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In einem ansehnlichen Dorfe
Auch diese Geschichte habe ich von unbekannter Hand, wahrscheinlich aus der Schweiz, eingeschickt erhalten. Dieses Incognito, und weil mir immer ist: als hätte ich schon irgendwo eine ähnliche Geschichte gelesen, bewegt mich zu dem Wunsche: daß man sie hier auch nur als eine Zugabe betrachte.
Sollte sie wirklich schon irgendwo gedruckt sein, so bitte ich um Verzeihung. An fruchtloser Mühe, mich davon zu überzeugen, habe ich gewiß es nicht mangeln lassen. Sie ganz zu verwerfen, glaubte ich mich doch nicht berechtigt. Daß ich übrigens die Träume des Vaters von der Ermordeten nicht für eine übernatürliche Ahnung, sondern für ein sehr natürliches Mißtrauen halte – wie wohl die späte Äußerung desselben und das nachherige Beharren darauf allerdings merkwürdig ist – brauche ich wohl kaum zu erinnern? des Kantons B. lebte der Schulze W. (wiewohl er noch kaum sechsunddreißig Jahre alt sein mochte) schon in der dritten Ehe. Seine ersten beiden Weiber, gegen welche er sich immer äußerst gut und freundlich betragen hatte, waren ihm im ersten Wochenbette, und zwar beide, sehr schnell gestorben. Die dritte, die er jetzt hatte und die er ganz vorzüglich zu lieben schien, war ein junges, schönes, starkes und gesundes Weib. Ein Kind, das sie ihm am Ende des ersten Jahres ihrer Ehe geboren hatte, war wenige Stunden nach der Geburt wieder erblichen; bald darauf ging sie mit dem zweiten schwanger. Er selbst galt für einen braven, sein Amt mit Einsicht und Redlichkeit verwaltenden Mann, der von seinen Mitbrüdern geliebt und geachtet wurde. Als ihm sein Weib diesmal einen gesunden, rüstigen Jungen – die Kinder der vorigen Frauen waren Mädchen – zur Welt brachte, war er vor Freude fast außer sich. Das halbe Dorf ward zum Kindtaufs-Schmause eingeladen.
Die Wöchnerin selbst befand sich nach der Geburt so gut als immer möglich. Dieses Mal konnte der Schulze gewiß ohne Sorgen sein, die Gattin zu verlieren!
Dennoch, am dreizehnten oder vierzehnten Tage, als er gerade in Amtsgeschäften ausgegangen war und am Ende des Dorfes sich befand, kam ihm einer seiner Dienstboten mit der Schreckens-Post nachgeeilt: Man habe seine junge Frau tot im Bette gefunden. Ohne Zweifel müsse ein Schlag-Fluß sie getroffen haben.
Selbst beinahe halb tot sank der Schulze bei dieser Nachricht auf die nächste Bank. Mit Mühe brachte man ihn zur Besinnung zurück. Kaum war er seiner wieder bewußt, so eilte er heim, warf sich auf den Leichnam seines Weibes, heulte, schrie, jammerte – fast mehr, als sich für einen Mann geziemt; was nur Chirurgus, Hebamme und die alten Weiber des Dorfes rieten, ließ er versuchen, um die Erblichene in das Leben zurückzubringen. Doch der Tod gab, nach gewöhnlicher Weise, seine Beute nicht heraus, und die junge, früh verstorbene Wöchnerin ward am dritten Tag beerdigt.
Sie hatte, als sie starb, keine Mutter mehr am Leben, wohl aber noch einen Vater, dessen einziges Kind sie war und von dem sie unsäglich geliebt wurde. Daß dieser ebenfalls bitterlich bei ihrem Leichenbrote und an ihrem Grabe weinte, läßt sich leicht denken. Aber was dem ganzen Dorf höchst unerwartet kam, war: daß eben dieser am vierten Tage nach jener Beerdigung vor dem Dorf-Gerichte erschien und seine Rede allda ungefähr folgendermaßen anbrachte: »Ihr wißt, daß ich eine Tochter verloren habe, die mir über alles wert war. Sie lebte mit dem Schulzen hier in einer Ehe, die mir immer als äußerst glücklich vorkam. Ihre Gesundheit schien unverwüstlich zu sein. Ich hoffte nichts Gewisseres, als daß sie mir einst die Augen zudrücken sollte. Jetzt ist sie plötzlich gestorben; wie mich das schmerzt – nein, das läßt sich nicht aussprechen. Aber um meinen Jammer recht überschwenglich zu machen, sehe ich sie, seit ihrer Beerdigung, alle Nächte im Traume. Sie deutet dann auf das Grab hin und sagt mir: Sie sei ermordet worden. Es ist freilich nur ein Traum. Aber zu meiner Beruhigung erlaubt mir nur das Einzige, daß ich sie noch einmal ausgraben und besichtigen lassen darf!«
Man fand diese Bitte sehr unstatthaft; man war eben im Begriff, sie ihm ganz abzuschlagen, als der gebeugte Vater bei seinem Verlangen noch einen Fürsprecher fand, und dieser war – der Schulze selbst. »Bei diesem Todesfall habe niemand«, sagte er, »so viel, oder wenigstens mehr als er, verloren. Das Leben der Verblichenen mit zwei Dritteilen seines Vermögens zu erkaufen, sei er gern bereit. Auch ihm, wenn er oft für sich allein nachdenke: wie unerwartet ihn dieser Schlag getroffen, dann sei ihm auf Augenblicke: als wäre dies alles unmöglich! Als wäre die Gestorbene nicht tot! Um so minder könne der Schmerz des Vaters ihn befremden und selbst der Verdacht der Ermordung ihn beleidigen. Freilich habe der Vater nicht gesagt: Wen er für den Mörder halte. Aber um so wichtiger sei es, auch den kleinsten Schein des Argwohns zu zerstreuen; und er begehre nun selbst, daß der Leichnam zur Besichtigung wieder ausgegraben werde.«
Jetzt hatte niemand weiter etwas dagegen einzuwenden. Die Ausgrabung ging noch diesen Morgen vor sich. Chirurgus und Hebamme – kein Arzt war in der Nähe! – wurden zur Besichtigung gerufen. An andern gültigen Zeugen gebrach es auch nicht. Aber am ganzen Leichnam fand sich nicht die kleinste Spur einiger Gewalttat. Einige blaue Flecke an der linken Seite galten für deutliche Kennzeichen des Schlagflusses. Das einstimmige Urteil aller, die es verstanden oder zu verstehen glaubten, war: Natürlicher Tod! Der Leichnam ward wieder in Sarg und Gruft gebracht. Der Geistliche sprach dem jammernden Vater Trost zu. Der Schulze, der ebenfalls häufige Tränen vergoß, ließ gegen diesen letztern auch nicht ein Sonnenstäubchen von Unwillen blicken. »Gott gebe uns beiden Linderung unseres Jammers!« Das war sein frommer inniger Wunsch, als sie vom Gottesacker wieder heim gingen.
Vier bis fünf Tage verstrichen abermals. Im Dorfe sprach fast niemand mehr von jenem Todesfalle, als plötzlich wieder der Vater vor Gericht erschien.
Was er begehren wolle, sagte er, davon sehe er selbst das Sonderbare, beinahe Unbillige ein; und dennoch könne er seinen innern Drang nicht bezähmen. Immer noch, wo er gehe, stehe und liege, verfolge ihn die qualvolle Vorstellung: Deine Tochter ist doch ermordet, und zwar von ihrem Manne ermordet worden! Warum? Und wie? Das wisse er nicht. Daß man keine Spur an ihrem Körper gefunden habe, sagte er sich allstündlich selber vor. Dennoch könne er nicht ruhen; dennoch wollten jene Träume und das Bild seiner jammernden Tochter von seinem Lager nicht weichen; und er bitte, flehe, beschwöre sie daher, nur noch eine Besichtigung anzuordnen.
Die Gerichte staunten, sehr natürlich, jetzt noch mehr als das erste Mal. Diese Bitte schien ihnen ein wahrer Unsinn zu sein. Die Beleidigung ihres Oberhauptes verdroß sie; der Schulze selbst blieb nicht mehr, was ihm auch alle verziehen, bei seinem ersten Gleichmut.
Er sei, sagte er, nun namentlich von seinem Schwiegervater der schändlichsten Bosheit beschuldigt worden. Nur die einzige Vorstellung: daß der Kummer des Alten in Wahnsinn übergehe, könne ihn noch ein wenig besänftigen und von gerechter Klage zurückhalten. Schon sei der Leichnam seiner seligen, geliebtesten Frau einmal vergebens in der Ruhe gestört worden. Zur Gewissenssache werde es ihm, dieses noch öfter zu tun. Nicht der geringste Grund zu jenem schmählichen Verdacht sei vorgebracht worden. Billig verdiene daher auch jene Bitte Abweisung und Bedrohung im Wiederholungsfall. Indes da er seines guten Namens und der Befriedigung jenes alten, ihm sonst ehrwürdigen Vaters halber eher zu viel als zu wenig tun wolle, so lasse er sich alles gefallen, was man beschließen werde.
Man wollte nun den Greis abweisen; allein dieser fuhr so inständig zu bitten fort, daß man doch am Ende noch einmal ihm nachgab. Der Leichnam ward wieder ausgegraben.
Jetzt, da der Körper so lange schon in der Erde war, fing er bereits sehr merklich an, in Fäulnis überzugehen. Die Personen, die ihn besichtigten, wozu noch ein neuer Chirurgus genommen worden, mußten daher sehr behutsam mit ihm umgehen und fällten dann – ganz den vorigen Ausspruch. Eben war man im Begriff, ihn wieder in den Sarg zu legen, als der alte Mann, der diesmal gleichsam in Betäubung da gestanden hatte, sobald er vernahm: Man finde auch jetzt nichts Verdächtiges! auf einmal ausrief: Nun, so muß ich mich wenigstens mit eigenen Augen, mit meiner eigenen Hand davon überzeugen!
Er faßte, indem er dies sprach, den Leichnam seiner Tochter, hob ihn empor, fing an ihn zu berühren, und ein Ungefähr – oder warum Ungefähr? Wahrscheinlich eine Bestimmung vielmehr! – machte, daß er gleich zuerst unter die linke Brust griff und ihr diese empor hob. In diesem Augenblick stürzte der Schulze mit dem Schrei zusammen: »Ich bin verloren. Er hat es entdeckt!«
Mit welcher Bestürzung man ihm zu Hilfe kam, läßt sich vermuten. Seine ersten Worte, als er die Augen wieder aufschlug, waren: »Ich will ja alles bekennen! Ich habe sie ermordet! Gerade dort ermordet! Nur noch ein paar Augenblicke Zeit laßt mir.«
Man drang eben dieses Begehrens halber noch stärker in ihn, sich genauer zu erklären. Die Summe seines Geständnisses war diese: Der Schändliche hatte wirklich alle seine drei Weiber ermordet! Nicht aus Haß, nicht aus Überdruß; aus Habsucht vielmehr! Alle drei waren vermögend gewesen; alle drei hatte er zu beerben und dann nach einer neuen sich umsehen zu können gewünscht. Deswegen legte er nicht eher Hand an sie, bis sie ein lebendes Kind ihm geboren hatten; und auch nur um diese Zeit schien es ihm möglich, seinen verruchten Plan unentdeckt auszuführen. einem dünnen, dreischneidigen Eisen – einer Ahle, wie sie die Schuster brauchen – durchstach er ihnen dann den Ort unter der linken Brust, wo das Herz liegt, stieß das Eisen selbst mit hinein. Die dreieckige Wunde schloß sich sogleich wieder. Der um diese Zeit fast übervolle, durch sein Gewicht herabhängende weibliche Busen verdeckte jetzt selbst das fast unmerkliche und doch tödlich gewesene Fleckchen. Da er sich immer dann, wann sie schliefen, an ihr Lager schlich, so war diese entsetzliche Tat das Werk eines Augenblicks. Die ersten beiden Frauen waren mit einem einzigen halblauten Ausruf gestorben. Die letztere, sagte er nachher aus, habe etwas mehr gelitten, habe gerufen: Gott! Gott! Du tötest mich! Aber es wird nicht ungerächt bleiben. Auch habe er sich wirklich nach ihrem Tode mehr als bei den Vorigen ein Gewissen daraus gemacht. Doch habe er gehofft, daß man nichts entdecken werde, und daher selbst auf die Ausgrabung, wenigstens das erste Mal, gestimmt. Jener Ausruf, als der Vater gerade nach dem Herzen zuerst gegriffen, sei ihm entfahren, er wisse selbst nicht, wie? Denn fast überzeugt sei er jetzt: daß auch dieser kaum etwas entdeckt haben würde.
Der Schauder, der alle, die von dieser Untat hörten, ergriff, und die harte Todesstrafe, die über den Verbrecher verhängt ward, gehören nicht weiter zur Sache selbst.