treppe herauf. Zwei, drei Male hielt der Ankömmling an, dann stieg er weiter empor, und jetzt stand er vor meiner Thür. Ich konnte mich nicht mehr halten, ich sprang empor und riß die Thür auf.
»Hans Berger!«
»Ja, Wilhelm, ich bin es,« sagte er langsam und tonlos, »verzeih die späte Störung.«
Er ging an mir vorbei in die Stube. Er setzte seinen Hut auf einen Stuhl, zog seine Handschuhe aus und legte seinen Mantel ab.
Ueber eine Minute verging, ohne daß wir beide ein Wort sprachen. Mit dem besten Willen hätte ich keinen Ton hervorbringen können, meine Kehle war wie zugeschnürt. Und jetzt wandte er sich gegen mich. Der volle Schein der Lampe fiel auf sein Gesicht, so todtenbleich, so furchtbar vom Schmerz entstellt, wie ich es nie, nie wiedergesehen habe.
»Wilhelm,« sagte er dann ebenso langsam und müde, »lieber Wilhelm, Du verzeihst, wenn ich Dich so spät aufsuche, aber ich mußte Dich noch heute sprechen.«
Er schwieg einige Sekunden, dann begann er von neuem, und es war traurig anzusehen, wie er sich Mühe gab zu lächeln.
»Wir haben uns seit drei Jahren nicht gesehen, und nun komme ich wie ein Einbrecher bei Nacht zu Dir, was wirst Du davon denken, lieber Junge?«
»Hans,« sagte ich und ergriff seine Hand, »Dir ist Schweres widerfahren!
Er antwortete nicht. Langsam, schwerfällig wie ein Automat ließ er sich auf einen der Stühle nieder, die Arme stützte er auf den Tisch und begrub den Kopf in seine Hände.
Die Thränen kamen mir in die Augen. Den starken, ruhigen Mann, der, wie ich wußte, viel Trauriges im Leben mit seltener Standhaftigkeit ertragen halte, so fassungslos zu sehen, war entsetzlich.
Lange mochten wir so schweigend dagesessen haben, dann aber vermochte ich diese Stille nicht länger zu ertragen. Ich stand auf, legte meine Hand auf seine Schulter und sagte zögernd: »Kannst Du Dein Leid mir nicht sagen, Hans?«
»Nein,« erwiderte er, »heute nicht, später gewiß.«
Dann stand er auf.
»Du verstehst mich nicht, aber nicht wahr, heute erläßt Du mir das Erzählen? Es ist auch nicht deshalb, daß ich zu Dir gekommen bin, es ist nur, weil ich Dich bitten wollte, morgen früh mir – mir zu secundiren.«
Er hatte das alles langsam, zögernd, aber immer mit derselben unheimlich tonlosen Stimme gesagt.
»Es gilt ein Duell mit einem hiesigen Officier,« fügte er dann hinzu.
Erstaunt sah ich ihn an. »Ein Duell? Du? Morgen? Mit einem hiesigen Officier?«
»Er glaubte sich heute Abend im Club von mir beleidigt und forderte mich auf Pistolen. Nicht wahr,« und wieder suchte er zu lächeln, »es geht schnell bei mir? Heute Abend hier erst angekommen und morgen früh schon ein Duell? Und es ist eine eigenthümliche Geschichte um dieses Duell!«
Ich holte Wein und bot ihm ein Glas. Er dankte und trank es hastig aus.
»Wie heißt der Officier?« fragte ich.
»Es ist ein Lieutnant von den Husaren, ein Baron v. Ubesch. Aber hast Du Pistolen? Gute?«
Ich trat an den Schrank und holte meinen Pistolenkasten, ein Geschenk meines Vaters.
Er nahm die beiden Pistolen heraus und untersuchte jede einzelne mit fast peinlicher Sorgfalt. Wiederholt ließ er den Hahn auf- und niederschlagen und visirte sie genau gegen das Licht.
»Ich danke Dir,« sagte er und legte die Pistolen wieder in den Kasten »beide sind sehr gut.«
»War die Beleidigung denn eine so schwere,« sagte ich, »soll es denn wirklich dabei zum Aeußersten kommen?«
»Die Beleidigung? Schwer? O ja, sie war wohl recht schwer. Ich werde ihn erschießen.«
»Hans,« sagte ich bittend und trat dicht an ihn heran, »es ist ein junger, blutjunger Officier, sollte er nicht im Weinrausche so gehandelt haben?«
»Im Weinrausche? Nun gewiß im Weinrausche. Kennst Du ihn übrigens?«
»Näher nein, ich erinnere mich, nur einmal ihn flüchtig gesehen zu haben. Indessen heißt es in der ganzen Stadt, daß der Baron Ubesch ein ebenso leichtlebiger wie liebenswürdiger Offizier sei. Man sagt von ihm ebenso viel Gutes wie Schlechtes.«
Er nickte mit dem Kopfe: »Ja sicherlich viel, viel Schlechtes.«
Wieder entstand eine lange Pause. Hans war an das Fenster getreten und schaute in die Nacht hinaus.
Als er sich dann endlich umwandte und wieder an den Tisch sich niederließ, schien er seine Ruhe wiedergewonnen zu haben, er schenkte mehrere Male sein Glas voll und trank es langsam aus.
»Wann findet morgen das Duell statt?« fragte ich ihn.
»Früh acht Uhr auf der Waldwiese am Dornitzer Holze.«
»Und der Sekundant des Barons ist wer?«
»Ein Graf Leskow, Rittmeister bei den Husaren.«
Ich kannte diesen Mann, es war ein liebenswürdiger, allgemein geachteter Officier.
»Und die Bedingungen?«
»Alles ist abgemacht, Graf Leskow wird das Nothwendige besorgen.«
Ich stand auf. »Du solltest etwas zu schlafen versuchen, Hans,« sagte ich bittend, »die Ruhe ist Dir durchaus nöthig, und es ist sehr spät geworden.«
Er fuhr empor. »Schlafen? Ich schlafen? O nein, Wilhelm, wenn ich das könnte, wenn ich das heute vermöchte – ich bitte Dich, geh Du zu Bett, ich werde Dich zeitig wecken.«
Ich wollte dawiderreden, aber er fiel mir schnell, fast zornig, in die Rede.
»Thu es doch, Wilhelm, mein Gott, so thu es doch, nur diese eine Nacht laß mich bitte allein?«
Ich holte neuen Wein, Cigarren und Schreibpapier und legte alles vor ihn hin.
»Guter Junge,« sagte er, und krampfhaft suchte er zu lächeln, »laß Dich mein Leid nicht weiter kümmern. Am Ende übertreibe ich selbst, und Du weißt ja, viele Menschen suchen etwas darin, Kummer und Schmerz recht schwer zu nehmen.«
Ich reichte ihm meine Hand und wandte mich schnell ab, denn ich fühlte, wie mir die Thränen ins Auge kamen. Ein Mann, der so lächelte, mußte furchtbar leiden.
Ich ging in die anstoßende Kammer, zog die Thür zu und warf mich auf das Bett.
Aber vergebens suchte ich den Schlaf. Was mochte es nur sein, das Hans so schwer ergriffen hatte? Das Duell allein, ich wußte das, konnte ihn nicht so furchtbar erregt haben.
Stundenlang mochte ich so gelegen haben, da plötzlich drang ein wilder Schrei aus dem Nebenzimmer. »Charley! Charley!« tönte es deutlich herüber, dann wurde es wieder ganz still.
Eine große Angst ergriff mich. Ich sprang empor, ging leise an die Thür und schaute durch das Schlüsselloch.
Er saß noch immer an dem Tische, mir zugewandt. Mit der Rechten hielt er ein Bild dicht an die Lampe, wohl um besser sehen zu können. Wie im Starrkrampf waren die Augen fest auf das Bild geheftet, nur die zuckenden Lippen und die schwer arbeitende Brust bewiesen, daß Leben in ihm war.
Und dann plötzlich warf er das Haupt auf den Tisch.
Ich beobachtete ihn noch eine Zeit lang, aber er blieb ruhig liegen, es war, als ob er schliefe. Ich ging zurück und warf mich von neuem auf das Lager.
Das Räthsel war nicht zu lösen. War Hans von der Dame seines Herzens betrogen, stand der Baron von Ubesch damit im Zusammenhange? War das der Grund der so plötzlichen Beleidigung? Tausend ähnliche Fragen legte ich mir noch vor, aber endlich forderte die Natur doch ihr Recht. Wie Blei senkte es sich auf meine Augenlider, noch ein-, zweimal hörte ich aus dem Zimmer ein krampfhaftes Schluchzen herüberdringen, dann endlich schlief ich ein.
Am andern Morgen weckte er mich. Es war noch sehr früh, aber wir hatten ja auch noch manches zu besorgen. Ich stand auf und kleidete mich an, während Hans am Tische stehend die Kaffeemaschine in Gang setzte.
Er war sehr ruhig geworden, und nur die müden Augen und das noch todtenbleiche Gesicht ließen darauf schließen, wie viel er diese Nacht gelitten hatte.
Wir hatten noch etwa zwei Stunden Zeit, und so bat er mich denn, seinen kleinen Koffer aus dem Hotel holen zu lassen. Als derselbe gebracht war, nahm er einen schwarzen Gesellschaftsanzug heraus und kleidete sich äußerst sorgfältig an, er sprach dabei kein Wort von den Vorgängen des gestrigen Abends, nur die Pistolen nahm er noch einmal aus dem Behälter und betrachtete sie mit großer Aufmerksamkeit.
Ich nahm die eine Pistole spielend in die Hand, wer mochte sie nachher führen, wen sie treffen?
Wir standen auf, um uns zum Gehen bereit zu machen. Ich löschte die Lampe aus, und wir stiegen die noch immer dunkle Treppe hinab, es war sieben Uhr.
Vor der Thür stand schon der Wagen, den ich noch gestern Abend hatte bestellen lassen; auf der Straße war noch kein Mensch zu sehen.
Es war ein kalter Decembermorgen, der Wind hatte fast ganz aufgehört, aber wir hüllten uns doch fröstelnd in unsere Mäntel. Hans lehnte mit geschlossenen Augen in den Kissen des Wagens, je näher wir aber dem Platze kamen, um so unruhiger schien er zu werden. Als wir ausstiegen, zitterte er so sehr, daß ich ihn darauf aufmerksam machte und ihn fragte, ob es nicht besser sei, seinen Gegner um Aufschub zu ersuchen.
»Es wird schon gehen,« murmelte er und biß die Zähne zusammen, »es muß gehen, es muß.«
Und nun schien er wieder ruhiger zu werden; von den Officieren war noch nichts zu sehen. Arm in Arm gingen wir langsam auf der kleinen Waldwiese auf und ab, allmählich begann es hell zu werden.
Es war mir als dem Sekundanten im höchsten Grade peinlich, von der Art der Beleidigung und der Veranlassung so gut wie gar nichts zu wissen, aber ich mochte Hans trotzdem nicht noch einmal fragen.
Endlich kurz vor der festgesetzten Zeit kamen die Herren an. Graf Leskow fuhr selbst, die Pferde waren von Schweiß bedeckt, er schien sehr schnell gefahren zu sein. In dem Wagen saßen der Baron v. Ubesch und ein dritter Herr, der mir nachher als der Arzt vorgestellt wurde.
Graf Leskow kam sogleich auf mich zu, begrüßte mich und bat, dem Baron Ubesch mich vorstellen zu dürfen.
Ich folgte ihm nach dem Wagen, wo der Baron sich scheinbar ruhig mit dem Arzte unterhielt.
Ich habe im Leben niemals einen so vollendet schönen Jüngling gesehen, wie der war, der mir jetzt als Lieutenant Baron v. Ubesch vorgestellt wurde. Wohl hatten die Leidenschaften diesem Gesicht sehr arg mitgespielt, aber doch wie schön, wie edel waren diese feingeschnittenen Züge immer noch geblieben!
Im dunklen Salonanzuge lehnte er nachlässig an den Schlag des Wagens, die Rechte spielte mit einer zierlich gearbeiteten Reitpeitsche.
Als ich herantrat, schien er mit dem Arzt in einer lebhaften, offenbar erkünstelt lustigen Unterhaltung begriffen zu sein. Als Graf Leskow meinen Namen nannte, wandte er sich ruhig uns zu, verbeugte sich tief und fragte dann fast unvermittelt:
»Nicht wahr, ich sehe in Ihnen einen Freund von Herrn Berger vor mir?«
Ich sagte ihm, daß ich von der Universität her mit Hans befreundet sei.
»Und wie denkt er über die Sache von gestern?«
Die Stimme des Barons vibrirte leise, fast ängstlich schaute er mir ins Auge.
»Er ist zum äußersten entschlossen, Herr Baron, jeder Versuch eine Vermittelung herbeizuführen, würde verloren sein!«
Der Baron richtete sich auf.
»Ich entsinne mich nicht, von eventueller Vermittelung gesprochen zu haben, Herr Assessor. Ich muß Sie dringend ersuchen, meine Worte nicht in beliebigem Sinne zu deuten. Wünscht Herr Berger dreimaligen Kugelwechsel?«
Ich verbeugte mich.
»Mein Freund, Herr Baron v. Ubesch,« sagte Graf Leskow, »wird das Wechseln der Kugeln seinerseits nicht eher suspendiren, bis einer von ihnen todt oder kampfunfähig die Weiterführung des Kampfes unmöglich macht.«
Der Baron lachte leise scharf auf.
» Eh bien, Graf Leskow, beginnen wir denn.«
Ich hatte mich schon zum Gehen gewendet, aber erstaunt hielt ich an. Dies Lachen klang so fremdartig, so parodistisch in dem ersten Augenblick, daß ich mich nicht enthalten konnte, den Baron noch einmal anzuschauen.
Er sah stier nach Berger hinüber, der unbeweglich an einem Baume lehnte und vor sich niederblickte. Und jetzt ertönte wieder jenes kurze, eigenthümliche Lachen.
Wie ein Blitz schoß mir der Gedanke durch den Sinn, der Baron hat schon heute Morgen dem Weine zu stark zugesprochen.
Und in der That, es war kein Zweifel, daß unser Gegner entweder die Nacht durchzecht oder doch schon heute Morgen viel getrunken haben mußte.
Es war kein Abscheu, der mich in diesem Augenblicke erfaßte, es war ein tiefes, namenloses Mitleid mit dem armen, jungen Offizier, der hier fern von Allen, die ihm vielleicht nahe standen, vom Weine berauscht, den Kampf auf Tod und Leben mit einem unerbittlichen Gegner auskämpfen sollte.
Ich ging zu Hans und theilte ihm meine Wahrnehmung mit.
»Ist das wahr?« sagte er langsam, »ist das möglich?«
Einen Augenblick erhob er sein Auge und blickte nach dem Wagen hinüber, dann murmelte er leise vor sich hin:
»Also im Rausche! Im Rausche sterben!«
Da versuchte ich es noch einmal, ihn weich zu stimmen.
»Hans,« sagte ich, »Hans, Du darfst nicht tödten, ich bitte Dich, Hans, thu es nicht.«
Aber er antwortete nicht.
Graf Leskow trat heran und bat mich, mit der Sache zu beginnen; so war denn auch mein letzter Versuch vergebens gewesen.
Wir maßen die Distanze, zehn Schritt; Barriere zu wählen hatte Hans verweigert.
Meine Pistolen wurden geladen und den beiden überreicht, dann traten sie einander gegenüber.
Ruhig, ernst sah Hans seinen Gegner an, der Baron blickte zur Erde.
Jetzt erfolgte das Zeichen. Der Baron blickte auf, gleichmäßig langsam erhoben beide den Arm, beide Schüsse ertönten zu gleicher Zeit. Hans taumelte rückwärts, er griff mit den Händen in die Luft und schlug dann schwer wie ein gefällter Baum auf den harten Boden nieder.
Mit einem Sprunge war ich bei ihm. Die Kugel hatte ihn in die Brust getroffen. Der Arzt war sogleich mit Verband zur Stelle, aber er zuckte die Achseln und versicherte, man müsse hier das Schlimmste fürchten.
Es waren traurige, bange Minuten, als der Nothverband angelegt wurde und das Blut immer von neuem hervorquoll, die Verletzung mußte eine sehr schwere sein. Endlich war das Nothwendigste gethan, und wir erhoben uns, um im Wagen ein Lager für Hans herzustellen. Graf Leskow hatte auf das Bereitwilligste, und vor allem äußerst geschickt dem Arzt bei dem Anlegen des Verbandes, Hülfe geleistet, er war von dem schweren Ausgange der Sache tief erschüttert.
Als wir zu dem Wagen gingen, stand der Baron v. Ubesch noch immer auf derselben Stelle, die Pistole lag neben ihm auf dem Boden. Graf Leskow trat auf ihn zu, um ihm einige tröstende Worte zu sagen, aber er blickte starr vor sich nieder und antwortete nicht.
Nur mit Mühe gelang es uns, in der für solche Fälle wenig passenden Equipage ein leidlich gutes Lager herzurichten, aber mit Zuhülfenahme der Kissen des andern Wagens durften wir endlich doch hoffen, die Fahrt unternehmen zu können.
Als wir Hans aber holen wollten, bot sich uns ein seltsames Schauspiel. Neben dem noch immer leblos Daliegenden kniete der Baron v. Ubesch. Seinen Arm hatte er unter den Kopf seines Gegners gelegt, und mit der anderen Hand strich er ihm langsam, aber immer von Neuem die langen Haare aus der Stirn.
Ununterbrochen murmelte er leise, unverständliche Worte. Und seltsam war auch der Blick, mit dem er den Verwundeten anschaute. Es war nicht Schmerz, nicht Angst oder Reue, die darin lagen, es war als wenn ein Kind neben seinem todten Gespielen kniet und nicht begreifen kann, was dem andern geschehen ist.
Und jetzt brachen die ersten Strahlen der Morgensonne hervor und beleuchteten das eigenthümliche Bild dort vor uns.
Wie gebannt hatten wir sekundenlang die seltsame Scene betrachtet, aber jetzt brach der Arzt das Schweigen:
»Kommen Sie, meine Herren,« sagte er fest, »die Pflicht ruft uns.«
Als wir herantraten, schaute der Baron empor. Einen Moment zuckte er zusammen, als wenn erst jetzt die traurige Wahrheit ihm verständlich würde, dann stand er auf, reichte dem Arzte die Hand und ging, ohne ein Wort zu sagen, langsam den Waldweg hinauf.
Tiefbewegt schaute ich ihm nach. Was mochte es nur gewesen sein, was diesen schweren Kampf herbeigeführt hatte?
Vorsichtig trugen wir Hans in den Wagen, der Arzt nahm neben ihm Platz. Es war ein trauriger Anblick, wie einem Leichenzuge gleich sich unsere kleine Schaar mit dem Wagen durch die schöne Winterlandschaft dahinbewegte, aber ich mußte immer nur an den unglücklichen Mann denken, der dort hinter uns in dem einsamen Walde jetzt wohl gequält vom Schmerz der Reue allein umherirrte.
Der Schnee rieselte leise hernieder und breitete rings über Wald und Feld seinen Schleier aus, und die kleine Waldwiese lag bald, geschmückt von den glänzend weißen Flocken, wieder ebenso friedlich und einsam wie vor wenigen Stunden, da noch kein Kampf ihre stille Ruhe gestört hatte.
Sechs Wochen waren seit jenem Morgen verstrichen, Weihnachten mit all seinem Jubel und seinen Freuden war gekommen und wieder gegangen, das neue Jahr war fröhlich begrüßt ins Land gezogen, und prächtiger denn je waren die Winterfeste in der Stadt gefeiert worden.
Für Hans und mich aber waren es traurige, schwere Tage gewesen. Zweimal hatte Hans mit dem Tode gerungen, und erst vor wenigen Tagen hatte der Arzt mir versichern können, daß wir nun endlich an seiner Genesung nicht mehr zu zweifeln hätten.
Gleich damals hatte ich Hans auf mein Zimmer bringen lassen, denn nur hier konnte ihm ja die Ruhe zu Theil werden, die er doch so unbedingt nöthig hatte. Meine Hauswirthin, ein freundliches altes Mütterchen, hatte mit wahrhaft rührender Aufopferung den armen jungen Fremden gepflegt, und da auch ich gerade jetzt nicht allzu viel zu thun hatte, so konnte ich manche Stunde am Tage und bei Nacht an dem Bette des Kranken zubringen.
Und nun war ja auch endlich die Besserung eingetreten.
Es war ein heller, schöner Winternachmittag. Ich saß in meinem Zimmer und arbeitete in meinen Acten, während Hans nebenan in der Kammer ruhig schlief. Aber ich sollte heute nicht lange meiner Arbeit obliegen können, denn bald darauf klopfte es, und Graf Leskow trat in das Zimmer. Der Rittmeister hatte mich in den letzten Wochen oft besucht, fast täglich hatte er hergesandt, um sich nach dem Befinden des Kranken zu erkundigen, und so war denn bald zwischen dem liebenswürdigen Offizier und mir ein näheres Bekanntschaftsverhältniß angeknüpft. Er war ein angenehmer, meist heiterer Gesellschafter, und um so mehr war ich erstaunt, heute schwere Wolken des Unmuths auf seiner Stirn zu sehen.
Er begrüßte mich wie immer kurz und herzlich und fragte, wie es mit dem Kranken stehe, dann aber sprang er schnell von dem angeschlagenen Thema ab und fragte beinahe unvermittelt:
»Und was sagen Sie denn zu dem Schicksal des armen Jungen?«
Ich schaute ihn verwundert an.
»Ich verstehe Sie nicht, Herr Rittmeister.«
»Aber mein Gott,« sagte er schnell, fast unwillig. »Sie haben doch auch die Skandalgeschichten gehört, die man sich seit vorgestern in der ganzen Stadt von dem Baron Ubesch erzählt?«
»Ich weiß von nichts, aber bitte erzählen Sie doch.«
»Ah,« sagte er, »das ist gut, dann haben Sie doch wenigstens von ihm noch nicht so schlecht gedacht wie die übrige Welt.«
»Aber was ist es denn, Graf, was erzählt man sich denn von Herrn v. Ubesch?«
»Was man sich erzählt, Herr Assessor? Nun nichts weiter, als daß der hochmüthige Laffe, der schneidige Husarenlieutenant v. Ubesch Wechsel gefälscht, gestohlen, geraubt und Gott weiß, was alles gethan habe und dann mit seiner Beute in die weite Welt gegangen sei. Armer, armer Junge!«
»Und das Wahre daran, Herr Graf?«
»O das ist schnell erzählt, so hören Sie denn. Sie werden die Sache aus meinem Munde sicherlich am meisten der Wahrheit gemäß erfahren, da ich in dem kurzen Jahre, seitdem der Baron bei unsrem Regimente ist, ihm jedenfalls am nächsten gestanden habe.
Es ist ein Unglück, wenn die jungen Edelleute so früh wie Ubesch in die Armee treten, die Versuchungen jeder Art sind zu groß. Der Baron war einundzwanzig Jahre alt, als er zu unserem Regimente versetzt wurde, und es war ein Vergnügen, damals den bildschönen, in allen ritterlichen Künsten gewandten Officier zu sehen. Keiner saß so brillant wie er zu Pferde, keiner lenkte mit solcher Fertigkeit sein Gespann, keiner übertraf ihn im Fechten oder Schießen, aber auch kein einziger verlor mit solch wahnsinniger Leidenschaft am Spieltisch so unerhörte Summen wie er. Und zum Spiel kam der Champagner, und jetzt nach einem einzigen kurzen Jahre ist der reiche Ubesch ein Bettler geworden! Oder nein, noch mehr als das!
Es war am Mittwoch Abend, als ich wie immer im Club mit einem meiner Bekannten eine Partie Billard spielte. Wir hatten kaum begonnen, als der Kellner hereintrat und mich ersuchte, zu dem Herrn Baron v. Ubesch herauszukommen, er erwarte mich im Vorzimmer. Ich fand Ubesch am Fenster stehend, er war in Civil.
Er trat augenblicklich auf mich zu und reichte mir die Hand: »Ich danke Ihnen herzlich, Herr Rittmeister,« sagte er, »daß Sie meinem Wunsche willfahren, ich bin nur noch einmal gekommen, um von Ihnen wenigstens Abschied zu nehmen.«
»Abschied?« sagte ich, »Sie wollen verreisen, Ubesch?«
»Ja verreisen,« lachte er bitter, »verreisen um niemals wiederzukommen. Ich gehe nach England, um den Namen meiner Familie, den ich als der letzte trage, in den Straßen von London zu begraben. Das klingt fast poetisch, Herr Graf, nicht wahr?«
»Ubesch,« sagte ich, »Sie sprechen im Fieber oder im Rausch!«
»Nein, Leskow,« sagte er, »nicht im Fieber und heute auch nicht im Rausche. Ich habe vor sechs Wochen an jenem tollen Abend, wo ich ja auch jenes Duell provocirte, an den Freiherrn Reßler vierzigtausend Mark mehr verloren, als ich besitze. Die Ehrenscheine lauten auf morgen, bezahlen kann ich nicht, ich habe in diesen Wochen alles versucht, um das Geld von entfernten Verwandten zu leihen, ich habe es nicht erhalten. Damals, Graf Leskow, war ich im Rausche, aber der Rausch ist keine Entschuldigung. Ich werde niemals zahlen können und mein Name, der Name des letzten unserer Familie, ist vernichtet.«
Ich hätte an jenem Abend, Herr Assessor, viel darum gegeben, wenn ich hätte sagen können: Ubesch, bleiben Sie, Sie sind ein Bettler, aber Sie haben nicht unehrenhaft gehandelt. So reichte ich ihm meine Hand und ging.
Und am anderen Tage konnte man in allen Kneipen hören, wie wieder einmal einer von der hochmüthigen Offizierssippe in Schmach und Schande davongegangen sei. – – – –
O es ist hart, Herr Assessor, es ist hart, glauben Sie es mir, wenn man sehen muß, wie solch ein armer, unglücklicher Junge tiefer und tiefer sinkt und dann endlich mit seiner Ehre zahlen muß. Ich habe manchen meiner Kameraden denselben Weg gehen sehen, aber bei keinem hat es mich so tief geschmerzt wie bei Ubesch.«
Das war also das Ende von Hans Bergers Gegner!
Graf Leskow erhob sich und ging.
Aus dem Krankenzimmer nebenan drang ein leises Stöhnen herüber, erschrocken trat ich hinein, um nachzusehen, was es gäbe.
Der Kranke, den ich vor einer Stunde ruhig schlafend verlassen hatte, saß halb aufrecht im Bette, seine Augen blickten weitaufgerissen starr auf die Bettdecke, seine Lippen bewegten sich wie bei einem Geistesabwesenden.
»Hans, um Gottes Willen, Hans, was ist Dir?«
Ich beugte mich zu ihm nieder und erfaßte seine Hände.
Er sank in die Kissen zurück.
»O, es war nichts,« stammelte er leise, »es war nur – Du weißt – Leskows Geschichte – nun ist das Trauerspiel ja zu Ende.«
Ich zog meinen Stuhl heran und setzte mich neben sein Bett, um in halb flüsterndem Tone mit ihm zu plaudern. Es war immer das einzige Mittel, ihn, wenn er fieberte, zu beruhigen.
»Der arme Ubesch,« begann ich, »nun wäre es doch wohl besser gewesen, Du hättest ihn damals getroffen.«
Er antwortete nicht, über sein Gesicht aber zuckte es, und dann rann langsam Thräne auf Thräne über seine bleichen Wangen nieder.
Es war das erste Mal, daß ich in diesen Augen Thränen erblickte, aber mir war, als würde mir ein Stein von der Brust gewälzt, als müßte nun endlich das schwere Leid, das er so sorgfältig auch vor mir noch immer verborgen hatte, gelindert werden.
Ich hatte mich schonend abgewandt und blätterte in einem Buche, das auf dem Tischchen neben dem Bette lag.
»Wilhelm,« sagte er endlich, »Wilhelm ich will aufstehen, ich halte es im Bette nicht länger aus.«
Ich wollte ihm widersprechen, aber ich wußte, daß ich ihn nur noch mehr dadurch aufgeregt haben würde. So half ich ihm denn behutsam sich ankleiden und führte ihn in mein Zimmer, wo er sich in den altmodischen, aber bequemen Lehnstuhl niederließ.
»Wilhelm, begann er von neuem, ich weiß nicht, wie ich Dir für alle Deine Liebe und Güte danken soll, Du hast an mir, der ich Dir doch gewissermaßen halb und halb fremd war, wie ein Bruder gehandelt, und Du hast vor allem, lieber Wilhelm, nie danach gefragt, was doch augenscheinlich mich so schwer bedrückte. Heute sollst Du alles erfahren.«
Ich bat ihn, sich durch eine solche Erzählung doch nicht unnöthig aufzuregen und meinte, er hätte ja in den nächsten Wochen noch immer Zeit genug dazu, aber er lächelte seltsam. »Wer weiß, sagte er, ob ich es dann noch könnte. Nein, Wilhelm, ich bitte Dich, höre mich heute an. Es ist eine kurze und einfache Geschichte, aber sie enthält all das reiche Glück, das ich im Leben genossen habe und all das Leid, welches das Schicksal mir bestimmte. Es ist die Geschichte eines Mannes, der ein kostbares Kleinod sein nannte und es doch nicht behalten durfte. Es ist keine Erzählung von seliger Liebe und Liebesleid, ich gehöre zu den wenigen, die nie ein Mädchenherz ihr Eigen nannten, es ist die Geschichte der wenigen Jahre, die ich in der Erinnerung glücklich nennen kann.«
Und dann begann er, in ruhigem, leidenschaftlosen Tone zu erzählen.
»Ich war ein sechsjähriger Knabe, als man meine Mutter nach langer, schmerzlicher Krankheit auf den Kirchhof hinaustrug. Zwei Monate später folgte mein Vater ihr nach. Ich kann mich beider so gut wie gar nicht entsinnen, aber wie ich später erfuhr, haben sie uns Kinder wohl sehr lieb gehabt. Der Vater hat sein Leben hindurch schwer arbeiten müssen, aber er hinterließ seinen unmündigen Kindern auch ein Vermögen, das geradezu ein reiches genannt werden konnte.
Mein Schwesterchen und ich kamen zu entfernten Verwandten, unser größerer Bruder Alfred besuchte das Gymnasium in der Hauptstadt.
So gingen langsam zwei, drei Jahre Jahre dahin, bis jene Zeit kam, die in der Erinnerung meines Lebens als die traurigste dasteht, jene Zeit, die mir auch die Geschwister nehmen sollte. Ich glaube, ich habe Dir, lieber Wilhelm, schon früher einmal erzählt, wie mir erst die Eltern, dann die Geschwister durch den Tod entrissen wurden, so laß mich denn heute kurz darüber hinweggehen. Beim Tode der Eltern hatte ich kaum empfunden, was mir mit ihnen genommen wurde, der Verlust der Geschwister traf mich sehr, sehr tief.
Aber weiter, weiter, wozu die Schmerzen längstvergangener Zeiten noch einmal heraufrufen! Die alles versöhnende Zeit lindert auch das schlimmste Leid, und wenn ich heute, wenn auch selten nur, der lieben Todten noch einmal gedenke, dann ist es mir oft, als könnte ich sie beneiden, als hätte Geibel doch Recht, wenn er sagt:
»Es stirbt als Knabe, wen die Götter lieben.«
Über die nächsten Jahre kann ich schnell hinweggehen. Einige Zeit verweilte ich noch in dem Hause meiner Verwandten, dann kam ich auf das Gymnasium in die Hauptstadt.
Die ersten Tage und Wochen staunte ich über das mächtige Leben und Treiben der großen Stadt, verwundert sah ich die Pracht der Bauten, die Menge der Vergnügungen und vor allem die Größe und Schönheit meiner neuen Schule.
Aber dann langsam, ganz allmählig trat die eigenthümliche Schwermuth, die meine Jugend vergiftet hat, von neuem hervor.
Meine lustigen Schulkameraden mochten mit dem kopfhängerischen Träumer, und wer hätte es ihnen auch wohl verdenken wollen, nichts zu thun haben, und so stand ich denn nach kurzer Zeit einsamer als je in dem neuen Kreise da. Es ist gewiß nicht gut, wenn ein Knabe seinen Altersgenossen so fern steht, und nur zu bald zeigte sich auch bei mir, wie schwer sich das Unnatürliche dieser Lage an mir rächte.
Ganz auf mich und meine Bücher angewiesen, konnte es nicht ausbleiben, daß mir Schriften in die Hand kamen, die mit meiner schwermüthigen Stimmung nur zu sehr harmonirten, und so war ich denn schon als Secundaner ein begeisterter Anhänger der pessimistischen Lehren.«
Er hielt einen Augenblick an, dann fuhr er mit einem schwachen Lächeln fort:
»Daß ich heute ein Pessimist vom reinsten Wasser bin, lieber Wilhelm, das weißt Du nur allzu gut, aber Du weißt nicht, daß es eine Zeit gegeben hat zwischen jetzt und damals, wo aus dem fanatischen Schwarzseher ein froher, wahrhaft glücklicher Mann wurde, jene Zeit, die ich Dir schon vorher als die glücklichste meines Lebens bezeichnete.
Ich war längst Primaner geworden, noch ein Jahr und die Schule mit ihren lästigen Fesseln konnte mich nicht länger mehr halten. Und wie sehnte ich mich fortzukommen von diesen Bänken mit ihrer trocknen, altfränkischen Weisheit, fort zu der Universität, wo dem freien Denken ja eine Hochburg erbaut war!
Unter meinen Mitschülern stand ich noch so einsam und allein, wie damals, als ich zuerst die Räume der Schule betreten hatte, aber damals hatten sie mich zurückgestoßen, heute trat ich von ihnen zurück. Die jahrelange Einsamkeit hatte in einer Hinsicht doch ihr Gutes gehabt, mein Fleiß und Ehrgeiz waren wach gerufen, und so hatte ich es leicht dahin gebracht, für einen der tüchtigsten Schüler zu gelten.
In den oberen Klassen wird das immer anerkannt werden, und nichts war natürlicher, als daß meine Kameraden eine Annäherung suchten. Aber mit dem ganzen pharisäischen Hochmuth, den die Anhänger der pessimistischen Schule stets besessen haben und auch wohl immer besitzen werden, hielt ich mich immer wieder von ihnen fern. Dann endlich sollte es doch einmal anders werden.
Ich pflegte bisweilen am Abend das uns Gymnasiasten angewiesene Wirtshaus auf einige Stunden zu besuchen, theils um mich dort ein wenig zu erholen, theils auch, wie ich mir selbst vorredete, um dort interessante Studien anzustellen. Wenn ich meine Kameraden dort lustig zechen und nur zu oft sich betrinken sah, so kam gewissermaßen zusammen mit dem Gefühl des Ekels auch das der Befriedigung über mich, hier bestätigten sich ja selbst in diesem kleinen Kreise meine Ansichten über die Nichtigkeit und das Jämmerliche des Lebens.
So kam ich wieder einmal kurz nach Ostern in das betreffende Lokal, als dort, allerdings ziemlich verstohlen, unter mehreren Primanern und Sekundanern ein bekanntes Hazardspiel im Gange war. Ich habe stets gern dem Glücksspiel zugeschaut, mich selber allerdings nur selten und stets mit nur geringen Einsätzen daran betheiligt. So trat ich denn auch heute an den Tisch heran und sah zu. Einer der anwesenden Primaner hielt die Bank, er schien schon viel gewonnen zu haben, denn mehrere kleine Silberhaufen lagen vor ihm auf dem Tische. Als ich herantrat, pointirte gerade ein junger Sekundaner; das Gesicht war mir unbekannt, er mußte wohl erst neuerdings auf unsere Schule gekommen sein. Vor ihm lag eine mäßige Summe Geldes, aber ein Stück Silber nach dem andern wanderte zu dem Bankier hinüber, der bei jedem neuen Gewinne seine Freude weniger zu verbergen vermochte.
Jetzt war der letzte Thaler des armen Jungen den übrigen nachgefolgt. Mit einem der gewöhnlichen Gymnasiastenflüche sprang er auf und trat von dem Tische zurück. In seinem Gesichte arbeitete es heftig, das Weinen war dem armen Burschen näher wie das Lachen. Mitleidig schaute ich ihn an, wie er dem neu beginnenden Spiele nun unthätig zusah, es war ein auffallend hübscher, höchstens fünfzehnjähriger Junge.
Plötzlich schien er einen neuen Entschluß zu fassen, er trat auf meinen Nachbar, ebenfalls ein Sekundaner, zu und bat ihn in kurzen, stotternden Worten, ihm noch ein Goldstück zu leihen. Der Angeredete sah ihn zögernd an, griff dann doch in die Tasche und wollte eben sein Geld hervorholen, als ich schnell dazwischentrat.
»Ich muß Dich bitten, das zu unterlassen, sagte ich zu ihm, Du solltest wissen, daß man am Spieltisch den unglücklich Spielenden niemals unterstützen soll.«
Der Sekundaner stotterte einige unverständliche Worte und steckte sein Geld wieder ein, wahrscheinlich froh, sein Goldstück zu behalten; in demselben Augenblicke aber trat der andere unmittelbar vor mich hin. Seine Augen funkelten vor Zorn, die Nasenflügel blähten sich weit auf, seine Stimme zitterte:
»Darf ich bitten, Ihre Worte noch einmal zu wiederholen?«
Ich mußte unwillkürlich lächeln. Der schlanke, zartgebaute Junge wollte mich, der ich damals in meinem zwanzigsten Jahre bereits ein wahrer Hüne war, in solchem Tone zur Rechenschaft stellen.
»Gern, wie Sie wollen, sagte ich dann, ich machte Ihren Klassenkameraden nur darauf aufmerksam, daß es nicht recht ist, unglücklich Spielenden weiteres Geld zu leihen. Für Sie will ich indeß noch hinzufügen, daß es für den Verlierenden ein Zeichen von wenig Selbstbeherrschung ist, am Spieltisch noch Geld zu borgen.«
Ich wollte mich umwenden und gehen, in demselben Augenblick aber schlug der Sekundaner mich mit geballter Faust so heftig zwischen die Augen, daß ich halb vor Schmerz, halb vor Überraschung einige Schritte rückwärts taumelte.
In dem ersten Augenblicke wußte ich wirklich nicht, was ich sagen sollte, dann aber faßte natürlich auch mich ein wüthender Zorn, und ohne mich länger beherrschen zu können, sprang ich vorwärts gegen meinen Angreifer, der mit geballten Fäusten noch immer an derselben Stelle mich erwartete. Ein sekundenlanges Ringen und er lag am Boden. Meiner selbst nicht mehr mächtig wollte ich eben seine hülflose Lage benutzen und ihm den entehrenden Schlag vergelten, aber ebenso schnell sank auch meine Faust wieder zurück.
Ich hatte in sein Auge geschaut, das angstvoll dem Schlage entgegensah, und das war dasselbe Blau, dasselbe Auge, mit dem mich mein Schwesterchen einst, wenn ich zornig und böse war, immer so leicht versöhnt hatte.
Noch einmal schaute ich, halb noch zornig, halb von tiefer Wehmuth ergriffen, in das wunderbare Blau der Augen, dann ließ ich ihn los, stand langsam auf und ging, ohne ein Wort zu sagen, fort aus dem Zimmer.
Nur einem Deutschen konnte das passiren, nur einem Deutschen mit seiner eigenthümlichen, wenn ich es so nennen darf, Sentimentalität, nur bei einem Deutschen konnte sich der wilde Zorn so schnell in weiche Wehmuth verwandeln. Für jenen Tag danke ich es aber doch, daß ich ein Deutscher war, jener eine Tag hat mir mit seiner Sentimentalität viel, viel Glück gebracht. –
Ich hatte das Haus verlassen und mich langsam auf den Heimweg gemacht. Der Mond schien freundlich auf die Landstraße und die weiten Wiesen herab, die Luft in der Frühlingsnacht war köstlich, und über die ganze Natur schien ein Hauch von Ruhe und Frieden dahinzugehen.
Seit manchem Jahr hatte ich, vergraben in meine Bücher und bethört von dem Hochmuthe des Weltschmerzes, meiner lieben Todten nicht mehr gedacht, eine Scene wie die heutige hatte mir ihre Bilder erst von neuem heraufzaubern müssen. Ich schauerte leise bei all den Gedanken zusammen, was hatten die Lieben dort oben nur von mir denken müssen!
Ich schritt schneller vorwärts, es war mir peinlich, die Selbstvorwürfe auszudenken. Wozu auch schließlich?! Wollte ich der Sache auf den Grund gehen, so glaubte ich ja doch nicht an das Jenseits und die seligen Hallen der Todten, und der Staub in der Erde zürnt nicht!
Ich lachte auf, um mein Gewissen zu übertäuben, ich pfiff auch nachher noch eine Straßenmelodie, aber beides wollte nicht anschlagen, die Bilder der Vergangenheit stiegen immer von neuem empor.
Dann ergriff mich eine unsagbare Wuth gegen den dummen Jungen, der mir den infamen Schlag versetzt hatte, aber nicht der Schlag war es, der mich aufbrachte, die blauen Augen waren es mit ihrer albernen Ähnlichkeit.
Wieder schritt ich schneller, ich wollte heim, fort aus diesem ewiggleichen, ruhigen Mondlichte zu meinen Büchern und ihren Theorien, da erst konnte ich wieder Ruhe und Selbstbeherrschung finden.
Ein zweiter nächtlicher Wanderer hatte mich unterdeß fast eingeholt. Es mußte natürlich einer von den Gymnasiasten sein, der gern einen Begleiter wünschte und nun mich wahrscheinlich dazu ausersehen hatte, dem stereotypen Geschwätz von Schule und Schulangelegenheiten wieder einmal zuzuhören. Ich ging möglichst schnell, um ihn nicht näher kommen zu lassen, aber endlich fiel mir ein, daß es vielleicht ganz gut sei, mit ihm ein Gespräch anzuknüpfen, um so wenigstens auf andere Gedanken zu kommen. So blieb ich denn stehen und erwartete ihn. Aber wie erstaunt war ich, als ich meinen Gegner von vorhin, den Sekundaner erkannte.
Das war gut, so sollte der Bursche wenigstens hier draußen von mir hören, wie flegelhaft sein Betragen gegen mich gewesen.
Schnell und ohne zu zögern kam er auf mich zu, und ehe ich noch ein Wort ihm hatte sagen können, bot er halb bittend mir seine Hand. Dann sagte er mit leiser, unsicherer Stimme:
»Ich bitte Sie, Berger, verzeihen Sie mir. Es ist gut, daß ich Sie heute noch treffe, ich bitte Sie, verzeihen Sie mir. Ich bin sehr jähzornig und leidenschaftlich, und ich habe gehandelt wie ein« – Er brach ab.
Die Hand, die er mir geboten hatte, zog er langsam zurück, er hatte wohl nicht erwartet, daß ich dieselbe nicht annehmen würde.
Einen Augenblick zögerte ich noch, dann aber trat ich schnell einen Schritt vorwärts und nahm mit beiden Händen die dargebotene Rechte.
Es war nicht böser Wille meinerseits gewesen, der mich die so offen und freimüthig gebotene Hand der Versöhnung nicht gleich hatte ergreifen lassen, aber ich war so erstaunt, so völlig überrascht gewesen von seinen bittenden Worten, daß ich gar nicht daran dachte, auch meine Hand ihm zu reichen.
Es giebt nur wenige Menschen im Leben, die in der Überzeugung, unrecht gehandelt zu haben, dies aus eigenem Antriebe dem Gegner gestehen, am allerwenigsten aber wird man sie unter der Jugend finden. Es gehört ein starker Charakter, eine edle Gesinnung dazu, sein Unrecht rückhaltlos einzugestehen und es giebt kaum eine Tugend, die ich an einem Menschen höher schätze, als gerade diese.
»Ich danke Ihnen, sagte ich, ich danke Ihnen herzlich für dies offene Entgegenkommen, gern bin ich bereit, jene Sache, die mich allerdings zuerst auf das äußerste empört hat, zu vergessen.«
Er sah mir nicht in die Augen, wohl um die hervorquellenden Thränen vor mir zu verbergen, und so konnte ich ihm denn voll und ganz ins Gesicht schauen. Erst jetzt sah ich, welch wunderbar schöne, fein geschnittene Züge er hatte. Man hätte glauben können, es sei ein Mädchen, das sich zum Scherz verkleidet, aber der feste Zug des Mundes und die kühne Wölbung der hohen Stirn ließen doch wieder den Jüngling leicht erkennen.
»Und Sie heißen?« fragte ich dann.
Er blickte auf. »Ich heiße Charley v. Ubesch.«
Ich reichte ihm nochmals die Hand.
»Lassen Sie uns Freunde werden, Charley v. Ubesch, sagte ich, daß ich Ihnen ein treuer Freund sein werde, das verspreche ich Ihnen fest, und daß Sie es sein können, haben mir Ihre offenen Worte von vorhin voll und ganz bewiesen.
Er antwortete nicht, aber er preßte meine Hand fest zusammen, und der ernste volle Blick der blauen Augen sagte mehr, als alle Worte vermocht hätten.
Dann gingen wir zusammen heimwärts.
Er hielt in seiner Erzählung inne.
»Das war mein erstes Zusammentreffen mit Charley v. Ubesch, dem ich vor wenig Wochen mit der Waffe gegenüberstand, der mich niedergeschossen hat und der nun allein und verlassen ein ruheloser, seiner Ehre beraubter Mann, in der Fremde umherirrt.
Wie das alles gekommen ist, morgen will ich es Dir weiter erzählen, heute kann ich nicht mehr. Die Erinnerung ist doch stärker, wie mein armer Kopf glaubte.«
Ich führte Hans zurück in die Kammer auf sein Krankenlager, die Erzählung hatte ihn furchtbar ergriffen.
Für mich war die Sache noch immer ein Räthsel, wie es kommen konnte, daß Hans sich so ganz mit einem Manne entzweit haben sollte, den er einmal seinen Freund genannt hatte.
Als ich nach einigen Stunden wieder in die Kammer trat, schlief Hans ziemlich ruhig, auf dem Tische neben seinem Bette aber lag eine kleine Photographie, sie stellte offenbar Charley v. Ubesch dar aus jener Zeit, da Hans ihn kennen gelernt hatte.
Am andern Abend hatte sein Zustand sich wieder bedeutend verschlimmert, aber trotz aller meiner Bitten ließ er sich nicht abhalten, in seiner Erzählung, die ihn doch so augenscheinlich aufregte, fortzufahren.
»Seit jenem Abend«, so erzählte er, »begann für mich ein neues, nie gekanntes Leben. Ich, der ich als Knabe und Jüngling stets einsam und allein dagestanden hatte, der ich immer nur auf mich selbst angewiesen gewesen war, hatte in Charley einen Freund gefunden, wie man ihn sich offener, selbstloser und herzlicher nicht denken konnte.
Das erste, was er that, war, daß er mich zu seiner Mutter führte, eine der liebenswürdigsten Frauen, die ich je kennen gelernt habe. Sie war erst seit kurzem mit Charley, ihrem einzigen Sohne, von England herübergekommen. Charley's Vater war dort Gesandter am englischen Hofe gewesen, und war vor nun etwa einem halben Jahre in der Blüthe seiner Kraft in Folge einer Erkältung an der Lungenentzündung gestorben. So war die Familie denn nach Deutschland zurückgekehrt.
Die Baronin war sehr leidend. Ihre meist so müden Augen und die einst gewiß sehr schönen, jetzt eingefallenen, blassen Züge zeigten nur zu gut, daß auch ihr Lebensziel nicht mehr weit entfernt sei. Um so rührender war es zu sehen, mit welcher Liebe sie an ihrem Kinde hing. Aber auch Charley, der wohl ahnen mochte, wie kurze Zeit nur noch die Mutter bei ihm bleiben konnte, suchte auf jede Weise auch in kleinsten Dingen seiner kindlichen Liebe Ausdruck zu geben, und so schlang sich denn um Mutter und Sohn ein Band wahrhaft rührender Liebe, Sorgfalt und Aufopferung.
Und in diese Familie kam ich hinein, hier sollte ich zum ersten Male ein wahres, herzliches Familienleben kennen lernen.
Die Baronin war eine hochgebildete Frau, mit der ich mich oft stundenlang über philosophische Fragen aller Art unterhalten konnte. Charley saß dann stumm abseits, seine großen, glänzenden Augen bewiesen aber, wie stolz es ihn machte, seine Mutter mit mir über solche Dinge sprechen zu hören.
Es war ein eigenthümliches Freundschaftsverhältniß, daß so unerwartet und in so sonderbarer Weise zwischen dem zwanzigjährigen Primaner und dem fünf Jahre jüngeren Secundaner entstanden war, aber gewiß ist auch, daß selten wohl ein Freundschaftsbund herzlicher und inniger gewesen sein kann.
Charley war ein merkwürdiger Charakter.
War feine Natur auch vorwiegend fröhlich und heiter, so konnte es doch auch Augenblicke geben, in denen ein seltsamer Ernst, eine tiefgehende, fast an Schwermuth grenzende Nachdenklichkeit sich seiner bemächtigte; aber in Scherz und Ernst, ob jubelnd oder still, stets mußte Charley's Wesen mich sympathisch berühren.
Was aber vor allem unsere Freundschaft zu einer so festen machte, das war die unbegrenzte Offenheit, mit der Charley vom ersten Tage unserer Freundschaft an mir stets entgegentrat. Es gab in der That wohl nichts, was er mir je verschwiegen hätte, und ich muß offen gestehen, daß es Monate lang gedauert hat, bis ich endlich dahin kam, nun auch von meiner Seite Charley gegenüber so voll und ganz offen zu sein.
Ich kann nicht sagen, wie glücklich und stolz es mich machte, Charley, wenn er mir irgend ein Leid klagte, zu helfen oder doch zu rathen; es war für mich ein wunderbares Gefühl, nun jemand zu haben, der sich, an mich anlehnte, der meine Hülfe in Anspruch nahm und mir ganz vertraute.
Wer niemals Liebe erfahren hat, dem fällt es auch schwer, seine Zuneigung jemandem zu beweisen, und so waren die Freundschaftsbezeugungen von meiner Seite gewiß oft sehr schwerfällig und zurückhaltend, aber von Charleys Seite waren die Beweise seiner herzlichen Liebe zu mir weit leidenschaftlicher. Ich habe auch nie jemand gesehen, der so unglaublich schnell aus der größten Ruhe in die wildeste Leidenschaftlichkeit verfallen konnte. Alles Unedle, Niedrige konnte ihn auf das Aeußerste empören, andrerseits war aber auch nichts so sehr im Stande, ihn zu fesseln und zu reizen als – die verschiedenen Arten des Hazardspieles. Wir gingen wohl noch einige Male zusammen nach jener Wirthschaft, aber am Spieltische war Charley dann plötzlich ein anderer. Seine schönen glänzenden Augen funkelten dann förmlich vor Aufregung, seine Lippen kniffen sich fest zusammen, und das Gesicht ließ jede Regung seines Gefühls, der Freude oder des Aergers, deutlich erkennen.
Mit Angst und Schmerz sah ich jedesmal diese Veränderung in Charley vorgehen, aber ich hatte dort alle Macht über ihn verloren. Was sollte das werden, wenn er einmal größere Summen in die Hand bekam, wenn er später erst allein stehen würde?
Und so faßte ich mir denn einmal ein Herz, als wir zusammen eines Abends durch den Wald einen Spaziergang unternommen hatten, und bat ihn, mir fest zu versprechen, niemals wieder am Hazardspiele Theil nehmen zu wollen.
Einen Augenblick zögerte er, dann aber reichte er mir schnell, fast freudig die Hand.
»Ich verspreche es Dir, Hans, niemals wieder.«
Ich athmete auf, so war diese Gefahr doch von Charley abgewandt.
Wenn man sagt, daß so oft im Leben Gegensätze sich berühren, so konnte man bei uns beiden diesen Satz gewiß am ersten in Anwendung bringen. Charley fröhlich, sorglos, fast immer vom Sonnenscheine des Lebens angestrahlt, und ich dagegen meist ernst, wenn nicht gar schwermüthig. Waren wir aber zusammen, so waren wir oft wie ausgetauscht. War ich bei Charley, so verflog meist mein Ernst und ich konnte scherzen und lachen, wie ich es nur vor langen Jahren als Kind gethan. Charley aber wurde bei mir weit ernster als sonst. Es war doch ein gewisser sinnender Zug über ihn gekommen, seit er mit mir verkehrte, und Charley, der leichtlebige, konnte Stunden lang ernst und aufmerksam zuhören, wenn ich auf unseren täglichen Spaziergängen altklug über die ernstesten Dinge, über Philosophie und Religion, über Literatur und Kunst, immer wieder sprach.
So flog das letzte Jahr meiner Schulzeit schnell dahin, ich hatte mein Examen bestanden, und nun war die Zeit des Universitätslebens gekommen, und ich sollte fort dahin, wohin früher all mein Sehnen gestanden hatte.
Am letzten Abend war ich noch bei Frau v. Ubesch. Wir drei saßen zusammen in dem Zimmer der Baronin, die Dämmerung war herabgesunken, und es lag eine gewisse Schwermuth über uns. Das Gespräch wollte nicht recht in Gang kommen, Charley war sehr erregt, er hatte den ganzen Abend kaum ein Wort gesprochen.
Die Baronin führte fast allein das Gespräch, sie suchte mich zu trösten, indem sie von der Universität und dem lustigen Studentenleben sprach. Sie scherzte und lachte dann bisweilen, aber man fühlte doch, daß es ihr nicht von Herzen kam, daß sie sich nur um Charley's und meinetwillen Gewalt anthat.
Die arme Frau hatte in der letzten Zeit wieder beängstigend blaß ausgesehen und viel gehustet, aber heute, an dem ersten schönen Frühlingstage war sie mir wohler wie seit langer Zeit erschienen.
Als sie dann aber davon sprach, daß wir uns nun vielleicht erst in einem Jahre wiedersehen würden, da erhub sich Charley und verließ das Zimmer.
Einige Augenblicke schwiegen wir beide auch tief bewegt, dann aber stand die Baronin auf und setzte sich zu mir.
»Herr Berger, sagte sie mit ihrer vor kurzem noch so melodischen, jetzt halb gebrochenen Stimme, Herr Berger, seien Sie meinem Charley, auch wenn ich nicht mehr bin, immer ein treuer Freund; nicht wahr, Sie versprechen es mir?«
Ich reichte ihr stumm die Hand, sie hielt sie fest in der ihren.
»Ich weiß ja nur zu gut, sagte sie, daß ich nicht lange mehr bei Charley bleiben werde, der Kampf hier innen geht bald zu Ende, aber Sie glauben nicht, mit welcher Todesangst ich der Zukunft meines Kindes entgegensehe. Charley ist ein guter, vortrefflicher Junge, das wissen wir ja beide, aber der unselige Leichtsinn, das verderbliche Erbtheil seiner Familie, wird auch ihm noch schwere Leiden dereinst bereiten.«
Ich suchte die arme Frau zu beruhigen, aber sie unterbrach mich fast heftig.
»Lassen Sie das, Herr Berger, lassen Sie das, ich bitte Sie, sagen Sie mir keine tröstenden Worte, von denen Sie ja selbst wissen, daß ich nicht daran glauben darf. Sagen Sie mir nur das eine Wort, daß Sie nie, nie Charley verlassen werden, daß Sie seine Ehre zu der Ihren machen wollen.«
Und ich habe ihr das Versprechen gegeben. Früh am andern Morgen wollte ich abfahren, so nahm ich denn schon am Abend von der Baronin Abschied.
Als ich ihr Thränen in den Augen meine Hand reichte, zog sie mich an sich und drückte ihre Lippen auf meine Stirn.
»Möge es Ihnen gut gehen und möge der Herr Sie vor allem Bösen bewahren.«
Ich sollte die Baronin nicht wiedersehen. In meinem Andenken aber lebt sie neben meiner Mutter als die edelste Frau, die ich im Leben gekannt, als die einzige, der ich je nahe gestanden habe.
Der Abschied am andern Morgen von Charley war sehr ruhig. Charley nahm sich fest zusammen, aber man sah ihm wohl an, wie tief ihn der Abschied berührte.
Als ich aber auf dem Perron des Bahnhofes in den Wagen stieg, wandte er sich ab und sah stumm zur Seite.
Die Pfeife des Zugführers ertönte, die Waggons wurden geschlossen, der Zug setzte sich in Bewegung.
Noch ein letzter Händedruck, dann mußte Charley zurücktreten.
Die Studenten, mit denen ich zusammen fuhr, zogen ihre Pfeifen hervor, und begannen ziemlich unharmonisch ihre lustigen Lieder anzustimmen.
»Ade, ihr blonden Mädchen,
Ade Philisterstädtchen,
Ihr Musen seid gegrüßt –«.
Ich aber beugte mich aus dem Fenster des Coupees und schaute zurück. Charley war bald meinen Blicken entschwunden, aber noch lange, lange sah ich rückwärts. Damals ahnte ich wohl nicht, daß fünf Jahre vergehen sollten, ehe ich Charley wiedersah, fünf lange Jahre, in denen ich täglich an ihn dachte und ihm doch so fern war.
Ich war erst wenige Wochen fort, als ich von Charley die Nachricht vom Tode seiner Mutter erhielt. Mit dem ganzen maßlosen Schmerze, den der Tod einer solchen Mutter hervorbringen mußte, schrieb mir der arme Junge das schwere Leid, das ihn betroffen, aber auch mit der ganzen fast wilden Leidenschaft, die ihn beherrschte, bat er mich, den einzigen Freund, den er habe, ihn zu sich zu nehmen, ihn nicht zu verlassen.
Was hätte ich nicht darum gegeben, wenn das möglich gewesen wäre!
Dann wenige Wochen später kam ein neuer Brief aus Wien. Sein Vormund, Graf Garten hatte ihn zu sich in seine Familie genommen, er hatte meine Vaterstadt verlassen müssen, er war nun noch um so viel weiter von mir entfernt.
Das waren harte Schläge. Das trauliche Heim war mir nun für immer genommen, die von mir verehrte, wahrhaft geliebte Frau war todt, und Charley war weit, weit weg.
Und so vergingen Wochen, Monate, Jahre. Was soll ich Dir erzählen von meinem Leben auf der Universität, theils kennst Du es selbst, theils war es auch zu arm an Ereignissen, um länger dabei zu verweilen.
Charley schrieb in den ersten Jahren sehr, sehr oft, später wurde unser Briefwechsel seltener. Was sollten wir uns auch schließlich viel schreiben, wir konnten eben immer nur von neuem sagen, wie sehr wir uns nach einander sehnten, wie treu unsere Freundschaft auch jetzt noch sei.
Ich hatte meine medicinischen Studien beendet und war in Berlin in einer bedeutenden Klinik als Assistenzarzt angestellt worden. Ich hatte ursprünglich die Absicht gehabt, einige Jahre auf Reisen zuzubringen, und das reiche Vermögen, daß ich von meinen Eltern geerbt, hätte mir das ja auch leicht möglich gemacht, aber andrerseits war mir mein Beruf doch zu lieb, um ihn so Jahre lang zu unterbrechen. Da eines Tages erhielt ich ein Telegramm aus Magdeburg, Charley wollte am Abend noch in Berlin eintreffen.
Die Nachricht kam völlig unerwartet. Ich wußte, daß Charley seit einem Jahre in einer Provinzialstadt Schlesiens bei den Husaren als Avantageur eingetreten war, daß er aber nach Berlin kommen wollte, hatte ich nicht gewußt.
Mit welchen Gefühlen ich am Abend auf dem Bahnhofsperron den Zug heranbrausen sah, kann ich nicht beschreiben. Nach fünf Jahren zum ersten Male den Liebling meiner Jugend wiedersehen! Und so unerwartet! O, es war zu schön, ich war glücklich!
Wie wird er aussehen? Wird er viel größer geworden sein? Wird er noch die blonden Locken tragen und so fröhlich noch lachen können?
Tausend ähnliche Fragen legte ich mir vor, und als ein Bettler mir seinen Hut bittend hinstreckte, warf ich mein ganzes Silbergeld hinein. Der Mann sollte auch so glücklich sein, wie ich. Aber nein, so glücklich nicht, das war ja nicht möglich, aber doch froh, heiter, etwas wenigstens glücklich.
Der Zug hielt, die Thüren wurden aufgerissen, aber wo war Charley?
Ich suchte und suchte alle Coupées entlang, Charley war nicht da. Aber da plötzlich umschlangen mich von hinten zwei Arme, ein Gesicht beugte sich über meine Schulter, und »Hans, lieber alter Hans« jubelte die wohlbekannte Stimme Charleys. So hatte ich ihn denn wiedergefunden.
Wenige Minuten später saßen wir in meinem Wagen und fuhren der Stadt zu. Es war ein Fragen und Erzählen und wieder Fragen, und die Minuten eilten wie Sekunden dahin.
Dann betraten wir meine Wohnung. Ich hatte alles glänzend erleuchten lassen, und nun stand Charley beleuchtet von dem strahlenden Lichte vor mir.
Ja, das war Charley, das war mein Liebling, das war noch ganz der frohe glückliche Knabe von damals. Wohl war er größer und schlanker geworben, aber das liebe treue Gesicht mit den blauen Augen und den blonden Locken war dasselbe geblieben.
Die Abschiedsstunde kam nur zu bald, aber sie war doch anders wie damals, als ich Charley zum ersten Male verließ.
Wir waren keine Kinder mehr, heute wußten wir ja, daß die Wogen des Lebens uns wohl trennen konnten, aber doch immer wieder zusammenbringen mußten.
Damals ahnte ich nicht, wie ich nach einem einzigen kurzen Jahre Charley wiederfinden sollte.
Wenige Monate nach jenem Besuche wurde Charley hierher in Deine Vaterstadt versetzt; er war mir nun viel näher, aber ich kam doch nicht dazu, ihn einmal aufzusuchen.
Und nun kam jene unselige Zeit, in der die festen Grundpfeiler unserer Freundschaft allmählig, ganz allmählig zu wanken begannen.
Es kam vor, daß Charley Monate lang nicht schrieb, und dann so flüchtig, so offenbar gezwungen, daß jeder seiner Briefe mich tief, tief schmerzen mußte. Ich schrieb ihm liebevolle Mahnungen, aber er beachtete sie nicht, und so kam es denn endlich dahin, daß ich länger wie ein halbes Jahr kein Wort von Charley mehr hörte.
Was ich in jener Zeit gelitten habe, das kann ich Dir nicht sagen, war meine düstere Ahnung nun in Erfüllung gegangen, hatte die arme Mutter nun doch Recht behalten?
Endlich hielt ich diese Ungewißheit nicht länger aus, ich packte einige wenige Sachen zusammen und fuhr mit dem nächsten Schnellzuge hierher. Ich mußte Charley wiedersuchen, vielleicht kamen meine Bitten noch nicht zu spät.
Es war ein stürmischer Winterabend, Du entsinnst Dich jener Nacht, lieber Wilhelm, als ich hier auf dem Bahnhofe ankam. Ich fuhr ins Hotel und dann nach Charleys Wohnung. Der Baron sei im Club, versicherte mir der Diener, dort würde ich ihn sicher treffen.
So fuhr ich denn dorthin.
Es war wie ein Alpdruck, der sich mir auf die Brust legte, als ich die breiten Marmortreppen hinaufstieg; in wenigen Augenblicken sollte ich ihm nun gegenüberstehen.
Der Kellner wies mich auf meine Frage nach dem Baron v. Ubesch in das Spielzimmer, ich gab ihm meine Karte und beauftragte ihn, dem Baron zu melden, daß ich im Vorzimmer ihn erwarte.
Wenige Augenblicke später stand Charley vor mir. Er gab sich sichtlich Mühe, den schweren Rausch, in dem er sich schon jetzt befand, vor mir zu verbergen, und es war herzzerreißend für mich, anzusehen, wie der Mund, der sonst so fröhlich lachte, heute sich vergebens bemühte, einige freundliche Worte des Empfanges zu finden.
Ich führte ihn zu dem Divan; ihn so länger wanken zu sehen, war mir unmöglich.
Mit wenigen Worten erzählte ich ihm, daß Geschäfte mich hierhergeführt hätten, und daß ich es nicht hätte versäumen wollen, ihn noch heute aufzusuchen. Den wahren Grund meines Hierseins verschwieg ich ihm.
Er hörte fast theilnahmlos zu, nur bisweilen hob er den Kopf empor und sah mich einige Augenblicke an.
Wie grausam hatte doch ein Jahr, ein einziges Jahr dem armen, armen Charley mitgespielt! Tiefe, furchtbare Leidenschaften hatten sich in die feinen schönen Züge fest eingegraben, und die sonst lachenden blauen Augen schauten so stier, so entsetzlich leer.
Was ich ihm dann noch alles gesagt habe, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur noch, daß Charley auf einmal aufstand und mich bat, ihm ins Spielzimmer zu folgen, die Herren drinnen warteten auf ihn, er sei gerade am Pointiren gewesen.
»Am Pointiren, Charley? Beim Hazard?«
»Ja, beim Hazard, entgegnete er leicht, findest Du etwas darin?«
Ich antwortete nicht, dann betraten wir das Zimmer.
Charley stellte mir flüchtig die Herren, meist Husarenofficiere, vor, dann nahm er, ohne weiter auf mich zu achten, seinen Platz am Spieltische wieder ein.
Einer der Herren, Graf Leskow, unterhielt sich mit mir, aber ich konnte ihm nur mechanisch antworten; dort am Spieltische saß ja Charley, Charley, mein Liebling, mein Stolz, Charley ein Spieler, ein Wortbrüchiger.
»Der Baron hat wie fast immer, so auch heute Unglück, sagte der Graf, sehen Sie nur, wie er Karte auf Karte verliert.« O, ich sah es nur zu gut. Ich sah auch, wie Charley mehr wie einmal zusammenzuckte, wie seine eben noch starren Augen funkelten, wie er ein Glas Champagner nach dem andern hinuntergoß, wie seine Hand zitternd die Summen auf die Karte legte.
Was ich in jenen Minuten gelitten habe, Wilhelm, das wird nur der begreifen können, der auch einmal an dem Abgrund stand, in dem sein Liebstes versinkt. Vor mir in dem raucherfüllten Spielzimmer Charley an dem verhängnißvollen Tische, ohne auf mich weiter zu achten, der furchtbare Gedanke, daß er, daß Charley sein Wort gebrochen, und dann endlich die Nothwendigkeit, den einzelnen Herrn auf ihre Worte und Fragen einiges antworten zu müssen. Aber ich biß die Zähne zusammen und blieb.
Charley verlor unerhörte Summen, Tausende rollten herüber und hinüber, es war unbegreiflich, wie er bei seinem doch verhältnißmäßig nicht großen Vermögen ein solch wahnsinniges Spiel wagen konnte.
Ich trat hinter seinen Stuhl und bat ihn in leisem Tone aufzuhören, aber er antwortete mit einem heftigen: »Ich bitte, laß doch.«
So trat ich denn zurück; gleich darauf kamen einige der Herren auf mich zu und baten mich, ein Glas Wein mit ihnen zu trinken. Ich konnte ihnen die Bitte nicht abschlagen, und wir setzten uns nieder.
Der Wein mochte für einige Minuten mich beruhigt haben, ich begann, allmählig mir klar zu machen, was zu geschehen sei.
Alles hätte ich Charley verziehen, seinen grenzenlosen Leichtsinn, seine wahnsinnigen Leidenschaften, alles, alles, aber für dies Eine gab es keine Entschuldigung.
Charley hatte sein Wort gebrochen, und ein Ehrloser konnte und durfte nicht länger mehr von mir Freund genannt werden.
Und da wieder stieg jener Abend in meinem Gedächtnisse empor, jener Abend, da die Baronin Ubesch gesagt:
Verlassen Sie Charley nicht, machen Sie seine Ehre zu der Ihren.«
Aber was thun? Was thun?
»Nun, Ubesch, wollen Sie nicht mehr spielen? Sind Sie fertig? Wie?«
Einer der Officiere hatte diese Worte an Charley gerichtet, der, ohne daß ich es gesehen, an unseren Tisch herangetreten war.
Charley konnte sich offenbar nur mit Mühe noch aufrecht erhalten, sein Gesicht war blaß, verzerrt, seine Augen blickten wie hülfesuchend umher. Langsam, schwankend kam er auf mich zu, und ohne zu beachten, daß alle die Herren am Tische auf uns sahen und jedes Wort hören konnten, sagte er langsam:
»Hans, ich bitte Dich, leih mir baar oder auf Wechsel zehntausend Mark.«
Ich stand auf und wollte ihn mit mir hinausnehmen, aber er blieb.
»Zehntausend Mark, Hans, es ist für Dich eine Bagatelle, ich bitte Dich darum.«
Das war dieselbe Scene wie damals am Spieltische der Gymnasiasten.
»Charley, sagte ich und versuchte, seinen Arm zu nehmen, laß uns in das Vorzimmer gehen, wir können dort die Sache besser besprechen.«
Aber er ging nicht.
»Ja oder nein, Hans? Willst Du oder nicht?«
Es war eine entsetzliche Lage. Ich fühlte, wie das Blut mir zu Kopfe stieg, wie meine Sinne zu versagen drohten, aber ich wußte, was auf dem Spiele stand, und noch einmal nahm ich mich zusammen.
»Charley komm, sagte ich, wir können draußen ja alles besprechen, komm, Charley, komm mit.«
Ich reichte ihm den Arm, aber heftig stieß er ihn zurück.
»Ja oder nein, Hans? Zum letzten Male, ja oder nein?«
Da wallte es in mir auf.
»Nein, Charley, keinen Pfennig dem Spieler.«
Das Wort war heraus, ich hatte nicht anders sprechen können.
Aber die Wirkung war entsetzlich.
Ich sah, wie in Charley die furchtbare Leidenschaft wieder aufstieg, seine Hände ballten sich, seine Augen funkelten vor Haß und Zorn. Er versuchte zu sprechen, secundenlang bewegte sich nur der Mund, aber kein Ton drang heraus.
Da endlich brachte er das Wort doch hervor:
»Ein Lump, der seinen Freund so verläßt.«
Und wie damals bei dem Faustschlage, so taumelte ich auch heute zurück; es konnte ja nicht sein, es war ja nicht möglich.
Was ich in den nächsten Minuten gesagt oder gethan habe, weiß ich nicht mehr. Ich sah, fast ohne darauf zu achten, wie Graf Leskow später auf mich zukam, wie er mich bat, die Waffen zu bestimmen und einen der anwesenden Herren als Sekundanten zu wählen.
Ich weiß auch, wie ich ihm Deinen Namen nannte und ihn ersuchte, alles andere zum nächsten Morgen besorgen zu wollen. Er hat dann ja auch alles auf das zuvorkommendste geordnet.
Ich ließ mir dann Wein geben und stürzte ein Glas nach dem andern hinunter, ich konnte ja noch immer nicht ruhig denken.
Einmal plötzlich fuhr mir der Gedanke durch den Sinn: Hat nicht das gütige Schicksal selbst die Sache so geleitet? Kann nicht allein die Kugel seine Ehre wieder herstellen? Aber dann sah ich Charley vor mir liegen, blutend, auf den Tod verwundet, und schon jetzt wußte ich, daß meine zitternde Hand ihn niemals treffen würde.
Einer nach dem andern von den Herren verließ das Zimmer, ich war fast allein. Ich beschloß, Dich aufzusuchen und wollte eben gehen, als einer der Herren, offenbar ein Officier in Civil, auf mich zutrat, und mich ersuchte, einige Augenblicke noch zu bleiben. Nach einigen einleitenden Worten kam er schnell zur Sache. Er theilte mir mit, daß er von dem Baron Ubesch Ehrenscheine im Betrage von 37000 Mark, fällig in zwei Tagen, erhalten habe, die der Baron jedenfalls fürs Erste nicht werde zahlen können. Ein weiterer Ehrenschein über 8000 Mark sei gestern fällig gewesen, von dem Baron aber nicht eingelöst. Es bedürfe nur eines Wortes von meiner Seite und er verpflichte sich, noch heute Abend die nöthigen Schritte zu thun, um das Duell zu verhindern. Auf keinen Fall sei ich verpflichtet, mit einem Officier mich zu schießen, der seine Ehrenscheine zu bezahlen nicht im stande sei.
Also so weit war es mit Charley gekommen!
Bei den ersten Worten des Menschen hatte ich seine Absicht erkannt, es war ihm natürlich nur darum zu thun, ein Duell zu vereiteln, das ihm beim Tode des Barons sein ganzes Geld kosten konnte, aber ich ließ ihn zu Ende reden.
»Haben Sie die Scheine bei sich?« fragte ich ihn.
Er bejahte es und breitete dieselben vor mir aus.
»Und Sie wären bereit, sie mir käuflich zu überlassen?«
»Wieso, sagte er, ich verstehe Sie nicht?«
»Ich meine, ob Sie bereit sind, gegen einen Wechsel auf meinen hiesigen Bankier die Papiere mir zu verkaufen?«
Er schaute mich erstaunt an, natürlich konnte er mich nicht verstehen; dann aber verbeugte er sich: »Ich bin bereit.«
Ich entnahm meiner Brieftasche fünf Noten von 1000 Mark und schrieb eine Anweisung in der Höhe von 40000 Mark an meinen Bankier. Dann reichte ich ihm beides und nahm die verhängnißvollen Ehrenscheine an mich.
Er wollte noch einmal von der Sache beginnen, aber ich ersuchte ihn, mich mit weiteren Fragen zu verschonen; übrigens erklärte ich ihm, daß ich auf das Bestimmteste erwarte, daß er gegen jedermann über die Sache Schweigen beobachten werde.
Er lächelte und verbeugte sich, der Wunsch war auch wohl zu überflüssig.
Dann ging ich und fuhr zu Dir.
Alles Übrige, lieber Wilhelm, weißt Du. Unseliges Verhängniß, daß ich am andern Morgen ihn nicht traf, alles, alles wäre anders geworden! Damals ahnte noch niemand, wie es mit ihm stand, und mit seinem Tode hätte er die schwere Schuld ja auch gesühnt.
Und nun – nun –
O Charley, Charley!
So war denn das Dunkel, das über jenem Duell noch geschwebt hatte, gelüftet, nun wußte ich, weshalb Hans seinen Beleidiger so unerbittlich hatte niederschießen wollen, nun wußte ich, weshalb der Baron Ubesch an jenem Morgen neben seinem blutenden Gegner im Schnee gekniet hatte.
Aber das Trauerspiel hatte sein Ende noch nicht erreicht, der letzte Akt sollte noch folgen.
In der kommenden Nacht hatte Hans wieder heftiges Fieber. In all den wilden Phantasien klang immer der Name Charley bald klagend, bald bittend hervor. Wie tief mußte die Liebe sein, die Hans für Charley v. Ubesch gehegt hatte, und die ja so offenbar noch immer dieselbe war!
Nur bei einem Manne, dessen Jugend fast gänzlich einsam und liebeleer gewesen war, konnte eine so große, so unendlich tiefe Liebe zu einem Freunde entstehen und fortdauern.
Am frühen Morgen ließ das Fieber nach; als ich an sein Lager trat, begrüßte er mich herzlicher wie gewöhnlich. Dann entnahm er seiner Brieftasche zwei Bilder, das eigene und das Bild Charleys, es war dasselbe, welches ich schon damals bei ihm gesehen hatte, Charley als fünfzehnjähriger Knabe.
Dann reichte er mir beide.
»Zum Andenken, Wilhelm, zum Andenken an mich und meinen verlorenen Jugendfreund.«
Als ich spät Abends vom Gericht zurückkehrte, um mit Hans zusammen in meiner Wohnung zu Nacht zu essen, kam meine Wirthin mir mit verweinten Augen entgegen.
»Er ist fort, Herr Assessor, rief sie schon von weitem, er ist fort, haben Sie denn nichts davon gewußt?«
»Wer ist fort? fragte ich erstaunt.
»Nun, der Herr, der Kranke, der arme, arme Kranke! Und in dem Fieber, Herr Assessor, und wo er noch so blaß und krank und schwach war!« Und sie fing von neuem an zu weinen.
»Wie? schrie ich, Hans fort? Hans ist weggereist?«
Ich glaubte anfangs, die Alte sei nicht recht bei Sinnen, aber es war doch so.
Hans hatte in seinem Fieber mich verlassen und war fort.
Auf dem Tische lag ein Brief von ihm, und nun wurde mir alles klar.
Er schrieb in wenigen herzlichen Worten, wie leid es ihm thue, so heimlich von mir zu gehen, aber er wisse ja, daß ich ihn noch nicht würde reisen lassen, und so bleibe ihm nichts übrig, als in solcher Weise von mir Abschied zu nehmen.
»Daß ich keine Minute mehr Ruhe haben würde, so schrieb er, das weißt Du, lieber Wilhelm, und so gehe ich denn hinaus in die Welt, um Charley zu suchen. Ob ich ihn finden werde und wo und wie, das weiß ich nicht, aber suchen, Wilhelm, muß ich ihn.«
So war ich denn allein.
Ich warf mich in den Sessel, und mir war, als seien diese letzten Monate mit all ihrer Angst und Sorge nur ein schwerer, grausamer Traum gewesen. Ich saß wieder allein in meinem Stübchen, die Flamme im Ofen knisterte wieder wie an jenem Abend, und der Kessel summte vor mir auf dem Tische.
Aber daneben lagen auch die beiden Bilder. Hans und Charley, ihre Geschichte war kein Traum.
Wieder waren vier Monate ins Land gegangen, längst war der traurige Winter geflohen, und Frühling und Sommer hatten seine Spuren verwischt.
Dreimal hatte ich in dem langen Zeitraume Briefe von Hans erhalten, Briefe, die indessen so kurz waren, daß ich nur eben daraus ersehen konnte, wo Hans sich aufhielt, und wie seine Nachforschungen sich gestalteten.
Der erste war von London, der zweite von Edinburg und der dritte wieder von London aus geschrieben.
Körperlich und geistig mußten diese ewigen erfolglosen Nachforschungen Hans sehr angegriffen haben, der dritte Brief lautete fast verzweifelnd.
Die letzten Worte waren: »Und Charley habe ich noch immer nicht gefunden. Oft will mir eine innere Stimme zurufen: kehr um, unnöthig irrst du umher, der, den du suchst, ist längst gestorben, verdorben. Aber dann plötzlich steht wieder das Bild seiner todten Mutter vor mir, und sie sagt wieder jene stehenden Worte: Verlassen Sie Charley nicht, machen Sie seine Ehre zu der Ihren.
Und dann irre ich von neuem weiter.«
Aber er hat ihn auch gefunden.
Wenige Wochen nachdem dieser letzte Brief in meine Hände gelangt war, erhielt ich von Antwerpen aus ein Telegramm von Hans: »Morgen Abend bin ich wieder bei Dir, ich habe das Ziel erreicht.«
Und nun saß er wieder bei mir im alten Stübchen. Als ich ihn auf dem Bahnhofe begrüßte, hatte ich ihn kaum wiedererkannt. Ein Jahr hatte ihn, der so blühend und kräftig gewesen, zu einem siechen, verfallenen Manne gemacht. Die braunen Haare waren grau geworden, und die früher blitzenden Augen schauten trostlos müde und leer.
Mein erstes Wort auf dem Bahnhofe war gewesen: »Und Du hast ihn gefunden, Hans? Und hast ihn gerettet?«
Langsam hatte er dann erwiedert: »Ja, gefunden und gerettet.«
Wir hatten dann stumm und einsilbig zusammen zu Abend gegessen; jetzt bat ich ihn, mir alles zu sagen.
Er setzte sich in den Sessel, zog den Schirm über die Lampe, so daß er halb im Schatten saß, und begann dann völlig ruhig, einförmig zu erzählen:
»Als ich an jenem Tage Dich verließ, hatte ich mir alles wohl überlegt.
Ich konnte Charley nur in England suchen, dorthin wiesen seine Worte, die er zu Leskow gesagt, und dorthin vor allem seine große Vorliebe für dies Land, in dem er seine Kindheit verlebt hatte.
Ich fuhr zuerst zu meinem Bankier und entnahm bei demselben einen beträchtlichen Theil meines Vermögens, theils baar, theils in Wechseln auf Londoner Häuser.
Dann begab ich mich zu Charleys ehemaligen Freunde, dem Grafen Leskow, der mich verwundert empfing. Meine Frage, ob er die Leute kenne, bei denen Charley jene Verpflichtungen eingegangen war, bejahte er und war auf die liebenswürdigste Weise bereit, meine Absichten zu unterstützen. Er bat mich, in seiner Wohnung ihn zu erwarten und machte sich dann sogleich auf den Weg. Spät Abends erst kehrte er zurück, aber er hatte auch alles erreicht. Er überlieferte mir ein kleines Päckchen Papiere, es waren theils Quittungen, theils Wechsel und Ehrenscheine. Als ich ihm danken wollte, reichte er mir seine Hand und sagte tief bewegt:
»Sie glauben nicht, Herr Berger, wie glücklich Sie mich machen, zu wissen, daß Ubesch's Name nun zum Theil wenigstens von der Schmach jener Scheine gereinigt ist.«
Der Graf ließ es sich nicht nehmen, in seinem Wagen mich zum Bahnhofe zu bringen, dann nahmen wir Abschied.
Der Zug brauste mit Windeseile durch die Nacht, aber ich hätte noch schneller dahineilen mögen, konnte doch jede Stunde vielleicht meine letzte Hoffnung vernichten.
Ich beugte mich aus dem Fenster und schaute auf die mondbeschienene Landschaft, die im Fluge an mir vorbeizog.
Alles dort draußen athmete Ruhe und Frieden, weshalb hatte auch mir das nicht zu Theil werden können?!
Und nun gar die Zukunft! Entsetzliche Tage und Wochen, die mir da bevorstanden. Hart und unerbittlich mußte ich Charley gegenübertreten, hart gegen ihn dessen Bild ja noch immer so tief in meinem Herzen wurzelte.
»Und wieder dachte ich an jenes glückliche Jahr der Freundschaft, ich sah Charley, wie er so oft neben mir und der Mutter als glücklicher Knabe gelacht, und wie er mich immer wieder seinen lieben, seinen einzigen Freund genannt. Ich riß die Brieftasche hervor und nahm Charley's Bild heraus. »Nein – ich konnte ihm nicht hart entgegentreten, nur ihm nicht!
Und war nicht vielleicht doch noch eine Umkehr möglich, durfte ich denn gar nicht mehr an ihn glauben? Da fiel mein Blick aus die Scheine, die neben dem Bild auf der Brieftasche lagen. Wie eisige Kälte zog es durch meinem Sinn, vorbei waren die weichen Gedanken, zerronnen die Bilder der Jugend – es war doch nur noch der eine Weg übrig. – –
Zwei Tage später war ich in London, und nun begann mein schweres Amt. Aber London ist groß, und Jahre können vergehen, ehe man einen Bekannten dort findet oder wiedersieht. Ich begab mich zur Polizei, um dort Erkundigungen einzuziehen, aber man wußte mir dort keine Auskunft zu geben. Deutsche waren wohl viele gekommen, ein Baron Ubesch war nicht dabei. Es war ja auch natürlich, daß Charley einen anderen Namen gewählt hatte. Ich fuhr in alle Hotels und Logirhäuser, wo Deutsche abzusteigen pflegen, aber auch hier fand ich keine Spuren. Die Beschreibung eines der Wirthe von einem deutschen Gaste paßte auffällig, derselbe war nach Edinburg gefahren; zufällig wußte der Wirth auch seine Adresse. Ich eilte nach Edinburg und traf den Mann, Charley war es nicht. Dann kehrte ich nach London zurück.
Monat auf Monat verging, die Verzweiflung war mir nahe; aber ich durfte ja nicht nachlassen.
Und endlich – endlich fand ich ihn auch.
Es war eines Tages an der Table d'hôte, als ein Herr, der mir schräg gegenübersaß, mich plötzlich bei meinem Namen anredete. Verwundert schaute ich ihn an, ich kannte ihn nicht.
»Es thut mir leid, sagte ich, in der That kann ich mich nicht darauf besinnen, wo ich die Ehre hatte, Sie kennen zu lernen.«
»O, das glaube ich wohl, sagte er, es war an jenem Abend im Officierscasino in R..., wo Sie die unangenehme Affaire mit dem Baron v. Ubesch hatten, Sie entsinnen sich, vor etwa sechs Monaten.«
Ich verbeugte mich.
»Ich bin Arzt hier in London, fuhr er fort, und war zufällig damals bei meinem Vetter, dem Oberst des Regiments, auf einige Wochen zu Besuch und von ihm in das Casino eingeführt. Es war damals eine häßliche Affaire mit dem Baron.«
Es war mir entsetzlich peinlich, hier an der Tafel im Conversationstone über alles das noch einmal sprechen zu müssen, aber der Arzt bemerkte es nicht.
»Uebrigens, sagte er, Sie wissen doch, daß Ubesch jetzt hier ist?«
Du kannst Dir denken, Wilhelm, welche Wirkung diese wenigen Worte auf mich machten. Ich stammelte einige entschuldigende Worte, dann stand ich auf und verließ den Saal. Jene schwere Krankheit hatte mich doch zu sehr mitgenommen, als daß ich meine Ruhe hätte bewahren können. Ich warf mich auf den Divan im Vorzimmer und preßte meinen Kopf in die Kissen; also nun endlich, endlich stand ich vor dem Ziele. Als ich mich wieder erheben wollte, stand der Arzt vor mir.
»Verzeihen Sie, sagte er herzlich, wenn meine Nachricht Sie in so ungeahnter Weise ergriffen hat, ich weiß wirklich nicht« –
»O, ich danke Ihnen, sagte ich und reichte ihm meine Hand, Sie können sich nicht denken, wie sehr Ihre Nachricht mir von Interesse ist, und nicht wahr, Sie wissen, wo Charley – wo der Baron Ubesch weilt?«
»Allerdings, sagte er, vor wenigen Tagen sah ich ihn im Westtheater, er ist Schauspieler geworden.«
»Und seine Wohnung?«
»Mehr kann ich Ihnen allerdings nicht sagen; wo er wohnt, weiß ich nicht, aber es wird sich das ja leicht ermitteln lassen.«
Ich erhob mich.
»Wenn Sie wüßten, daß ich seit beinahe fünf Monaten den Baron hier in London suche, so würden Sie die Aufregung, die mich bei Ihren Worten ergriff, erklärlich gefunden haben, Aber noch eins, Herr Doctor, nicht wahr, Sie werden mir versprechen, niemand jemals zu sagen, wo und unter welchen Verhältnissen Sie den Unglücklichen wiedergefunden haben?«
Er verbeugte sich: »Mein Wort darauf.«
»Ich danke Ihnen, sagte ich, und nun verzeihen Sie mir, wenn ich gehe, ihn zu suchen.«
Wir trennten uns, und ich habe ihn in den wenigen Tagen, die ich noch in London verweilte, nicht wiedergesehen.
Einige Stunden später saß ich im Westtheater, vor mir den Theaterzettel, auf dem kein Name auf Charley zu deuten war.
Das Stück war eine langweilige Posse, aber in fieberhafter Erwartung sah ich jedem neuen Auftritt entgegen. Charley erschien noch immer nicht unter den Schauspielern.
Dann kam der letzte Akt.
Erlaß mir die Beschreibung jener Scenen und Rollen, die eine immer alberner und lächerlicher war, als die andere, erlaß mir zu erzählen, wie ich Charley da wiedersah, geschminkt und geputzt, lachend und scherzend, Glück und Zufriedenheit in der Posse heuchelnd.
Die Damen, die so oft heute Abend gegähnt, richteten sich empor und schauten wohlgefällig zu dem schönen Schauspieler hinüber, und eine Dame zu meiner Seite, eine blonde Miß, neigte sich zu ihrer Nachbarin und sagte in gönnerhaftem Tone: »Der Mann da wird auf der Bühne sein Glück machen.«
Wohl nur ein einziger in dem ganzen weiten Theater, ich allein wußte, wie schwer Scherz und Lachen jenen armen Lippen sein mußten. Ja, Charley, es giebt Strafen auf Erden, die schwerer sind als Ketten und Tod!
Das Stück nahte seinem Ende. Ich verließ die Loge und eilte die Treppen hinab den Räumen zu, die für die Garderobe der Schauspieler bestimmt waren.
Man wollte mir den Eintritt zuerst nicht gestatten, aber einige wenige Geldstücke genügten, um mir die Thür zu öffnen. Als ich das Zimmer betrat, war die Posse bereits zu Ende. Die meisten Schauspieler waren schon in den anstoßenden Zimmern beim Umkleiden, einige aber standen noch in ihren Flittern plaudernd und lachend zusammen. Ich lehnte an dem Pfosten der Ausgangsthür und ließ so jeden, der fortging, an mir vorbeipassiren.
Charley kam. Einige Augenblicke blieb er noch bei einer der Gruppen stehen, ich konnte ihn nun in voller Nähe betrachten.
Er trug denselben dunkeln Anzug, in dem er, wie ich deutlich mich entsinne, an jenem Wintermorgen mir gegenüberstand.
Seltsam contrastirten nun, da Flitter und Schminke verschwunden waren, die sorgfältig gebrannten und gescheitelten Haare mit dem ärmlichen Anzuge, seltsamer aber wohl noch dies zarte, aristokratische Gesicht mit den gewöhnlichen Physiognomien der übrigen Schauspieler.
Jetzt wandte er sich zum Gehen, jetzt blickte er empor mir ins Gesicht.
Sekundenlang starrte er mich an, als könne er meine Gegenwart nicht fassen, dann murmelte er leise wie im Selbstgespräch: »Hans, Hans.«
Ich nahm seinen Arm und ging mit ihm hinaus. Willenlos wie ein Kind ließ er sich führen, und ohne ein Wort zu sagen, stieg er mit mir in den Wagen.
Dann aber machte sich feine furchtbare Erschütterung Luft. Laut aufschluchzend sank er an meine Brust, die Arme schlang er wie ein Kind um meinen Hals, den Kopf verbarg er in meinem Mantel.
Der Wagen rollte in schnellem Trabe dahin, bald durch dunkle kleine Gassen, bald durch hellerleuchtete, menschenbelebte Straßen. Starren Blickes schaute ich aus dem Fenster des Wagens, ich sah die Laternen vorüberhuschen, die Menschen lachend und lärmend vorbeieilen, aber ich sprach kein Wort.
In jenen Minuten im Wagen habe ich alles noch einmal durchgelitten.
Und noch einmal trat der schwere Kampf zwischen Mitleid und Recht und zwischen Liebe und Ehre an mich heran. War es denn nicht ein Kind, das da so fassungslos in meinen Armen schluchzte? War er denn nicht ein schwaches Kind gewesen in seinen Leidenschaften, war er es nicht immer gewesen? Ein frohes unschuldiges Kind im Glück und ein schwaches, hülfloses in den Stürmen des Lebens?
Als aber dann endlich der Wagen hielt, da hatte ich den letzten schwersten Kampf durchgekämpft, Ehre und Recht, das war doch der einzige Weg, der ihm und mir noch offen stand.
Der Portier öffnete den Wagenschlag.
»Komm, Charley, sagte ich, wir sind in meiner Wohnung.«
Er nahm meinen Arm, und wir schritten die glänzend erleuchteten Treppen empor.
Ich befahl dem Oberkellner, der verwundert meinen Begleiter musterte, für diesen ein Zimmer herzurichten.
Wir betraten meine Wohnung.
Schweigend legten wir Hut und Mantel ab, dann trat ich an das Fenster und schaute in die schöne, stille Nacht.
Charley irrte ruhelos in dem Zimmer auf und ab, endlich hielt er vor mir an.
»Hans, lieber Hans, stieß er leidenschaftlich flehend hervor und er erfaßte meine beiden Hände, sag, kannst Du mir vergeben, noch einmal vergeben? O nein, Hans, schau mich nicht so starr und seltsam an, denk an einst, denk an die Zeiten, da wir Freunde waren, denk an meine Mutter, Hans, und vergieb mir.«
»Charley, sagte ich, ich habe Dir längst vergeben. Ich habe Dir ja nicht einmal gezürnt, wie hätte ich das können! Daß alles noch einmal so kommen würde, geglaubt habe ich es nicht, gefürchtet, geahnt habe ich es lange. Deine Leidenschaften, armer Charley, haben Dich zu Grunde gerichtet, Deine Schuld war, daß Du sie zu wenig gebändigt hast.«
Da zuckte es seltsam über das Gesicht des armen Jungen, er reichte mir seine Hand und sagte leise: »Ich danke Dir, Hans.«
Der Kellner kam und brachte Wein, Thee und Speisen.
»Und nun, Charley, sagte ich, nun wollen wir den letzten Abend, den wir zusammen sind, der lieben alten Zeit widmen.«
»Laß das letzte Jahr für diese wenigen Stunden in Vergessenheit sinken, und laß uns noch einmal glücklich sein im Traume der Vergangenheit.«
»Den letzten Abend?« fragte er verwundert.
»Ja, Charley, den letzten, die Trennung muß sein.«
Er verstummte. Als ich aber dann begann zu sprechen von jener Zeit, da wir zusammen Pläne ersonnen und ausgemalt hatten, als wir mit seiner Mutter so manchen frohen Tag verlebt, und als wir dann Abschied nehmen mußten, da leuchteten seine Augen auf. Und auch er begann zu erzählen, und die frohen Erinnerungen, die lustigen Tage zogen noch einmal in buntem Reigen an uns vorbei.
So flogen die Stunden eilends dahin, Mitternacht war schon vorüber.
Ich stand auf.
»Und nun, Charley, sagte ich, nun müssen wir uns trennen. Dieser letzte Abend ist seit langer, langer Zeit mein glücklichster gewesen, nun liegt nur noch eine graue, trostlose Wüste vor mir.«
Ich ging an meinen Koffer und nahm ein Kästchen mit. »Es ist mein letztes Geschenk, aber Du bedarfst auch keines andern mehr.«
Er öffnete das Kästchen erwartungsvoll, dann wurde er leichenblaß.
»Hans, sagte er leise, stammelnd, ist das Dein Ernst? Giebt es für mich nur das noch?«
»Ja Charley, erwiderte ich fest, nur das noch. Die Pistole ist der letzte Weg, der Dir noch bleibt; Charley v. Ubesch darf seine Schande nicht länger auf sich tragen.«
Dann trat ich dicht an ihn heran, ich nahm seinen Kopf zwischen meine Hände und küßte ihn auf die Lippen.
»Fahre wohl, mein Charley, sagte ich, möge Deine Hand heute sicherer sein, als meine an jenem Morgen war. Fahre wohl, lieber Junge, und denke noch im letzten Augenblicke, daß ein treuer Freund an Deiner Bahre knien wird, daß Hans Berger seinen Charley nie vergessen wird.«
Er schlug das Auge auf und sah mich mit einem langen, tiefen, seltsamen Blicke an, dann wandte ich mich ab und verließ das Zimmer.
Als ich nach einigen Minuten zurückkehrte, war er verschwunden, ich aber sank auf den Divan nieder und weinte.
Eine lange, lange Viertelstunde verrann.
Da ertönte wenige Zimmer von mir entfernt ein Schuß.
Fahre wohl Charley!
Zwei Tage später stand ich an Charleys Grab.
Es war eine furchtbare Aufregung in jener Nacht im Hotel gewesen, aber ich hatte endlich mit schwerem Gelde den Wirth vermocht, mich die Nacht hindurch an der Leiche allein zu lassen.
Der Schuß war gerade durch die Schläfe gegangen und die blonden Haare waren von Blut überströmt.
Aber die Züge waren unverändert geblieben. Ruhig und ohne zu zucken hatte Charley dem Tode ins Auge geschaut, ruhig war er hinübergegangen.
Neben dem Pistolenkasten auf dem Tische lag ein kleines Päckchen Papiere, es waren die Quittungen und Ehrenscheine, die ich in den Kasten unter die Pistolen gelegt hatte.
Der eine Schein aber lag etwas abseits und darauf war von Charley mit Bleistift geschrieben:
»Lieber Hans, ich danke Dir.«
Hans hatte geendet. Viele Worte haben wir dann nicht mehr gewechselt, und in derselben Nacht noch fuhr er weiter nach Berlin.
Später schrieb er mir wohl noch von Zeit zu Zeit einige kurze Worte, als ich aber drei Jahre später einmal nach der Hauptstadt kam und ihn aufsuchen wollte, da fand ich ihn nicht mehr, er war seinem Freunde bald nachgefolgt.