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Als ich Mitte Mai 1849 wieder in Frankfurt eintraf, hatte der fünfte Akt des Trauerspiels dort schon begonnen. So laute und furchtbare Stürme waren im Parlamente, das die Paulskirche wieder bezogen hatte, noch nicht erlebt worden. Die Zahl der Abgeordneten war stark geschmolzen, die meisten österreichischen Deputierten waren ausgetreten oder rüsteten sich gleichzeitig mit dem Erzherzog-Reichsverweser zur Abreise. Das Zentrum, die erbkaiserliche Partei, war übel daran. Solange hatte sie ihre Anhänger mit dem Argumente hingehalten: wie würden wohl Leute wie Heinrich von Gagern, Dahlmann, Vincke einen Kaiser machen wollen, wenn sich die Seele ihnen nicht längst verschrieben hätte? Nun hatte der König die ihm von der Majorität angebotene Kaiserkrone abgelehnt. Dazu trat die Auflösung der Berliner Kammer. Die Anrufung russischer Hilfe von seiten Österreichs ließ auf weitgehende zusammenhängende Pläne der Regierungen schließen. Die Nationalversammlung oder vielmehr ihre Überbleibsel sahen dem Tage entgegen, an dem man sie auseinandertreiben werde.
Einer meiner ersten Gänge hatte meinem Freunde Trützschler gegolten, dem ich mich im vorigen Jahre aufs engste angeschlossen hatte.
Adolf von Trützschler, Mitglied der Frankfurter Linken, gehörte durch Blutsverwandtschaft und Verschwägerung den ältesten Familien Sachsens an. Er besaß zwei schöne Rittergüter im Vogtlande. Er war ein Mann von etwa zweiunddreißig Jahren, von mittlerer Größe, schlank, hatte ein schönes Gesicht, blaue Augen, schlichtes, blondes Haar. Er war im höchsten Grade talentvoll, liebenswürdig, voll Offenheit, dabei ruhig, gelassen, voll Sachkunde in juristischen, technischen und landwirtschaftlichen Dingen. »Ich bin zum Regierungskommissär für die Pfalz ernannt«, sagte Trützschler sofort, »und gehe morgen nach Kaiserslautern ab. Komm mit, begleite mich! Es ist etwas Herrliches, ein Volk zu sehen, das für seine Freiheitsrechte einsteht!«
»Meinst Du denn«, fragte ich nach längerem Besinnen, »daß die Bewegung dort Aussicht auf Erfolg hat?«
»Hätte ich denn die Aufgabe übernommen, wenn ich nicht an ihre Durchführbarkeit glaubte?« erwiderte Trützschler. »Die Pfalz tritt mit ihrer gesamten Bevölkerung für die von Frankfurt votierte Reichsverfassung ein.«
»Mein Gott, die Reichsverfassung!« rief ich. »Ihr seid ja tot, habt ja nur noch eine Schein-Existenz. Wie sollte die von Euch votierte Reichsverfassung lebendig werden?«
»Du bist lange fortgewesen«, war die Antwort. »Du kennst die Situation nicht mehr. Es hat ein gewaltiger Umschwung in der öffentlichen Meinung stattgefunden. Das Frankfurter Parlament ist nicht tot, wie Du meinst, es ist jetzt eigentlich stärker als je zuvor. Tausende und Tausende, die den Gang der Versammlung nicht immer gebilligt, haben sich jetzt ihr angeschlossen, um nicht allen Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Reichsverfassung, vom Parlamente votiert, tritt in Kraft. Allerdings auf begrenztem Terrain. Sie wird sich weiteren Boden, glaube mir, schon noch erobern. Die Pfälzer sind ein gar besonnener Stamm. In diesem Lande ist nicht von Anarchie und sozialem Umsturz die Rede, man will nur ein zu Recht anerkanntes Gesetz verteidigen, wofern es gefährdet sein sollte. Die Erhebung dort ist nichts als der Unwille eines durch seine freien Institutionen durch und durch politisch gewordenen Volks über die Schmach gröbster Rechtsverletzungen. Wir haben am elften April im Parlamente die feierliche Erklärung vor der deutschen Nation abgegeben, an der Reichsverfassung einschließlich des Reichswahlgesetzes unwandelbar festzuhalten. Jeder von uns ist durch sein Ehrenwort gebunden. Die Reichsverfassung ist unsere Fahne. Man irrt, wenn man glaubt, die Sache sei aus. Die Revolution tritt in ihr zweites Stadium. Im Süden wird sich die deutsche Frage entscheiden.«
»Heute abend werde ich Dir sagen können, ob ich Dich begleite«, war meine Antwort.
Unmittelbar darauf fand ich einen Brief meiner Mutter vor, die mich aufs dringendste zur Heimkehr aufforderte. Ich zeigte Trützschler den Brief.
»So gehe heim«, sagte er. »Mit einem geteilten Herzen sollst Du nicht mitkommen. Ich bin nun auch seit Jahr und Tag vom Hause fort. Ich sehne mich nach meiner Frau und meinen lieben Kindern. Auch auf meinen Gütern wäre ich dringend nötig. Aber es geht nicht anders. Wir haben uns feierlich verpflichtet, für die Reichsgrundgesetze mit Gut und Blut einzustehen und jeden Angriff darauf, er komme, woher es auch sei, abzuwehren. Wir haben eine Pflicht zu üben. Es ist übrigens auch Zeit, daß wir, nachdem wir hier so lange gesprochen und sprechen gehört, etwas vollbringen.«
»Über mir ist das Los geworfen, daß ich in allen Dingen nur ein halber Mensch sein soll«, sagte ich.
In innerem Zwiespalt, voll Gram, die Ideale meines Herzens nicht verwirklichen zu können, reiste ich unmittelbar darauf von Frankfurt ab.
In Karlsbad angekommen, folgte ich mit atemloser Bewegung den Vorgängen in der Pfalz. Es ging nicht gut dort, man geriet immer mehr auf eine abschüssige Bahn. In Baden, wo eine Militärmeuterei ausgebrochen und der Großherzog entflohen war, wurde ein Landesausschuß gebildet, der sich mit der provisorischen Regierung der Pfalz verbrüderte, worauf in militärischer Beziehung die Rheinpfalz und Baden ein Land bilden sollten. Nun wurden 120 000 Mann Preußen, Mecklenburger, Hessen gegen die Pfalz und Baden dirigiert. Die Höfe, die sich ein ganzes Jahr lang über keinen einzigen Plan zum Heile Deutschlands hatten einigen können, einigten sich jetzt rasch. Es kam zu blutigen Entscheidungen. Die Hauptschläge waren gegen Baden gerichtet. Das Korps unter Peuker, dessen Kern hessische und mecklenburgische Kontingente bildeten, rückte unaufhaltsam vorwärts, und im Treffen von Waghäusel wurde die Insurrektionspartei, deren Oberbefehl der Pole Mieroslawski übernommen hatte, vollständig geschlagen. Die Regierung und die stark zusammengeschmolzene konstituierende Versammlung floh nach Offenburg und von da nach Freiburg. Auch die Murglinie erwies sich als unhaltbar, Peuker bedrohte die Insurgenten im Rücken. Ein Rest badischer Truppen und Freischärler ließ sich in Rastatt einschließen, konnte sich aber nicht halten. Viertausend Mann streckten die Waffen und wanderten in die Kasematten.
Mit den Preußen war das Standrecht eingezogen. Baden war plötzlich eine preußische Provinz geworden. Wochenlang war die Karlsruher Zeitung Nummer für Nummer angefüllt mit Steckbriefen und Fahndungen gegen Personen, die wegen Teilnahme am Aufstand verfolgt wurden. Unter den Spitzkugeln der Sieger verbluteten Dortu, Biedenfeld, Neff, Elsenhans, Tiedemann usw.
Auch Trützschler war gefangengenommen worden. Am dreizehnten August fand in Mannheim die Verhandlung gegen ihn statt. Er hielt vor dem Kriegsgerichte eine fast dreistündige meisterhafte Verteidigungsrede, die alle Anwesenden aufs tiefste erschütterte, aber über die von wildem Parteihaß erfüllten Richter nichts vermochte. Nach neunstündiger Verhandlung, der auch seine Frau mit den drei Kindern beiwohnte, wurde Trützschler einstimmig zum Tode verurteilt und das Urteil sofort, abends acht Uhr, vollzogen.
Hunderttausende hatten zu jener Zeit bei mehr oder minder feierlichen Gelegenheiten den Schwur geleistet, »mit Gut und Blut« für die »Reichsverfassung« einzustehen. Trützschler war einer gewesen, der diesen Eid ernst genommen hatte.
Ich habe meinem Freunde ein treues Gedächtnis bewahrt, doch erst dreiunddreißig Jahre nach seinem Ende war es mir vergönnt, sein Grab zu besuchen.
Schon lange vor dem Zusammenbruch der Bewegung in der Pfalz und Baden hatte das deutsche Parlament ein klägliches Ende gefunden. Die Nationalversammlung war nach Stuttgart übersiedelt. Einhundertundacht Mitglieder trafen dort ein und wurden von Ergebenheitsadressen zahlreicher württembergischer Städte, Orte und Vereine begrüßt. Ein an sich selbst trauriges Lokal, die Fritzsche Reitbahn, war ihnen eröffnet. Aber schon nach der ersten Sitzung wurde ihr mitgeteilt, daß weitere Sitzungen in Stuttgart und Württemberg nicht mehr zugegeben werden könnten. Am 18. Juni waren die dem Sitzungslokale zunächst gelegenen Straßen militärisch abgesperrt. Als gegen drei ein Zug von Abgeordneten, Uhland, Schott und der Präsident Löwe an der Spitze, auf das Parlamentslokal zugehen wollten, ritt ihnen ein Major entgegen und forderte sie auf, auseinanderzugehen. Reiterei sprengte heran und hätte Uhland beinahe über den Haufen geritten. Das Volk wich, und alles war vorüber.
Das deutsche Parlament hatte einen Verlauf genommen wie die Abschiedssymphonie des deutschen Meisters, in der ein Musiker nach dem andern das Licht ausbläst und verschwindet. Doch zum Finale war es nicht gekommen; die letzten hatte ein Wetterschlag auseinandergejagt.
Heroischer, aber kaum weniger traurig, hatte fast gleichzeitig die Bewegung in Ungarn geendet. Im Juni waren die Russen von mehreren Punkten aus zur Unterstützung der Österreicher unter Jellaèiæ und Haynau eingerückt. Sie drangen vor, nahmen Pest-Ofen und siegten bei Temesvar. Kossuth übergab im August die Diktatur an Goergey und ging in die Türkei, Goergey aber streckte am dreizehnten August mit dreißigtausend Mann und hundertzwanzig Kanonen die Waffen vor Rüdiger. Die Führer des Aufstandes flohen, endigten am Galgen oder wurden zu Pulver und Blei begnadigt.
Nur Komorn wurde noch von Klapka – bis zum 27. September – verteidigt.
Die vergrabenen Reichskleinodien sollten erst vier Jahre später wieder aufgefunden werden.
Auch in Italien war die Ruhe wieder hergestellt worden. Venedig war im August in den Besitz Österreichs zurückgekehrt, die Mittelstaaten nahmen ihre früheren Souveräne wieder auf, in Rom lag die Republik in den letzten Zügen, die französische »Schwesterrepublik« ward die Zerstörerin der römischen.
Der gleichzeitige Zusammenbruch aller aufständischen Bewegungen konnte gar nicht vollständiger sein.
Furchtbar war das Schicksal der deutschen Abgeordneten, die in Frankfurt und anderswo die deutsche Volkssache verteidigt hatten. Steckbrieflich verfolgt, flüchtig, zu Rechenschaft und Strafe gezogen, suspendiert, abgesetzt, polizeilich und gerichtlich geplagt, blickten die meisten auf zerstörte Lebens- und Vermögensverhältnisse und waren mit ihren Familien dem Mangel und dem Elend preisgegeben.
Von den Zweihundert, welche in Frankfurt die entschiedene Linke gebildet hatten, war kaum einer unversehrt geblieben. Dreiundvierzig lebten im Exil in der Schweiz, in Frankreich, Belgien, England, Nordamerika (darunter Fröbel, M. Hartmann, A. Ruge, Schlöffel, Heinrich und Ludwig Simon, Titus, Wesendonck, Wiesner, Würth, Zitz). Verurteilt waren Temme, Trampusch (Österreicher, 3 Jahre Spielberg), Dr. Zimmer (Österreicher, fünf Jahre), Zimmermann aus Spandau (zwölf Jahre), Heubner (Dresden) (zum Tode verurteilt, zu lebenslänglichem Gefängnisse begnadigt), Hensel aus Zittau (zwölf Jahre), Damm (fünfzehn Jahre), Brentano und Werner zu lebenslänglichem Zuchthaus. Standrechtlich erschossen waren R. Blum und v. Trützschler. Es war eine furchtbare Liste, die sich aufrollte, wenn man an seine Bekannten und Freunde zurückdachte.
Die Idee und der Rausch der Zeit hatten diese Männer erfüllt und sie auf einen Standpunkt gehoben, von welchem aus das Einzelleben und sein Glück als etwas Unwesentliches betrachtet wurde. Nun mußte man fast die Toten als die Glücklicheren preisen, weil sie dem Widerspruch zwischen der Welt und ihren eigenen Idealen entrückt waren.
Im Innersten getroffen zog ich mich von allem Verkehr zurück und irrte auf den einsamsten Waldpfaden von Karlsbad umher. Was war im ganzen und großen durch die Revolution gewonnen, welche die Welt während zweier Jahre erschüttert und so viel Opfer gekostet hatten? Die Antwort war: Das alles sei Werden, sei Entwicklung. Man beruhigte sich, der Philosophie jener Zeit gemäß, damit: durch diese Gegensätze müsse die Sache hindurchgehen. Aber dies Beruhigungsmittel war trügerisch und schlug auf die Länge nicht an. In diesen furchtbaren dialektischen Prozeß, wo die »Idee durch das logisch sich Widersprechende hindurchzugehen habe«, hineingeworfen, konnte man lange auf den Rückschlag warten. Würde man ihn noch erleben? War ein Ende abzusehen?
Was konnte jetzt einer schreiben, der so tief wie ich mit dem Gemüte an der Bewegung von 1848 beteiligt gewesen war? Das Auge blickte gleichsam in eine vom Sturm verheerte Gegend hinaus. Es war wie nach einem Erdbeben. Da war kaum etwas aufrecht stehengeblieben. Ich fühlte mich krank vor Gram und Enttäuschung. Ich sann und sann, schließlich kondensierte ich meine Frankfurter Erinnerungen in ein satirisches Gedicht »Der Sohn des Atta Troll«. Es ist ein bitter-schmerzliches Gelächter über den braven, vertrauensvollen, ehrlichen, aber total unpraktischen deutschen Michel, der mit der Revolution so wenig anzufangen wußte und sich nach Verlauf eines Jahres fast wieder um alle seine »Errungenschaften« gebracht sieht; mehr ein Produkt des dem Schmerze verwandten Humors als der Komik. Es ist im Spätherbst bei meinem damaligen Verleger erschienen, hat damals viele Leser gefunden, ist aber jetzt verschollen und vergessen.
Es sah indes kriegerisch aus. Österreich machte Miene, die Ordnung der Zustände in Deutschland diktieren zu wollen. An der Grenze Böhmens wurde – und ebenso in Vorarlberg – ein »Observationskorps« aufgestellt und auf fünfzigtausend Mann verstärkt. Prag sah täglich neue Soldatenscharen, zahllose Transporte von Munition und Geschützen. Theresienstadt und Josefstadt wurden die Knotenpunkte militärischer Vorbereitungen, man wußte nicht, was aus diesen Hexenküchen hervorgehen werde. Man hörte, daß diese Aufstellungen dezimiert wurden durch Seuchen, die man aus der Tiefebene Ungarns mitgebracht.
Trotz der jämmerlichen Finanzlage sagte man: Österreich sei mächtiger als je zuvor, seine Stellung in Italien und Deutschland stärker als je. Im Bunde mit den Mittelstaaten werde es Preußens Politik vereiteln und diesen Nebenbuhler zur Unterwerfung unter den alten Bundestag zwingen.
Die Tschechen waren in großer Bewegung und samt und sonders höchst unzufrieden. Die österreichische Zentralisation bedrohte sie in allen ihren Erwartungen. 1848 hatten sie sich aus Furcht vor einer großartigen Gestaltung des deutschen Reiches in die Arme Österreichs geworfen und: »Erhaltung des österreichischen Gesamtstaates« zu ihrer Losung gemacht. Nun, da die Revolution erstickt war, sahen sie sich nicht besser behandelt als die Besiegten. Sie sahen sich von jeder Hoffnung auf Erringung eines selbständigen Lebens abgeschnitten, es schien, als ob ihre Sprache, eben erst wieder zu einigen Ehren gebracht und durch die patriotischen Anstrengungen ihrer Publizisten neu belebt, nie in die Sphäre parlamentarischer Äußerung treten solle.
Hawlitschek war aus Wien, wo er sich vergeblich um die Erlaubnis zur Widerherausgabe seiner Zeitung bemüht hatte, zurückgekehrt und wanderte in seinem slowakischen Kostüm finsterer als je durch die Gassen Prags. Ich begegnete ihm nie, ohne mit ihm zu reden, denn wir waren im Clementinum auf derselben Bank gesessen, und so sprachen wir auch jetzt miteinander.
In Wien hatte ihm ein Minister gesagt: »Es ist tief bedauerlich, daß in die slawische Nation ein solcher Geist politischer Bewegung gefahren ist. Das ist ganz unnatürlich, widerspricht dem Wesen des Slawen. Erinnern Sie sich doch an die Worte, die einst Abgeordnete Ihres Volkes an den Ungarkönig Asmus richteten. Sie sagten: »Wir sind Slawen, spielen die Flöte und wissen nichts von Politik!«
Hawlitschek antwortete:
»Freilich sind wir arme Flötenspieler, die von Politik nichts verstehen. Aber wir haben einen reichen Onkel, der spielt die Baßgeige. Und wenn der nicht herbeigekommen wäre, hätten alle Könige Europas nicht ihr Tedeum aufspielen können.«
Es ist begreiflich, daß solche Antwort die Petition Hawlitscheks um Weitererscheinen seiner Zeitung nicht förderte.
Der März, ein Monat der Reminiszenzen, brachte Prag zwei bedeutungsvolle Tage. Der 13. März, der Jahrestag der Wiener Revolution, wurde doch gefeiert, wenn auch nur mit einer Totenmesse, die diesmal wahrlich den Namen einer »stillen Messe« verdiente. Um zehn Uhr morgens versammelte sich die Studentenschaft in der Theynkirche. Vor dem Altar brannte ein dickes, kolossales Wachslicht, und auf einer schwarzen Tafel, die mit Flören umhangen war, standen nur die Worte: 13. März 1848. Ein Geistlicher las die Messe für diesen Toten, nach dem er sich nicht näher erkundigt hatte, und mag sogar, wie die Ritualien es befehlen, den Herrn im Namen des Verstorbenen um ein freudiges Auferstehen gebeten haben.
Seltsamer Akt, eine ergreifende Erinnerung für jeden, der ihm beigewohnt! Mindestens tausend Studenten füllten die Kirche, Deutsche und Slawen, und gedachten der damals Gefallenen. Die Feier blieb ungestört von der Polizei; als sie von ihr Kunde erhielt, war alles bereits vorüber. Auch wurden die Veranstalter der Feier nicht unters Militär gesteckt, wie es im vorigen Jahre den Studenten in Wien geschehen, die eine Gedächtnisfeier in der Stefanskirche abhalten wollten. Niemand konnte ihre Namen erfahren.
Lärmend hatte sich neben dieser stillen Geisterbeschwörung das Fest der »Konstitutionsoktroyierung« am 4. des Monats ausgenommen. Schon am frühen Morgen begann ein Trommeln und Blasen, die starken Heeresmassen, die in und um Prag garnisonierten, waren mit grünen Reisern auf den Tschakos den Hradschin hinaufgezogen, wo ein Tedeum gesungen worden war. Bald donnerten die Batterien vom Zwinguri der Marienschanze und erinnerten die stille Bevölkerung daran, was sie sich von der neuen Regierungsform zu denken hätte. Geradezu merkwürdig war die Konstitutionsfeier in einem Lande, in welchem auch nicht eines der Grundgesetze aufrechterhalten geblieben war und in dem eine diktatorische Regierung mit einer Willkür schaltete, wie sie kaum noch in der Geschichte dagewesen. Auch blieb es der offiziellen und offiziösen Presse allein vorbehalten, den Tag zu preisen, weil man durch die Konstitution »wenigstens einen Boden erhalten«, auf dem sich später, wenn der Säbel beiseite gelegt wäre, ein gewisser Rechtszustand einführen ließe.
Indes erwartete man in Prag von Tag zu Tag die Publizierung der Kriegsurteile über einen größeren Teil der unglücklichen jungen Leute, die seit dem Mai des vorigen Jahres in den Gefängnissen des St. Georgsklosters schmachteten und die durchaus an einer »weitverzweigten Verschwörung« schuldig sein sollten. Aber Kommissionen reisten von Prag nach Breslau und von Breslau nach Dresden, ohne etwas auffinden zu können. Die Zahl der Gefangenen war allmählich auf achtzig herangewachsen; es waren beinahe ohne Ausnahme Studenten. Sie waren ihren gesetzlichen Richtern entzogen, wurden von einem Kriegsgerichte wegen problematischer Verbrechen abgeurteilt, die sie lange vor Einsetzung dieses Ausnahmegerichtes begangen haben sollten. Dennoch wagte keine Stimme diese Tatsachen zur Sprache zu bringen.
Alles fragte sich, wie lange dieser Zustand einer schrankenlosen Militärherrschaft dauern solle? Man glaubte ihr Ende nahe. Da wurden Plakate über Verschärfung des Belagerungszustandes an die Ecken geschlagen.
Und in der »kaufmännischen Ressource«, angeblich aus Deutschen bestehend, fanden sich hundertunddrei Mitglieder, die dem Fürsten Windischgrätz vor seiner Abreise nach Wien einen silbernen Lorbeerkranz überreichten. Ihre Abreise und die Antwort des Fürsten ließen sie für ihr Geld als Annonce in der Zeitung einrücken, ihre Namen hinzuzufügen, hatten sie weislich vergessen.