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Als wir jetzt nach dem Pueblo zurückkehrten und bei demselben anlangten, sah ich erst, welch ein mächtiger, imposanter Steinbau dasselbe war. Man hält die amerikanischen Völkerschaften für bildungsunfähig; aber Menschen, welche solche Felsenmassen zu bewegen und zu einer solchen mit den damaligen Waffen uneinnehmbaren Festung aufeinander zu türmen verstanden hatten, konnten unmöglich nur auf der untersten, niedrigsten Kulturstufe gestanden haben. Und wenn man sagt, daß diese Nationen früher bestanden haben und daß die jetzigen Indianer keineswegs Abkömmlinge derselben seien, so will ich das weder zugeben noch bestreiten; aber wenn es wirklich so sein sollte, dann ist das noch kein Grund zu der Behauptung, daß die Indianer geistig nicht vorwärts kommen können. Natürlich, wenn man ihnen nicht die Zeit und den Raum dazu gönnt, so müssen sie verkommen und untergehen.
Wir stiegen mittels der vorhandenen Leitern bis zur dritten Plattform empor, hinter welcher die besten Räume des Pueblo lagen. Da wohnte Intschu tschuna mit seinen beiden Kindern, und da bekamen wir unsere Wohnung angewiesen.
Die meinige war groß. Sie hatte zwar auch keine Fensteröffnungen und erhielt ihr Licht nur durch die Tür, aber diese war so breit und hoch, daß es an der nötigen Helligkeit nicht mangelte. Der Raum war leer, doch Nscho-tschi möblierte ihn mir bald mit Fellen, Decken und Gerätschaften so gut aus, daß ich mich weit mehr als den Verhältnissen angemessen behaglich fühlen konnte. Hawkens, Stone und Parker bekamen zusammen ein ähnliches Gemach angewiesen.
Als mein ›Gastzimmer‹ so weit eingerichtet war, daß ich es betreten konnte, brachte ›Schöner Tag‹ mir eine prächtig geschnittene Friedenspfeife und Tabak dazu. Sie stopfte sie mir selbst und setzte den Tabak dann in Brand. Als ich die ersten Züge tat, sagte sie:
»Dieses Calumet sendet dir Intschu tschuna, mein Vater. Er selbst hat den Thon dazu aus den heiligen Steinbrüchen geholt, und ich habe den Kopf daraus geschnitten. Sie ist noch in keines Menschen Munde gewesen, und wir bitten dich, sie von uns als dein Eigentum anzunehmen und unser zu gedenken, wenn du daraus rauchest.«
»Eure Güte ist groß,« antwortete ich. »Sie beschämt mich fast, denn ich kann dieses Geschenk nicht erwidern.«
»Du hast uns bereits soviel gegeben, daß wir dir gar nicht dafür danken können, nämlich wiederholt das Leben Intschu tschunas und Winnetous, meines Bruders. Beide waren wiederholt in deine Hand gegeben, ohne daß du sie tötetest. Heut wieder konntest du Intschu tschuna das Leben nehmen, ohne daß du dafür bestraft worden wärest; du hast es aber nicht getan. Dafür sind dir unsere Herzen zugewendet, und du sollst unser Bruder sein, wenn du es unsern Kriegern erlaubst, dich als solchen zu betrachten.«
»Wenn das geschieht, so ist mein größter Wunsch erfüllt. Intschu tschuna ist ein sehr berühmter Häuptling und Krieger, und Winnetou habe ich gleich vom ersten Augenblicke an lieb gehabt. Es ist mir nicht nur eine große Ehre, sondern eine ebenso große Freude, der Bruder solcher Männer genannt zu werden. Ich wünsche nur, daß meine Gefährten auch daran teilnehmen dürfen.«
»Wenn sie wollen, wird man sie so betrachten, als ob sie als Apachen geboren worden seien.«
»Wir danken euch dafür. Also du selbst hast diesen Pfeifenkopf aus dem heiligen Thone geschnitten? Wie kunstvoll deine Hände sind!«
Sie errötete über dieses Lob und antwortete:
»Ich weiß, daß die Frauen und Töchter der Bleichgesichter noch viel kunstfertiger und geschickter sind als wir. Ich werde dir jetzt noch etwas holen.«
Sie ging und brachte mir dann meine Revolver, mein Messer, alle meine Munition und die sonstigen Gegenstände, welche sich nicht in meinen Taschen befunden hatten; denn alles, was darin gewesen war, das hatte man mir gelassen. Ich bedankte mich, erkannte an, daß mir nun nicht mehr das Geringste fehle, und fragte:
»Werden auch meine Kameraden wieder bekommen, was ihnen abgenommen worden ist?«
»Ja, alles. Sie werden es jetzt schon haben, denn während ich dich hier bediene, sorgt Intschu tschuna für sie.«
»Und wie steht es mit unsern Pferden?«
»Die sind auch da. Du wirst das deinige wieder reiten und Hawkens seine Mary auch.«
»Ah, du kennst den Namen seines Maultiers?«
»Ja, auch den Namen seiner alten Flinte, welche er Liddy nennt. Ich habe oft, ohne daß ich es dir erzählte, mit ihm gesprochen. Er ist ein sehr scherzhafter Mann, aber doch ein tüchtiger Jäger.«
»Ja, das ist er, und noch weit mehr, nämlich ein treuer, aufopferungsfähiger Gefährte, den man lieb haben muß. Aber ich möchte dich etwas fragen; wirst du mir die richtige Antwort geben, mir die Wahrheit sagen?«
»Nscho-tschi lügt nicht,« antwortete sie stolz und doch so einfach. »Am allerwenigsten aber würde sie dir eine Unwahrheit sagen.«
»Eure Krieger hatten den gefangenen Kiowas alles abgenommen, was sie bei sich hatten?«
»Ja.«
»Auch meinen drei Kameraden?«
»Ja.«
»Warum da mir nicht auch? Man hat den Inhalt meiner Taschen nicht angerührt.«
»Weil Winnetou, mein Bruder, es so befohlen hatte.«
»Und weißt du, weshalb er diesen Befehl gab?«
»Weil er dich liebte.«
»Trotzdem er mich für seinen Feind hielt?«
»Ja. Du sagtest vorhin, daß du ihn gleich vom ersten Augenblicke an lieb gehabt habest; dasselbe ist auch bei ihm mit dir der Fall gewesen. Es hat ihm sehr leid getan, dich für einen Feind halten zu müssen, und nicht nur für einen Feind«
Sie hielt inne, denn sie hatte etwas sagen wollen, wovon sie dachte, daß es mich beleidigen werde.
»Sprich weiter,« bat ich.
»Nein.«
»So will ich es an deiner Stelle tun. Mich für seinen Feind halten zu müssen, das konnte ihm nicht wehe tun, denn man kann auch einen Feind achten; aber er hat geglaubt, daß ich ein Lügner, ein falscher, hinterlistiger Mensch sei. Nicht?«
»Du sagst es.«
»Hoffentlich sieht er nun ein, daß er sich da geirrt hat. Und nun noch eine Frage: Wie steht es mit Rattler, dem Mörder Klekih-petras?«
»Der wird soeben an den Marterpfahl gebunden.«
»Was? Jetzt? Soeben?«
»Ja.«
»Und das sagt man mir nicht? Warum hat man es mir verschwiegen?«
»Winnetou wollte es so haben.«
»Ja, aber warum?«
»Er glaubte, deine Augen könnten es nicht ersehen und deine Ohren es nicht erhören.«
»Wahrscheinlich hat er sich da nicht geirrt, und doch ist es mir möglich, es zu ersehen und auch zu erhören, wenn man meinen Wunsch berücksichtigt.«
»Welchen?«
»Sag erst, wo die Marter stattfinden wird!«
»Unten am Flusse, wo du dich vorhin befunden hast. Intschu tschuna hat euch fortgeführt, weil ihr nicht dabei sein sollt.«
»Ich will aber dabei sein! Welche Qualen hat man denn für ihn bestimmt?«
»Alle, welche gegen Gefangene ausgeübt zu werden pflegen. Er ist das schlimmste Bleichgesicht, welches den Apachen jemals in die Hände geraten ist. Er hat unsern weißen Vater, den wir liebten und verehrten, den Lehrer Winnetous, ohne alle Veranlassung ermordet; darum soll er nicht an nur einigen Qualen sterben, wie es bei anderen Gefangenen zu geschehen pflegt, sondern man wird alle Martern, die wir kennen, nach und nach an ihm erproben.«
»Das darf nicht sein; das ist unmenschlich!«
»Er hat es verdient!«
»Könntest du dabei sein, es mit ansehen?«
»Ja.«
»Du, ein Mädchen!«
Ihre langen Wimpern senkten sich. Sie richtete den Blick einige Zeit zur Erde, hob ihn dann wieder, sah mir ernst, beinahe vorwurfsvoll in die Augen und antwortete:
»Wunderst du dich darüber?«
»Ja. Ein Weib soll so etwas nicht ansehen können.«
»Ist es so bei euch?«
»Ja.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Du sagst die Unwahrheit, bist aber doch kein Lügner, denn du sagst sie unabsichtlich, unwissentlich. Du irrst dich.«
»So willst du das Gegenteil behaupten?«
»Ja.«
»Dann müßtest du unsere Frauen und Mädchen besser kennen als ich!«
»Vielleicht kennst du sie nicht! Wenn eure Verbrecher vor dem Richter stehen, so können andere Leute mit zuhören. Ist es so?«
»Ja.«
»Ich habe gehört, daß es da mehr Zuhörerinnen als Zuhörer gibt. Gehört eine Squaw dorthin? Ist es schön von ihr, sich von ihrer Neugierde nach einem solchen Orte treiben zu lassen?«
»Nein.«
»Und wenn bei euch ein Mörder hingerichtet wird, wenn man ihn aufhängt oder ihm den Kopf abschlägt, sind dann keine weißen Squaws dabei?«
»Das war früher.«
»Jetzt ist es ihnen verboten?«
»Ja.«
»Und den Männern auch?«
»Ja.«
»Also ist es allen verboten! Wäre es allen noch erlaubt, so würden auch die Squaws mitkommen. Oh, die Frauen der Bleichgesichter sind nicht so zart, wie du denkst. Sie können die Schmerzen sehr gut ertragen, aber die Schmerzen, welche Andere, Menschen oder Tiere erdulden. Ich bin nicht bei euch gewesen, aber Klekih-petra hat es uns erzählt. Dann ging Winnetou nach den großen Städten des Ostens, und als er zurückkehrte, berichtete er mir alles, was er gesehen und beobachtet hatte. Weißt du, was eure Squaws mit den Tieren tun, die sie kochen, braten und dann essen?«
»Nun?«
»Sie ziehen ihnen die Haut bei lebendigem Leibe ab; sie ziehen ihnen auch, während sie noch leben, den Darm heraus und werfen sie in das kochende Wasser. Und weißt du, was die Medizinmänner der Weißen tun?«
»Was meinst du?«
»Sie werfen lebendige Hunde in das kochende Wasser, um zu erfahren, wie lange sie dann noch leben, und ziehen ihnen die verbrühte Haut vom Leibe. Sie schneiden ihnen die Augen, die Zungen heraus; sie öffnen ihnen die Leiber; sie quälen sie auf noch viele andere Arten, um dann Bücher darüber zu machen.«
»Das ist Vivisektion und geschieht zum Besten der Wissenschaft.«
»Wissenschaft! Klekih-petra ist auch mein Lehrer gewesen; darum weiß ich, was du mit diesem Worte meinst. Was muß euer großer, guter Geist zu einer Wissenschaft sagen, welche nichts lehren kann, ohne daß sie seine Geschöpfe zu Tode martert! Und solche Martern nehmen eure Medizinmänner in ihren Wohnungen vor, wo die Squaws doch mit wohnen und es sehen müssen! Oder hören sie nicht das Schmerzgeheul der armen Tiere? Haben eure Squaws nicht Vögel in Käfigen in ihren Zimmern? Wissen sie nicht, welche Qual dies für den Vogel ist? Sitzen eure Squaws nicht zu tausenden dabei, wenn bei Wettrennen Pferde zu Tode geritten werden? Sind nicht Squaws dabei, wenn Boxer sich zerfleischen? Ich bin ein junges, unerfahrenes Mädchen und werde von euch zu den ›Wilden‹ gerechnet; aber ich könnte dir noch vieles sagen, was eure zarten Squaws tun, ohne daß sie dabei den Schauder empfinden, den ich fühlen würde. Zähle die vielen Tausende von zarten, schönen, weißen Frauen, welche ihre Sklaven zu Tode gepeinigt und mit lächelndem Munde dabei gestanden haben, wenn eine schwarze Dienerin totgepeitscht wurde! Und hier haben wir einen Verbrecher, einen Mörder. Er soll sterben, so wie er es verdient hat. Ich will dabei sein, und das verurteilst du! Ist es wirklich unrecht von mir, daß ich so einen Menschen ruhig sterben sehen kann? Und wenn es ein Unrecht wäre, wer trägt die Schuld, daß die Roten ihre Augen an solche Dinge gewöhnt haben? Sind es nicht die Weißen, welche uns zwingen, ihre Grausamkeiten mit Härte zu vergelten?«
»Ich glaube nicht, daß ein weißer Richter einen gefangenen Indianer zum Marterpfahle verurteilen wird.«
»Richter! Zürne mir nicht, wenn ich das Wort sage, welches ich so oft von Hawkens gehört habe: Greenhorn! Du kennst den Westen nicht. Wo gibt es hier Richter, nämlich das, was du mit diesem Worte meinst? Der Stärkere ist der Richter, und der Schwache wird gerichtet. Laß dir erzählen, was an den Lagerfeuern der Weißen geschehen ist! Sind die unzähligen Indianer, welche im Kampfe gegen die weißen Eindringlinge untergingen, alle schnell an einer Kugel, an einem Messerstiche gestorben? Wie viele von ihnen wurden zu Tode gemartert! Und doch hatten sie nichts getan als ihre Rechte verteidigt! Und nun bei uns ein Mörder sterben soll, der seine Strafe verdient hat, soll ich meine Augen davon abwenden, weil ich eine Squaw, ein Mädchen bin? Ja, einst waren wir anders; aber ihr habt uns gelehrt, Blut fließen zu sehen, ohne daß wir mit der Wimper zucken. Ich werde gehen, um dabei zu sein, wenn der Mörder Klekih-petras seine Strafe erleidet!«
Ich hatte die schöne, junge Indianerin als ein sanftes, stilles Wesen kennen gelernt; jetzt stand sie vor mir mit blitzenden Augen und glühenden Wangen, das lebende Bild einer Rachegöttin, die kein Erbarmen kennt. Fast wollte sie mir da noch schöner als vorher vorkommen. Durfte ich sie verurteilen? Hatte sie unrecht?
»So geh,« sagte ich; »aber ich gehe mit.«
»Bleib lieber hier!« bat sie, wieder in einem ganz andern Tone sprechend. »Intschu tschuna und Winnetou sehen es nicht gern, wenn du mitkommst.«
»Werden sie mir zürnen?«
»Nein. Sie wünschen es nicht, werden es dir aber nicht verbieten; du bist unser Bruder.«
»So gehe ich mit, und sie werden es verzeihen.«
Als ich mit ihr hinaus auf die Plattform trat, stand Sam Hawkens da. Er rauchte aus seiner alten, kurzen Savannenpfeife, denn er hatte auch Tabak erhalten.
»Ist jetzt eine andere Sache, Sir,« sagte er schmunzelnd. »Bis vorhin Gefangene gewesen und jetzt die großen Herren spielen; das ist ein Unterschied. Wie geht es Euch unter den neuen Verhältnissen?«
»Danke, gut,« antwortete ich.
»Mir auch ausgezeichnet. Der Häuptling hat uns selbst bedient. Das ist doch fein, wenn ich mich nicht irre!«
»Wo ist Intschu tschuna jetzt?«
»Fort, wieder nach dem Flusse.«
»Wißt Ihr, was jetzt dort geschieht?«
»Kann es mir denken.«
»Nun, was?«
»Zärtlicher Abschied von den lieben Kiowas.«
»Das weniger.«
»Was denn sonst?«
»Rattler wird gemartert.«
»Rattler wird gemartert? Und da führt man uns hierher? Da muß ich auch dabei sein! Kommt, Sir! Wir wollen schnell hinab!«
»Langsam! Könnt Ihr denn solche Szenen ersehen, ohne daß Euch der Schauder forttreibt?«
»Ersehen? Schauder? Was Ihr doch für ein Greenhorn seid, geliebter Sir! Wenn Ihr Euch erst länger hier im Westen befindet, so werdet Ihr auch nicht mehr ans Schaudern denken. Der Kerl hat den Tod verdient und wird auf indianische Weise hingerichtet; das ist alles!«
»Aber es ist Grausamkeit.«
»Pshaw! Redet doch bei so einem Subjekte nicht von Grausamkeit! Sterben muß er doch! Oder seid Ihr etwa auch damit nicht einverstanden?«
»O ja. Aber sie mögen es kurz mit ihm machen! Er ist ein Mensch!«
»Ein solcher Mann, der einen Andern, welcher ihm nicht das Mindeste getan hat, niederschießt, der ist kein Mensch mehr. Er war betrunken wie ein Vieh.«
»Das ist doch ein Milderungsgrund. Er wußte nicht mehr, was er tat.«
»Laßt Euch nicht auslachen! Ja, da drüben bei Euch im alten Lande, da sitzen die Herren Juristen zu Gericht und rechnen einem Jeden, dem es beliebt, in der Betrunkenheit ein Verbrechen zu begehen, den Schnaps als Milderungsgrund an. Verschärfen sollten sie die Strafe, Sir, verschärfen! Wer sich so sinnlos betrinkt, daß er wie ein wildes Tier über seinen Nebenmenschen herfällt, der sollte doch doppelt bestraft werden. Ich habe nicht das geringste Mitleid mit diesem Rattler. Denkt doch daran, wie er Euch behandelt hat!«
»Ich denke daran, aber ich bin ein Christ und kein Indianer. Ich werde alles versuchen, einen kurzen Tod für ihn zu erreichen.«
»Das laßt bleiben, Sir! Erstens verdient er es nicht, und zweitens wird alle Eure Mühe vergeblich sein. Klekih-petra ist der Lehrer, der geistige Vater des Stammes gewesen; sein Tod ist ein unersetzlicher Verlust für die Apachen, und der Mord geschah ohne alle Veranlassung. Aus diesen Gründen ist es gewiß unmöglich, die Roten zur Nachsicht zu bewegen.«
»Ich versuche es doch!«
»Aber vergeblich!«
»In diesem Falle schieße ich Rattlern eine Kugel in das Herz.«
»Um seine Qualen zu beenden? Das laßt ums Himmels willen sein! Ihr würdet Euch dadurch den ganzen Stamm zum Feinde machen. Es ist sein gutes Recht, die Art der Strafe zu bestimmen, und wenn Ihr ihn um dieses bringt, so ist es mit der jungen Freundschaft, welche wir geschlossen haben, sofort wieder aus. Also geht Ihr mit?«
»Ja.«
»Schön; aber macht ja keine Dummheiten! Ich will Dick und Will rufen.«
Er verschwand im Eingange zu seiner Wohnung und kehrte bald mit den beiden Genannten zurück. Wir stiegen die Etagen hinab. Nscho-tschi war uns vorangegangen und nicht mehr zu sehen. Als wir aus dem Seitentale in das Haupttal des Rio Pecos kamen, sahen wir die Kiowas nicht mehr. Sie waren mit ihrem verwundeten Häuptling fortgeritten, und Intschu tschuna war so klug und umsichtig gewesen, ihnen heimlich Späher nachzusenden, da es ihnen einfallen konnte, unbemerkt zurückzukehren, um sich zu rächen.
Ich habe schon gesagt, daß unser Ochsenwagen auf dem Platze stand. Als wir kamen, hatten die Apachen einen weiten Kreis um denselben gebildet. In der Mitte desselben standen die beiden Häuptlinge mit einigen Kriegern. Nscho-tschi war bei ihnen und sprach mit Winnetou. Obgleich sie die Tochter des Häuptlings war, durfte sie sich nicht in die Angelegenheiten der Männer mischen; wenn sie sich trotzdem jetzt nicht bei den Frauen befand, so war es gewiß nichts Unwichtiges, was sie ihrem Bruder zu sagen hatte. Als sie uns kommen sah, machte sie ihn, wie ich bemerkte, auf uns aufmerksam und zog sich dann zu den Squaws zurück. Sie hatte also wohl von uns mit ihm gesprochen. Winnetou durchbrach den Kreis seiner Krieger, kam uns entgegen und sagte in ernstem Tone:
»Warum sind meine weißen Brüder nicht oben im Pueblo geblieben? Gefallen ihnen die Wohnungen nicht, in welche sie geführt worden sind?«
»Sie gefallen uns,« antwortete ich, »und wir danken unsrem roten Bruder für die Fürsorge, die er für uns getroffen hat. Wir kehren zurück, weil wir hörten, daß Rattler jetzt sterben soll. Ist dies so?«
»Ja.«
»Ich sehe ihn doch nicht!«
»Er liegt im Wagen bei der Leiche des Ermordeten.«
»Welche Todesart soll er erleiden?«
»Den Martertod.«
»Ist dies unvermeidlich beschlossen worden?«
»Ja.«
»Einen solchen Tod kann mein Auge nicht ersehen!«
»Deshalb hat Intschu tschuna, mein Vater, euch nach dem Pueblo gebracht. Warum seid ihr zurückgekehrt? Warum willst du etwas ansehen, was du nicht ersehen kannst?«
»Ich hoffe, daß ich seinem Tode beiwohnen kann, ohne daß ich mich mit Grauen abzuwenden brauche. Meine Religion gebietet mir, für Rattler zu bitten.«
»Deine Religion? War sie nicht auch die seinige?«
»Ja.«
»Hat er nach den Geboten derselben gehandelt?«
»Leider nein.«
»So hast du nicht nötig, ihre Gebote seinetwegen zu erfüllen. Deine und seine Religion verbietet den Mord; er hat trotzdem gemordet, folglich sind die Lehren dieser Religion nicht auf ihn anzuwenden.«
»Nach dem, was er getan hat, kann ich mich nicht richten. Ich muß meine Pflicht erfüllen, ohne nach den Gesinnungen und Taten anderer Menschen zu fragen. Ich bitte dich, eure Strenge zu mildern und diesen Mann eines schnellen Todes sterben zu lassen!«
»Was beschlossen ist, muß ausgeführt werden!«
»Unbedingt?«
»Ja.«
»So gibt es also kein Mittel, meinen Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen?«
Er blickte sehr ernst und nachdenklich zu Boden; dann antwortete er:
»Es gibt eines.«
»Welches?«
»Ehe ich es meinem weißen Bruder sage, muß ich ihn bitten, es lieber nicht in Anwendung zu bringen, weil dir dies bei unsern Kriegern sehr, sehr schaden würde.«
»Inwiefern?«
»Sie würden dich nicht so achten können, wie ich es um deinetwillen wünsche.«
»So ist dieses Mittel ein ehrloses, ein verächtliches?«
»Nach den Begriffen der roten Männer, ja.«
»Sage es mir!«
»Du müßtest unsere Dankbarkeit anrufen.«
»Ah! Das tut allerdings kein braver Mann!«
»Nein. Wir haben dir unser Leben zu verdanken. Wolltest du dich darauf berufen, so würdest du mich und Intschu tschuna, meinen Vater, zwingen, uns deines Wunsches anzunehmen.«
»In welcher Weise?«
»Wir würden eine neue Beratung halten und während derselben so für dich sprechen, daß unsere Krieger den Dank, den du forderst, anerkennen müßten. Dann aber würde alles, was du getan hast, ferner wertlos sein. Ist dieser Rattler ein solches Opfer wert?«
»Allerdings nicht!«
»Mein Bruder hört, daß ich aufrichtig mit ihm rede. Ich weiß, welche Gedanken und Gefühle in seinem Herzen wohnen; aber meine Krieger können solche Empfindungen nicht begreifen. Ein Mann, welcher Dank fordert, wird von ihnen verachtet. Soll Old Shatterhand, welcher der größte und berühmteste Krieger der Apachen werden kann, heute von uns fortgehen müssen, weil meine Krieger vor ihm ausspucken werden?«
Es wurde mir schwer, hierauf eine Antwort zu geben. Mein Herz gebot mir, bei meiner Fürbitte zu bleiben; mein Verstand, oder besser gesagt, mein Stolz war dagegen. Winnetou fühlte Teilnahme für den Zwiespalt in meinem Innern und sagte:
»Ich werde mit Intschu tschuna, meinem Vater, sprechen. Mein Bruder mag hier warten!«
Er ging.
»Macht keine Dummheiten, Sir!« bat Sam. »Ihr ahnt gar nicht, was hierbei auf dem Spiele steht, vielleicht gar das Leben.«
»Das jedenfalls nicht!«
»O doch! Es ist wahr: der Rote verachtet einen Jeden, welcher direkt Dank von ihm fordert, ihn an das mahnt, was er ihm schuldet. Er tut dann wohl das, was man von ihm fordert, aber nachher kennt er den Betreffenden nicht mehr. Wir müßten wirklich heut noch fort und haben die feindlichen Kiowas vor uns. Was das bedeutet, das muß ich Euch doch wohl nicht erst sagen.«
Intschu tschuna und Winnetou sprachen eine Weile sehr ernst miteinander; dann kamen sie zu uns herbei, und der Erstere sagte:
»Hätte Klekih-petra uns nicht so viel von eurem Glauben gesagt, so würde ich dich für einen Mann halten, mit dem zu sprechen eine Schande ist. So aber kann ich deinen Wunsch sehr wohl begreifen, doch meine Krieger würden es nicht verstehen und dich verachten.«
»Es handelt sich nicht nur um mich, sondern auch um Klekih-petra, von dem du redest.«
»Wieso um ihn?«
»Er besaß denselben Glauben, der mir meine Bitte gebietet, und ist in diesem Glauben gestorben. Seine Religion gebot ihm, dem Feinde zu verzeihen. Glaube mir, wenn er noch lebte, so würde er es nicht zugeben, daß sein Mörder eines solchen Todes sterbe.«
»Denkst du das wirklich?«
»Ja, ich bin davon überzeugt.«
Er schüttelte langsam den Kopf und sagte:
»Was sind diese Christen doch für Menschen! Entweder sind sie schlecht, und dann ist ihre Schlechtigkeit so groß, daß man sie nicht zu begreifen vermag. Oder sie sind gut, und dann ist ihre Güte ebenso unbegreiflich!«
Hierauf sah er seinem Sohne und dieser wieder ihm in die Augen. Sie verstanden sich; sie hielten Zwiesprache miteinander nur durch diese Blicke. Dann wendete sich Intschu tschuna wieder mir zu, indem er fragte:
»Dieser Mörder war auch dein Feind?«
»Ja.«
»Hast du ihm verziehen?«
»Ja.«
»So höre, was ich dir sage! Wir wollen erfahren, ob noch eine kleine, kleine Spur des Guten in ihm wohnt. Ist dies der Fall, so werde ich versuchen, dir deinen Wunsch zu erfüllen, ohne daß es dir Schaden macht. Setzt euch hier nieder und wartet, was geschieht. Wenn ich dir einen Wink gebe, so kommst du zu dem Mörder und forderst von ihm, daß er dich um Verzeihung bitte. Tut er dies, so soll er schnell sterben.«
»Darf ich ihm dies sagen?«
»Ja.«
Intschu tschuna kehrte mit Winnetou wieder in den Kreis zurück, und wir setzten uns da nieder, wo wir jetzt gestanden hatten.
»Das hätte ich nicht gedacht,« meinte Sam, »daß der Häuptling doch auf Euren Wunsch eingeht. Ihr müßt sehr gut bei ihm stehen.«
»Das tut es nicht; der Grund ist ein anderer.«
»Welcher?«
»Es ist der Einfluß Klekih-petras, der sich selbst nach seinem Tode geltend macht. Diese Roten haben vom wahren, innern Christentume mehr in sich aufgenommen, als sie ahnen. Ich bin sehr neugierig, was nun geschieht.«
»Werdet es gleich sehen. Paßt nur auf!«
Jetzt wurde die Plahe von dem Wagen entfernt. Wir sahen, daß man einen langen, kofferähnlichen Gegenstand, auf welchem ein Mensch festgebunden war, herabnahm.
»Das ist der Sarg,« meinte Sam Hawkens; »aus hohlgebrannten Baumklötzen zusammengesetzt und mit naßgemachten Fellen überzogen. Wenn das Leder trocken wird, zieht es sich zusammen, und der Sarg wird dadurch luftdicht verschlossen.«
Unfern von der Stelle, wo das Seiten- auf das Haupttal stieß, erhob sich ein Felsen, an welchem aus großen Steinen ein vorn offenes Viereck zusammengesetzt worden war. Daneben lagen noch viele Steine, welche hier zusammengetragen worden waren. Nach diesem Steinvierecke wurde der Sarg mitsamt dem Manne, der mit ihm zusammengebunden war, getragen. Dieser Mann war Rattler.
»Wißt Ihr, warum man dort die Steine zusammengeschafft hat?« fragte Sam.
»Ich denke es mir.«
»Man will das Grab daraus bauen.«
»Richtig! Ein Doppelgrab.«
»Für Rattler mit?«
»Ja. Der Mörder wird mit seinem Opfer begraben, was eigentlich nach jedem Morde geschehen sollte, wenn es möglich wäre.«
»Schrecklich! Lebendig an den Sarg des Ermordeten gefesselt zu sein und dabei zu wissen, daß dies zugleich die eigene letzte Lagerstätte ist!«
»Ich glaube gar, Ihr bedauert den Menschen wirklich! Daß Ihr für ihn gebettelt habt, das kann ich noch begreifen, aber Mitleid mit ihm zu haben, das verstehe ich wirklich nicht.«
Jetzt wurde der Sarg aufgerichtet, so daß Rattler auf seine Füße zu stehen kam. Man band beide, den Sarg und den Menschen, mit starken Riemen an die Steinmauer fest. Die Roten, Männer, Frauen und Kinder, näherten sich der Stelle und bildeten einen Halbkreis um dieselbe. Es herrschte tiefe, erwartungsvolle Stille. Winnetou und Intschu tschuna standen neben dem Sarge, der Eine rechts und der Andere links davon. Da erhob der Häuptling seine Stimme:
»Die Krieger der Apachen sind hier versammelt, Gericht zu halten, denn es hat das Volk der Apachen ein großer, schwerer Verlust betroffen, den der Schuldige mit seinem Leben bezahlen soll.«
Intschu tschuna sprach weiter, indem er in der indianischen, bilderreichen Weise von Klekih-petra, seinem Charakter und seinem Wirken redete und dann ausführlich erzählte, in welcher Weise sich die Ermordung ereignet hatte. Er berichtete über die Gefangennahme Rattlers und machte zum Schlusse bekannt, daß dieser jetzt zu Tode gemartert und dann grad so, wie er an den Sarg gebunden war, mit dem Toten begraben werden solle. Hierauf sah er zu mir herüber und gab mir den erwarteten Wink.
Wir standen auf und wurden, als wir hinkamen, in den Halbkreis aufgenommen. Vorhin hatte ich wegen der Entfernung den Verurteilten nicht deutlich sehen können; jetzt stand ich vor ihm und fühlte, so schlecht und gottlos er gewesen war, doch ein tiefes Mitleid mit diesem Menschen.
Der auf das Fußende gestellte Sarg war über doppelt mannesstark und über vier Ellen lang. Er sah aus, als habe man von einem dicken Baumstamm einen Klotz abgesägt und diesen mit Leder überzogen. Rattler war in der Weise mit dem Rücken auf diesen Sarg befestigt, daß seine Arme nach hinten lagen und seine Füße jetzt auseinander standen. Man sah ihm an, daß er weder Hunger noch Durst zu leiden gehabt hatte. Ein Knebel verschloß ihm den Mund; er hatte also jetzt nicht sprechen können. Auch sein Kopf war so befestigt, daß er denselben nicht bewegen konnte. Als ich kam, nahm Intschu tschuna ihm den Knebel aus dem Mund und sagte zu mir:
»Mein weißer Bruder hat mit diesem Mörder reden wollen. Es mag geschehen!«
Rattler sah, daß ich frei war; ich mußte mich also mit den Indianern befreundet haben; das konnte er sich sagen. Darum hatte ich geglaubt, er werde mich bitten, bei ihnen ein gutes Wort für ihn einzulegen. Statt dessen aber fuhr er, sobald der Knebel entfernt worden war, mich giftig an:
»Was wollt Ihr von mir? Packt Euch fort; ich mag nichts mit Euch zu schaffen haben!«
»Ihr habt gehört, daß Ihr zum Tode verurteilt worden seid, Mr. Rattler,« antwortete ich ruhig. »Daran ist nichts zu ändern. Sterben müßt Ihr unbedingt. Aber ich will Euch«
»Fort, Hund, fort!« unterbrach er mich, wobei er mich anspucken wollte, mich aber nicht traf, weil er den Kopf nicht bewegen konnte.
»Also sterben müßt Ihr,« fuhr ich unbeirrt fort, »doch in welcher Weise, das soll auf Euch ankommen. Ihr sollt zu Tode gemartert werden; das heißt, man wird Euch lange, lange quälen, vielleicht heut, vielleicht auch noch morgen den ganzen Tag. Das ist entsetzlich, und ich mag es nicht haben. Auf meine Bitte hat sich Intschu tschuna bereit erklärt, Euch schnell sterben zu lassen, falls Ihr die Bedingung erfüllt, welche er daran knüpfte.«
Ich hielt inne, denn ich dachte, daß er mich nach dieser Bedingung fragen werde. Statt dessen aber warf er mir einen so schrecklichen Fluch zu, daß es ganz unmöglich ist, denselben wiederzugeben.
»Diese Bedingung ist, daß Ihr mich um Verzeihung bitten sollt,« erklärte ich weiter.
»Um Verzeihung? Dich um Verzeihung bitten?« schrie er. »Lieber beiße ich mir die Zunge ab und erleide alle Qualen, die sich diese roten Schufte ausdenken können!«
»Wohlgemerkt, Mr. Rattler, ich bin es nicht, der diese Bedingung gestellt hat, denn ich brauche Eure Bitte nicht. Intschu tschuna hat es so gewollt, und da ich es Euch sagen sollte, so will ich dies hiermit getan haben. Bedenkt, in welcher Lage Ihr Euch befindet, und was Euch droht! Es steht Euch Schreckliches bevor, eine ganz entsetzliche Todesart, welcher Ihr dadurch entgehen könnt, daß Ihr nur das eine, kleine Wort ›Pardon‹ aussprecht.«
»Fällt mir nicht ein, nie, nie! Macht Euch fort von hier! Ich mag Euer schurkisches Gesicht nicht sehen. Geht zum Teufel und meinetwegen auch noch weiter!«
»Wenn ich Euch den Willen tue und fortgehe, ist's für Euch zu spät; ich komme dann nicht wieder. Also seid verständig, und sagt das kleine Wort!«
»Nein, nein und nein!« brüllte er.
»Ich bitte Euch darum!«
»Fort, fort, sage ich! Himmel und Hölle, warum bin ich angebunden! Hätte ich die Hände frei, so wollte ich Euch den Weg zeigen!«
»Well, Ihr sollt Euren Willen haben, aber ich sage Euch, daß ich nicht wiederkommen werde, wenn Ihr mich nachher ruft.«
»Ich dich rufen? Dich, dich? Das bilde dir ja nicht ein! Packe dich fort, sage ich, packe dich!«
»Ich will gehen. Vorher aber noch Eins: Habt Ihr noch einen Wunsch? Ich will ihn Euch erfüllen. Einen Gruß an irgend Jemand? Habt Ihr Verwandte, denen ich vielleicht Nachricht bringen kann?«
»Geh in die Hölle, und sag dort, daß du ein verdammter Schurke bist! Du hast mit diesen Roten gemeinschaftliche Sache gemacht und mich in ihre Gewalt gebracht. Dafür mag«
»Ihr irrt,« unterbrach ich ihn. »Also Ihr habt keinen Wunsch vor Eurem Tode?«
»Nur den einen, daß Ihr mir bald nachfolgen mögt, nur diesen einen!«
»Gut, so sind wir fertig, und ich habe nichts mehr zu tun, als Euch als Christ den Rat zu geben: Fahrt nicht in Euern Sünden dahin, sondern denkt an Eure Taten und an die Vergeltung, die Euch jenseits erwartet!«
Was er hierauf antwortete, kann ich wieder nicht sagen; es überlief mich eiseskalt bei seinen Worten. Intschu tschuna nahm mich bei der Hand und führte mich fort, indem er sagte:
»Mein junger, weißer Bruder sieht, daß dieser Mörder keine Fürbitte verdient; er ist ein Christ. Ihr nennt uns Heiden; aber würde ein roter Krieger solche Worte sprechen?«
Ich antwortete ihm nicht, denn was hätte ich auch sagen können oder sollen? Dieses Verhalten Rattlers hatte ich nicht erwartet. Er hatte sich früher so feig, so furchtsam gezeigt und wirklich gezittert, als von den Marterpfählen der Indianer die Rede gewesen war. Und nun, heute tat er so, als ob er sich aus allen Qualen der Welt gar nichts mache!
»Das ist nicht etwa Mut von ihm,« sagte Sam, »sondern Wut, nichts als Wut.«
»Worüber?«
»Ueber Euch, Sir. Er denkt, Ihr seid schuld, daß er in die Hände der Roten gefallen ist. Er hat Euch seit dem Tage, an welchem wir gefangen genommen wurden, nicht erblickt; jetzt sieht er Euch und uns frei; die Roten sind freundlich gegen uns, während er sterben soll. Das ist für ihn natürlich Grund genug, anzunehmen, daß wir falsche Karte gespielt haben. Aber laßt nur die Qualen beginnen, so wird er ganz anders pfeifen. Paßt auf, ich habe es gesagt, wenn ich mich nicht irre!«
Die Apachen ließen uns nicht lange auf den Beginn des traurigen Spieles warten. Ich hatte eigentlich die Absicht, mich zu entfernen; aber ich hatte so Etwas noch nicht gesehen und beschloß also, so lange zu bleiben, bis es mir nicht mehr möglich sei, länger zuzusehen.
Die Zuschauer setzten sich nieder. Mehrere junge Krieger traten, mit den Messern in den Händen, vor und stellten sich ungefähr fünfzehn Schritte von Rattler auf. Sie warfen ihre Messer nach ihm, hüteten sich aber, ihn zu treffen, sondern die Klingen fuhren alle in den Sarg, auf den er gebunden war. Das erste Messer stak links und das zweite rechts von seinem Fuße, aber so nahe an demselben, daß fast gar kein Zwischenraum vorhanden war. Die beiden nächsten Messer wurden weiter aufwärts gezielt, und so ging es fort, bis seine beiden Beine von vier Messerreihen eng eingesäumt waren.
Bis jetzt hatte er sich leidlich gehalten. Nun aber schwirrten die Messer höher und immer höher auf ihn zu, denn es galt, die Umrisse seines Körpers mit denselben zu spicken. Da bekam er Angst. Sobald ein Messer auf ihn zugeflogen kam, stieß er einen Angstschrei aus. Und diese Schreie wurden um so lauter und schriller, je höher die Indianer ihr Ziel nahmen.
Als dann der Oberkörper auch zwischen lauter Messern steckte, kam der Kopf daran. Das erste Messer fuhr rechts neben seinem Halse in den Sarg, das zweite links; so ging es hüben und drüben am Gesichte bis zum Scheitel empor, bis keine Klinge mehr Platz finden konnte. Dann wurden die Messer alle wieder herausgezogen. Es war das nur ein Vorspiel gewesen, ausgeführt von jungen Leuten, welche zeigen sollten, daß sie gelernt hatten, ruhig zu zielen und sicher zu werfen. Sie suchten ihre Plätze auf und setzten sich nieder.
Hierauf bestimmte Intschu tschuna ältere Leute, welche auf dreißig Schritte Entfernung werfen sollten. Als der Erste dazu bereit war, trat der Häuptling zu Rattler heran, zeigte auf seinen rechten Oberarm und gebot:
»Hierher treffen.«
Das Messer kam geflogen, traf ganz genau den bezeichneten Punkt und fuhr durch den Muskel, diesen anspießend, in den Sargdeckel. Das war Ernst. Rattler fühlte den Schmerz und stieß ein Geheul aus, als ob es ihm bereits an das Leben gehe. Das zweite Messer fuhr durch denselben Muskel des andern Armes, und das Geheul verdoppelte sich. Der dritte und vierte Wurf waren nach dem Oberschenkel gerichtet und trafen auch dort ganz genau die Stellen, welche der Häuptling jedesmal vorher bezeichnete. Man sah kein Blut fließen, da Rattler nicht entkleidet war und die Indianer für jetzt nur solche Stellen treffen durften, wo die Verwundung keine Gefahr und also keine Verkürzung des Schauspieles mit sich brachte.
Vielleicht hatte Rattler geglaubt, daß man es gar nicht so ernst mit seinem Tode meine; jetzt mußte er einsehen, daß dies eine falsche Ansicht gewesen war. Er bekam noch Messer in die Vorderarme und in die Unterschenkel. Hatte er vorher nur einzelne Schreie ausgestoßen, so heulte er jetzt in Einem fort.
Die Zuschauer murrten, zischten und gaben in vielfältig anderer Weise ihre Mißachtung zu erkennen. Ein Indianer am Marterpfahle benimmt sich da ganz anders. Sobald das Schauspiel, welches mit seinem Tode endigen soll, beginnt, stimmt er seinen Sterbegesang an, in welchem er seine Taten preist und diejenigen, die ihn martern, verhöhnt. Je größere Schmerzen man ihm zufügt, desto größer sind die Beleidigungen, die er ihnen zuwirft; nie aber wird er eine Klage ausstoßen, einen Schmerzensschrei hören lassen. Ist er dann tot, verkündigen seine Feinde seinen Ruhm und begraben ihn mit allen indianischen Ehren. Es ist ja dann auch für sie eine Ehre gewesen, zu einem so ruhmvollen Tode beizutragen.
Anders ist es bei einem Feiglinge, welcher bei der geringsten Verwundung schreit und brüllt und wohl gar um Gnade bittet. Diesen zu martern, ist keine Ehre, sondern beinahe eine Schande; darum findet sich schließlich kein wackerer Krieger mehr, der sich ferner mit ihm beschäftigen will, und er wird erschlagen oder auf sonst eine ehrlose Weise vom Leben zum Tode gebracht.
So ein Feigling war Rattler. Seine Verwundungen waren gering und noch nicht gefährlich; sie mochten ihm zwar einige Schmerzen bereiten, aber von Qualen war noch gar keine Rede. Dennoch heulte und zeterte er, als ob er alle Qualen der Hölle fühle, und brüllte dabei immerfort meinen Namen, mich auffordernd, zu ihm zu kommen. Da ließ Intschu tschuna eine Pause eintreten und forderte mich auf:
»Mein junger, weißer Bruder mag zu ihm gehen und ihn fragen, warum er so schreit. Die Messer können ihm bis jetzt noch gar nicht wehe getan haben.«
»Ja, kommt her, Sir, kommt her!« rief Rattler. »Ich muß mit Euch reden!«
Ich ging hin und fragte:
»Was wollt Ihr nun von mir?«
»Zieht mir die Messer aus den Armen und Beinen!«
»Das darf ich nicht.«
»Aber ich muß doch daran sterben! Wer kann denn so viele Verwundungen aushalten?«
»Sonderbar! Habt Ihr denn etwa geglaubt, daß Ihr leben bleiben sollt?«
»Ihr lebt doch auch!«
»Ich habe niemanden ermordet!«
»Ich kann nicht dafür, daß ich es tat. Ihr wißt ja, daß ich betrunken war!«
»Die Tat bleibt dieselbe. Ich habe Euch oft vor dem Branntwein gewarnt. Ihr hörtet nicht und habt nun die Folgen zu tragen.«
»Ihr seid ein ganz harter und gefühlloser Mensch! So bittet doch für mich!«
»Das habe ich getan. Sagt Pardon, so werdet Ihr schnell sterben und nicht langsam gequält werden.«
»Schnell sterben! Ich will aber nicht sterben! Ich will leben, leben, leben!«
»Das ist unmöglich.«
»Unmöglich? Also gibt es keine Rettung?«
»Nein.«
»Keine Rettung keine, keine, keine!«
Er brüllte das aus vollem Halse hinaus und begann dann ein solches Wehklagen und Jammern, daß ich es nicht länger bei ihm aushalten konnte, sondern mich entfernte.
»Bleibt doch, Sir, bleibt bei mir!« schrie er mir nach. »Sonst fangen sie wieder mit mir an!«
Da fuhr ihn der Häuptling an:
»Heule nicht länger, Hund! Du bist ein stinkender Coyote, den kein Krieger mit seiner Waffe mehr berühren mag.«
Und sich an seine Leute wendend, fuhr er fort:
»Welcher von den Söhnen der tapferen Apachen will sich noch mit diesem Feiglinge abgeben?«
Keiner antwortete.
»Also niemand?«
Wieder dasselbe Schweigen wie vorher.
»Uff! Dieser Mörder ist nicht wert, von uns getötet zu werden. Er soll auch nicht mit Klekih-petra begraben werden. Wie könnte eine solche Kröte neben einem Schwane in den ewigen Jagdgründen erscheinen. Schneidet ihn los!«
Er gab zwei kleinen Knaben einen Wink. Diese sprangen auf, liefen hin, zogen ihm die Messer aus den Gliedern und schnitten ihn von dem Sarge los.
»Bindet ihm die Hände auf den Rücken!« befahl der Häuptling weiter.
Die Knaben, die nicht älter als zehn Jahre waren, taten dies, und Rattler wagte nicht die geringste Bewegung des Widerstandes dabei. Welch eine Schande! Ich schämte mich fast, ein Weißer zu sein.
»Führt ihn an den Fluß, und stoßt ihn in das Wasser!« lautete die nächste Weisung. »Wenn er das jenseitige Ufer glücklich erreicht, soll er frei sein.«
Rattler stieß einen Jubelruf aus und ließ sich von den Knaben nach dem Flusse schaffen. Sie stießen ihn auch wirklich hinein, denn er besaß nicht einmal so viel Ehrgefühl, selbst hineinzuspringen. Er ging zunächst unter, kam aber bald wieder empor und bemühte sich, auf dem Rücken schwimmend vorwärts zu kommen. Das war gar nicht schwer, obwohl ihm die Hände auf dem Rücken zusammengebunden waren. Der Mensch geht infolge seines geringen spezifischen Gewichtes im Wasser nicht ganz unter, und die Beine hatte er ja frei; er konnte sich mit ihrer Hilfe fortbewegen, was ihm auch ganz leidlich gelang.
Sollte er das jenseitige Ufer erreichen dürfen? Das wünschte ich selbst gar nicht. Er hatte den Tod verdient. Ließ man ihn leben und entkommen, so machte man sich geradezu der Verbrechen schuldig, welche er in Zukunft begehen würde. Die beiden Knaben standen noch hart am Wasser und blickten ihm nach. Da gab ihnen Intschu tschuna den Befehl:
»Nehmt Flinten, und schießt ihn in den Kopf!«
Sie liefen zu der Stelle, wo einige der Krieger ihre Gewehre hingelegt hatten, und nahmen sich jeder eins davon. Diese kleinen Kerls wußten ganz wohl, wie man eine solche Waffe zu handhaben hat. Sie knieten am Ufer nieder und zielten auf Rattlers Kopf.
»Nicht schießen, um Gottes willen, nicht schießen!« schrie er voller Entsetzen.
Die Knaben sprachen einige Worte mit einander; sie behandelten den Vorfall als kleine Sportsmen, indem sie ihn weiter und immer weiter schwimmen ließen, was ihnen der Häuptling stillschweigend zuließ. Ich ersah daraus, daß er gar wohl wußte, ob sie schießen konnten oder nicht. Dann stießen sie mit ihren hellen Kinderstimmen einen auffordernden Schrei aus und schossen ihre Gewehre ab. Rattler wurde in den Kopf getroffen und verschwand augenblicklich unter dem Wasser.
Kein Jubelruf erscholl, wie es sonst Gewohnheit der Roten ist, bei dem Tode dieses ihres Feindes. Ein solcher Feigling war es nicht wert, daß man seinetwegen nur einen Laut hören ließ. Die Verachtung der Indianer war so groß, daß sie sich gar nicht um seine Leiche kümmerten; sie ließen ihn flußabwärts treiben, ohne ihm einen Blick nachzusenden. Er konnte ja auch nur verwundet anstatt erschossen worden sein; ja, er konnte nur so getan haben, als ob er getroffen worden sei, und, so wie ich, untergetaucht sein, um an einer andern, für sie unsichtbaren Stelle wieder auf der Oberfläche zu erscheinen. Sie hielten es aber gar nicht für der Mühe wert, sich weiter mit ihm zu beschäftigen.
Intschu tschuna kam zu mir und fragte:
»Ist mein junger, weißer Bruder jetzt mit mir zufrieden?«
»Ja. Ich danke dir!«
»Du hast keinen Grund zum Danke. Auch wenn ich deinen Wunsch nicht gekannt hätte, würde ich genau so gehandelt haben. Dieser Hund war gar nicht wert, den Martertod zu erleiden. Heut hast du den Unterschied zwischen uns Heiden und euch Christen, zwischen tapfern, roten Kriegern und weißen Feiglingen gesehen. Die Bleichgesichter sind zu allen bösen Taten fähig, aber wenn es gilt, Mut zu zeigen, dann heulen sie vor Angst wie Hunde, welche Schläge bekommen sollen.«
»Der Häuptling der Apachen darf nicht vergessen, daß es überall tapfere und feige, gute und böse Menschen gibt!«
»Du hast recht, und ich wollte dich nicht beleidigen; aber dann darf auch kein Volk denken, daß es besser als ein anderes sei, weil dieses nicht dieselbe Farbe hat.«
Um ihn von diesem heiklen Gegenstand abzulenken, erkundigte ich mich:
»Was werden die Krieger der Apachen jetzt nun tun? Klekih-petra begraben?«
»Ja.«
»Darf ich mit meinen Gefährten dabei sein?«
»Ja. Wenn du nicht gefragt hättest, würde ich dich darum gebeten haben. Du hast damals mit Klekih-petra gesprochen, als wir fortgingen, um die Pferde zu holen. War es nur ein gewöhnliches Gespräch?«
»Nein, sondern ein sehr ernstes, für ihn und auch für mich wichtiges. Darf ich euch sagen, wovon wir geredet haben?«
Ich wendete jetzt die Mehrzahl an, weil Winnetou zu uns getreten war.
»Sage es!« antwortete dieser.
»Als ihr fort waret, setzten wir uns zueinander. Wir bemerkten bald, daß seine Heimat auch die meinige sei, und unterhielten uns in unserer Muttersprache. Er hatte viel erlebt und viel erduldet und erzählte es mir. Er sagte mir, wie lieb er euch habe und daß es sein Wunsch sei, für Winnetou sterben zu können. Der große Geist hat ihm diesen Wunsch nur wenige Minuten später erfüllt.«
»Warum wollte er für mich sterben?«
»Weil er dich liebte, und aus noch einem anderen Grunde, den ich dir später wohl mitteilen werde. Sein Tod sollte eine Sühne sein.«
»Als er sterbend an meinem Herzen lag, redete er zu dir in einer Sprache, welche ich nicht verstand. Welche war es?«
»Unsere Muttersprache.«
»Sprach er da auch von mir?«
»Ja.«
»Was?«
»Er bat mich, dir treu zu bleiben.«
»Mir treu zu bleiben ? Du kanntest mich doch noch gar nicht!«
»Ich kannte dich, denn ich hatte dich gesehen, und wer Winnetou sieht, der weiß, wen er vor sich hat, und er hatte mir ja von dir erzählt!«
»Was antwortetest du ihm?«
»Ich versprach ihm, diesen Wunsch zu erfüllen.«
»Es war sein letzter, den er im Leben hatte. Du bist sein Erbe geworden. Du hast ihm gelobt, mir treu zu sein, hast mich behütet, bewacht und geschont, während ich dich als meinen Feind verfolgte. Der Stich meines Messers wäre für jeden Andern tödlich gewesen, doch dein starker Körper hat ihn überwunden. Ich stehe in tiefer, tiefer Schuld bei dir. Sei mein Freund!«
»Ich bin es längst.«
»Mein Bruder!«
»Von ganzem Herzen gern.«
»So wollen wir den Bund am Grabe dessen schließen, der meine Seele der deinigen übergeben hat! Ein edles Bleichgesicht ist von uns gegangen und hat uns, noch im Verscheiden, ein anderes, ebenso edles zugeführt. Mein Blut soll dein Blut und dein Blut soll mein Blut sein! Ich werde das deinige und du wirst das meinige trinken. Intschu tschuna, der größte Häuptling der Apachen, der mein Vater und Erzeuger ist, wird es mir erlauben!«
Intschu tschuna reichte uns seine Hände und sagte in einem von Herzen kommenden Tone:
»Ich erlaube es. Ihr werdet nicht nur Brüder, sondern ein einziger Mann und Krieger mit zwei Körpern sein. Howgh!«
Wir begaben uns nach der Stelle, wo das Grab errichtet werden sollte. Ich erkundigte mich nach dem Maße, der Bauart und der Höhe desselben und bat mir dann einige Tomahawks aus. Hierauf ging ich mit Sam, Dick Stone und Will Parker flußaufwärts in den Wald, wo wir uns passendes Holz aussuchten und mit Hilfe der Tomahawks aus demselben ein Kreuz zimmerten. Als wir mit demselben nach dem Lagerplatze zurückkehrten, hatten die Trauerfeierlichkeiten begonnen. Die Roten hatten sich um den Bau, der rasch fortgeschritten und beinahe beendet war, niedergelassen und sangen ihre eintönigen, ganz eigenartigen und tief ergreifenden Totenlieder. Der dumpfe, monotone Klang derselben wurde von Zeit zu Zeit von einem schrillen, spitzen Klageschrei übertönt, welcher wie ein rascher Blitz aus schweren, dichten Wolkenmassen emporschoß.
Ein Dutzend Indianer waren unter Anleitung der beiden Häuptlinge an dem Baue beschäftigt, und zwischen ihnen und der klagenden Schar tanzte in grotesken, langsamen Bewegungen und Sprüngen eine sonderbar verhüllte und mit allerlei Insignien behangene Gestalt herum.
»Wer ist das?« fragte ich. »Der Medizinmann?«
»Ja,« antwortete Sam.
»Indianische Gebräuche bei dem Begräbnisse eines Christen! Was sagt Ihr dazu, lieber Sam?«
»Paßt Euch das nicht?«
»Eigentlich nicht.«
»Laßt es Euch ruhig gefallen, Sir! Sagt ja kein Wort dagegen! Ihr würdet die Apachen ganz fürchterlich beleidigen.«
»Aber dieser Mummenschanz widerstrebt mir außerordentlich, mehr, als Ihr denkt!«
»Er ist gut gemeint. Meint Ihr vielleicht, daß er heidnisch sei?«
»Natürlich!«
»Unsinn! Diese braven, guten Leute glauben an einen großen Geist, zu dem der verstorbene Freund und Lehrer gegangen ist. Sie begehen die Abschieds-, die Todesfeier in ihrer Weise, und alles, was der Medizinmann dabei tut und vornimmt, ist von symbolischer Bedeutung. Laßt sie also ruhig gewähren! Sie werden uns auch nicht hindern, das Grabmal mit unserm Kreuze zu krönen.«
Als wir dieses neben dem Sarge niederlegten, fragte Winnetou:
»Soll dieses Zeichen des Christentums mit an die Steine kommen?«
»Ja.«
»Das ist recht. Ich hätte meinen Bruder Old Shatterhand gebeten, ein Kreuz zu machen, denn Klekih-petra hatte in seiner Wohnung eins und betete vor demselben. Darum wünschte ich, daß dieses Zeichen seines Glaubens auch an seinem Grabe wache. Welchen Platz soll es bekommen?«
»Es soll oben aus dem Grabmale ragen.«
»So wie bei den großen, hohen Häusern, in denen die Christen zum guten Geiste beten? Ich werde es so anbringen lassen, wie du es wünschest. Setzt euch nieder, und seht zu, ob wir es richtig machen!«
Nach einiger Zeit war der Bau vollendet; er wurde von unserm Kreuze gekrönt und hatte vorn eine Oeffnung für den Sarg, der jetzt noch im Freien stand.
Da kam Nscho-tschi. Sie war eben im Pueblo gewesen, um zwei aus Ton gebrannte Schalen zu holen, mit denen sie zum Flusse ging, um sie mit Wasser zu füllen. Als sie dies getan hatte, kam sie zu uns und stellte sie auf den Sarg, wozu, das sollte ich bald erfahren.
Jetzt war alles für das Begräbnis vorbereitet. Intschu tschuna gab mit der Hand ein Zeichen, worauf die Klagegesänge verstummten. Der Medizinmann hockte sich auf die Erde nieder. Der Häuptling trat an den Sarg und sprach langsam und in feierlichem Tone:
»Die Sonne geht des Morgens im Osten auf und sinkt des Abends im Westen nieder, und das Jahr erwacht zur Frühlingszeit und geht im Winter wieder schlafen. So ist es auch mit dem Menschen. Ist es so?«
»Howgh!« erschallte es dumpf rund umher.
»Der Mensch geht auf wie die Sonne und sinkt wieder nieder in das Grab. Er kommt wie ein Frühling auf die Erde und legt sich wie der Winter zur Ruhe. Aber wenn die Sonne untergegangen ist, so erscheint sie am nächsten Morgen wieder, und wenn der Winter verstreicht, so ist der Frühling wieder da. Ist es so?«
»Howgh!«
»So hat uns Klekih-petra gelehrt. Der Mensch wird in das Grab gelegt, aber jenseits des Todes steht er auf wie ein neuer Tag und wie ein neuer Frühling, um im Lande des großen, guten Geistes weiter zu leben. Das hat uns Klekih-petra gesagt, und jetzt weiß er, ob er die Wahrheit gesprochen hat, denn er ist verschwunden wie der Tag und das Jahr, und seine Seele ging ein zur Wohnung der Verstorbenen, nach der er sich immer sehnte. Ist es so?«
»Howgh!«
»Sein Glaube war nicht der unserige, und der unserige war nicht der seinige. Wir lieben unsere Freunde und hassen unsere Feinde; er aber lehrte, daß man auch seine Feinde lieben solle, denn sie seien auch unsere Brüder. Das wollten wir nicht glauben; aber so oft wir ihm und seinen Worten gehorchten, hat es uns zum Nutzen und zur Freude gereicht. Vielleicht ist sein Glaube doch auch der unserige, nur daß wir ihn nicht so begreifen konnten, wie er wünschte, daß wir ihn verstehen sollten. Wir sagen, unsere Seelen gehen nach den ewigen Jagdgründen, und er behauptete, die seinige gehe ein zur ewigen Seligkeit. Oft denke ich, unsere Jagdgründe seien diese ewige Seligkeit. Ist es so?«
»Howgh!«
»Oft erzählte er uns von dem Erlöser, welcher gekommen sei, alle Menschen selig zu machen. Wir haben an die Wahrheit seiner Worte geglaubt, denn in seinem Munde hat es niemals eine Lüge gegeben. Dieser Erlöser ist für alle Menschen gekommen. Ist er auch schon bei den roten Männern gewesen? Wenn er käme, so würden wir ihn willkommen heißen, denn wir werden von den Bleichgesichtern unterdrückt und ausgerottet und sehnen uns nach ihm. Ist es so?«
»Howgh!«
»Das war seine Lehre. Nun spreche ich von seinem Ende. Es ist über ihn gekommen wie das Raubtier über seine Beute. Plötzlich und unerwartet war es da. Er war gesund und rüstig und stand an unserer Seite. Er sollte zu Pferde steigen und mit uns heimkehren; da traf ihn die Kugel eines Mörders. Meine Brüder und Schwestern mögen es beklagen!«
Es erschallte ein dumpfes Wehegeschrei, welches immer stärker und heller wurde, bis es in einem durchdringenden Heulen endete. Dann fuhr der Häuptling fort:
»Wir haben seinen Tod gerächt. Aber die Seele des Mörders ist ihm entgangen; sie kann ihn nicht jenseits des Grabes bedienen, denn sie war feig und wollte ihm nicht im Tode folgen. Der räudige Hund, dem sie gehörte, ist von Kindern erschossen worden, und seine Leiche schwimmt den Fluß hinab. Ist es so?«
»Howgh!«
»Nun ist er fort von uns; aber sein Körper ist uns geblieben, damit wir ihm ein Denkmal setzen, an welchem wir und unsere Nachkommen uns und sich erinnern können an den guten, weißen Vater, der unser Lehrer war und den wir lieb gehabt haben. Er war nicht in diesem Lande geboren, sondern er kam aus einem fernen Reiche, welches jenseits des großen Wassers liegt und welches man daran erkennt, daß dort die Eichen wachsen. Darum haben wir ihm zu Liebe und ihm zu Ehren Eicheln geholt, um sie um sein Grab zu säen. So wie sie keimen und aus der Erde wachsen, so wird seine Seele aus dem Grabe erwachen und jenseits desselben groß werden. Und so wie diese Eichen wachsen, so werden die Worte, die wir von ihm gehört haben, sich in unsern Herzen ausbreiten, daß unsere Seelen unter ihnen Schatten finden können. Er hat stets an uns gedacht und für uns gesorgt. Er ist auch nicht von uns gegangen, ohne uns ein Bleichgesicht zu senden, welches an seiner Stelle unser Freund und Bruder werden soll. Hier seht ihr Old Shatterhand, den weißen Mann, welcher aus demselben Lande stammt, aus welchem Klekih-petra zu uns kam. Er weiß alles, was dieser wußte, und ist ein noch stärkerer Krieger als er. Er hat den Grizzlybären mit dem Messer erstochen und schlägt jeden Feind mit seiner Faust zu Boden. Intschu tschuna und Winnetou waren wiederholt in seine Hand gegeben; aber er hat uns nicht getötet, sondern uns das Leben gelassen, weil er uns liebt und ein Freund der roten Männer ist. Ist es so?«
»Howgh!«
»Es ist Klekih-petras letztes Wort und letzter Wille gewesen, daß Old Shatterhand sein Nachfolger bei den Kriegern der Apachen sein möge, und Old Shatterhand hat ihm versprochen, diesen Wunsch zu erfüllen. Darum soll er in den Stamm der Apachen aufgenommen werden und als Häuptling gelten. Es soll so sein, als ob er rote Farbe hätte und bei uns geboren wäre. Damit dies bekräftigt werde, müßte er mit jedem erwachsenen Krieger der Apachen das Calumet rauchen; aber dies ist nicht nötig, denn er wird das Blut Winnetous trinken, und dieser wird das seinige genießen; dann ist er Blut von unserm Blute und Fleisch von unserm Fleische. Sind die Krieger der Apachen damit einverstanden?«
»Howgh, howgh, howgh!« lautete dreimal die freudige Antwort aller Anwesenden.
»So mögen Old Shatterhand und Winnetou herbei zum Sarge treten und ihr Blut in das Wasser der Brüderschaft tropfen lassen!«
Also eine Blutsbruderschaft, eine richtige, wirkliche Blutsbruderschaft, von der ich so oft gelesen hatte! Sie kommt bei vielen wilden oder halbwilden Völkerschaften vor und wird dadurch geschlossen, daß die beiden Betreffenden entweder Blut von sich mischen und dann trinken oder daß das Blut des Einen von dem Andern und so auch umgekehrt getrunken wird. Die Folge davon ist, daß diese Beiden dann fester, inniger und uneigennütziger zusammenhalten, als wenn sie von Geburt Brüder wären.
Hier war es so, daß ich Winnetous Blut und er das meinige trinken sollte. Wir stellten uns zu beiden Seiten des Sarges auf, und Intschu tschuna entblößte den Vorderarm seines Sohnes, um ihn mit dem Messer zu ritzen. Es quollen aus dem kleinen, unbedeutenden Schnitte einige Blutstropfen, welche der Häuptling in die eine Wasserschale fallen ließ. Dann nahm er mit mir dieselbe Prozedur vor, bei welcher einige Tropfen in die andere Schale fielen. Winnetou bekam die Schale mit meinem Blute und ich die mit dem seinigen in die Hand; dann sagte Intschu tschuna:
»Die Seele lebt im Blute. Die Seelen dieser beiden jungen Krieger mögen ineinander übergehen, daß sie eine einzige Seele bilden. Was Old Shatterhand dann denkt, das sei auch Winnetous Gedanke, und was Winnetou will, das sei auch der Wille Old Shatterhands. Trinkt!«
Ich leerte meine Schale und Winnetou die seinige. Es war Rio Pecos-Wasser mit einigen Blutstropfen, die man nicht schmeckte. Darauf reichte der Häuptling mir die Hand und sagte:
»Du bist nun grad wie Winnetou, der Sohn meines Leibes und ein Krieger unseres Volkes. Der Ruf deiner Taten wird schnell und überall bekannt werden, und kein anderer Krieger wird dich übertreffen. Du trittst als Häuptling der Apachen ein, und alle Stämme unseres Volkes werden dich als solchen ehren!«
Das war ein schnelles Avancement! Vor kurzem noch Hauslehrer in St. Louis, war ich dann Surveyor geworden, um jetzt als Häuptling unter ›Wilden‹ aufgenommen zu werden! Aber ich gestehe, daß diese Wilden mir weit besser gefielen als die Weißen, mit denen ich es in der letzten Zeit zu tun gehabt hatte.
Um etwaigen Mißverständnissen vorzubeugen, muß ich hier eine Bemerkung machen. Es kommt auch bei uns vor, daß von abenteuerlich gestimmten Leuten Blutsbruderschaften in ähnlicher Weise oder wohl gar mit absonderlichen, auf Aberglauben beruhenden Zeremonien geschlossen werden. Solchen Bruderschaften schreibt man ganz außerordentliche, geheimnisvolle Wirkungen zu, unter anderm auch die, daß beide Brüder in demselben Augenblicke sterben müssen. Wenn z. B. der eine, schwächere, kränkliche, nach Italien reist und dort an der Cholera stirbt, so wird der andere, starke, gesunde, der in Deutschland zurückgeblieben ist, in ganz derselben Sekunde tot umfallen. Das ist natürlich Unsinn. Von einem solchen Aberglauben war bei dem, was zwischen Winnetou und mir geschah, ganz und gar keine Rede. Es wurde dabei dem Genusse des Blutes weder von mir, noch von den Apachen irgendwelche Wirkung zugeschrieben, sondern er hatte nur eine rein symbolische, also bildliche Bedeutung.
Und doch, höchst sonderbar, trafen später stets die Worte Intschu tschunas zu, daß wir eine Seele mit zwei Körpern sein würden. Wir verstanden uns, ohne uns unsere Gefühle, Gedanken und Entschlüsse mitteilen zu müssen. Wir brauchten uns nur anzusehen, um genau zu wissen, was wir gegenseitig wollten; ja, dies war gar nicht einmal notwendig, sondern wir handelten selbst dann, wenn wir voneinander fern waren, mit einer wirklich erstaunlichen Uebereinstimmung, und es hat nie, niemals irgend eine Differenz zwischen uns gegeben. Das war aber nicht etwa die Wirkung des genossenen Blutes, sondern eine sehr natürliche Folge unserer innigen gegenseitigen Zuneigung und des liebevollen Eingehens und Einlebens des Einen in die Ansichten und individuellen Eigentümlichkeiten des Andern.
Als Intschu tschuna seine letzten Worte sprach, hatten sich alle Apachen, auch die Kinder, erhoben, um ein lautes, bekräftigendes Howgh auszurufen. Dann fügte der Häuptling hinzu:
»Jetzt ist der neue, der lebende Klekih-petra bei uns aufgenommen, und wir können den Toten seinem Grabe übergeben. Meine Brüder mögen dies nun tun!«
Er meinte diejenigen, welche mit an dem Grabmale gebaut hatten. Ich bat um Aufschub und winkte Hawkens, Stone und Parker herbei. Als sie bei mir standen, sprach ich über dem Sarge einige kurze Worte und schloß ein Gebet daran. Dann wurden die Ueberreste des einstigen Revolutionärs und späteren Büßers in das Innere des Steinbaues geschoben, worauf sich die Roten daran machten, die Oeffnung zu verschließen.
Das war meine erste Leichenfeier unter Wilden. Sie hatte mich tief ergriffen. Ich will nicht die Anschauungen kritisieren, welche Intschu tschuna dabei vorgebracht hatte. Es war viel Wahrheit mit viel Unklarheit vermengt gewesen; aber aus allem hatte ein Schrei nach Erlösung geklungen, nach einer Erlösung, welche er, wie einst das Volk Israel, sich äußerlich dachte, während sie doch nur eine innerliche, eine geistige sein konnte.
Während das Grab geschlossen wurde, erklangen wieder die Totenklagen der Indianer, und erst dann, als der letzte Stein eingefügt worden war, konnte die Feier als beendet gelten, und Jeder ging nun heiterern Beschäftigungen nach. Dies war vor allen Dingen das Essen, zu welchem mich Intschu tschuna zu sich einlud.
Er bewohnte das größte Gemach der schon erwähnten Etage. Es war sehr einfach ausgestattet, aber an den Wänden hing eine reiche, indianische Waffensammlung, welche mein lebhaftes Interesse in Anspruch nahm. ›Schöner Tag‹ bediente uns, nämlich ihren Vater, Winnetou und mich, und ich fand, daß sie Meisterin in der Zubereitung indianischer Gerichte war. Gesprochen wurde wenig, ja fast gar nicht. Der Rote schweigt überhaupt gern, und heute war schon so viel geredet worden, daß man alles, was noch zu verhandeln war, gern für später aufhob. Nach dem Essen war die Dämmerung schnell da. Winnetou fragte mich:
»Will mein weißer Bruder ruhen oder mit mir gehen?«
»Ich gehe mit,« antwortete ich, ohne mich zu erkundigen, wohin er wollte.
Wir stiegen vom Pueblo herab und gingen nach dem Flusse. Das hatte ich erwartet. Eine so tief gegründete Natur wie Winnetou wurde unbedingt zum Grabe des heute bestatteten Lehrers getrieben. Bei demselben angekommen, setzten wir uns dort nebeneinander nieder. Winnetou ergriff meine Hand und behielt sie in der seinigen, ohne lange Zeit ein Wort zu sagen, und ich hatte keine Veranlassung, die Stille zu unterbrechen.
Notwendigerweise muß ich hier bemerken, daß nicht alle Apachen, welche ich bisher gesehen hatte, mit ihren Angehörigen im Pueblo wohnten. Dazu wäre dieses, so groß es war, denn doch viel, viel zu klein gewesen. Es wurde nur von Intschu tschuna und seinen hervorragendsten Kriegern bewohnt und bildete den Mittelpunkt für die mit ihren Pferdeherden und jagend herumziehenden Zugehörigen des Stammes der Mescalero-Apachen. Von hier aus regierte der Häuptling diesen Stamm, und von hier aus unternahm er auch die weiten Ritte zu den andern Stämmen, die ihn als obersten Häuptling anerkannten. Dies waren die Llaneros, Jicarillas, Taracones, Chiriguais, Pinalenjos, Gilas, Mimbrenjos, Lipans, Kupferminenapachen und andere; ja selbst die Navajos pflegten sich, wenn nicht seinen Befehlen, so doch seinen Anordnungen zu fügen.
Diejenigen Mescaleros, welche nicht in das Pueblo gehörten, hatten sich nach dem Begräbnisse entfernt, und es waren nur so viele von ihnen zurückgeblieben, wie nötig waren, um die von den Kiowas überkommenen Pferde, welche in der Nähe weideten, zu beaufsichtigen. Darum saß ich jetzt mit Winnetou allein und unbeobachtet am Grabe Klekih-petras. Von diesem will ich erwähnen, daß am nächsten Tage wirklich Eicheln um dasselbe in die Erde gebracht wurden, welche später aufgingen. Die Bäume stehen noch jetzt.
Endlich brach Winnetou das Schweigen, indem er mich fragte:
»Wird mein Bruder Old Shatterhand vergessen, daß wir seine Feinde gewesen sind?«
»Es ist bereits vergessen,« antwortete ich.
»Aber eines wirst du nicht vergeben können.«
»Was?«
»Die Beleidigung, welche mein Vater dir zugefügt hat.«
»Wann?«
»Als wir dich zum erstenmale trafen.«
»Ah, daß er mir in das Gesicht spuckte?«
»Ja.«
»Warum sollte ich dies nicht vergeben können?«
»Weil Speichel nur mit dem Blute des Betreffenden abgewaschen werden kann.«
»Winnetou mag sich nicht sorgen. Auch das ist bereits vergessen.«
»Mein Bruder sagt etwas, was ich unmöglich glauben kann.«
»Du kannst es glauben. Es ist ja längst bewiesen, daß ich es vergeben habe.«
»Dadurch, daß ich es Intschu tschuna, deinem Vater, gar nicht übelgenommen habe. Oder meinst du, Old Shatterhand lasse sich anspucken, ohne auf diese Beleidigung, wenn er sie als eine solche betrachtet, sofort mit der Faust zu antworten?«
»Ja, wir wunderten uns später, daß du dies nicht getan hast.«
»Der Vater meines Winnetou konnte mich nicht beleidigen. Ich wischte den Speichel ab; dann war es vergeben und vergessen. Sprechen wir nicht mehr davon!«
»Und doch muß ich davon sprechen; das bin ich dir, meinem Bruder, schuldig.«
»Warum?«
»Du mußt die Sitten unsers Volkes erst noch kennen lernen. Kein Krieger gesteht gern einen Fehler ein, und ein Häuptling darf dies noch weniger tun. Intschu tschuna weiß, daß er unrecht gehabt hat, aber er darf dich nicht um Verzeihung bitten. Darum hat er mich beauftragt, mit dir zu sprechen. Winnetou bittet dich an Stelle seines Vaters.«
»Das ist gar nicht nötig; wir sind quitt, denn auch ich habe euch beleidigt.«
»Nein.«
»Doch! Ist nicht ein Faustschlag eine Beleidigung? Und ich habe euch doch mit der Faust geschlagen.«
»Das war im Kampfe, wo es nicht als Beleidigung gilt. Mein Bruder ist edel und großmütig; wir werden es ihm nicht vergessen.«
»Reden wir von anderen Dingen! Ich bin heut Apache geworden. Wie steht es mit meinen Kameraden?«
»Die können nicht in den Stamm aufgenommen werden, aber sie sind unsere Brüder.«
»Ohne Zeremonie?«
»Wir werden morgen mit ihnen die Pfeife des Friedens rauchen. In der Heimat meines weißen Bruders gibt es wohl kein Calumet?«
»Nein. Christen sind alle Brüder, ohne daß es der Ausübung irgend eines Gebrauches bedarf.«
»Alle Brüder? Gibt es keinen Krieg zwischen ihnen?«
»So sind sie auch nicht anders und besser als wir. Sie lehren die Liebe und fühlen sie nicht. Warum hat mein Bruder sein Vaterland verlassen?«
Es ist bei den Roten nicht Sitte, solche Fragen auszusprechen. Winnetou konnte es aber tun, weil er jetzt mein Bruder war, der mich kennen lernen mußte. Doch wurde seine Frage nicht nur aus teilnehmender Neugierde ausgesprochen; er hatte noch einen andern Grund dabei.
»Um hier hüben das Glück zu suchen,« antwortete ich.
»Das Glück! Was ist das Glück?«
»Reichtum!«
Er ließ, als ich dies sagte, meine Hand los, die er bis jetzt fest gehalten hatte, und es trat wieder eine Pause ein. Ich wußte, er hatte jetzt das Gefühl, sich doch in mir getäuscht zu haben.
»Reichtum!« flüsterte er dann.
»Ja, Reichtum,« wiederholte ich.
»Also darum darum darum!«
»Was?«
»Darum haben wir dich bei bei«
Es tat ihm doch wehe, das Wort aussprechen zu sollen. Ich vollendete es:
»Bei den Länderdieben gesehen?«
»Du sagst es. Du tatest es also, um reich zu werden. Meinst du denn wirklich, daß Reichtum glücklich macht?«
»Ja.«
»Da irrst du dich. Das Gold hat die roten Männer nur unglücklich gemacht; des Goldes wegen drängen uns noch heut die Weißen von Land zu Land, von Ort zu Ort, so daß wir langsam aber sicher untergehen werden. Das Gold ist die Ursache unsers Todes. Mein Bruder mag ja nicht danach trachten.«
»Das tu ich auch nicht.«
»Nicht? Und doch sagtest du, daß du das Glück im Reichtum suchest.«
»Ja, das ist wahr. Aber es gibt Reichtum verschiedener Art, Reichtum an Gold, an Weisheit und Erfahrung, an Gesundheit, an Ehre und Ruhm, an Gnade bei Gott und den Menschen.«
»Uff, uff! So meinst du es! Welcher Reichtum ist es denn, nach welchem du da trachtest?«
»Der letztere.«
»Gnade bei Gott! So bist du wohl ein sehr frommer, ein sehr gläubiger Christ?«
»Ob ich ein guter Christ bin, das weiß ich nicht, das weiß nur Gott; aber ich möchte es gern sein.«
»So hältst du uns für Heiden?«
»Nein. Ihr glaubt an den großen, guten Geist und betet keine Götzen an.«
»So erfülle mir eine Bitte!«
»Gern! Welche?«
»Sprich nicht vom Glauben zu mir! Trachte nicht danach, mich zu bekehren! Ich habe dich sehr, sehr lieb und möchte nicht, daß unser Bund zerrissen werde. Es ist so, wie Klekih-petra sagte. Dein Glaube mag der richtige sein, aber wir roten Männer können ihn noch nicht verstehen. Wenn uns die Christen nicht verdrängten und ausrotteten, so würden wir sie für gute Menschen halten und auch ihre Lehre für eine gute. Dann fänden wir wohl auch Zeit und Raum, das zu lernen, was man wissen muß, um euer heiliges Buch und eure Priester zu verstehen. Aber der, welcher langsam und sicher zu Tode gedrückt wird, kann nicht glauben, daß die Religion dessen, der ihn tötet, eine Religion der Liebe sei.«
»Du mußt unterscheiden zwischen der Religion und dem Anhänger derselben, welcher sich nur äußerlich zu ihr bekennt, aber nicht nach ihr handelt!«
»So sagen die Bleichgesichter alle; sie nennen sich Christen, handeln aber nicht danach. Wir aber haben unsern großen Manitou, welcher will, daß alle Menschen gut seien. Ich bemühe mich, ein guter Mensch zu sein, und bin da vielleicht ein Christ, ein besserer Christ als diejenigen, die sich zwar so nennen, aber keine Liebe besitzen und nur nach ihrem Vorteile trachten. Also sprich nie zu mir vom Glauben, und versuche nie, aus mir einen Mann zu machen, der ein Christ genannt wird, ohne es vielleicht zu sein! Das ist die Bitte, welche du mir erfüllen mußt!«
Ich habe sie ihm erfüllt und nie ein Wort der Bekehrung zu ihm gesagt. Aber muß man denn reden? Ist nicht die Tat eine viel gewaltigere, eine viel überzeugendere Predigt als das Wort? ›An ihren Werken sollt ihr sie erkennen‹, sagt die heilige Schrift, und nicht in Worten, sondern durch mein Leben, durch mein Tun bin ich der Lehrer Winnetous gewesen, bis er einst, nach Jahren, an einem mir unvergeßlichen Abende, mich selbst aufforderte, zu sprechen. Da saßen wir stundenlang beisammen, und in jener weihevollen Nacht ging all der im Stillen gesäete Samen plötzlich auf und brachte herrliche Frucht.
Jetzt begnügte ich mich damit, ihm die Hand zu drücken, zum Zeichen, daß ich seinen Wunsch erfüllen wolle. Dann fuhr er fort:
»Wie ist es denn gekommen, daß mein Bruder Old Shatterhand sich den Länderdieben angeschlossen hat? Wußte er denn nicht, daß dies ein Verbrechen an den roten Männern war?«
»Ich hätte es mir sagen können, habe aber gar nicht daran gedacht. Ich war froh, Surveyor werden zu dürfen, denn ich wurde sehr gut bezahlt.«
»Bezahlt? Ich denke, ihr seid gar nicht fertig geworden? Bezahlte man euch denn, bevor die Arbeit vollendet war?«
»Nein. Ich erhielt einen Vorschuß und die Ausrüstung. Das, was ich mir verdient habe, wäre mir nach beendetem Werke ausgezahlt worden.«
»Und nun kommst du um dieses Geld?«
»Ja.«
»Ist es viel?«
»Für meine Verhältnisse sehr viel.«
Er schwieg eine Weile; dann sagte er:
»Es tut mir sehr leid, daß mein Bruder durch uns solchen Schaden erlitten hat. Du bist nicht reich?«
»An allem andern reich, aber in Beziehung auf das Geld bin ich ein armer Teufel.«
»Wie lange hättet ihr noch zu messen gehabt, um zu Ende zu kommen?«
»Nur einige Tage.«
»Uff! Hätte ich dich so gekannt, wie ich dich jetzt kenne, so wären wir einige Tage später über die Kiowas hergefallen.«
»Damit ich hätte fertig werden können?« fragte ich gerührt durch diesen Edelmut.
»Ja.«
»Das heißt, du hättest uns den Diebstahl vollends ausführen lassen?«
»Den Diebstahl nicht, sondern nur die Vermessung. Die Linien, welche ihr auf das Papier zeichnet, schaden uns noch nichts, denn damit ist der Raub noch nicht ausgeführt. Dieser beginnt vielmehr eigentlich erst dann, wenn die Arbeiter der Bleichgesichter kommen, um den Pfad des Feuerrosses zu bauen. Ich würde dir«
Er hielt mitten in seiner Rede inne, um über einen Gedanken, der ihm gekommen war, klar zu werden. Dann fuhr er fort:
»Müßtest du, um dein Geld zu erhalten, die Papiere haben, von denen ich soeben sprach?«
»Ja.«
»Uff! So wird es dir nie ausgezahlt werden, denn alles, was ihr gezeichnet habt, ist vernichtet worden.«
»Und was ist mit unsern Instrumenten geschehen?«
»Die Krieger, denen sie in die Hände fielen, wollten sie zerschlagen, aber ich gab dies nicht zu. Obgleich ich keine Schule der Bleichgesichter besucht habe, weiß ich doch, daß solche Gegenstände einen hohen Wert besitzen, und darum gab ich den Befehl, sie sorgfältig aufzubewahren. Wir haben sie mit hierher gebracht und gut aufgehoben. Ich werde sie meinem Bruder Old Shatterhand wiedergeben.«
»Ich danke dir. Ich nehme dieses Geschenk von dir an, obgleich es mir direkt nun keinen Nutzen bringt. Es ist mir aber sehr lieb, daß ich die Instrumente wieder abliefern kann.«
»Nutzen also bringen sie dir nicht?«
»Nein. Den würde ich nur dann haben, wenn ich die Vermessung vollends ausführen könnte.«
»Aber es fehlen dir doch die Papiere, welche vernichtet worden sind!«
»Nein. Ich war so vorsichtig, die Zeichnungen zweimal anzufertigen.«
»So besitzest du die zweiten noch?«
»Ja, hier in meiner Tasche. Du bist so gütig gewesen, zu befehlen, daß mir nichts genommen werden solle.«
»Uff, uff!«
Dieser Ausruf klang halb wie Verwunderung und halb wie Befriedigung; dann schwieg er wieder. Er bewegte, wie ich später erfuhr, in seinem Herzen einen Gedanken von solchem Edelmute, wie ein Weißer ihn wohl nie gefaßt, am allerwenigsten aber ausgeführt haben würde. Nach einiger Zeit stand er auf und sagte:
»Wir wollen heimkehren. Mein weißer Bruder ist durch uns geschädigt worden. Winnetou wird für Ersatz dieses Verlustes sorgen. Zunächst aber mußt du dich bei uns vollends erholen.«
Wir gingen nach dem Pueblo zurück, in welchem wir vier Weiße heut zum erstenmal als freie Männer schliefen. Am nächsten Tage wurde unter großen Feierlichkeiten zwischen Hawkens, Stone, Parker und den Apachen die Pfeife des Friedens geraucht. Es versteht sich ganz von selbst, daß dabei lange Reden gehalten wurden. Die schönste davon war diejenige Sams, welcher sie nach seiner Art so mit drolligen Ausdrücken spickte, daß die ernsten Indianer sich alle Mühe geben mußten, die Lustigkeit, welche sich ihrer dabei bemächtigte, nicht äußerlich merken zu lassen. Im Verlaufe dieses Tages wurde alles, was in Beziehung auf die Ereignisse der letzten Zeit unklar geblieben war, an das Tageslicht gezogen. Dabei kam wieder in Erwähnung, daß ich Intschu tschuna und Winnetou an jenem Abend losgeschnitten hatte, und Hawkens hielt mir da die folgende Standrede:
»Ihr seid ein hinterlistiger Mensch, ein ganz und gar hinterlistiger Mensch, Sir! Man pflegt doch gegen Freunde aufrichtig zu sein, besonders wenn man ihnen so viel zu verdanken hat wie Ihr uns. Wer und was waret Ihr denn eigentlich, als wir Euch in St. Louis zum erstenmal sahen? Ein Hauslehrer, welcher seinen Kindern das A b c vorwärts und das kleine Einmaleins rückwärts einbläuen mußte. Und so ein unglücklicher Kerl wäret Ihr geblieben, wenn wir uns Eurer nicht so liebevoll und nachsichtig angenommen hätten. Wir haben Euch aus diesem unglücklichen Einmaleins herausgerissen und mit bewundernswerter Sanftmut über die Savanne geschleppt, wenn ich mich nicht irre. Wir haben über Euch gewacht, wie eine zärtliche Mutter über ihr kleinstes Baby oder eine Henne über die von ihr ausgebrütete junge Ente wacht. Bei uns seid Ihr nach und nach zu Verstand gekommen, und wir sind es gewesen, die Euer Gehirn so ausgebildet haben, daß es nach der bisherigen Dunkelheit in demselben nun schon zuweilen bei Euch zu dämmern beginnt. Kurz und gut, wir sind Vater und Mutter, Onkel und Tante für Euch gewesen, haben Euch auf den Händen getragen, haben Euch körperlich mit den saftigsten Fleischbissen und geistig mit unserer Weisheit und Erfahrung aufgefüttert und dürfen dafür erwarten, daß Ihr uns Achtung, Ehrerbietung und Dankbarkeit zollt und nicht als Ente in das Wasser lauft, in welchem wir als Hennen elendiglich ertrinken müßten. Trotzdem habt Ihr stets das, was Euch verboten war, getan. Es tut mir in meinem alten Jagdrocke wehe, so viel Liebe und Aufopferung mit so viel Ungehorsam und Undankbarkeit vergolten zu sehen. Wollte ich alle Eure schlechten Streiche nacheinander aufzählen, so wäre gar kein Ende abzusehen. Der allerschlimmste aber war der, daß Ihr die beiden Häuptlinge losmachtet, ohne es uns dann zu sagen. Das kann ich weder vergessen noch vergeben und werde es Euch nachtragen, so lange ich in dieser meiner jetzigen Haut stecke. Die Folgen dieser heimtückischen Verschwiegenheit haben dann auch nicht auf sich warten lassen. Anstatt gestern so recht hübsch am Pfahl geschmort und gebraten zu werden und heut in den lieblichen Jagdgründen der abgeschiedenen Indianerseelen zu erwachen, sind wir gar nicht für wert gehalten worden, umgebracht zu werden. Nun sitzen wir bei vollem Leben und guter Gesundheit hier in diesem abgelegenen Pueblo, wo man sich alle Mühe gibt, uns mit Leckerbissen den Magen zu verderben und aus einem Greenhorn, welches Ihr doch seid, einen wahren Halbgott zu machen. Dieses Unheil haben wir nur Euch zu verdanken, besonders deshalb, weil Ihr ein so ganz und gar niederträchtiger Schwimmer seid. Aber die Liebe ist unter allen Umständen ein unbegreifliches Frauenzimmer; je mehr sie mißhandelt wird, desto wohler fühlt sie sich, und so wollen wir Euch selbst dieses Mal noch nicht aus unserer Mitte und aus unserem Herzen stoßen, sondern glühende Kohlen auf Eurem Haupte sammeln, indem wir Euch verzeihen, allerdings in der festen und bestimmten Hoffnung, daß Ihr nun endlich in Euch geht und anders werdet, wenn ich mich nicht irre. Hier ist meine Hand. Wollt Ihr mir Besserung versprechen, geliebter Sir?«
»Ja,« antwortete ich, indem ich ihm die Hand schüttelte. »Ich werde dem edlen Vorbilde, welches Ihr mir gegeben habt und jetzt noch gebt, so eifrig nachstreben, daß man mich schon in kurzer Zeit für den reinen Sam Hawkens halten soll.«
»Verehrtester, das laßt hübsch bleiben! Es wäre eine ganz vergebliche Mühe, die Ihr Euch da geben würdet. Ein Greenhorn, wie Ihr seid, und Sam Hawkens ähnlich werden! Die reinste Unmöglichkeit! Das wäre grad und genau so, als wenn ein Grasfrosch Opernsänger werden wollte, und so will«
Da fiel ihm Dick Stone, zwar lachend aber doch ein wenig unwillig in die Rede:
»Stop! Sei endlich einmal still, alter Schwadronör! Es ist ja gar nicht mehr zum Aushalten mit dir! Du drehst ja alles um, machst alles verkehrt und ziehst den rechten Handschuh an die linke Hand! Ich an Old Shatterhands Stelle würde mir das ewige Greenhorn nicht so ruhig gefallen lassen.«
»Was kann und soll er denn dagegen haben? Es ist doch wahr; er ist ja eins!«
»Unsinn! Wir haben ihm unser Leben zu verdanken. Unter hundert erfahrenen Westmännern, uns und dich nicht ausgenommen, wäre wohl kein einziger, der das fertig gebracht hätte, was er gestern tat. Anstatt daß wir ihn beschützen, beschützt er uns; das merke dir! Wenn er nicht gewesen wäre, säßen wir nicht so munter hier, und du stäkst nicht so heiler Haut unter deiner alten, falschen Perücke!«
»Was? Falsche Perücke? Das sag mir ja nicht noch einmal! Es ist eine ganz richtige Perücke. Wenn du das noch nicht weißt, so schau sie dir einmal an!«
Er nahm sie ab und hielt sie Stone hin.
»Fort, fort mit diesem Fell!« lachte dieser.
Sam stülpte sie sich wieder auf den Kopf und sagte in vorwurfsvollem Tone:
»Schäme dich, Dick, die Zierde meines Hauptes ein Fell zu nennen! Das hätte ich von so einem guten Kameraden, wie du bist, nicht gedacht! Ihr versteht es alle nicht, den Wert Eures alten Sam zu würdigen. Ich strafe Euch also mit Verachtung und suche jetzt meine Mary auf. Muß doch sehen, ob diese sich auch so wohl befindet wie ich.«
Er fuhr mit den Armen geringschätzig durch die Luft und ging. Wir lachten lustig hinter ihm her, denn es war wirklich unmöglich, ihm etwas übel zu nehmen.
Am nächsten Tage kehrten die Kundschafter zurück, welche den Kiowas heimlich gefolgt waren; sie meldeten, daß diese ohne Unterbrechung fortgezogen seien und also nicht die Absicht hegten, jetzt eine Feindseligkeit auszuführen.
Hierauf folgte eine Zeit der Ruhe und für mich doch der Tätigkeit. Sam, Dick und Will ließen sich die Gastfreundschaft der Apachen sehr gefallen; sie ruhten sich gründlich aus. Die einzige Tätigkeit, welcher Hawkens sich hingab, war die, daß er seine Mary täglich spazieren ritt, damit sie, wie er sich ausdrückte, ›seine Finessen bewundern lerne‹ und sich an seine Art und Weise, zu reiten, gewöhne.
Ich aber legte mich nicht auf die Bärenhaut. Winnetou hatte es darauf abgesehen, mich in die ›indianische Schule‹ zu nehmen. Wir waren oft ganze Tage fort, machten weite Ritte, während welcher ich mich in allem, was zur Jagd und zum Kriege gehörte, üben mußte. Wir krochen in den Wäldern herum, wobei ich vortrefflich Unterricht im Anschleichen erhielt. Er führte förmliche ›Felddienstübungen‹ mit mir aus. Oft trennte er sich von mir und stellte mir die Aufgabe, ihn zu suchen. Er gab sich alle Mühe, seine Spuren zu verwischen, und ich strengte mich ebenso an, sie aufzufinden. Wie oft steckte er dann in einem dichten Gebüsche oder stand, von dem überhängenden Gesträuch versteckt, im Wasser des Pecos und sah zu, wie ich nach ihm suchte. Er machte mich auf meine Fehler aufmerksam und zeigte mir durch sein Beispiel, wie ich mich zu benehmen und was ich zu tun oder zu lassen hatte. Das war ein außerordentlich vortrefflicher Unterricht, den er mit eben solcher Lust erteilte, wie ich mit Freude und Bewunderung sein Schüler war. Dabei kam nie ein Lob über seine Lippen, auch nie das, was man unter einem Tadel versteht. Ein Meister in allen Fertigkeiten, welche das Indianerleben erfordert, war er auch ein Meister im Unterrichte.
Wie oft kam ich da ermüdet und wie mit zerschlagenen Gliedern heim! Aber dann gab es noch keine Ruhe für mich, denn ich wollte die Sprache der Apachen erlernen und nahm im Pueblo Unterricht. Ich hatte da zwei Lehrer und eine Lehrerin: Nscho-tschi lehrte mich den Dialekt der Mescaleros, Intschu tschuna denjenigen der Llaneros und Winnetou den der Navajos. Da diese Sprachen untereinander sehr verwandt sind und keinen großen Wortschatz besitzen, so ging es auch mit diesen Uebungen schnell vorwärts.
Wenn Winnetou sich mit mir nicht weit vom Pueblo entfernte, so kam es zuweilen vor, daß Nscho-tschi sich an unsern Ausgängen beteiligte. Sie hatte dann sichtlich große Freude, wenn ich meine Aufgaben gut löste.
Einmal befanden wir uns im Walde, wo Winnetou mich aufforderte, mich zu entfernen und erst nach einer Viertelstunde wieder an Ort und Stelle zu sein. Ich sollte dann beide nicht mehr vorfinden und nach Nscho-tschi suchen, welche sich sehr gut verstecken werde. Ich ging also eine ziemliche Strecke fort, wartete da, bis die Zeit verflossen war, und kehrte dann zurück. Die Spuren beider, welche von hier ausgingen, waren anfangs ziemlich deutlich; dann aber fehlten plötzlich die Fußeindrücke der Indianerin. Ich wußte freilich, daß sie einen außerordentlich leichten Gang hatte; aber der Boden war weich, und so mußte also unbedingt wenigstens eine, wenn auch noch so leise Andeutung der Fährte vorhanden sein; aber ich fand nichts, gar nichts, nicht ein einziges niedergedrücktes oder umgebrochenes Pflänzchen, obgleich es grad an dieser Stelle sehr dichtes und empfindliches Moos gab. Nur die Spur Winnetous war deutlich eingedrückt; aber die ging mich nichts an, denn ich sollte nicht ihn, sondern seine Schwester suchen. Er hielt sich jedenfalls in der Nähe, um mich heimlich zu beobachten, ob ich Fehler mache oder nicht.
Ich suchte noch einmal und noch einmal im Kreise, fand aber auch nicht den leisesten Anhalt. Das war befremdlich. Ich überlegte. Sie mußte und mußte unbedingt eine Spur hinterlassen haben, denn es konnte hier kein Fuß den Boden berühren, ohne von dem weichen Moose verraten zu werden. Ein Fuß den Boden berühren? Ah! Wie nun, wenn Nscho-tschi ihn gar nicht berührt hatte?
Ich untersuchte Winnetous Stapfen; sie waren tief eingedrückt, tiefer als vorher. Sollte er seine Schwester auf die Arme genommen und fortgetragen haben? Dann war die Aufgabe, welche er mir gestellt hatte, seiner Ansicht nach eine sehr schwere, aber meiner Ansicht nach eine sehr leichte von dem Augenblicke an, an welchem ich eben erriet, daß er Nscho-tschi getragen habe.
Infolge dieser Last hatten sich seine Füße tiefer eingedrückt. Es kam nun darauf an, Spuren von der Indianerin zu finden. Diese durfte ich freilich nicht unten an der Erde, sondern ich mußte sie weiter oben suchen.
War Winnetou allein durch den Wald gegangen, so hatte er die Arme frei und keine Mühe gehabt, durch das Unterholz zu kommen. Hatte er aber seine Schwester getragen, so mußte es unbedingt zerknickte Zweige geben. Ich folgte seinen Stapfen und richtete dabei mein Hauptaugenmerk nicht auf die Fährte, sondern auf das Gebüsch. Richtig! Indem er mit seiner Last durch dasselbe gedrungen war, hatte er die Arme nicht frei gehabt und dasselbe nicht vorsichtig auseinander schieben können; Nscho-tschi war nicht auf den Gedanken gekommen, dies zu tun, und so fand ich an mehreren Stellen geknickte Zweige und beschädigte Blätter, also Zeichen, welche nicht hätten entstehen können, wenn Winnetou allein hindurchgegangen wäre.
Die Spur führte in schnurgerader Richtung nach einer lichten Stelle des Waldes und in ebenso gerader Linie über dieselbe hinüber. Da drüben, am jenseitigen Rande der Lichtung, steckten jedenfalls die beiden, stillvergnügt darüber, daß es mir unmöglich sein werde, meine Aufgabe zu lösen. Ich hätte direkt hinübergehen können; aber ich wollte es noch besser machen und sie förmlich überrumpeln. Darum schlich ich mich, immer sorgfältig in Deckung bleibend, um die Lichtung herum.
Jenseits angekommen, suchte ich zunächst wieder nach Winnetous Spur. War er weiter gegangen, so mußte ich sie sehen. Sah ich sie nicht, so hatte er sich mit Nscho-tschi versteckt. Ich legte mich auf die Erde nieder und schob mich geräuschlos in einem Halbkreise fort, indem ich mich bemühte, immer hinter Bäumen und Büschen verborgen zu bleiben. Es war kein Fußeindruck zu sehen. Folglich steckten sie, wie ich vermutet hatte, am Rande der freien Stelle, und zwar da, wo die Fährte, welcher ich bis vorhin gefolgt war, diesen Rand berührte.
Leise, ganz, ganz leise, schob ich mich nach dieser Stelle hin. Sie saßen still, und ihren geübten Ohren konnte kein Geräusch entgehen; ich mußte also eine ungewöhnliche Vorsicht entfalten. Es gelang mir besser, als ich es für möglich gehalten hatte. Ich sah die Beiden. Sie saßen eng nebeneinander mitten in einem wilden Pflaumengebüsch, mit dem Rücken nach mir, da sie mich, falls ich ja kommen würde, von der entgegengesetzten Seite erwarten mußten. Sie sprachen miteinander, aber flüsternd, so daß ich ihre Worte nicht verstehen konnte.
Ich freute mich ungemein auf die Ueberraschung und schob mich immer weiter zu ihnen hinan. Jetzt war ich so nahe, daß ich beide mit der Hand erreichen konnte. Schon wollte ich den Arm ausstrecken und Winnetou von hinten fassen, da wurde ich durch ein Wort, welches er sagte, abgehalten, dies zu tun.
»Soll ich ihn holen?« fragte er flüsternd.
»Nein,« antwortete Nscho-tschi. »Er kommt selbst.«
»Er kommt nicht.«
»Er kommt!«
»Meine Schwester irrt sich. Er hat alles sehr schnell gelernt; aber deine Spur geht durch die Luft. Wie will er sie finden?«
»Er findet sie. Mein Bruder Winnetou hat mir gesagt, daß Old Shatterhand schon jetzt nicht mehr irre zu führen sei. Warum spricht er jetzt das Gegenteil?«
»Weil es heut die schwierigste Aufgabe ist, die es geben kann. Sein Auge wird jede Fährte finden; die deinige ist aber nur mit den Gedanken zu lesen, und das hat er noch nicht gelernt.«
»Er wird dennoch kommen, denn er kann alles, alles, was er will.«
Sie flüsterte diese Worte nur, dennoch war ihrem Tone eine Zuversicht, ein Vertrauen anzuhören, daß ich darauf hätte stolz sein können.
»Ja, ich habe noch keinen Mann gekannt, der sich so leicht in alles findet. Es gibt nur eins, worein er sich nicht finden wird, und dies tut Winnetou sehr leid.«
»Was ist das?«
»Der Wunsch, den wir alle haben.«
Eben jetzt hatte ich mich ihnen bemerkbar machen wollen; da sprach Winnetou von einem Wunsche; das bestimmte mich, noch zu warten. Welchen Wunsch hätte ich diesen lieben, guten Menschen nicht gern erfüllt! Sie hegten einen und sagten ihn mir nicht, weil sie glaubten, daß ich ihn nicht erfüllen werde. Vielleicht hörte ich jetzt, was für einer es war. Darum schwieg ich noch und lauschte.
»Hat mein Bruder Winnetou schon mit ihm darüber gesprochen?« fragte Nscho-tschi.
»Nein,« antwortete Winnetou.
»Und Intschu tschuna, unser Vater, auch noch nicht?«
»Nein. Er wollte es ihm sagen, aber ich gab es nicht zu.«
»Nicht? Warum? Nscho-tschi liebt dieses Bleichgesicht sehr; sie ist die Tochter des obersten Häuptlings aller Apachen!«
»Das ist sie, und sie ist noch mehr, noch weit mehr. Jeder rote Krieger und jedes Bleichgesicht würde glücklich sein, wenn meine Schwester seine Squaw werden wollte, nur Old Shatterhand nicht.«
»Wie kann mein Bruder Winnetou dies wissen, da er noch nicht mit ihm darüber gesprochen hat?«
»Ich weiß es trotzdem, denn ich kenne ihn. Er ist nicht wie andere Weiße; er trachtet nach Höherem als sie. Er nimmt keine Indianerin zur Squaw.«
»Hat er dies gesagt?«
»Nein.«
»Gehört sein Herz vielleicht einer Weißen?«
»Auch nicht.«
»Das weißt du sicher?«
»Ja. Wir sprachen von weißen Frauen, und da habe ich aus seinen Worten entnommen, daß sein Herz noch nicht gesprochen hat.«
»So wird es bei mir sprechen!«
»Meine Schwester mag sich nicht täuschen! Old Shatterhand denkt und empfindet anders, als du meinst. Wenn er sich eine Squaw erwählt, so muß sie unter den Frauen das sein, was er unter den Männern ist.«
»Bin ich das nicht?«
»Unter den roten Mädchen, ja; da kommt meiner schönen Schwester keines gleich. Aber was hast du gesehen und gehört? Was hast du gelernt? Du kennst das Frauenleben der roten Völker, aber nichts von dem, was eine weiße Squaw gelernt haben und wissen muß. Old Shatterhand sieht nicht auf den Glanz des Goldes und auf die Schönheit des Angesichtes; er trachtet nach andern Dingen, die er bei einem roten Mädchen nicht finden kann.«
Sie senkte den Kopf und schwieg. Da strich er ihr mit der Hand liebkosend über die Wange und sagte:
»Es schmerzt mich, daß ich dem Herzen meiner guten Schwester wehe tue, aber Winnetou ist gewöhnt, stets die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie keine frohe ist. Vielleicht kennt er einen Weg, auf welchem Nscho-tschi zu dem Ziele, nach welchem sie strebt, gelangen kann.«
Da hob sie rasch den Kopf wieder und fragte:
»Welcher Weg ist dies?«
»Der nach den Städten der Bleichgesichter.«
»Dorthin soll ich, meinst du?«
»Ja.«
»Warum?«
»Um zu lernen, was du wissen und können mußt, wenn Old Shatterhand dich lieben soll.«
»So will ich hin, bald, sehr bald! Will mein Bruder Winnetou mir einen Wunsch erfüllen?«
»Welchen?«
»Sprich mit Intschu tschuna, unserm Vater darüber! Bitte ihn, mich nach den großen Städten der Bleichgesichter gehen zu lassen! Er wird nicht Nein sagen, denn«
Mehr hörte ich nicht, denn ich kroch jetzt leise wieder zurück. Es kam mir fast wie eine Sünde vor, dieses Gespräch der Geschwister belauscht zu haben. Wenn sie es nur nicht merkten! Welche Verlegenheit für sie und noch viel mehr auch für mich! Es galt, jetzt bei meinem Rückzuge noch viel vorsichtiger zu sein als vorhin bei meiner Annäherung. Das geringste Geräusch, der kleinste Zufall konnte es verraten, daß ich das Geheimnis der schönen Indianerin erfahren hatte. Und in diesem Falle war ich gezwungen, meine roten Freunde heut noch zu verlassen.
Glücklicherweise gelang es mir, mich unbemerkt zurückzuziehen. Als ich außer Hörweite angelangt war, erhob ich mich vom Boden und ging im Kreise schnell um die Lichtung herum, bis ich wieder auf die Fährte traf. Auf dieser trat ich dann auf der Seite, von welcher ich vorhin gekommen war, und von welcher ich von Nscho-tschi erwartet wurde, zwei oder drei Schritte auf die Lichtung hinaus und rief über dieselbe hinüber:
»Mein Bruder Winnetou mag herüberkommen!«
Es regte sich nichts drüben; darum fuhr ich fort:
»Mein Bruder mag kommen, denn ich sehe ihn!«
Er kam trotzdem nicht.
»Er sitzt drüben im Gebüsch der wilden Pflaumen. Soll ich ihn vielleicht holen?«
Da bewegten sich die Zweige, und Winnetou trat hervor, doch allein. Er hatte nicht länger stecken bleiben können, wollte aber das Versteck seiner Schwester noch geheim halten und fragte mich:
»Hat mein Bruder Old Shatterhand Nscho-tschi gefunden?«
»Ja.«
»Wo?«
»Da, wo sie verborgen ist, im Gebüsch.«
»In welchem Gebüsch?«
»In demjenigen, wohin mich ihre Fährte führt.«
»Hast du denn ihre Fährte gesehen?«
Das klang sehr verwundert. Er wußte nicht, woran er mit mir war. Daß ich die Unwahrheit sagte, das glaubte er nicht; aber von einer Fährte wußte er nichts, und da er nicht einen Augenblick von seiner Schwester weggekommen war, so hegte er die Ueberzeugung, daß ich sie nicht entdeckt hatte. Seiner Meinung nach mußte ich mich im Irrtume befinden, durch irgend etwas getäuscht worden sein.
»Ja,« antwortete ich; »ich habe sie gesehen.«
»Aber meine Schwester hat sich doch so in acht genommen, daß keine Spur zu sehen ist!«
»Du irrst. Sie ist zu sehen.«
»Nein.«
»An der Erde nicht, aber im Gezweig. Nscho-tschi hat mit ihren Füßen den Boden nicht berührt, aber indem du sie trugest, habt ihr Zweige geknickt und Blätter beschädigt.«
»Uff! Ich hätte sie getragen?«
»Ja.«
»Wer sagte es dir?«
»Deine Fußstapfen. Sie waren plötzlich tiefer geworden, weil du schwerer geworden warst. Da du aber dein Gewicht nicht verändert haben konntest, so mußtest du eine Last aufgenommen haben. Diese Last war deine Schwester, deren Fuß, wie ich sah, das Moos nicht berührt hatte.«
»Uff! Du irrst. Geh noch einmal zurück, und suche nach!«
»Das würde vergeblich sein und ist auch höchst überflüssig, denn Nscho-tschi sitzt dort, wo du gesessen hast. Ich werde sie holen.«
Ich ging vollends über die Lichtung hinüber; da kam sie aber schon aus dem Gesträuch und sagte im Tone der Befriedigung zu ihrem Bruder:
»Ich sagte dir, daß er mich finden würde, und ich hatte recht.«
»Ja, meine Schwester hatte recht, und ich irrte mich. Mein Bruder Old Shatterhand kann die Fährte eines Menschen nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den Gedanken lesen. Es gibt da fast nichts mehr, was er noch zu lernen hat.«
»O noch sehr, sehr viel,« antwortete ich. »Mein Bruder Winnetou sagt da ein Lob, welches ich noch nicht verdiene; aber was ich noch nicht kann, das werde ich noch von ihm lernen.«
Es war wirklich das erste Lob, welches ich aus seinem Munde hörte, und ich gestehe es, daß ich ebenso stolz auf dasselbe war, wie früher auf ein gelegentliches Lob irgend eines meiner Professoren.
Am Abend desselben Tages brachte er mir einen sehr gut gearbeiteten und mit roten, indianischen Stichstickereien verzierten Jagdanzug von weißgegerbtem Leder.
»Nscho-tschi, meine Schwester, bittet dich, diese Kleidung zu tragen,« sagte er. »Dein Anzug ist für Old Shatterhand nicht mehr gut genug.«
Da hatte er freilich sehr recht. Mein Habit sah sogar für indianische Augen sehr herabgekommen aus. Wäre ich in einer europäischen Stadt in demselben ertappt worden, so hätte man mich auf der Stelle als einen Hauptvagabunden arretiert. Aber durfte ich von Nscho-tschi ein solches Geschenk annehmen? Winnetou schien meine Gedanken zu erraten; er sagte:
»Du darfst diesen Anzug nehmen, denn ich habe ihn bestellt; er ist ein Geschenk von Winnetou, den du vom Tode errettet hast, und nicht von seiner Schwester. Ist es den Bleichgesichtern verboten, von einer Squaw Geschenke anzunehmen?«
»Wenn es nicht seine eigene Squaw oder Verwandte ist, ja.«
»Du bist mein Bruder; Nscho-tschi ist dir also verwandt. Dennoch ist dies Geschenk von mir und nicht von ihr; sie hat es nur für dich gefertigt.«
Als ich den Anzug am nächsten Morgen anprobierte, saß er wie angegossen. Ein New Yorker Herrenschneider hätte das Maß nicht besser treffen können. Ich zeigte mich natürlich meiner schönen Freundin, welche außerordentlich über das Lob, welches ich aussprach, erfreut war. Kurze Zeit später stellten sich Dick Stone und Will Parker bei mir ein, um sich von mir bewundern zu lassen; sie waren auch mit neuen Anzügen beschenkt worden, welche aber nicht von Nscho-tschi, sondern von andern Squaws gefertigt worden waren. Und abermals kurze Zeit später befand ich mich im Haupttale, um mich im Werfen des Tomahawk zu üben, da kam eine kleine, sonderbare Gestalt in sehr gravitätischer Haltung auf mich zu. Es war ein neuer, lederner, indianischer Anzug, welcher unten in einem Paar alter, ungeheuer großer Indianerstiefel endete. Oben drüber gab es einen noch älteren Filzhut mit sehr wehmütig herabhängender Krämpe, unter welcher ein sehr verworrener Bartwald, eine riesige Nase und zwei kleine, listige Aeuglein hervorblickten. Daran erkannte ich meinen kleinen Sam Hawkens. Er pflanzte sich, die dünnen, krummen Beinchen weit auseinander spreizend, höchst anspruchsvoll vor mir auf und fragte:
»Sir, kennt Ihr vielleicht den Mann, der jetzt vor Euch steht?«
»Hm!« antwortete ich. »Will einmal sehen!«
Ich nahm ihn bei seinen Armen, drehte ihn dreimal um sich selbst, betrachtete ihn dabei von allen Seiten und sagte dann:
»Das scheint wahrhaftig Sam Hawkens zu sein, wenn ich mich nicht irre!«
»Yes, mylord! Ihr irrt Euch nicht. Ich bin es, in eigener Person und Lebensgröße. Merkt Ihr etwas?«
»Funkelnagelneuer Anzug!«
»Will es meinen!«
»Von der Bärenhaut, die Ihr mir geschenkt habt.«
»Das sehe ich, Sam. Wenn ich aber frage: ›von wem?‹ so will ich die Person wissen, von der Ihr den Anzug habt.«
»Die Person? Hm! Ach so! Ja, die Person, Sir! Das ist so eine Sache. Eigentlich ist sie gar keine Person.«
»Was denn?«
»Ein Persönchen.«
»Wieso?«
»Na, kennt Ihr denn die hübsche Kliuna-ai nicht?«
»Nein. Kliuna-ai heißt Mond. Ist's ein Mädchen oder eine Squaw?«
»Beides, oder vielmehr keins von beiden.«
»Also Großmutter?«
»Unsinn! Wenn sie sowohl Squaw als auch Mädchen oder vielmehr keins von beiden ist, so muß sie natürlich Witwe sein. Sie ist die hinterlassene Squaw eines Apachen, der im letzten Kampfe mit den Kiowas gefallen ist.«
»Und die Ihr darüber trösten wollt?«
»Well, Sir,« nickte er. »Bin ihr gar nicht abgeneigt; habe sogar ein Auge auf sie geworfen, oder vielmehr alle beide.«
»Aber, Sam, eine Indianerin!«
»Was ist's weiter? Würde sogar eine Negerin heiraten, wenn sie nicht schwarz wäre. Uebrigens ist Kliuna-ai eine vortreffliche Partie.«
»Warum?«
»Weil sie das beste Leder im ganzen Stamme gerbt.«
»Wollt Ihr Euch gerben lassen?«
»Macht keine Witze, Sir! Es ist mir ernst. Ein trautes Heim versteht Ihr mich? Sie hat so ein volles, rundes Gesicht, grad wie der Mond.«
»Mit einem ersten und einem letzten Viertel?«
»Ich bitte nochmals, mit dem Monde keine Witze zu machen! Sie ist Vollmond, und ich heirate sie, wenn ich mich nicht irre.«
»Hoffentlich wird kein Neumond draus. Wie habt Ihr denn diese Bekanntschaft gemacht?«
»Eben durch die Gerberei. Erkundigte mich nach der besten Gerberin, nämlich des Bärenfells wegen; da wurde sie mir empfohlen. Trug ihr also das Fell hin und merkte sofort, daß sie Wohlgefallen hatte.«
»An dem Felle?«
»Unsinn! An mir natürlich!«
»Das verrät Geschmack, lieber Sam!«
»Ja, den hat sie! O, die ist gar nicht ungebildet! Das beweist sie auch schon dadurch, daß sie nicht bloß das Fell gegerbt, sondern einen neuen Anzug für mich daraus angefertigt hat. Wie gefalle ich Euch?«
»Der reine Stutzer!«
»Gentleman, nicht wahr? Ja, Gentleman! Sie war ganz weg, als sie mich vorhin in diesem Anzuge sah. Könnt Euch darauf verlassen, Sir; ich heirate sie!«
»Wo steckt Euer alter Anzug?«
»Habe ihn weggeschmissen.«
»So, so! Und eines schönen Tages sagtet Ihr einmal, daß Euch Euer Rock nicht für zehntausend Dollars feil sei!«
»Das war damals. Da gab es keine Kliuna-ai. Die Zeiten ändern sich. Well!«
Das kleine, bärenlederne Freiersmännchen drehte sich um und stampfte stolz von dannen. Das menschenfreundliche Gefühl, welches er für die indianische Wittib empfand, verursachte mir gar keine moralischen Schmerzen und Bedenken. Man mußte Sam ansehen, um vollständig beruhigt zu sein. Die übermäßig großen Füße, die dünnen, krummen Beinchen, dann das Gesicht, o weh! Er glich einer männlichen Pastrana mit einem Geierschnabel im Gesichte. Das war selbst für eine Indianerin zu toll. Er war noch nicht weit fort von mir, da drehte er sich noch einmal um und rief mir zu:
»Ist doch ein ganz anderes Ding, dieser neue Habitus, Sir! Bin wie neugeboren. Mag den alten nicht wiedersehen. Sam geht auf Freiersfüßen, hihihihi!«
Am nächsten Tage begegnete ich ihm unten am Pueblo. Er machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Was gehen Euch für astronomische Gedanken durch den Kopf, lieber Sam?« fragte ich ihn.
»Astronomische? Warum grad solche?«
»Weil Ihr ein Gesicht macht, als ob Ihr einen Kometen oder einen Nebelfleck entdecken wolltet.«
»Ist auch fast so. Dachte, daß es ein Komet sei, wird aber wohl ein Nebelfleck sein.«
»Wer?«
»Sie, die Kliuna-ai.«
»Ach so! Der Vollmond ist heut schon ein Nebelfleck! Warum?«
»Habe sie gefragt, ob sie sich wieder einen Mann nehmen will. ›Nein‹ hat sie geantwortet.«
»Das darf Euch nicht abhalten, vertrauensvoll in die Zukunft zu blicken. Rom wurde nicht an einem Tage gebaut.«
»Und mein neuer Anzug nicht in einer Stunde geflickt. Ihr habt recht, Sir; ich gehe noch immer auf Freiersfüßen.«
Er stieg die Treppe hinan, um seine Kliuna-ai zu besuchen. Am nächsten Tage sattelte ich meinen Rotschimmel, um mit Winnetou auf die Büffeljagd zu reiten, da kam Sam Hawkens zu mir und fragte:
»Darf ich mit, Sir?«
»Auf die Büffeljagd? Nein, nein! Ihr jagt doch jetzt ein besseres Wild.«
»Hält aber nicht stand!«
»So?«
»Ja. Und macht Ansprüche.«
»Wieso?«
»War wieder bei ihr. Da sagte sie mir, den Anzug habe sie mir auf Befehl Winnetous nähen müssen.«
»Also nicht aus Liebe?«
»Es scheint nicht so. Dann meinte sie weiter, das Gerben hätte ich bei ihr bestellt; was ich ihr dafür geben wolle.«
»Also Bezahlung!«
»Yes! Ist das ein Zeichen von Liebe?«
»Weiß nicht. Habe keine Erfahrung in solchen Sachen. Kinder lieben ihre Eltern, und doch müssen diese alles für sie bezahlen. Vielleicht ist dies grad ein Beweis für die Gegenliebe Eures Vollmondes.«
»Vollmond? Hm! Ist auch möglich, daß es nur das letzte Viertel ist. Also Ihr nehmt mich nicht mit?«
»Winnetou will allein mit mir reiten.«
»So kann ich nichts dagegen haben.«
»Ihr würdet auch Euern neuen Jagdrock zu Schanden machen, lieber Sam!«
»Allerdings, das ist wahr. Blutflecke sind nichts für ein so feines Habit.«
Er ging, drehte sich aber nochmals um und fragte: »Meint Ihr nicht, Sir, daß mein alter Anzug doch viel praktischer war?«
»Möglich.«
»Nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich.«
Damit war die Sache für heute abgemacht. Aber in den nächsten Tagen wurde Sam immer nachdenklicher und einsilbiger. Sein Mond schien immer weiter abzunehmen. Da, eines Morgens sah ich ihn aus seiner Wohnung treten im alten Anzuge!
»Was ist denn das, Sam?« fragte ich ihn. »Ich denke, Ihr habt dieses Habit abgelegt, oder gar ›weggeschmissen‹, wie Ihr Euch ausdrücktet.«
»War auch so.«
»Und es doch wieder hervorgesucht!«
»Yes.«
»Vor Aerger?«
»Natürlich! Bin förmlich wütend!«
»Auf das letzte Viertel?«
»Ist Neumond geworden. Kann und mag diese Kliuna-ai gar nicht mehr sehen!«
»Habe es Euch also ganz richtig prophezeit!«
»Ja. Ist genau so geworden, wie Ihr sagtet. War aber eine Bewandtnis dabei, die mich fuchsteufelswild gemacht hat.«
»Darf ich erfahren, welche?«
»Ja, Euch will ich es sagen. War also gestern wieder bei ihr. Hat mich in den letzten Tagen schlecht behandelt, sehr schlecht, mich fast gar nicht angesehen und mir immer nur ganz kurz geantwortet. Sitze also gestern bei ihr und lehne mich dabei mit dem Kopf an einen hölzernen Pfahl. Dieser mag einen Splitter gehabt haben, an den mein Haar geraten ist.
Als ich aufstehe, um zu gehen, gibt's einen gewaltigen Zupfer auf meinem ehrwürdigen Schädel; da drehe ich mich um, und was sehe ich da, Sir was sehe ich?«
»Eure Perücke, wie ich vermute?«
»Ja, meine Perücke ist an dem Holzsplitter hängen geblieben und der Hut heruntergerissen worden und zu Boden gefallen.«
»Da wurde natürlich der frühere hübsche Vollmond zum Neumonde?«
»Ganz und gar! Erst stand sie da und starrte mich an wie wie nun, wie einen Menschen, der auf dem Kopfe keine Haare hat.«
»Und dann?«
»Dann schrie und heulte sie, als ob sie selber einen Glatzkopf hätte.«
»Und endlich?«
»Endlich? Nun, endlich wurde Neumond draus. Sie stürzte nämlich fort und war nicht mehr zu sehen.«
»Vielleicht geht sie Euch bald wieder als erstes Viertel und Vollmond auf!«
»Die nicht! Sie hat mir's nämlich sagen lassen.«
»Was?«
»Daß ich nicht mehr zu ihr kommen soll. Sie will nämlich dummerweise nur einen solchen Mann haben, der Haare auf dem Kopfe hat. Ist das nicht höchst albern?«
»Hm!«
»Da wird nichts gehmt, Sir! Wenn eine Frau heiratet, kann es ihr doch höchst gleichgültig sein, ob ihr Mann seine Haare auf dem Kopfe oder in der Perücke hat, wenn ich mich nicht irre. Es ist sogar weit ehrenvoller, sie in der Perücke zu haben, denn da haben sie Geld gekostet; wachsen aber tun sie umsonst!«
»So würde ich an Eurer Stelle sie mir auch wachsen lassen, lieber Sam!«
»Verehrter Sir, Euch soll der Kuckuck holen! Ich suche Trost in meinem Liebesgram und Heiratskummer bei Euch und bekomme Spott zu hören. Ich wollte, Ihr hättet auch eine Perücke und dann eine rote Witwe, die Euch zur Türe hinauswirft. Gehabt Euch wohl!«
»Sam!« rief ich ihm nach, »noch eine Frage!«
»Was denn?« erkundigte er sich, indem er stehen blieb.
»Wo ist er denn?«
»Wer?«
»Der neue Anzug?«
»Habe ihn ihr zurückgeschickt. Mag nichts davon wissen. Wollte Hochzeit darinnen machen, ihn bei der Trauung tragen; nun aber nichts aus der Hochzeit wird, mag ich auch den Rock nicht haben. Howgh!«
So endete die Freundschaft meines Sam mit Kliuna-ai, dem immer mehr abnehmenden roten Monde. Uebrigens war er sehr bald wieder guter Dinge und gestand mir, daß er sich freue, ein unverheirateter Jüngling geblieben zu sein. Er werde seinem alten Rocke nie wieder den Abschied geben, denn dieser sei besser, praktischer und bequemer als sämtliche Jagdröcke von allen indianischen Schneiderinnen. Es war also ganz so gekommen, wie ich mir gedacht hatte. Sam als Ehemann war einfach undenkbar.
Am Abende desselben Tages aß ich, wie gewöhnlich, mit Intschu tschuna und Winnetou zusammen. Der Letztere entfernte sich nach dem Essen, und ich wollte auch gehen, da fing der Häuptling mit mir von Sams Abenteuer mit Kliuna-ai an und brachte hierauf die Rede auf Verbindungen zwischen Weißen und Indianerinnen. Ich merkte, daß er mich examinieren wollte.
»Hält mein junger Bruder Old Shatterhand eine solche Ehe für unrecht oder recht?« fragte er.
»Wenn sie von einem Priester geschlossen und die Indianerin vorher Christin geworden ist, sehe ich nichts Unrechtes darin,« antwortete ich.
»Also mein Bruder würde nie ein rotes Mädchen so, wie sie ist, zur Squaw nehmen?«
»Nein.«
»Und ist es sehr schwer, Christin zu werden?«
»Nein, gar nicht.«
»Darf eine solche Squaw dann ihren Vater noch ehren, auch wenn er nicht Christ ist?«
»Ja. Unsere Religion fordert von jedem Kinde, die Eltern zu achten und zu ehren.«
»Was für eine Squaw würde mein junger Bruder vorziehen, eine rote oder eine weiße?«
Durfte ich sagen, eine weiße? Nein, denn das hätte ihn beleidigt. Darum antwortete ich:
»Das kann ich nicht so beantworten. Es kommt auf die Stimme des Herzens an. Wenn diese spricht, so gehorcht man ihr, gleichviel, was die Squaw für eine Farbe hat. Vor dem großen Geiste sind alle Menschen gleich, und die, welche für einander passen und für einander bestimmt sind, die werden sich finden.«
»Howgh! Die werden sich finden, wenn sie zu einander passen. Mein Bruder hat sehr richtig gesprochen; er redet ja immer recht und gut.«
Hiermit war dieses Thema beendet, so, wie ich es wünschte, glaubte ich. Daß eine Indianerin erst Christin werden müsse, wenn sie die Squaw eines Weißen sein wolle, das hatte ich in ganz bestimmter Absicht scharf betont. Ich gönnte Nscho-tschi den allerbesten, edelsten roten Krieger und Häuptling; ich aber war nicht nach dem wilden Westen gekommen, um mir eine rote Squaw zu nehmen; ich hatte nicht einmal an eine weiße gedacht. Mein Lebensplan schloß, wie ich annahm, eine Verheiratung überhaupt aus.
Welchen Erfolg meine Unterredung mit Intschu tschuna gehabt hatte, erfuhr ich am zweiten Tag darauf. Er führte mich hinunter in das erste Stockwerk, wo ich noch nicht gewesen war. Dort lagen in einem besonderen, kleinen Behältnisse unsere Meßinstrumente.
»Siehe diese Sachen an, ob etwas davon fehlt,« forderte mich der Häuptling auf.
Ich tat es und fand, daß nichts abhanden gekommen war. Die Gegenstände waren auch nicht beschädigt worden, einige Verbiegungen abgerechnet, welche ich leicht reparieren konnte.
»Diese Sachen sind für uns Medizin gewesen,« sagte er. »Darum wurden sie so gut verwahrt und aufgehoben. Mein junger, weißer Bruder mag sie nehmen; sie sind wieder sein.«
Ich wollte mich für diese hochwillkommene Gabe bedanken; er wehrte aber den Dank ab, indem er, mir in die Rede fallend, erklärte:
»Sie sind dein gewesen, und wir nahmen sie, weil wir dich für unsern Feind hielten; nun wir aber wissen, daß du unser Bruder bist, mußt du alles wieder bekommen, was dir gehört. Du hast für nichts zu danken. Was wirst du nun mit diesen Gegenständen tun?«
»Wenn ich von hier fortgehe, nehme ich sie mit, um sie den Leuten wiederzugeben, von denen ich sie habe.«
»Wo wohnen diese?«
»In St. Louis.«
»Ich kenne den Namen dieser Stadt und weiß auch, wo sie liegt. Winnetou mein Sohn ist dort gewesen und hat mir von ihr erzählt. Also du willst fort von uns?«
»Ja, wenn auch nicht sofort.«
»Das tut uns leid. Du bist ein Krieger unsers Stammes geworden, und ich habe dir sogar die Macht und Ehre eines Häuptlings der Apachen gegeben. Wir glaubten, du würdest für immer bei uns bleiben, wie Klekih-petra bis zu seinem Tode bei uns geblieben ist.«
»Meine Verhältnisse sind anders, als die seinigen waren.«
»Kennst du sie denn?«
»Ja. Er hat mir alles erzählt.«
»So hat er ein großes Vertrauen zu dir gehabt, obwohl er dich zum erstenmal sah.«
»Wohl, weil wir aus demselben Lande stammten.«
»Das ist es nicht allein gewesen. Er sprach sogar noch bei seinem Tode mit dir. Ich konnte die Worte nicht verstehen, weil ich die Sprache nicht kenne, in welcher sie gesprochen wurden; aber du hast es uns gesagt, was es war. Du bist nach Klekih-petras Willen der Bruder Winnetous geworden und willst ihn doch verlassen. Ist das nicht ein Widerspruch?«
»Nein. Brüder brauchen nicht stets beisammen zu sein; sie gehen oft auseinander, wenn sie verschiedene Aufgaben zu erfüllen haben.«
»Aber sie sehen sich doch wieder?«
»Ja. Ihr werdet mich wiedersehen, denn mein Herz wird mich zu euch zurücktreiben.«
»Das hört meine Seele gern. So oft du kommst, wird große Freude bei uns vorhanden sein. Ich beklage es sehr, daß du von einer andern Aufgabe sprichst. Könntest du dich denn nicht auch hier bei uns glücklich fühlen?«
»Das weiß ich nicht. Ich bin so kurze Zeit hier, daß ich diese Frage nicht beantworten kann. Es wird wohl so sein, wie wenn zwei Vögel im Schatten eines Baumes sitzen. Der eine ernährt sich von den Früchten dieses Baumes und bleibt also da; der andere aber braucht eine andere Speise und kann also nicht lange bleiben; er muß fort.«
»Und doch darfst du glauben, daß wir dir alles geben würden, wonach du verlangtest.«
»Das weiß ich; aber wenn ich jetzt von Speise sprach, so war nicht die Nahrung gemeint, welche der Körper braucht.«
»Ja, ich weiß es, daß ihr Bleichgesichter auch von einer Speise des Geistes redet; ich habe das von Klekih-petra erfahren. Ihm fehlte diese Speise bei uns; darum war er zuweilen sehr traurig, obwohl er uns das nicht merken lassen wollte. Du bist jünger, als er war, und so würdest du dich wohl noch eher und noch leichter fortsehnen als er. Darum magst du gehen; aber wir bitten dich, wiederzukommen. Vielleicht hast du dann deinen Sinn geändert und siehst ein, daß du dich auch bei uns wohlbefinden kannst. Aber wissen möchte ich gern, was du tun wirst, nachdem du in die Städte der Bleichgesichter zurückgekehrt bist.«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Wirst du bei den Weißen bleiben, welche den Pfad des Feuerrosses bauen wollen?«
»Nein.«
»Daran tust du recht. Du bist ein Bruder der roten Männer geworden und darfst nicht mittun, wenn die Bleichgesichter uns wieder um unser Land und Eigentum betrügen wollen. Aber da, wohin du willst, kannst du nicht von der Jagd leben wie hier. Du mußt Geld haben, und Winnetou sagte mir, daß du arm seiest. Du hättest Geld bekommen, wenn wir Euch nicht überfallen hätten; darum hat mein Sohn mich gebeten, dir Ersatz zu bieten. Willst du Gold?«
Er sah mich bei dieser Frage so scharf und forschend an, daß ich mich wohl hütete, mit einem Ja zu antworten. Er wollte mich auf die Probe stellen.
»Gold?« sagte ich. »Ihr habt mir keines abgenommen, und so habe ich keines von euch zu verlangen.«
Das war eine diplomatische Antwort, weder ein Ja noch ein Nein. Ich wußte, daß es Indianer gibt, welche Fundorte edler Metalle kennen, aber niemals einem Weißen einen solchen Ort verraten. Intschu tschuna kannte jedenfalls solche Stellen, und jetzt fragte er mich: ›Willst du Gold?‹ Welcher Weiße hätte da wohl mit einem direkten Nein geantwortet! Ich habe nie nach Schätzen getrachtet, welche von dem Roste und von Motten gefressen werden; dennoch hat das Gold für mich als Mittel zum guten Zwecke einen Wert, den ich gar nicht leugnen will. Diese Anschauung aber konnte der Apachenhäuptling wohl schwerlich begreifen.
»Nein, geraubt haben wir dir keines,« antwortete er; »aber du hast wegen uns nicht bekommen, was du bekommen hättest, und dafür will ich dich entschädigen. Ich sage dir, in den Bergen liegt das Gold in großen Mengen. Die roten Männer kennen die Stellen, wo es zu finden ist; sie brauchen nur hinzugehen, um es wegzunehmen. Wünschest du, daß ich welches für dich hole?«
Hundert Andere an meiner Stelle hätten dieses Angebot angenommen und nichts bekommen; das sah ich dem eigentümlich lauernden Blicke seiner Augen an; darum sagte ich:
»Ich danke dir! Den Reichtum mühelos geschenkt zu bekommen, das bringt keine Befriedigung; nur das, was man sich erarbeitet und erworben hat, besitzt wahren Wert. Wenn ich auch arm bin, so ist das kein Grund, zu glauben, daß ich nach meiner Rückkehr zu den Bleichgesichtern Hungers sterben werde.«
Da ließ die Spannung, welche auf seinem Gesichte gelegen hatte, nach; er gab mir die Hand und meinte in einem wirklich wohltuenden herzlichen Tone:
»Diese deine Worte sagen mir, daß wir uns nicht in dir getäuscht haben. Der Goldstaub, nach welchem die weißen Goldsucher streben, ist ein Staub des Todes; wer ihn zufällig findet, geht daran zu Grunde. Trachte nie danach, ihn zu erlangen, denn er tötet nicht nur den Leib, sondern auch die Seele! Ich wollte dich prüfen. Gold hätte ich dir nicht gegeben, aber Geld sollst du bekommen, jenes Geld, auf welches du gerechnet hast.«
»Das ist nicht möglich.«
»Ich will es so, also ist es möglich. Wir werden nach der Gegend reiten, in welcher ihr gearbeitet habt. Du wirst die unterbrochene Arbeit vollenden und dann den Lohn bekommen, welcher euch versprochen worden ist.«
Ich sah ihm staunend und wortlos in das Gesicht. Scherzte er? Nein; solchen Spaß treibt ein Indianerhäuptling nicht. Oder sollte dies wieder eine Prüfung sein? Auch dies war unwahrscheinlich.
»Mein junger, weißer Bruder sagt nichts,« fuhr er fort. »Ist ihm mein Anerbieten nicht willkommen?«
»Sogar außerordentlich willkommen! Aber ich kann nicht glauben, daß du im Ernste sprichst.«
»Warum nicht?«
»Ich soll das vollenden, was du an meinen weißen Mitarbeitern mit dem Tode bestraft hast! Ich soll das tun, was du bei unserer ersten Begegnung so streng an mir verurteiltest!«
»Du handeltest ohne Erlaubnis derer, denen das Land gehört; jetzt aber sollst du diese Erlaubnis bekommen. Mein Anerbieten kommt nicht von mir, sondern von meinem Sohne Winnetou. Er hat mir gesagt, daß es uns keinen Schaden macht, wenn du das unterbrochene Werk zu Ende führst.«
»Das ist ein Irrtum. Die Bahn wird gebaut; die Weißen kommen ganz gewiß!«
Er sah finster vor sich nieder und gab dann nach einer kleinen Weile zu:
»Du hast recht. Wir können sie nicht hindern, uns aber- und abermal zu berauben. Erst senden sie so kleine Trupps voran, wie der eurige war; die können wir vernichten; aber das ändert nichts, denn später kommen sie in Scharen, vor denen wir zurückweichen müssen, wenn wir uns nicht erdrücken lassen wollen. Aber auch du kannst dies nicht anders machen. Oder meinst du, daß sie nicht kommen werden, wenn du darauf verzichtest, die Strecke vollends zu vermessen?«
»Nein, das meine ich nicht. Wir mögen tun oder lassen, was wir wollen, das Feuerroß wird unbedingt durch jene Gegend dampfen.«
»So nimm mein Anerbieten an! Du nützest dir viel und schadest uns nichts. Ich habe mich mit Winnetou besprochen. Wir reiten mit dir, er und ich, und dreißig Krieger werden uns begleiten. Das ist genug, dich während deiner Arbeit zu beschützen und dir bei derselben behilflich zu sein. Dann bringen uns diese dreißig Mann so weit nach dem Osten, bis wir sichere Pfade finden und mit dem Kanoe des Dampfes nach St. Louis fahren können.«
»Was sagt mein roter Bruder? Habe ich ihn richtig verstanden? Er will nach dem Osten?«
»Ja, mit dir, ich, Winnetou und Nscho-tschi.«
»Nscho-tschi auch?«
»Meine Tochter auch. Sie möchte gern die großen Wohnplätze der Bleichgesichter sehen und so lange dortbleiben, bis sie ganz so geworden ist wie eine weiße Squaw.«
Ich mochte wohl kein sehr geistreiches Gesicht zu diesen Worten machen, denn er fügte, mich lächelnd ansehend, hinzu:
»Mein junger, weißer Bruder scheint überrascht zu sein. Hat er vielleicht etwas dagegen, daß wir ihn begleiten? Er mag es aufrichtig sagen!«
»Etwas dagegen? Wie könnte ich! Ich freue mich im Gegenteil außerordentlich darüber! Unter eurer Begleitung komme ich ohne Gefahr nach dem Osten zurück; schon deshalb muß dieselbe mir willkommen sein. Dazu ist noch zu rechnen, daß die, welche ich so liebgewonnen habe, bei mir bleiben.«
»Howgh!« nickte er befriedigt. »Du wirst deine Arbeit vollenden, und dann geht es nach dem Osten. Wird Nscho-tschi dort Leute finden, bei denen sie wohnen und lernen kann?«
»Ja. Ich werde das sehr gern besorgen. Aber der Häuptling der Apachen muß dabei in Betracht ziehen, daß die Bleichgesichter nicht die Gastfreundschaft der roten Männer ausüben können.«
»Ich weiß es. Wenn Bleichgesichter nicht als Feinde zu uns kommen, so erhalten sie alles, was sie brauchen, ohne daß sie uns etwas dafür zu geben haben; suchen aber wir sie auf, so müssen wir nicht nur alles bezahlen, sondern doppelt so viel geben, als weiße Wanderer geben würden. Und selbst dann bekommen wir alles schlechter als diese. Nscho-tschi wird also auch bezahlen müssen.«
»Das ist leider wahr, braucht euch aber nicht zu kümmern. Infolge deines edelmütigen Anerbietens bekomme ich viel Geld ausgezahlt, und ihr werdet dann meine Gäste sein.«
»Uff, uff! Was denkt mein junger, weißer Bruder von Intschu tschuna und Winnetou, den Häuptlingen der Apachen! Ich habe dir vorhin doch gesagt, daß die roten Männer viele Orte kennen, an denen Gold zu finden ist. Es gibt Berge, welche mit goldenen Adern durchzogen sind, und Täler, in denen der herabgewaschene Goldstaub unter der dünnen Erddecke liegt. Wenn wir nach den Städten der Weißen gehen, haben wir zwar kein Geld, aber Gold, soviel Gold, daß niemand uns auch nur einen Schluck Wassers zu schenken braucht. Und wenn Nscho-tschi mehrere Sonnen lang dort bleiben müßte, so würde ich ihr mehr Gold zurücklassen, als sie für diese lange Zeit nötig hat. Nur die Ungastlichkeit der Bleichgesichter zwingt uns, die Fundorte des goldenen Staubes aufzusuchen, sonst aber beachten und benützen wir sie nie. Wann wird mein junger Bruder zum Aufbruche fertig sein?«
»Zu jeder Zeit, sobald es euch beliebt.«
»So wollen wir nicht zögern, denn es ist die Zeit des späten Herbstes, auf welchen schnell der Winter folgt. Ein roter Krieger braucht selbst für einen so weiten Ritt keine Vorkehrungen zu treffen; wir könnten also schon morgen aufbrechen, falls auch du dazu bereit wärest.«
»Ich bin bereit. Es ist nichts nötig, als kurz zu sagen, was wir mitzunehmen haben, wie viele Pferde und«
»Das wird Winnetou besorgen,« unterbrach er mich. »Er hat schon an alles gedacht, und mein junger, weißer Bruder braucht sich um nichts zu sorgen.«
Wir verließen das Stockwerk, in welchem wir uns befanden, und kehrten nach oben zurück. Als ich in meine Wohnung treten wollte, kam Sam Hawkens heraus.
»Ich habe Euch etwas Neues mitzuteilen, Sir,« sagte er freudestrahlend. »Werdet Euch wundern, außerordentlich wundern, wenn ich mich nicht irre.«
»Worüber?«
»Ueber die Nachricht, welche ich Euch bringe. Oder wißt Ihr es vielleicht schon?«
»Laßt erst hören, was Ihr meint, lieber Sam!«
»Es geht fort, fort von hier!«
»Ach so! Das weiß ich freilich schon.«
»Ihr wißt es schon? Wollte Euch mit meiner Mitteilung eine Freude machen; komme also zu spät.«
»Ich habe es soeben von Intschu tschuna erfahren. Wer hat es Euch gesagt?«
»Winnetou. Traf ihn unten am Wasser, wo er die betreffenden Pferde auswählte. Sogar Nscho-tschi reitet mit! Wißt Ihr das auch?«
»Ja.«
»Ist ein sonderbarer Gedanke, mir aber sehr recht. Soll, wie es scheint, im Osten in einem Pensionate untergebracht werden; weshalb und wozu, das ist mir unbegreiflich, wenn nicht«
Er hielt mitten im Satze inne, ließ seine kleinen Aeuglein mit einem vielsagenden Ausdrucke an mir niedergleiten und fuhr dann fort:
»Wenn nicht wenn nicht hm! Nscho-tschi soll vielleicht Eure Kliuna-ai werden. Meint Ihr nicht, geliebter Sir und Shatterhand?«
»Meine Kliuna-ai, also mein Mond? Solche Geschichten überlasse ich Euch, Sam. Was nützt mir ein Mond, der immerfort abnimmt, bis er ganz verschwindet? Es kann mir nicht einfallen, einer Indianerin wegen meine Perücke zu verlieren.«
»Eure Perücke? Hört, das habt Ihr schlecht gemacht. Das war ein sehr fauler Witz, auf den Ihr Euch nichts einbilden dürft. Ist überdies sehr gut, daß meine Liebe zu diesem abnehmenden Monde eine so unglückliche war.«
»Warum?«
»Weil ich ihn doch nicht hier lassen könnte, sondern mitnehmen müßte. Wer aber reitet gern mit einem Neumonde über die Prairie! Hihihihi! Ist doch bei jedem Unglück auch ein Glück! Es ärgert mich nur eins dabei!«
»Was?«
»Das schöne Grizzlyfell. Hätte ich es selbst verarbeitet, so würde ich jetzt in einem famosen Jagdrocke stecken; so aber ist der Rock und auch das Fell dahin.«
»Leider! Hoffentlich gibt es später einmal Gelegenheit, wieder einen Grizzly zu erlegen. Dann schenke ich Euch die Haut.«
»Ihr mir? Oder wohl ich Euch? Ihr dürft nicht denken, daß die grauen Bären nur so herumlaufen, um sich von dem ersten besten Greenhorn niederstechen zu lassen. Das war damals ein Zufall, auf den Ihr Euch noch viel weniger einzubilden braucht, als auf Euern Witz vorhin. Wollen uns überhaupt keine Bären wünschen, wenigstens nicht in nächster Zeit, wo wir zu arbeiten haben. Ist doch ein kolossaler Gedanke, daß Ihr weitermessen sollt! Nicht?«
»Edelmütig, Sam, sehr edelmütig!«
»Yes! Dadurch kommt Ihr zu Euerm Gelde, und wir erhalten das unserige auch. Vielleicht thunderstorm! Wollte es Euch gönnen, wenn ich jetzt richtig geraten hätte!«
»Was habt Ihr geraten?«
»Daß Ihr das ganze Geld bekommt das ganze!«
»Ich verstehe Euch nicht.«
»Ist aber ganz leicht zu verstehen. Wenn die Arbeit gemacht ist, muß sie auch bezahlt werden. Die Andern sind ausgelöscht worden; sie leben nicht mehr, also müssen ihre Anteile Euch mit ausbezahlt werden.«
»Das bildet Euch nicht ein, Sam. Man wird sich sehr hüten, das, was Ihr so klug erraten habt, in Erfüllung gehen zu lassen.«
»Ist alles möglich, alles! Müßt es nur richtig anfangen; müßt das Ganze verlangen. Habt ja auch fast die ganze Arbeit getan. Wollt Ihr?«
»Nein. Es fällt mir natürlich nicht ein, mich dadurch lächerlich zu machen, daß ich mehr verlange, als ich zu bekommen habe.«
»Greenhorn, wieder Greenhorn! Ich sage Euch, daß hier in diesem Lande Eure deutsche Bescheidenheit ganz am unrechten Platze ist. Ich meine es gut mit Euch; darum hört auf das, was ich Euch sage: Den Gedanken, ein Westmann zu werden, den laßt ja fallen; denn so etwas wird im ganzen Leben nicht aus Euch; dazu habt Ihr nicht das mindeste Geschick. Ihr müßt also an eine andere Laufbahn denken, und dazu gehört zunächst Geld und dann wieder Geld. Jetzt könnt Ihr, wenn Ihr gescheit seid, es zu einer hübschen Summe bringen, und dann ist Euch für einige Zeit hinaus geholfen. Folgt Ihr aber meinem Rate nicht, so schwimmt Euer Stock verkehrt den Fluß hinab, und Ihr geht zugrunde wie ein Fisch, der auf das Land gerät.«
»Wollen das abwarten. Ich bin nicht über den Mississippi gegangen, um ein Westmann zu werden, also habe ich, wenn keiner aus mir wird, nicht etwa eine verlorene Hoffnung zu beklagen. In diesem Falle wäret nur Ihr zu bedauern.«
»Ich? Warum ich?«
»Weil Ihr Euch so viel Mühe gegeben habt, etwas aus mir zu machen. Ich höre schon im voraus die Leute zu mir sagen, daß ich einen Lehrmeister gehabt haben muß, der nichts versteht.«
»Nichts versteht? Ich? Sam Hawkens und nichts verstehen, hihihihi! Ich verstehe alles, alles; ich verstehe es sogar, Euch hier stehen zu lassen, Sir!«
Er ging, drehte sich aber nach einigen Schritten wieder um und sagte:
»Merkt Euch aber das: Wenn Ihr nicht das ganze Geld verlangt, so verlange ich es und stecke es Euch dann in die Tasche! Howgh!«
Nach diesen Worten entfernte er sich mit Schritten, welche gravitätisch sein sollten, aber grad das Gegenteil davon waren. Das liebe Kerlchen wünschte mir alles Gute, also auch das ganze Honorar, woran aber gar nicht zu denken war.
Das, was Intschu tschuna gesagt hatte, bewährte sich: ein roter Krieger bedarf selbst zur weitesten Reise keiner großen Vorkehrungen. Das Leben im Pueblo nahm auch heut seinen gewöhnlichen, ruhigen Verlauf, ohne daß irgend etwas auf unsere baldige Abreise schließen ließ. Auch Nscho-tschi, welche uns, wie stets vorher, beim Essen bediente, war so wie immer. Welche Aufregung und Vorarbeit gibt es bei einer weißen Dame, die einen kleinen Ausflug machen will! Diese Indianerin hatte einen weiten und gefährlichen Ritt vor sich, um die vielgerühmten Herrlichkeiten der Zivilisation kennen zu lernen, und doch war nicht die leiseste Spur einer Veränderung an ihr zu bemerken. Ich wurde weder nach etwas gefragt noch sonst zu Rate gezogen oder gar belästigt. Das einzige, was ich vorzunehmen hatte, war die Verpackung der Instrumente, zu welchem Zwecke ich von Winnetou eine Anzahl weicher, wollener Decken bekam. Wir saßen, wie gewöhnlich, während des ganzen Abends beisammen, ohne daß ein Wort über den beabsichtigten Ritt gesprochen wurde, und als ich mich schlafen legte, war es mir gar nicht so, als ob ich vor einer so weiten Reise stünde. Die Ruhe und Kaltblütigkeit der Indianer hatte mich angesteckt. Am Morgen erwachte ich nicht von selbst, sondern ich wurde von Hawkens geweckt, welcher mir sagte, daß alles zum Aufbruche bereit sei. Der Tag war kaum angebrochen, ein später Herbstmorgen, dessen Kühle allerdings bewies, daß es Zeit gewesen war, die Reise nicht länger aufzuschieben.
Es gab ein kurzes Frühstück, und dann begleiteten uns sämtliche Bewohner des Pueblo, ›Kind und Kegel‹, wie man sich auszudrücken pflegt, hinab nach dem Flusse, wo eine Zeremonie vorgenommen werden sollte, die ich noch nicht gesehen hatte: der Medizinmann hatte zu erklären, ob die Reise eine glückliche oder unglückliche sein werde.
Zu dieser Feierlichkeit waren auch die in der Nähe des Pueblo sich aufhaltenden Apachen herbeigekommen. Unser großer Ochsenwagen stand noch da; er konnte von uns natürlich nicht mitgenommen werden, weil er zu schwerfällig war und die Schnelligkeit, welche wir uns vorgenommen hatten, beeinträchtigt hätte. Er bildete das Sanktuarium des Medizinmannes, welcher ihn mit Decken verhangen hatte, hinter denen er steckte.
Es wurde ein weiter Kreis um den Wagen gebildet. Als dieser geschlossen war, begann die für die Roten ›heilige Handlung‹, welche ich aber im Stillen mit dem Ausdrucke ›Vorstellung‹ bezeichnete, mit einem aus dem Wagen tönenden Knurren und Pfauchen, als ob mehrere Hunde und Katzen im Begriffe ständen, einen Kampf zu beginnen.
Ich stand zwischen Winnetou und seiner Schwester. Die große Aehnlichkeit, welche zwischen den Geschwistern herrschte, trat heut ganz besonders hervor, weil Nscho-tschi nicht ein Frauengewand trug, sondern Männerkleider angelegt hatte. Ihr Anzug glich genau demjenigen ihres Bruders, welcher schon beschrieben worden ist. Auch sie hatte keine Kopfbedeckung und ihr Haar in einen solchen Schopf geordnet, wie er das seinige. An ihrem Gürtel hingen mehrere Beutel mit verschiedenem Inhalte; in demselben steckten ein Messer und eine Pistole, und über ihrem Rücken hing ein Gewehr. Ihr Anzug war neu und mit bunten Fransen und Stickereien verziert. Sie sah sehr kriegerisch und dabei doch so mädchenhaft und reizend aus, daß aller Blicke auf sie gerichtet waren. Da ich den Anzug trug, welchen ich geschenkt bekommen hatte, so waren wir drei beinahe gleich gekleidet.
Ich mochte, als das Pfauchen sich hören ließ, ein nicht grad feierliches Gesicht machen, denn Winnetou sagte:
»Mein Bruder kennt diesen unsern Gebrauch noch nicht; er wird im Stillen über uns lachen.«
»Mir ist kein religiöser Gebrauch, und wenn ich ihn noch so wenig verstehen und begreifen kann, lächerlich,« antwortete ich.
»Das ist das richtige Wort: religiös. Was du hier sehen und hören wirst, ist keine heidnische Mummerei, sondern jede Bewegung und jeder Laut des Medizinmannes hat eine Bedeutung. Das, was du jetzt vernimmst, sind die gegen einander streitenden Stimmen des guten und des bösen Geschickes.«
In dieser Weise erklärte er mir auch den fernern Verlauf des Medizintanzes.
Auf das Pfauchen folgte ein immer wiederkehrendes Geheul, welches mit sanfteren Tönen abwechselte. Das Geheul ertönte in den Augenblicken, wenn der in die Zukunft forschende Medizinmann böse Anzeichen wahrnahm, und die zarteren Laute dann, wenn er Gutes voraussah. Als dies längere Zeit gedauert hatte, kam er plötzlich aus dem Wagen gesprungen und rannte wie ein Wütender und brüllend im Kreise herum. Nach und nach verlangsamten sich seine Schritte; das Brüllen hörte auf; die so gut ›gemimte‹ Angst, welche ihn herumgetrieben hatte, legte sich, und er begann einen langsamen, grotesken Tanz, welcher um so seltsamer war, als er sich das Gesicht mit einer schrecklich aussehenden Maske bedeckt und den Körper mit allerlei wunderlichen, teils auch ungeheuerlichen Gegenständen behangen hatte. Diesen Tanz begleitete er mit einem eintönigen Gesange. Beide, Gesang und Tanz, waren erst bewegter, wurden nach und nach immer ruhiger, bis sie aufhörten und der Medizinmann sich niedersetzte, um, den Kopf zwischen die Knie niederbeugend, eine ganze lange Weile laut- und bewegungslos zu verharren, bis er plötzlich aufsprang und das Resultat seiner Seherschaft in den laut gerufenen Worten verkündete:
»Hört, hört, ihr Söhne und Töchter der Apachen! Das ist es, was Manitou, der große, gute Geist, mich erforschen ließ. Intschu tschuna und Winnetou, die Häuptlinge der Apachen, und Old Shatterhand, der unser weißer Häuptling ist, reiten mit ihren roten und weißen Kriegern fort, um Nscho-tschi, die junge Tochter unseres Stammes, nach den Wohnplätzen der Bleichgesichter zu begleiten. Der gute Manitou ist bereit, sie zu beschützen. Sie werden einige Abenteuer erleben, ohne Schaden davon zu haben, und glücklich zu uns zurückkehren. Auch Nscho-tschi, welche längere Zeit bei den Bleichgesichtern bleibt, kommt glücklich wieder, und nur einer von ihnen ist es, den wir nicht wiedersehen werden.«
Er hielt inne und senkte den Kopf tief herab, um seiner Trauer über diese letztere Tatsache Ausdruck zu geben.
»Uff, uff, uff!« riefen die Roten neugierig und bedauernd aus; aber keiner wagte es, zu fragen, wen er meine.
Da der Medizinmann längere Zeit in seiner gebückten Haltung und seinem Schweigen verharrte, so ging meinem kleinen Sam Hawkens die Geduld aus, und er fragte:
»Wer ist es denn, der nicht zurückkehren wird? Der Mann der Medizin mag es doch sagen!«
Der Angerufene machte eine verweisende Armbewegung, wartete nun grad noch lange Zeit, erhob dann seinen Kopf, richtete die Augen auf mich und rief:
»Es wäre besser, wenn nicht nach ihm gefragt worden wäre. Ich wollte ihn nicht nennen; nun aber hat Sam Hawkens, das neugierige Bleichgesicht, mich gezwungen, es zu sagen. Old Shatterhand ist es, der nicht wiederkommen wird. Der Tod trifft ihn in kurzer Zeit. Die, denen ich eine glückliche Heimkehr verkündet habe, mögen sich vor seiner Nähe hüten, wenn sie nicht ihr Leben mit dem seinen lassen wollen! Sie befinden sich bei ihm in Gefahr, von ihm entfernt aber stets in Sicherheit. Das sagt der große Geist Howgh!«
Nach diesen Worten kehrte er in den Wagen zurück. Die Roten ließen, scheue Blicke auf mich richtend, Ausdrücke des Bedauerns hören. Ich galt ihnen von jetzt an als ein verfemter Mann, den man zu meiden hatte.
»Was ist diesem Kerl denn eingefallen?« meinte Sam zu mir. »Ihr sollt sterben? Fällt außer diesem Schafskopf keinem andern Menschen ein! Diese Idee ist natürlich seinem schwindsüchtigen Gehirn entsprungen. Wie mag er doch auf sie gekommen sein?«
»Fragt lieber, welche Absicht er dabei verfolgt! Er will mir nicht wohl. Kein indianischer Medizinmann wird der Freund eines Christen sein; dieser hier hat niemals ein Wort an mich gerichtet, und ich habe ihn natürlich mit gleicher Münze bezahlt; er war Luft für mich. Er fürchtet meinen Einfluß auf die Häuptlinge, welcher sich bald auf den ganzen Stamm erstrecken kann, und hat nunmehr die passende Gelegenheit ergriffen, dem zuvorzukommen.«
»Soll ich hingehen und ihm einige Ohrfeigen in das rote Gesicht pflanzen, Sir?«
»Macht keine Dummheit, Sam! Die Sache ist ja der Aufregung gar nicht wert.«
Intschu tschuna, Winnetou und Nscho-tschi hatten, als sie die Weissagung des Medizinmannes hörten, einander betroffen angeschaut. Ob sie an die Wahrheit der Prophezeiung glaubten oder nicht, das blieb sich gleich; aber sie kannten die Wirkung derselben auf ihre Untergebenen. Es sollten dreißig Mann mit uns reiten; wenn diese glaubten, daß meine Nähe Verderben bringe, so waren Unzuträglichkeiten aller Art gar nicht zu vermeiden. Dem konnte, da der Ausspruch des Medizinmannes nicht abzuändern war, nur dadurch vorgebeugt werden, daß die Anführer gegen mich dieselben blieben wie vorher und dies ihren Leuten sogleich zeigten. Darum ergriffen sie beide meine Hände und Intschu tschuna sagte so laut, daß alle es hörten:
»Meine roten Brüder und Schwestern mögen meine Worte vernehmen! Unser Medizinbruder besitzt den Blick, in die Geheimnisse der Zukunft zu dringen, und sehr oft ist das, was er vorherverkündet hat, eingetroffen; aber wir haben auch erfahren, daß er sich irren kann. Er hat in der Zeit großer Dürre den Regen herbeigezogen, der aber nicht gekommen ist. Vor dem letzten Zuge gegen die Komanchen verkündete er uns, daß wir große Beute machen würden, doch der Sieg, den wir errangen, hat uns nur einige alte Pferde und drei schlechte Gewehre eingebracht. Als er uns im vorletzten Herbste sagte, daß wir nach dem Wasser des Tugah gehen müßten, wenn wir viel Büffel erlegen wollten, haben wir nach seinen Worten getan, jedoch wir machten so wenig Fleisch, daß dann im Winter beinahe eine Hungersnot ausbrach. Ich könnte euch noch mehrere solche Beispiele anführen, welche beweisen, daß sein Auge zuweilen dunkel ist. Darum ist es sehr wohl möglich, daß er sich auch jetzt mit unserm Bruder Old Shatterhand irrt. Ich nehme seine Worte so, als ob sie nicht gesprochen worden seien, und fordere meine Brüder und Schwestern auf, dies auch zu tun. Wir wollen abwarten, ob sie zutreffen.«
Da trat mein kleiner Sam Hawkens vor und rief:
»Nein, wir warten nicht; wir brauchen nicht zu warten, denn es gibt ein Mittel, sofort zu erfahren, ob der Medizinmann die Wahrheit verkündet hat.«
»Welches Mittel meint mein weißer Bruder?« erkundigte sich der Häuptling.
»Ich will es euch sagen. Nicht nur die Roten, sondern auch die Weißen haben ihre Medizinmänner, welche es verstehen, die Zukunft zu erforschen, und ich, Sam Hawkens, bin der berühmteste unter ihnen.«
»Uff, uff!« riefen die Apachen erstaunt.
»Ja, da wundert ihr euch! Ihr habt mich bisher für einen gewöhnlichen Westmann gehalten, weil ihr mich noch nicht kennt; aber ich kann mehr als Kirschen essen, und ihr sollt mich kennen lernen, hihihihi! Einige von den roten Kriegern mögen ihre Tomahawks nehmen und ein enges, aber tiefes Loch in die Erde graben.«
»Will mein weißer Bruder in das Innere der Erde blicken?« fragte Intschu tschuna.
»Ja, denn die Zukunft liegt im Schoße der Erde verborgen, zuweilen auch in den Sternen; da ich jedoch jetzt am hellen Tage keine Sterne sehe, die ich befragen könnte, muß ich mich an die Erde wenden.«
Einige Indianer folgten seiner Aufforderung, indem sie mit ihren Kriegsbeilen ein Loch machten.
»Treibt keinen Humbug, Sam,« flüsterte ich ihm zu. »Wenn die Roten merken, daß Ihr Unsinn macht, so verschlimmert Ihr die Sache, anstatt daß Ihr sie verbessert!«
»Humbug? Unsinn? Was ist es denn, was der Medizinmann treibt? Doch auch Unsinn! Was der kann und darf, das kann und darf ich auch, wenn ich mich nicht irre, verehrter Sir. Ich weiß, was ich tue. Wenn nichts geschieht, so zeigen sich die Leute, welche wir mitnehmen, obstinat. Darauf könnt Ihr Euch verlassen.«
»Davon bin ich allerdings auch überzeugt; aber ich bitte Euch, ja nichts Lächerliches vorzunehmen!«
»O, es ist ernst, sehr ernst. Habt keine Sorge!«
Es war mir trotz dieser seiner Aufforderung nicht ganz wohl zu Mute. Ich kannte ihn nur zu gut. Er war ein Spaßvogel. Darum hätte ich ihn gern noch weiter gewarnt, aber er ließ mich stehen und ging zu den Indianern, um ihnen zu sagen, wie tief das Loch zu machen sei.
Als es fertig war, trieb er sie fort und zog seinen alten, ledernen Jagdrock aus. Nachdem er ihn wieder zugeknöpft hatte und auf die Erde setzte, stand das alte Kleidungsstück so steif, als wäre es aus Blech oder Holz gemacht. Er stellte den Rock, welcher einen hohlen Zylinder bildete, auf das Loch, gab sich ein wichtiges Aussehen und rief:
»Die Männer, Frauen und Kinder der Apachen werden sehen, was ich tue und erfahre, und darüber staunen. Die Erde wird mir, wenn ich meine Zauberworte gesprochen habe, ihren Schoß öffnen, so daß ich alles sehe, was in nächster Zeit mit uns geschehen wird.«
Hierauf entfernte er sich ein kleines Stück von dem Loche und ging dann langsam und mit feierlichen Schritten um dasselbe herum, wobei er zu meinem Entsetzen das kleine Einmaleins von der Eins bis mit der Neun hersagte. Glücklicherweise tat er dies so schnell, daß die Roten wohl gar nicht merkten, was er sprach. Als er mit der Neun zu Ende war, wurden seine Schritte immer schneller, bis er im Galopp um den Rock sprang, wobei er ein lautes Geheul hören ließ und seine Arme wie Windmühlenflügel bewegte. Als er sich außer Atem gelaufen und gebrüllt hatte, trat er zu seinem Rocke hin, machte mehrere tiefe Verbeugungen und steckte den Kopf oben hinein, um durch den Jagdrock hinab ins Loch zu sehen.
Mir war um den Erfolg dieser Kinderei bange. Ich blickte mich im Kreise um und bemerkte zu meiner Beruhigung, daß die Roten alle mit großem Ernste bei der Sache waren. Auch die Gesichter der beiden Häuptlinge verrieten keine Mißbilligung; ich war aber überzeugt, daß Intschu tschuna recht wohl wußte, daß Sams Treiben bloße Spiegelfechterei war.
Sein Kopf steckte wohl fünf Minuten lang in der Kragenöffnung seines Rockes. Während dieser Zeit bewegte er zuweilen seine Arme in einer Weise, welche andeuten sollte, daß er ganz Wichtiges und Wunderbares vor den Augen habe. Endlich zog er den Kopf heraus. Seine Miene war im höchsten Grade ernst. Er knöpfte den Rock wieder auf, zog ihn an und gebot:
»Meine roten Brüder mögen das Loch zumachen, denn so lange es offen steht, darf ich nichts sagen!«
Als diese Aufforderung befolgt worden war, holte er tief Atem, als ob er sich sehr angegriffen fühle, und rief dann:
»Euer roter Medizinbruder hat falsch gesehen, denn es wird grad das Gegenteil von dem geschehen, was er sagte. Ich habe alles erfahren, was uns die nächsten Wochen bringen; aber es ist mir verboten, es mitzuteilen. Nur einiges darf ich berichten. Ich habe Gewehre in dem Loche gesehen und Schüsse gehört; wir werden also Kämpfe zu bestehen haben. Der letzte Schuß kam aus dem Bärentöter Old Shatterhands. Wer den letzten Schuß hat, kann doch nicht gefallen und gestorben, sondern er muß Sieger sein. Meinen roten Brüdern droht Unheil. Sie können demselben nur dadurch entgehen, daß sie sich in der Nähe Old Shatterhands halten. Wenn sie aber das tun, was der Medizinmann von ihnen forderte, so gehen sie zugrunde. Ich habe gesprochen. Howgh!«
Die Wirkung dieser Weissagung war, wenigstens in diesem Augenblicke, diejenige, welche Sam beabsichtigt hatte. Die Roten glaubten ihm, das sah man ihnen an. Sie blickten erwartungsvoll nach dem Wagen. Sie glaubten wohl, daß der Medizinmann aus demselben kommen werde, um sich zu verteidigen. Er ließ sich aber nicht sehen, und so nahmen sie an, daß er sich besiegt fühle. Sam Hawkens kam auf mich zu, funkelte mich mit seinen kleinen Aeuglein listig an und fragte:
»Nun, Sir, wie habe ich meine Sache gemacht?«
»Wie ein echter, richtiger Schwindelmeier.«
»Well! Also gut? Nicht?«
»Ja. Wenigstens hat es den Anschein, als ob Ihr Euern Zweck erreicht hättet.«
»Habe ihn vollständig erreicht. Der Medizinmann ist geschlagen; er läßt sich nicht sehen und nicht hören.«
Winnetou ließ seine Augen mit einem stillen und doch vielsagenden Blicke auf uns ruhen. Sein Vater war weniger schweigsam; er trat zu uns und sagte zu Sam:
»Mein weißer Bruder ist ein kluger Mann; er hat den Worten unsers Medizinmannes die Kraft genommen, und er besitzt einen Rock, in welchem wichtige Weissagungen stecken. Dieser kostbare Rock wird berühmt werden von einem großen Wasser bis zum andern. Aber Sam Hawkens ist mit seiner Vorherverkündigung zu weit gegangen.«
»Zu weit? Wieso?« erkundigte sich der Kleine.
»Es hätte genügt, zu sagen, daß Old Shatterhand uns keinen Schaden bringe. Warum hat Sam Hawkens hinzugefügt, daß uns Schlimmes bevorstehe?«
»Weil ich es im Loche gesehen habe.«
Da machte Intschu tschuna eine abwehrende Handbewegung und erklärte:
»Der Häuptling der Apachen weiß, woran er ist; das mag Sam Hawkens glauben. Es war nicht nötig, von schlimmen Dingen zu sprechen und unsere Leute mit Besorgnis zu erfüllen.«
»Mit Besorgnis? Die Krieger der Apachen sind doch tapfere Männer, die sich nicht fürchten werden.«
»Sie fürchten sich nicht; das werden sie beweisen, falls unser Ritt, der ein friedlicher sein soll, uns mit Feinden zusammenführen sollte. Wir wollen ihn nun beginnen.«
Die Pferde wurden gebracht. Es war eine ziemliche Zahl von Packtieren dabei, von denen einige meine Instrumente zu tragen hatten; die übrigen waren mit Proviant und andern Notwendigkeiten beladen.
Es herrscht bei den Indianern der Brauch, daß die fortziehenden Krieger von den zurückbleibenden eine Strecke weit begleitet werden. Dies geschah heut nicht, weil Intschu tschuna es nicht gewollt hatte. Die dreißig Roten, welche mit uns ritten, nahmen nicht einmal von ihren Frauen und Kindern Abschied. Sie hatten dies wohl schon vorher getan, denn es öffentlich zu tun, erlaubte ihre Kriegerwürde nicht.
Einen Einzigen gab es, welcher mit Worten Abschied nahm, nämlich Sam Hawkens. Er sah Kliuna-ai unter den Frauen stehen, lenkte, als er bereits im Sattel saß, sein Maultier zu ihr hin und fragte:
»Hat ›Mond‹ gehört, was ich im Loche der Erde gesehen habe?«
»Du hast es gesagt, und ich hörte es,« antwortete sie.
»Ich hätte noch mehr, noch viel mehr sagen können, zum Beispiele auch von dir.«
»Von mir? Habe ich auch mit im Loche gesteckt?«
»Ja. Ich sah deine ganze Zukunft vor mir liegen. Soll ich sie dir mitteilen?«
»Ja, tue das!« bat sie schnell und eifrig. »Was wird mir die Zukunft bringen?«
»Sie wird dir nicht etwas bringen, sondern etwas rauben, etwas, was dir sehr wert und teuer ist.«
»Was ist das?« erkundigte sie sich ängstlich.
»Dein Haar. Du wirst es in einigen Monden verlieren und einen fürchterlichen Kahlkopf bekommen, grad so wie der Mond, der ja auch keine Haare hat. Dann werde ich dir meine Perücke schicken. Leb wohl, du trauriger Mondschein, du!«
Er trieb lachend sein Maultier von dannen, und sie wendete sich ab, sehr beschämt darüber, daß sie sich durch ihre Neugierde hatte auf das Eis führen lassen.
Die Ordnung, in welcher wir ritten, machte sich ganz von selbst. Intschu tschuna und Winnetou mit seiner Schwester und ich waren an der Spitze; dann folgten Hawkens, Parker und Stone, und hinter ihnen kamen die dreißig Apachen, welche miteinander abwechselten, die Packpferde zu leiten.
Nscho-tschi saß rittlings, also nach Männerart, auf ihrem Pferde. Sie war, wie ich schon wußte und es sich auch im Verlaufe unserer Reise zeigte, eine ausgezeichnete und auch ausdauernde Reiterin. Ebenso gut wußte sie ihre Waffen zu handhaben. Wer uns begegnet wäre, ohne sie zu kennen, hätte sie für einen jüngeren Bruder Winnetous halten müssen; einem schärferen Auge aber konnte die frauenhafte Weichheit ihrer Gesichtszüge und Körperformen nicht entgehen. Sie war schön, wirklich schön, selbst trotz ihres männlichen Anzuges und ihrer männlichen Art, zu reiten, schön!
Die ersten Tage unserer Reise verliefen ohne irgend ein Ereignis, welches erwähnt zu werden verdiente. Wie bekannt, hatten die Apachen fünf Tage gebraucht, um von dem Orte des Ueberfalles nach dem Pueblo am Rio Pecos zu kommen. Der Transport der Gefangenen und Verwundeten hatte diesen Ritt verlangsamt. Wir erreichten schon nach drei Tagen die Stelle, an welcher Klekih-petra von Rattler ermordet worden war. Dort wurde Halt und Nachtlager gemacht. Die Apachen trugen Steine zu einem einfachen Denkmale zusammen. Winnetou war an dieser Stätte noch ernster als gewöhnlich gestimmt. Ich erzählte ihm, seinem Vater und seiner Schwester, was Klekih-petra mir über sein früheres Leben mitgeteilt hatte.
Am nächsten Morgen ging es weiter, bis in die Gegend, wo unsere Meßarbeit so plötzlich durch den Ueberfall unterbrochen worden war. Die Pfähle steckten noch, und ich konnte sofort beginnen, tat dies aber nicht, weil es zunächst noch Notwendigeres zu tun gab.
Es war nämlich den Apachen damals nach dem Kampfe nicht eingefallen, die toten Weißen und Kiowas zu begraben, sondern sie hatten die Leichen liegen lassen, wie sie lagen. Was von ihnen unterlassen worden war, hatten die Geier und andere Raubtiere übernommen, doch freilich in anderer Weise. Die Knochen lagen umher, oft völlig abgenagt, oft auch mit faulenden Fleischresten behangen; es war eine schaurige Arbeit für mich, Sam, Dick und Will, diese Ueberreste zu sammeln und in ein gemeinschaftliches Grab zu legen. Die Apachen beteiligten sich natürlich nicht dabei.
Darüber verging der Tag, und ich fing erst am nächsten Morgen meine Arbeit an. Abgesehen von den Kriegern, welche mir die nötigen Handreichungen taten, half mir besonders Winnetou dabei, und seine Schwester kam kaum von meiner Seite.
Es war ein ganz anderes Schaffen als damals, wo ich es mit so unsympathischen Menschen zu tun gehabt hatte. Die Roten, welche ich nicht beschäftigte, streiften in der Gegend herum und brachten dann abends manche Jagdbeute mit.
Es läßt sich denken, daß ich die Arbeit sehr rasch förderte. Ich erreichte trotz der Schwierigkeit des Terrains den Anschluß an die nächste Sektion schon nach drei Tagen und bedurfte nur noch eines vierten Tages, um die Zeichnungen und Notizen zu vervollständigen. Dann war ich fertig, und das war gut, denn der Winter rückte schnell heran; die Nächte waren schon empfindlich kalt, so daß wir die Feuer bis zum Morgen nicht ausgehen ließen.
Wenn ich gesagt habe, daß die Apachen mir behilflich waren, so kann ich doch leider nicht behaupten, daß sie dies gern getan hätten. Sie gehorchten dabei den Befehlen ihrer Häuptlinge; ohne dieselben hätten sie mich wohl schwerlich unterstützt. Man sah es jedem, den ich beschäftigte, an, daß er sich freute, wenn seine Handreichungen nicht mehr gebraucht wurden. Und wenn wir dann am Abende beisammen saßen, so lagerten die dreißig Indsmen stets entfernter von uns, als nötig war und ihnen die Achtung vor ihren Häuptlingen gebot. Diese letzteren bemerkten dies sehr wohl, schwiegen aber darüber. Sam beobachtete es auch und meinte zu mir:
»Wollen gar nicht so recht ans Zeug, diese Roten. Es ist und bleibt doch immer wahr: der Rote ist ein tüchtiger Jäger und tapferer Krieger, sonst aber ein Faulpelz. Die Arbeit schmeckt ihm nicht.«
»Das, was sie für mich tun, strengt nicht im mindesten an und ist gar keine Arbeit zu nennen. Ihr Widerwille hat wohl einen andern Grund.«
»So? Welchen denn?«
»Sie scheinen an die Prophezeiung ihres Medizinmannes zu denken und derselben mehr zu glauben als der Eurigen, lieber Sam.«
»Mag sein, wäre aber dumm von ihnen.«
»Und sodann ist ihnen meine Arbeit doch jedenfalls ein Greuel. Die hiesige Gegend gehört ihnen, und ich vermesse sie für andere Leute, für ihre Feinde. Daran müßt Ihr auch denken, Sam.«
»Aber ihre Häuptlinge wollen es doch so!«
»Allerdings. Das setzt aber nicht voraus oder vielmehr hat nicht zur Folge, daß sie auch damit einverstanden sind. Sie sind im Stillen dagegen. Und wenn ich sie beobachte, wie sie beisammen sitzen und leise miteinander sprechen, so sehe ich es ihren Mienen an, daß sie von mir reden, und zwar nichts, worüber ich mich freuen würde, wenn ich es hörte.«
»Kommt mir auch so vor. Kann uns aber sehr gleichgültig sein. Was sie denken und reden, kann uns nichts schaden. Wir haben es mit Intschu tschuna, Winnetou und Nscho-tschi zu tun, und über diese Drei können wir doch wohl nicht klagen.«
Da hatte er recht. Winnetou und sein Vater waren mir in Allem behilflich und von einer wahrhaft brüderlichen Zuvorkommenheit, und die Indianerin sah mir gar jeden Wunsch an den Augen ab. Es war, als ob sie jeden meiner Gedanken erraten könne. Sie tat immer nur, was ich wollte, ohne daß ich es auszusprechen brauchte, und das erstreckte sich auf Dinge und Kleinigkeiten, die kein Mensch sonst zu beachten pflegt. Ich wurde ihr mit jedem Tage mehr zur Dankbarkeit verpflichtet. Sie war eine scharfe Beobachterin und aufmerksame Zuhörerin, und ich bemerkte zu meiner Freude und Genugtuung, daß ich, absichtlich oder unabsichtlich, ihr Lehrer war, von dem sie mit Begierde lernte. Wenn ich sprach, hing ihr Auge an meinen Lippen, und was ich tat, tat sie dann später genau ebenso, selbst wenn es den Gewohnheiten ihrer Rasse widersprach. Sie schien nur für mich da zu sein und war für meine Bequemlichkeit und mein Wohlbefinden viel besorgter als ich selbst, der ich gar nicht daran dachte, es besser haben zu wollen als die Andern.
Also am Ende des vierten Tages war ich fertig und verpackte die Meßinstrumente in die dazu mitgebrachten Decken. Wir machten uns reisefertig und brachen am Morgen des fünften Tages auf. Die beiden Häuptlinge hatten sich für ganz dieselbe Route entschlossen, auf welcher ich von Sam in diese Gegend gebracht worden war.
Als wir derselben zwei Tage lang gefolgt waren, hatten wir eine Begegnung. Wir befanden uns in einer flachen, grasigen und hier und da durch Buschwerk unterbrochenen Gegend, die uns einen guten Ausblick gewährte, was im Westen immer von Vorteil ist. Man kann nicht wissen, auf was für Menschen man trifft, und da ist es gut, wenn man jede Annäherung im Voraus bemerkt. Wir sahen vier Reiter uns entgegenkommen; sie waren Weiße. Sie erblickten uns natürlich ebenso wie wir sie und hielten an, ungewiß, ob sie ihren Weg fortsetzen oder uns ausweichen sollten. Dreißig Roten zu begegnen, das ist nicht angenehm für Weiße, die nur zu Vieren sind, zumal wenn sie nicht wissen, welchem Stamme die Indianer angehören. Aber sie sahen, daß Weiße bei den Indsmen waren, und das schien ihr Bedenken zu heben, denn sie ließen ihre Pferde in derselben Richtung weitergehen.
Sie waren wie Cowboys gekleidet und mit Gewehren, Messern und Revolvern bewaffnet. Als sie uns auf zwanzig Schritte nahe gekommen waren, hielten sie ihre Pferde an, nahmen, der Uebung gemäß, ihre Gewehre schußfertig in die Hand, und der Eine von ihnen rief uns an:
»Good day, Mesch'schurs! Ist es nötig, den Finger am Drücker zu haben, oder nicht?«
»Good day, Gents,« antwortete Sam. »Tut eure Schießhölzer getrost weg! Wir haben nicht die Absicht, euch aufzufressen. Darf man erfahren, woher ihr kommt?«
»Vom alten Mississippi herüber.«
»Und wohin wollt ihr?«
»Hinauf ins New-Mexiko und von dort aus nach Kalifornien hinüber. Haben gehört, daß dort Rinderhirten gebraucht und besser bezahlt werden als da, woher wir kommen.«
»Könnt recht haben, Sir; müßt aber noch einen weiten Weg machen, bis ihr eine solche feine Anstellung erhaltet. Wir kommen von da oben herunter und wollen nach St. Louis. Ist der Weg jetzt rein?«
»Ja. Wenigstens haben wir nichts vom Gegenteile gehört. Brauchtet euch aber auch in einem solchen Falle nicht zu fürchten; seid ja zahlreich genug. Oder reiten die roten Gentlemen nicht weit mit?«
»Nur die beiden Krieger hier mit ihrer Tochter und Schwester, Intschu tschuna und Winnetou, die Häuptlinge der Apachen.«
»Was Ihr sagt, Sir! Eine rote Lady, welche nach St. Louis will? Darf man vielleicht eure Namen erfahren?«
»Warum nicht! Sind ehrliche Namen; brauchen sie nicht zu verheimlichen. Ich werde Sam Hawkens genannt, wenn ich mich nicht irre. Da sind meine Kameraden Dick Stone und Will Parker, und hier neben mir seht ihr Old Shatterhand, einen Boy, der den grauen Bär mit dem Messer ersticht und den stärksten Menschen mit der Faust zu Boden schlägt. Nun habt ihr wohl die Gewogenheit, mir eure Namen auch zu nennen?«
»Gern. Von Sam Hawkens haben wir gehört, von den andern Gentlemen noch nicht. Ich heiße Santer und bin kein so berühmter Westläufer wie Ihr, sondern ein einfacher, armer Cowboy.«
Er nannte auch die Namen seiner drei Gefährten, welche ich mir nicht gemerkt habe, tat noch einige Fragen, welche sich auf den Weg bezogen, und dann ritten sie weiter. Als sie fort waren, fragte Winnetou Sam:
»Warum hat mein Bruder diesen Leuten so genaue Auskunft gegeben?«
»Sollte ich sie ihnen verweigern?«
»Ja.«
»Wüßte nicht, warum. Wir wurden höflich gefragt, und so mußte ich höflich antworten; so wenigstens tut Sam Hawkens stets.«
»Der Höflichkeit der Bleichgesichter traue ich nicht. Sie waren höflich, weil wir achtmal mehr zählten als sie. Es ist mir nicht lieb, daß du ihnen gesagt hast, wer wir sind.«
»Warum? Meinst du, daß dies uns Schaden machen kann?«
»Ja.«
»In welcher Weise?«
»In mancherlei Weise. Diese Bleichgesichter haben mir nicht gefallen. Die Augen dessen, der mit dir sprach, waren keine guten Augen.«
»Habe das nicht bemerkt. Aber selbst wenn es so wäre, uns tut es nichts. Sie sind fort; sie reiten dahin und wir dorthin; es wird ihnen nicht einfallen, umzukehren und uns zu belästigen.«
»Dennoch will ich wissen, was sie tun. Meine Brüder mögen langsam weiterreiten; ich aber werde mit Old Shatterhand umkehren und diesen Bleichgesichtern eine Strecke folgen.
Ich muß wissen, ob sie wirklich weiterreiten oder sich nur den Schein gegeben haben, dies zu tun.«
Während die Andern hierauf ihren Weg fortsetzten, ritt er mit mir auf unserer Spur, welcher die vier Fremden gefolgt waren, zurück. Ich muß sagen, daß dieser Santer mir auch nicht gefallen hatte, und seine drei Gefährten hatten ebenso wenig vertrauenswürdig ausgesehen. Nur vermochte ich mir nicht zu sagen, was sie uns anhaben konnten oder wollten. Selbst wenn sie zu den Leuten gehörten, welche das Eigentum anderer Menschen mit dem ihrigen zu verwechseln pflegen, fragte ich mich vergeblich, was sie verlocken könnte, anzunehmen, daß bei uns ein Fang zu machen sei. Und selbst wenn sie dies glaubten, war es mir höchst unwahrscheinlich, daß sie es wagen würden, sie, die Vier, gegen siebenunddreißig wohl bewaffnete Personen vorzugehen. Aber als ich eine hierauf bezügliche Frage an Winnetou richtete, erklärte er mir:
»Wenn sie Diebe sind, so kehren sie sich nicht an unsere Ueberzahl, da sie nicht beabsichtigen, uns offen anzugreifen; sie folgen uns vielmehr heimlich, um den Augenblick zu erlauschen, an welchem sich der, auf den sie es abgesehen haben, von der Gesellschaft absondert.«
»Auf wen könnten sie es abgesehen haben? Sie kennen uns ja gar nicht.«
»Auf den, bei dem sie Gold vermuten.«
»Gold? Wie können sie wissen, ob welches vorhanden ist, und welche von so vielen Personen es bei sich hat? Sie müßten allwissend sein.«
»O nein. Sie brauchen nur nachzudenken, um es sich fast mit Sicherheit sagen zu können. Sam Hawkens ist so unvorsichtig gewesen, ihnen zu verraten, daß wir Häuptlinge sind und nach St. Louis wollen. Mehr brauchen sie nicht zu wissen.«
»Ah, jetzt ahne ich, was mein roter Bruder meint. Wenn Indianer nach dem Osten gehen, brauchen sie Geld; da sie nun keine geprägten Münzen haben, so nehmen sie Gold mit sich, dessen Fundorte sie kennen. Und wenn sie gar Häuptlinge sind, so kennen sie solche Orte ganz gewiß und nehmen sehr wahrscheinlich viel Gold mit.«
»Mein Bruder Old Shatterhand hat es erraten. Wir beiden Häuptlinge sind es, auf welche diese Weißen ihr Augenmerk richten würden, falls sie einen Diebstahl oder Raub beabsichtigten. Sie würden freilich jetzt nichts bei uns finden.«
»Nicht? Ihr wolltet Euch doch mit Gold versehen!«
»Wir werden dies erst morgen tun. Warum es bei uns tragen, wenn wir es nicht brauchen? Wir haben bisher nichts zu bezahlen gehabt; dies wird erst geschehen, wenn wir in den Forts einkehren, die auf unserm Wege liegen. Darum werden wir uns nun erst Gold holen, wahrscheinlich morgen schon.«
»So liegt ein Fundort in der Nähe unserer Route?«
»Ja. Es ist ein Berg, welcher Nugget-tsil genannt wird, doch nur von uns; bei andern Leuten, welche nicht wissen, daß es dort Gold gibt, hat er einen andern Namen. Wir kommen heut abend in seine Nähe und werden uns holen, was wir brauchen.«
Ich gestehe, daß mich eine Bewunderung überkam, welche mit ein wenig Neid gemischt war. Diese Menschen wußten das kostbare Metall in Menge liegen und führten, anstatt es zu benutzen, ein Leben, welches fast gar keinen Anspruch zivilisierter Menschen kannte! Sie führten keine Börsen und Portemonnaies bei sich, aber sie hatten überall, wohin sie kamen, verborgene Schatzkammern liegen, in welche sie nur zu greifen brauchten, um sich die Taschen mit Gold zu füllen. Wer dies, wenigstens das Letztere und nicht ihr anspruchsloses Leben, nur auch so haben könnte!
Wir mußten vorsichtig sein, denn Santer sollte nicht merken, daß wir ihm folgten; daher benutzten wir jede Erderhöhung und jeden Strauch, um uns zu decken. Nach einer guten Viertelstunde sahen wir die Vier. Sie trabten munter und unaufhaltsam ihres Weges; sie schienen es eilig zu haben, vorwärts zu kommen, und an ein Umkehren gar nicht gedacht zu haben oder noch zu denken. Wir hielten an. Winnetou beobachtete sie, bis sie unsern Augen entschwanden, und sagte dann:
»Sie haben keine bösen Absichten, und wir können also ruhig sein.«
Er ahnte ebenso wenig wie ich, wie sehr er sich da irrte. Diese Kerls hatten gar wohl Absichten; aber sie waren außerordentlich schlaue Menschen, wie ich später durch sie selbst erfuhr.
Sie nahmen an, daß wir sie eine Weile beobachten würden, und gaben sich darum den Anschein, als ob sie Eile hätten. Später aber kehrten sie um und folgten uns.
Wir wendeten unsere Pferde und holten unsere Gefährten, da wir galoppierten, schnell wieder ein. Am Abend machten wir an einem Wasser Halt. Gewöhnt, stets vorsichtig zu sein, suchten die Häuptlinge die Umgegend erst sehr sorgfältig ab, ehe sie die Weisung erteilten, uns zu lagern. Das Wasser war ein Spring, der hell und stark aus der Erde hervorsprudelte. Gras für die Pferde gab es genug, und da der Platz rings von Bäumen und Gebüsch umschlossen war, so konnten wir helle Feuer brennen, ohne daß dieselben weit gesehen wurden. Zudem stellte Intschu tschuna zwei Wachen aus, und so schien alles geschehen zu sein, was durch die Sorge für unsere Sicherheit geboten war.
Die dreißig Apachen lagerten sich, wie gewöhnlich, in gar nicht nötiger Entfernung von uns nieder, um, als die Feuer brannten, ihre Portion Dürrfleisch zu essen. Wir Sieben saßen am Rande des Buschwerkes um unser Feuer. Diese Nähe des Gesträuches war aufgesucht worden, weil wir da vor dem kühlen Winde geschützt waren, welcher heut abend wehte.
Nach dem Abendessen pflegten wir uns einige Zeit zu unterhalten; so auch heut. Im Laufe dieses Gespräches sagte Intschu tschuna, daß wir morgen später als gewöhnlich, nämlich erst zu Mittag, aufbrechen würden, und von Sam Hawkens nach dem Grunde dieser Verzögerung gefragt, erklärte er mit einer Aufrichtigkeit, welche ich später tief beklagte:
»Es sollte eigentlich ein Geheimnis sein; aber meinen weißen Brüdern darf ich es anvertrauen, wenn sie mir versprechen, demselben nicht nachzuspüren.«
Als wir dieses Versprechen gegeben hatten, fuhr er fort:
»Wir brauchen Geld; darum werde ich morgen früh mit meinen Kindern von hier fortgehen, um Nuggets zu holen, und erst am Mittag wiederkommen.«
Stone und Parker ließen Rufe der Verwunderung hören, und Hawkens erkundigte sich, nicht weniger erstaunt:
»So gibt es Gold hier in der Nähe?«
»Ja,« antwortete Intschu tschuna. »Niemand ahnt etwas davon; auch meine Krieger wissen es nicht. Ich habe es von meinem Vater erfahren, der es von dem seinigen erfuhr. Solche Geheimnisse vererben sich nur von den Vätern auf die Söhne und werden sehr heilig gehalten. Man teilt sie selbst dem besten Freund nicht mit. Ich habe jetzt zwar davon gesprochen, würde aber den Ort keinem Menschen sagen oder gar zeigen und einen jeden niederschießen, der es wagte, uns zu folgen, um ihn zu erfahren.«
»Auch uns würdest du töten?«
»Auch euch! Ich habe euch Vertrauen erwiesen; wenn ihr es täuschtet, hättet ihr den Tod verdient. Ich weiß aber, daß ihr diesen Lagerplatz nicht eher verlassen werdet, als bis wir von unserem Gange zurückgekehrt sind.«
Damit brach er kurz und in warnendem Tone ab, und das Gespräch nahm eine andere Wendung. Dasselbe wurde nach einiger Zeit durch Sam unterbrochen. Intschu tschuna, Winnetou, Nscho-tschi und ich saßen mit dem Rücken nach dem Gebüsch gekehrt; Sam, Dick und Will hatten die Plätze an der andern Seite des Feuers inne und also das Gesträuch vor ihren Augen. Mitten in der Unterhaltung stieß Hawkens einen Ruf aus, griff nach seinem Gewehre, legte es an und schickte eine Kugel in die Büsche. Dieser Schuß versetzte natürlich das ganze Lager in Alarm. Die Indianer sprangen auf und kamen herbei. Auch wir erhoben uns schnell und fragten Sam, warum er geschossen habe.
»Ich habe zwei Augen gesehen, welche hinter Intschu tschuna aus dem Gesträuch hervorblickten,« erklärte er.
Sofort rissen die Roten Brände aus den Feuern und drangen in das Gebüsch ein. Ihr Suchen war vergeblich. Man beruhigte sich und setzte sich wieder nieder.
»Sam Hawkens wird sich geirrt haben,« sagte Intschu tschuna. »Bei einem flackernden Feuer sind solche Täuschungen sehr leicht möglich.«
»Sollte mich wundern; glaube, die zwei Augen ganz gewiß gesehen zu haben.«
»Der Wind wird zwei Blätter umgedreht haben; mein weißer Bruder hat da ihre untere Seite gesehen, welche heller ist, und sie für Augen gehalten.«
»Das wäre allerdings möglich; habe also Blätter totgeschossen hihihihi!«
Er lachte in seiner Weise in sich hinein. Winnetou betrachtete die Sache nicht von dieser spaßhaften Seite, sondern sagte in ernstem Tone:
»Mein Bruder Sam hat auf jeden Fall einen Fehler begangen, vor welchem er sich später stets hüten mag!«
»Einen Fehler? Ich? Wieso?«
»Es durfte nicht geschossen werden.«
»Nicht? Das wäre! Wenn ein Spion im Busche steckt, so habe ich das Recht, ihm eine Kugel zu geben, wenn ich mich nicht irre.«
»Weiß man, ob der Späher feindliche Absichten hat? Er entdeckt uns und schleicht sich heran, um zu erfahren, wer wir sind. Vielleicht tritt er dann hervor, um uns zu grüßen.«
»Hm, das ist freilich wahr,« gestand der Kleine ein.
»Der Schuß war für uns gefährlich,« fuhr Winnetou fort. »Entweder hat Sam sich geirrt und keine Augen gesehen; da war der Knall überflüssig und kann nur Feinde herbeilocken, die sich vielleicht in der Nähe befinden. Oder es ist wirklich ein Mensch dagewesen, dessen Augen Sam bemerkt hat; auch da war es falsch, auf ihn zu schießen, weil vorauszusehen war, daß die Kugel nicht treffen würde.«
»Oho! Sam Hawkens ist seiner Kugel sicher! Möchte den sehen, der mir einen Fehlschuß nachweist!«
»Ich kann auch schießen, würde aber wahrscheinlich doch nicht treffen. Der Späher sieht doch, daß ich auf ihn ziele; er erkennt daraus, daß er bemerkt worden ist, und wird eine schnelle Bewegung machen, um von der Mündung meines Gewehrs wegzukommen. Die Kugel geht dann fehl, und der Mann verschwindet in der Nacht.«
»Ja, ja; aber was hätte mein roter Bruder denn an meiner Stelle getan?«
»Entweder den Knieschuß angewendet oder mich still von hier entfernt, um dem Späher auf einem Umwege in den Rücken zu kommen.«
Der Knieschuß ist der schwierigste Schuß, den es gibt. Viele, viele Westmänner, die sonst gute Schützen sind, bringen ihn nicht fertig. Ich hatte nichts davon gewußt, mich aber dann, von Winnetou auf ihn aufmerksam gemacht, in der letzten Zeit darin geübt.
Ich setze den Fall, daß ich mich, allein oder mit Anderen, das ist gleich, am Lagerfeuer befinde; mein Gewehr liegt mir, wie es Regel ist, griffbereit zur rechten Hand. Da bemerke ich zwei Augen, welche aus einem Verstecke mich beobachten. Das Gesicht des Spähers kann ich nicht sehen, denn es befindet sich im Dunkeln; aber die Augen sind zu sehen, wenn er nicht so vorsichtig ist, durch die gesenkten Wimpern zu blicken. Sie haben einen matten, phosphoreszierenden Glanz, welcher um so bemerkbarer wird, je mehr der Mann das Auge anstrengt. Man glaube aber ja nicht, daß es leicht ist, des Nachts unter Millionen von Blättern im Gebüsch zwei geöffnete Augen zu gewahren. Das lernt man nicht, sondern diese Schärfe, diese Sicherheit des Blickes muß angeboren sein.
Bin ich überzeugt, einen feindlichen Späher vor mir zu haben, so muß ich, um mich zu retten, ihn unschädlich machen, ihn töten, und zwar durch eine Kugel, welche ihn zwischen die Augen trifft, denn auf diese muß ich zielen, weil sie das Einzige sind, was ich von ihm sehe. Wenn ich aber das Gewehr wie gewöhnlich anlege, es also an die Wange nehme, so sieht er, daß ich auf ihn ziele, und verschwindet augenblicklich. Ich muß mein Ziel also in einer Weise nehmen, daß er es nicht bemerkt. Dies geschieht beim Knieschusse. Ich krümme nämlich das rechte Bein derart, daß sich das Knie erhebt und mein Oberschenkel eine Linie bildet, deren Verlängerung die beiden Augen, welche ich sehe, treffen würde. Dann greife ich, scheinbar gedankenlos, wie spielend, nichts beabsichtigend, zum Gewehre, nehme den Lauf an meinen Oberschenkel, so daß er genau in die Verlängerung desselben zu liegen kommt, und drücke ab. Das ist schwer, sehr schwer, zumal man nur die rechte Hand dazu nehmen darf, da beim Gebrauche beider Hände der Vorgang keineswegs die so notwendige scheinbare Harmlosigkeit besitzen würde. Mit dieser einen Hand das Gewehr richten, es fest an den Schenkel halten und dann abdrücken, das bringen hunderte nicht fertig. Dabei ist noch gar nicht mitgerechnet, wie schwer es ist, in dieser Lage und ohne das Auge an das Visier bringen zu können, ein sicheres Ziel zu nehmen. Und dieses Ziel besteht noch dazu nur aus zwei kaum und ungewiß sichtbaren Punkten mitten in einer vom Flackenfeuer überzitterten, und vielleicht auch vom Winde bewegten Laub- und Blättermasse! Dies meinte Winnetou, als er vom Knieschusse sprach; er war Meister in demselben. Mir war dieser Schuß meist deshalb nicht leicht geworden, weil mein Bärentöter so schwer wog und mit einer Hand in dieser Weise kaum regiert werden konnte. Die fortgesetzte Uebung brachte mich dann aber doch zu dem gewünschten Erfolge.
Während die andern alle sich durch das resultatlose Durchsuchen der Umgebung befriedigt oder beruhigt fühlten, war dies mit Winnetou nicht der Fall. Er stand nach einiger Zeit wieder auf und entfernte sich, um die Forschung selbst noch einmal vorzunehmen und fortzusetzen. Es verging über eine Stunde, bis er wiederkam.
»Es ist kein Mensch da,« sagte er; »Sam Hawkens wird sich also wohl geirrt haben.«
Trotzdem stellte er statt der bisherigen zwei nun vier Wachen aus und wies sie an, möglichst aufmerksam zu sein und den Umkreis des Lagers öfters abzupatrouillieren. Dann legten wir uns schlafen.
Mein Schlaf war kein ruhiger; ich wachte öfters auf und hatte in den Zwischenzeiten kurze, aber unangenehme Träume, in denen Santer mit seinen drei Gefährten die Hauptrolle spielte. Das war gewiß die einfache, leicht erklärliche Folge unserer Begegnung mit ihm, gab aber, als wir mit dem Morgen aufstanden, seiner Person eine Bedeutung, die ich mir vergeblich auszureden suchte. Man macht ja die Erfahrung, daß die Person, von welcher ein Mensch träumt, dann eine größere Wichtigkeit für ihn besitzt als vorher.
Nach dem Frühstücke, welches aus Fleisch und einer Einrührung von Mehl in Wasser bestand, machte sich Intschu tschuna mit seinem Sohne und seiner Tochter auf den Weg. Ehe sie gingen, bat ich um die Erlaubnis, sie wenigstens eine Strecke weit begleiten zu können. Damit sie überzeugt sein sollten, daß ich dies nicht in der Absicht tue, den Weg nach dem Goldorte zu finden, sagte ich ihnen, daß ich den Gedanken an Santer nicht los werden könne. Ich wunderte mich über mich selber, denn ich hegte, ohne irgend einen stichhaltigen Grund zu haben, heute früh die Ueberzeugung, daß er mit seinen Leuten doch zurückgekehrt sei. Das war wohl die Folge meiner Träume.
»Mein Bruder braucht sich nicht um uns zu sorgen,« antwortete Winnetou. »Um ihn zu beruhigen, werde ich noch einmal nach Spuren suchen. Wir wissen, daß er nicht nach Gold strebt; aber wenn er auch nur eine kurze Strecke mit uns ginge, würde er den Ort ahnen und ganz sicher dann das Fieber bekommen, welches nach dem tödlichen Staube strebt und das Bleichgesicht nicht eher verläßt, bis es an Leib und Seele zu Grunde gegangen ist. Wir bitten dich also nicht aus Mißtrauen, sondern aus Liebe und Vorsicht, nicht mit uns zu gehen.«
Damit mußte ich mich bescheiden. Er forschte noch einmal nach, ohne aber eine Spur zu entdecken, und dann gingen sie fort. Daraus, daß sie nicht ritten, zog ich den Schluß, daß der Ort, den sie aufsuchen wollten, nicht sehr weit entfernt sein könne.
Ich legte mich ins Gras, brannte mein Calumet an und unterhielt mich mit Sam, Dick und Will, alles nur, um meine grundlosen Befürchtungen loszuwerden. Aber ich hatte keine Ruhe; ich stand bald wieder auf; es war etwas in mir, was mich forttrieb. Darum warf ich das Gewehr über und entfernte mich. Vielleicht entdeckte ich ein Wild, welches meine Gedanken ablenkte.
Intschu tschuna hatte das Lager südwärts verlassen; darum ging ich nordwärts, damit es ja nicht heißen solle, daß ich auf verbotenen Wegen gehen wolle.
Als ungefähr eine Viertelstunde vergangen war, traf ich zu meinem Erstaunen auf eine Fährte, welche von drei Personen hinterlassen worden war. Sie hatten Mokassins getragen. Ich unterschied zwei große, zwei mittlere und zwei kleinere Füße. Die Spuren waren neu. Das mußten Intschu tschuna, Winnetou und Nscho-tschi gewesen sein. Sie hatten sich südwärts entfernt, dann aber ihren Weg nach Norden genommen, natürlich um uns zu täuschen. Wir sollten den Fundort des Goldes im Süden vermuten.
Durfte ich weitergehen? Nein. Es war möglich, daß sie mich sahen; höchst wahrscheinlich stießen sie bei ihrer Rückkehr auf meine Spur, und da sollte bei ihnen nicht der Gedanke aufkommen, daß ich ihnen heimlich nachgelaufen sei. Aber in das Lager wollte ich auch noch nicht, und so spazierte ich in östlicher Richtung weiter.
Schon nach kurzer Zeit mußte ich wieder anhalten, denn ich traf auf eine zweite Fährte. Die Untersuchung derselben ergab, daß sie von vier Männern stammte, welche Stiefel mit Sporen getragen hatten. Ich dachte sofort an Santer. Die Spur führte nach der Richtung, in welcher ich die beiden Häuptlinge wußte, und schien aus einem nicht weit entfernten Gebüsch zu kommen, aus welchem einige noch belaubte Scharlacheichen hoch emporragten. Dorthin mußte ich zunächst.
Es war richtig: die Fährte kam aus diesem Gebüsch, und als ich in dasselbe eindrang, fand ich die vier Pferde angebunden, welche Santer und seine Leute geritten hatten. Dem Boden war deutlich anzusehen, daß die vier Kerls hier während der Nacht geherbergt hatten. Sie waren also doch umgekehrt! Warum? Jedenfalls unsertwegen. Sie trugen sich gewiß mit den Gedanken herum, welche Winnetou mir gestern erklärt hatte. Sam Hawkens hatte gestern abend sich nicht geirrt, sondern wirklich zwei Augen gesehen, den Späher aber durch sein falsches Verhalten vertrieben, noch ehe der Schuß abgefeuert wurde. Wir waren also belauscht worden. Santer beobachtete uns, um einen Augenblick zu erwarten, an welchem er den, auf den er es abgesehen hatte, allein abfangen könne. Aber diese Stelle war so weit von unserem Lager entfernt. Wie konnte er uns da beobachten?
Ich betrachtete die Bäume. Sie waren zwar sehr hoch, doch nicht zu stark und leicht zu erklettern. Die Rinde des einen zeigte Risse, welche nur von Sporen eingeritzt sein konnten. Man war also hinaufgeklettert, und von dieser Höhe aus konnte man unbedingt, wenn nicht das Lager selbst, aber doch jeden, der dasselbe verließ, recht gut sehen. Himmel! Welcher Gedanke kam mir jetzt! Wovon hatten wir gestern abend gesprochen, ehe Sam die Augen entdeckte? Davon, daß Intschu tschuna heut fortgehen wollte, um mit seinen Kindern Gold zu holen! Das hatte der Lauscher gehört. Heut früh war die Eiche von ihm bestiegen worden, und da hatte er die drei Erwarteten vorüberkommen sehen. Kurz darauf war er ihnen mit seinen drei Spießgesellen gefolgt. Winnetou in Gefahr! Nscho-tschi und ihr Vater auch! Ich mußte fort, augenblicklich fort und möglichst schnell hinter den Buschkleppern her. Ich durfte mir gar nicht Zeit nehmen, vorher nach unserem Lager zurückzukehren, um dasselbe zu alarmieren. Rasch band ich eins der vier Pferde los, zog es aus dem Gebüsch ins Freie, schwang mich auf und galoppierte auf ihrer eigenen Fährte, welche sich bald mit den Spuren der Häuptlinge vereinigte, den Halunken nach.
Dabei suchte ich nach Anhaltepunkten, zu erraten, wo, falls ich diese Fährte verlieren sollte, der Fundort des Goldes gesucht werden müsse. Winnetou hatte von einem Berge, den er Nugget-tsil nannte, gesprochen. Nuggets sind Goldkörner, welche man in verschiedener Größe findet; tsil ist ein Apachenwort und bedeutet Berg. Nugget-tsil heißt also Nuggetberg. Der Ort lag sonach jedenfalls hoch. Ich musterte die Gegend, durch welche ich jagte. Nördlich von mir, grad in meiner Richtung, lagen einige beträchtliche Höhen, welche mit Wald bewachsen waren. Eine von ihnen mußte der Nuggetberg sein; das war für mich in diesem Augenblicke zweifellos.
Der alte Gaul, auf welchem ich saß, war mir nicht schnell genug. Ich riß im Vorüberjagen eine Rute von einem Busch und trieb ihn mit derselben an. Er tat, was seine Kräfte vermochten, und die Ebene verschwand hinter mir; die Berge öffneten sich. Die Spur führte zwischen zwei derselben hinein, doch konnte ich sie nach einiger Zeit nicht mehr erkennen, denn die Bergwasser hatten hier viel grobes Steingeröll von den Höhen geschwemmt. Ich stieg aber trotzdem nicht ab, denn es verstand sich ganz von selbst, daß die Gesuchten hier weiter, das Tal hinauf, gegangen waren.
Später aber öffnete sich rechts eine Seitenschlucht, deren Grund ebenso steinig war. Jetzt galt es, zu erfahren, ob sie da rechts abgewichen oder geradeaus gegangen waren. Ich sprang aus dem Sattel und untersuchte das Geröll; es wurde mir nicht leicht, die Spur zu entdecken; ich fand sie aber doch; sie führte in die Schlucht hinein. Ich stieg wieder auf und folgte ihr. Bald aber teilte sich der Weg, und ich mußte abermals absteigen. Voraussichtlich geschah dies später wieder, und da konnte mir das Pferd nur hinderlich sein. Ich band es also an einen Baum und eilte zu Fuße weiter, nachdem ich gesehen hatte, wohin die Fährte wies.
Ich hastete in einem engen, felsigen Gerinne weiter, in welchem sich jetzt kein Wasser befand. Die Angst trieb mich zu einer Eile an, welche mir nach und nach den Atem raubte. Auf einer scharfkantigen Höhe angekommen, mußte ich stehen bleiben, um die Lunge ruhiger werden zu lassen; dann ging es weiter, drüben ein Stück hinab, bis die Spur plötzlich links in den Wald einbog. Ich rannte mehr, als ich lief, unter den Bäumen hin. Sie standen erst dicht beisammen, dann weiter auseinander, bis es so licht vor mir wurde, daß ich annahm, einen freien Platz vor mir zu haben. Noch hatte ich denselben nicht erreicht, da hörte ich mehrere Schüsse fallen. Einige Augenblicke darauf erscholl ein Schrei, der mir wie ein Degen durch den Körper drang; es war der Todesschrei der Apachen.
Nun rannte ich nicht nur, sondern ich schnellte mich förmlich weiter, in langen Sätzen wie ein Raubtier, welches sich auf seine Beute werfen will. Wieder ein Schuß und noch einer das war das Doppelgewehr Winnetous; ich kannte seinen Knall. Gott sei Dank! Er lebte also noch; denn wer tot ist, kann nicht schießen. Ich hatte nur noch einige Sprünge zu tun, dann hatte ich die Lichtung erreicht und blieb unter dem letzten Baume stehen, denn was ich sah, fesselte meinen Fuß förmlich an den Boden.
Die Lichtung war nicht groß. Fast mitten auf ihr lagen Intschu tschuna und seine Tochter. Ob sie noch lebten, sich noch bewegten, konnte ich zunächst nicht bestimmen. Unweit davon befand sich ein kleiner Felsblock, hinter welchem Winnetou steckte; er war soeben beschäftigt, sein abgeschossenes Gewehr wieder zu laden. Links von mir standen zwei Kerls, von Bäumen beschützt, mit angelegten Gewehren bereit, sofort zu schießen, sobald sich Winnetou eine Blöße geben werde. Rechts von mir schlich ein dritter vorsichtig unter den Bäumen hin, um Winnetou zu umgehen und ihm in den Rücken zu kommen. Der Vierte lag grad vor mir, tot, durch den Kopf geschossen.
Die zwei waren für den Augenblick dem jungen Häuptlinge gefährlicher als der Dritte. Ich nahm den Bärentöter auf und schoß sie Beide nieder; dann sprang ich, ohne mir vorher Zeit zum Laden zu nehmen, hinter dem Dritten her. Er hatte meine Schüsse gehört und sich rasch umgedreht. Er sah mich kommen, zielte auf mich und drückte ab. Ich sprang zur Seite; er traf mich nicht; da gab er sein Spiel verloren und floh in den Wald hinein. Ich eilte ihm nach, denn es war Santer; ich wollte ihn fangen. Aber die Entfernung zwischen ihm und mir war so groß gewesen, daß ich ihn zwar am Rande der Lichtung hatte sehen können, im Walde jedoch nicht mehr sah. Ich mußte mich also nach seinen Fußeindrücken richten, da konnte ich leider nicht so schnell hinter ihm her, wie ich wollte. Es war nicht möglich, ihn einzuholen; darum kehrte ich schon nach kurzer Zeit wieder um, zumal ich mir sagte, daß Winnetou mich vielleicht brauchen werde.
Er kniete, als ich die Waldblöße wieder erreichte, bei seinem Vater und seiner Schwester, ängstlich suchend, ob noch Leben in ihnen sei. Als er mich kommen sah, stand er für einen Augenblick auf. Seine Augen hatten einen Ausdruck, den ich niemals vergessen werde. Es sprach ein fast wahnsinniger Grimm und Schmerz aus ihnen.
»Mein Bruder Old Shatterhand sieht, was geschehen ist. Nscho-tschi, die schönste und beste der Apachentöchter, wird nicht nach den Städten der Bleichgesichter gehen; es ist noch ein wenig Leben in ihr, aber sie wird wohl ihre Augen nicht wieder öffnen.«
Ich war keines Wortes fähig; ich konnte nichts sagen und nichts fragen. Wonach hätte ich auch fragen sollen? Ich sah ja, wie es stand! Sie lagen in einer tiefen Blutlache nebeneinander, Intschu tschuna mitten durch den Kopf und ›Schöner Tag‹ durch die Brust geschossen. Er war sofort tot gewesen; sie atmete noch, schwer und röchelnd, während die schöne Bronze ihres Gesichtes immer matter und matter wurde. Die vollen Wangen fielen ein, und der Ausdruck des Todes breitete sich über die mir so teuern Züge.
Da bewegte sie sich leise. Sie wendete den Kopf nach der Seite, wo ihr Vater lag, und öffnete langsam die Augen. Sie sah Intschu tschuna im Blute liegen und erschrak auf das Heftigste, nur daß bei ihrer Mattigkeit der Schreck nicht den lebhaften Ausdruck wie sonst finden konnte. Sie schien nachzusinnen; dann kam sie zum Bewußtsein dessen, was geschehen war und fuhr sich mit dem kleinen Händchen nach dem Herzen. Sie fühlte das warme, von dort entrinnende Blut und stieß einen tiefen, röchelnden Seufzer aus.
»Nscho-tschi, meine gute, einzige Schwester!« klagte Winnetou mit einem Ausdrucke seiner brechenden Stimme, der unmöglich in Worten wiedergegeben werden kann.
Da erhob sie den Blick zu ihm.
»Winnetou mein Bruder !« flüsterte sie. »Räche räche mich!«
Dann glitt ihr Auge von ihm zu mir herüber, und ein frohes, aber schnell ersterbendes Lächeln spielte um ihre erblichenen Lippen.
»Old Shatter hand!« hauchte sie. »Du bist da! Nun sterbe ich so«
Mehr hörten wir nicht, denn der Tod ließ sie nicht aussprechen, sondern schloß ihr für immer den Mund. Es war, als wolle mir das Herz zersprengen; ich mußte mir Luft machen, sprang auf, denn wir hatten uns bei ihr niedergekniet, und stieß einen lauten, lauten Schrei aus, dessen Echo von den Wänden der benachbarten Berge widerhallte.
Winnetou stand auch auf, langsam, als ob er von zentnerschweren Gewichten niedergehalten werde. Er schlang beide Arme und mich und sagte:
»Nun sind sie tot! Der größte, edelste Häuptling der Apachen und Nscho-tschi, meine Schwester, welche dir ihre Seele gegeben hatte. Sie starb mit deinem Namen auf den Lippen. Vergiß dies nicht, vergiß es nicht, mein lieber Bruder!«
»Nie, nie werde ich es vergessen!« rief ich aus.
Dann nahm sein Gesicht einen ganz andern Ausdruck an, und seine Stimme klang wie fernes, drohendes Donnerrollen, als er fragte:
»Hast du gehört, was ihre letzte Bitte an mich war?«
»Ja.«
»Rache! Ich soll sie rächen, und, ja, ich werde sie rächen, wie noch nie ein Mord gerächt worden ist. Weißt du, wer die Mörder waren? Du hast sie gesehen. Bleichgesichter waren es, denen wir nichts getan hatten. So ist es stets gewesen, und so wird es immer, immer sein, bis der letzte rote Mann ermordet worden ist. Denn wenn er auch eines natürlichen Todes sterben sollte, ein Mord ist es doch, ein Mord, welcher an meinem Volke geschieht. Wir wollten nach den Städten dieser verruchten Bleichgesichter; Nscho-tschi wollte werden wie eine weiße Squaw, denn sie liebte dich und glaubte, dein Herz zu gewinnen, wenn sie sich das Wissen und die Sitten der Weißen aneignete. Das hat sie mit dem Leben bezahlt. Mögen wir euch hassen, oder mögen wir euch lieben, es ist ganz gleich: Wo ein Bleichgesicht seinen Fuß hinsetzt, da folgt hinter ihm das Verderben für uns. Es wird ein Klagen gehen durch alle Stämme der Apachen, und ein Wut- und Rachegeheul wird erklingen überall, an jedem Orte, wo sich ein Angehöriger unserer Nation befindet. Die Augen aller Apachen schauen jetzt auf Winnetou, um zu sehen, wie er den Tod seines Vaters und seiner Schwester rächen wird. Mein Bruder Old Shatterhand mag hören, was ich hier bei diesen beiden Leichen gelobe! Ich schwöre bei dem großen Geiste und bei allen meinen tapfern Vorfahren, welche in den ewigen Jagdgründen versammelt sind, daß ich von heut an jeden Weißen, jeden, jeden Weißen, der mir begegnet, mit dem Gewehre, welches der toten Hand meines Vaters entfallen ist, erschießen oder«
»Halt!« fiel ich ihm schaudernd in die Rede, denn ich wußte, daß es ihm unnachsichtlicher, unerbittlicher Ernst mit diesem Schwure sein würde. »Halt! Mein Bruder Winnetou mag jetzt nicht schwören jetzt nicht!«
»Warum jetzt nicht?« fragte er, fast zornig.
»Ein Schwur muß mit ruhiger Seele gesprochen werden.«
»Uff! Meine Seele ist in diesem Augenblicke so ruhig wie das Grab, in welches ich diese meine beiden Toten legen werde. Wie es sie nie wieder zurückgeben wird, ebenso wenig werde ich jemals ein Wort von dem, was ich schwöre, zurückneh«
»Sprich nicht weiter!« unterbrach ich ihn abermals.
Da funkelten mich seine Augen beinahe drohend an, und er rief aus:
»Will Old Shatterhand mich hindern, meine Pflicht zu tun? Sollen die alten Weiber mich anspucken, und soll ich aus meinem Volke gestoßen werden, weil ich nicht den Mut besitze, das zu rächen, was heut hier geschehen ist?«
»Es sei ferne von mir, dies von dir zu verlangen. Auch ich will Strafe für den Mörder. Drei von ihnen hat sie schon ereilt; der vierte ist entflohen, doch entkommen wird er uns nicht.«
»Wie sollte er entkommen!« fuhr er auf. »Aber ich habe es nicht allein mit ihm zu tun. Er hat gehandelt als Sohn jener bleichen Rasse, die uns Vernichtung bringt; sie ist verantwortlich für das, was sie ihn gelehrt hat, und ich werde sie zur Verantwortung ziehen, ich, Winnetou, nunmehr der erste und oberste Häuptling aller Stämme der Apachen!«
Er stand stolz und hoch aufgerichtet vor mir, ein Mann, der sich trotz seiner Jugend als König all der Seinen fühlte! Ja, er war der Mann dazu, das auszuführen, was er wollte. Ihm, ihm wäre es gewiß gelungen, die Krieger aller roten Nationen unter sich zu versammeln und mit den Weißen einen Riesenkampf zu beginnen, einen Verzweiflungskampf, dessen Ende zwar kein zweifelhaftes sein konnte, der aber den wilden Westen mit Hunderttausenden von Opfern bedecken mußte. Jetzt, in diesem Augenblicke entschied es sich, ob der Tomahawk des Todes in dieser erbitterten Weise wüten sollte oder nicht!
Ich nahm ihn bei der Hand und sagte:
»Du sollst und wirst tun, was du willst; vorher aber höre eine Bitte, welche vielleicht meine letzte sein wird; dann wirst du die Stimme deines weißen Freundes und Bruders niemals wieder hören. Hier liegt Nscho-tschi. Du sagst es selbst, daß sie mich lieb gehabt hat und mit meinem Namen auf den Lippen gestorben ist. Auch dich hat sie lieb gehabt, mich als Freund und dich als Bruder, und du hast ihr ihre Liebe reichlich zurückgegeben. Bei dieser unserer Liebe bitte ich dich, sprich den Schwur, welchen du tun willst, nicht jetzt aus, sondern erst dann, wenn die Steine des Grabes sich über der edelsten Tochter der Apachen geschlossen haben!«
Er sah mich ernst, fast finster an und senkte dann den Blick auf die Tote nieder. Ich sah, daß seine Züge milder wurden, und endlich richtete er das Auge wieder auf mich und sagte:
»Mein Bruder Old Shatterhand hat eine große Macht über die Herzen aller, mit denen er verkehrt. Nscho-tschi würde ihm seine Bitte gewiß erfüllen, und so will auch ich sie ihm gewähren. Erst dann, wenn mein Auge diese beiden Leichen nicht mehr sieht, mag es sich entscheiden, ob der Mississippi mit allen seinen Nebenflüssen das Blut der weißen und der roten Völker nach dem Meere führen soll. Ich habe gesprochen. Howgh!«
Gott sei Dank! Es war mir, wenigstens für einstweilen, gelungen, großes Unheil abzuwenden. Ich drückte ihm dankend die Hand und sprach:
»Mein roter Bruder wird sogleich einsehen, daß ich keine Gnade für den Schuldigen erbitten will; ihn mag die Strafe so schwer und so streng treffen, wie er es verdient. Es muß dafür gesorgt werden, daß er nicht Zeit findet, zu entkommen. Wir dürfen ihm keinen Vorsprung einräumen. Winnetou mag mir sagen, was in Beziehung auf ihn jetzt geschehen soll!«
»Meine Füße sind gebunden,« erklärte er, nun wieder düster. »Die Gebräuche meines Volkes gebieten mir, bei diesen Toten, weil sie mir so nahe verwandt waren, zu bleiben, bis sie begraben sind. Erst nachher darf ich den Weg der Rache antreten.«
»Und wann wird das Begräbnis stattfinden?«
»Das will ich mit meinen Kriegern beraten. Entweder begraben wir sie hier an der Stelle, wo sie gestorben sind, oder wir schaffen sie nach dem Pueblo, wo sie bei den Ihren wohnten. Aber selbst dann, wenn sie hier ihre Ruhestätte finden, werden mehrere Tage vergehen, bevor den Erfordernissen Genüge geschehen ist, welche beim Begräbnisse eines so großen Häuptlings zu machen sind.«
»Dann wird aber der Mörder sicher entkommen!«
»Nein. Denn wenn Winnetou ihn auch nicht verfolgen darf, so kann doch von andern geschehen, was nötig ist. Mein Bruder mag mir recht kurz erzählen, wie es geschah, daß er hierher kam!«
Jetzt, wo es sich um rein Sachliches handelte, war er so ruhig wie gewöhnlich. Ich erzählte ihm, was er zu wissen begehrte, und dann trat eine kurze Pause des Nachdenkens ein. Während derselben hörten wir einen schweren Seufzer, welcher von der Stelle kam, wo die beiden Strolche lagen, die ich glaubte erschossen zu haben. Wir gingen schnell hin. Dem Einen war meine Kugel grad durch das Herz gegangen; der Andere war so wie Nscho-tschi getroffen worden; er hatte noch Leben und kam grad jetzt wieder zu sich. Er starrte uns verständnislos an und murmelte Worte, welche ich nicht verstehen konnte. Ich bog mich zu ihm nieder und rief ihm zu:
»Mann, kommt zu Euch! Wißt Ihr, wer jetzt bei Euch ist?«
Er gab sich sichtlich Mühe, sich zu besinnen. Sein Auge wurde auch wirklich klarer, und ich hörte leise fragen:
»Wo wo ist Santer?«
»Entflohen,« antwortete ich, denn es wollte mir nicht gelingen, einen Sterbenden, obgleich er ein Mörder war, zu belügen.
»Das weiß ich nicht; aber ich hoffe, von Euch einen Wink zu erhalten. Eure andern Gefährten sind tot, und auch Ihr habt nur noch Sekunden zu leben. Ihr werdet doch an der Pforte des Grabes besser handeln, als vorher! Woher stammt Santer?«
»Weiß es nicht.«
»Heißt er wirklich Santer?«
»Hat viele viele Namen.«
»Was ist er eigentlich?«
»Weiß auch auch nicht.«
»Habt ihr Bekannte hier in der Nähe, vielleicht auf irgend einem Fort?«
»Nein nicht.«
»Wo wolltet ihr hin?«
»Nir nirgends. Hin, wo Geld Beute«
»Also waret ihr Gauner von Profession! Schrecklich! Wie kamt ihr denn auf den Gedanken, die beiden Apachen mit dem Mädchen zu überfallen?«
»Nug Nuggets.«
»Aber ihr konntet doch von den Nuggets nichts wissen.«
»Wollten nach nach dem«
Er hielt inne. Es fiel ihm außerordentlich schwer, zu antworten. Ich erriet, was er sagen wollte, und fragte:
»Ihr hörtet, daß diese Apachen nach dem Osten wollten, und nahmt infolgedessen an, daß sie Gold bei sich hätten?«
Er nickte.
»Ihr nahmt euch also vor, sie zu überfallen; da ihr aber dachtet, daß wir vorsichtig sein und euch beobachten würden, rittet ihr eine tüchtige Strecke weiter und kehrtet erst dann um, als ihr annehmen konntet, daß wir beruhigt sein würden?«
Er nickte wieder.
»Dann seid ihr umgekehrt und uns nachgeritten. Habt ihr uns am Abende belauscht?«
»Ja Santer.«
»Also Santer selbst war es! Hat er euch gesagt, was er bei uns erhorcht hat?«
»Apachen Nugget-tsil Nuggets holen früh«
»Ganz so, wie ich dachte. Dann habt ihr euch in das Gebüsch versteckt und uns von den Bäumen aus beobachtet. Ihr wolltet den Ort, wo die Apachen das Gold holten, kennen lernen?«
Er hatte die Augen geschlossen und antwortete nicht.
»Oder wolltet ihr sie bloß bei ihrer Rückkehr überfallen, um«
Da unterbrach mich Winnetou:
»Mein Bruder mag nicht weiter fragen, denn dieses Bleichgesicht kann nicht mehr antworten; es ist tot. Diese weißen Hunde wollten unser Geheimnis kennen lernen; aber sie kamen zu spät. Wir befanden uns schon auf dem Rückwege, als sie uns kommen hörten. Da versteckten sie sich hinter die Bäume und schossen auf uns. Intschu tschuna und ›Schöner Tag‹ stürzten getroffen nieder; mir aber streifte die Kugel nur den Aermel hier. Da schoß ich auf einen, der aber, eben als ich losdrückte, hinter einen andern Baum sprang; darum traf ich ihn nicht; aber meine zweite Kugel streckte einen andern nieder. Dann suchte ich hinter diesem Steine Schutz, der mir aber das Leben nicht hätte retten können, wenn mein Bruder Old Shatterhand nicht gekommen wäre. Denn zwei hielten mich von dieser Seite fest, und der dritte wollte hinter mich, wo ich keine Deckung hatte; seine Kugel hätte mich treffen müssen. Da aber hörte ich die starke Stimme von Old Shatterhands Bärentöter und war gerettet. Nun weiß mein Bruder alles und soll erfahren, wie es anzufangen ist, Santer zu ergreifen.«
»Wem wird diese Aufgabe zufallen?«
»Old Shatterhand wird sie lösen; er wird die Spur des Flüchtlings ganz gewiß finden.«
»Allerdings; aber während ich mühsam nach ihr suche, wird viel Zeit vergehen.«
»Nein. Mein Bruder braucht nicht nach ihr zu suchen, denn sie wird ganz gewiß zu seinen Pferden führen, welche er zunächst aufsuchen muß. Dort, wo er mit seinen Leuten während der Nacht gelagert hat, gibt es Gras, und Old Shatterhand wird also sehr leicht sehen, wohin er sich gewendet hat.«
»Und dann?«
»Dann nimmt mein Bruder zehn Krieger mit sich, um ihm zu folgen und ihn festzunehmen. Die andern zwanzig Krieger sendet er mir hierher, damit sie mit mir die Klagen des Todes anstimmen.«
»So soll es geschehen. Und ich hoffe, daß ich das Vertrauen, welches mein roter Bruder in mich setzt, rechtfertigen werde.«
»Ich weiß, daß Old Shatterhand grad so handeln wird, als ob ich selbst an seiner Stelle wäre. Howgh!«
Er reichte mir die Hand hin; ich schüttelte sie ihm, beugte mich noch einmal auf die Gesichter der beiden Toten nieder und ging. Am Rande der Lichtung drehte ich mich um. Winnetou verhüllte soeben ihre Köpfe und stieß dabei jene dumpfen Klagetöne aus, mit denen die Roten ihre Todesgesänge beginnen. Wie weh war mir, o wie so weh! Aber ich hatte zu handeln und eilte den Weg zurück, auf welchem ich gekommen war.
Ich war der Ansicht, daß Winnetous Vorhersagung eintreffen werde; aber während ich über den erwähnten Höhengrat stieg, kam mir ein Bedenken.
Santer mußte vor allen Dingen auf schleunigste Flucht bedacht sein, vor allen Dingen so schnell wie möglich aus unserer Nähe zu kommen suchen; das gerade Gegenteil davon geschah aber, wenn er nach seinem Lager lief. Dies konnte er nur in der Absicht tun, sich ein Pferd zu holen. Wie aber nun, wenn er dasjenige fand, auf welchem ich gekommen war? Er war doch wohl auf demselben Weg geflohen, der ihn auch hergeführt hatte. Da sah er unbedingt das Pferd.
Dieser Gedanke verdoppelte meine Schritte. Ich rannte den Berg hinab, im höchsten Grade darauf gespannt, ob ich es noch antreffen würde. Welcher Aerger für mich, als ich an die betreffende Stelle kam und da sah, daß es fort war! Ich hielt nur einen Augenblick an und flog mehr, als ich lief, durch die Schlucht. Hier konnte ich mich noch beeilen, weil wegen des Steingerölles ein zeitraubendes Suchen nach der Spur doch erfolglos gewesen wäre. Als ich aber unten das Tal erreichte, hielt ich an, um die Fährte sorgfältig zu lesen. Es gelang mir nicht sofort, denn der Boden war hier noch zu hart. Zehn Minuten später gab es weichen Grund, wo es leichter war, die Eindrücke der Füße und Hufe zu erkennen.
Da sah ich mich denn vollständig enttäuscht. Ich konnte suchen und forschen, wie ich wollte, und meine Augen und meinen Scharfsinn noch so sehr anstrengen, es wurde nicht anders Santer war hier nicht geritten. Er mußte weiter oben an einer dazu passenden Stelle, wo auf dem Fels keine Spur zurückblieb, die Schlucht verlassen haben; anders war es gar nicht möglich. Da stand ich nun! Was war zu tun? Sollte ich zurück, um nach der betreffenden Stelle zu suchen? Es konnten Stunden vergehen, ehe ich sie fand, und einen solchen Zeitverlust glaubte ich denn doch nicht verantworten zu können. Besser war es auf alle Fälle, nach unserm Lager zu eilen und dort Hilfe zu holen.
Dies tat ich denn. Es war ein Dauerlauf, wie ich noch keinen gemacht hatte, doch hielt ich ihn aus, weil ich von Winnetou belehrt worden war, wie man sich dabei zu verhalten hat, um bei Atem zu bleiben und nicht zu ermüden. Man läßt nämlich das Körpergewicht nur von einem Beine tragen und wechselt dann, wenn dieses ermüdet ist, auf das andere über. Auf diese Weise kann man stundenlang Trab laufen, ohne daß man sich allzu sehr anzustrengen hat; aber eine gute, gesunde Lunge muß man haben.
Als ich meinem Ziele nahe gekommen war, wendete ich mich zunächst nach Santers Lager. Die drei Pferde standen noch im Gesträuch. Ich band sie los, bestieg eins, nahm die andern beiden an den Zügeln und ritt nach unserm Lager. Es war längst Mittag vorüber, und Sam rief mir zu:
»Wo treibt Ihr Euch denn herum, Sir! Habt das Essen versäumt, und ich« er stockte in der Rede, musterte die Pferde mit einem erstaunten Blicke und fuhr dann fort: »Alle Wetter! Ihr seid zu Fuß fortgegangen und kommt beritten zurück! Seid wohl gar Pferdedieb geworden?«
»Das weniger. Habe diese Tiere erbeutet.«
»Wo?«
»Gar nicht weit von hier.«
»Von wem?«
»Seht sie nur richtig an! Ich erkannte sie sofort, und Ihr habt doch auch gute Augen.«
»Ja, die habe ich. Sah sogleich, wem sie gehören, wollte es aber nicht begreifen. Das sind ja die Pferde von Santer und seinen Begleitern; es fehlt aber eins.«
»Das werden wir uns suchen und auch den, der darauf sitzt.«
»Aber wie kommt«
»Still, lieber Sam!« unterbrach ich ihn. »Es ist sehr Wichtiges, sehr Trauriges geschehen. Wir müssen sofort fort von hier.«
»Von hier? Warum?«
Anstatt ihm zu antworten, rief ich die Apachen, von denen sich einige entfernt hatten, zusammen und teilte ihnen die Kunde von dem Tode Intschu tschunas und seiner Tochter mit. Nach meinem letzten Worte herrschte ein tiefes, allgemeines Schweigen ringsum. Man konnte nicht glauben, was ich sagte; meine Botschaft war zu ungeheuerlich. Da erzählte ich ausführlicher, was geschehen war, und fügte hinzu:
»Nun mögen mir meine roten Brüder sagen, wer die Zukunft besser verkündet hat, Sam Hawkens oder euer Medizinmann! Intschu tschuna und Nscho-tschi haben den Tod gefunden, weil sie sich von mir entfernten, und Winnetou ist durch mich gerettet worden. Bringt meine Nähe also den Tod oder das Leben?«
Jetzt konnten sie nicht mehr zweifeln, und es erhob sich ein Geheul, welches sicher meilenweit zu hören war, selbstverständlich englische Meilen gemeint. Die Roten rannten wie wütend umher, schwangen ihre Waffen und schnitten, um ihrem Grimm Ausdruck zu geben, die fürchterlichsten Gesichter. Erst nach einiger Zeit war es meiner Stimme möglich, ihr Geschrei zu überschallen.
»Die Krieger der Apachen mögen schweigen,« gebot ich ihnen. »Das Geheul führt zu nichts. Wir müssen fort, um den Mörder zu fangen.«
»Fort, ja fort, fort, fort!« schrieen sie, indem sie zu ihren Pferden sprangen.
»Ruhig doch!« befahl ich abermals. »Meine Brüder wissen ja gar nicht, was sie tun sollen. Ich werde es ihnen sagen.«
Nun drängten sie sich so an mich, daß ich mich wehren mußte, nicht umgerissen zu werden. Wäre Santer jetzt hier gewesen, so hätten sie ihn in Stücke gerissen. Hawkens, Stone und Parker standen still beisammen. Die Nachricht hatte einen niederschmetternden Eindruck auf sie gemacht. Jetzt kamen sie herbei, und Sam sagte:
»Ich bin wie vor den Kopf geschlagen und kann es noch immer nicht fassen. Schrecklich, entsetzlich! Die liebe, schöne, gute, junge rote Miß! Ist stets so freundlich mit mir gewesen und soll nun ausgelöscht worden sein! Wißt Ihr, Sir, es ist mir grad so«
»Wie es Euch ist, das behaltet für Euch, lieber Sam!« fiel ich ihm in die Rede. »Wir müssen dem Mörder nach. Sprechen nützt nichts.«
»Well! Stimme Euch bei. Aber wißt Ihr denn, wohin er ist?«
»Jetzt noch nicht.«
»Dachte es mir. Habt ja seine Spur nicht gesehen. Wie sollen wir sie nun auffinden? Scheint unmöglich oder wenigstens außerordentlich schwierig zu sein.«
»Es ist nicht schwierig, sondern sehr leicht.«
»Meint Ihr? Hm! Wollt wohl sagen, daß wir hinauf in die Schlucht müssen, wo er seitwärts ausgekniffen ist? Wird ein langes Suchen geben!«
»Von der Schlucht ist gar keine Rede.«
»Nicht? Dann bin ich neugierig, was Ihr für einen Gedanken bringen werdet. Ja, manchmal kann ein Greenhorn auch einen Gedanken haben, doch«
»Schweigt mit Eurem Greenhorn! Mir ist nicht so zu Mute, solche Redensarten anzuhören. Mir blutet das Herz; darum behaltet Eure Witze für Euch!«
»Witze? Halloh! Wer da etwa denkt, daß ich die Sache scherzhaft nehme, der bekommt von mir einen Box in den Leib, daß er von hier bis hinüber nach Kalifornien fliegt! Kann nur nicht begreifen, wie Ihr Santer finden wollt, ohne daß wir unsere Augen auf die Stelle setzen, wo seine Spur verloren gegangen ist.«
»Da müßten wir, wie schon gesagt, lange Zeit suchen. Und wenn wir die Spur fänden, hätten wir ihr über Berg und Tal und durch den dichten Wald zu folgen, was auch sehr langsam gehen würde. Darum denke ich, wir fangen es anders an. Nämlich wenn ich mir die Berge dort so betrachte, so möchte ich behaupten, daß sie nicht mit andern zusammenhängen, sondern isoliert stehen«
»Ist auch ganz richtig. Kenne diese Gegend recht leidlich. Haben hier Ebene und jenseits wieder Ebene. Diese Berge gehören nicht zu einem Gebirgs- oder Höhenzug, sondern sie haben sich ganz für sich allein in die offene Prärie hineingesetzt.«
»Prärie? Also gibt es Gras?«
»Ja, rundum Gras, grad so wie hier.«
»Darauf habe ich gerechnet. Santer mag auf oder zwischen diesen Bergen reiten, wie er will; das geht uns nichts an; aber sobald er sie verläßt, kommt er auf die offene Prärie und muß im Grase eine Spur hinterlassen.«
»Das versteht sich ja ganz von selbst, verehrter Sir!«
»Hört nur weiter. Wir bilden zwei Trupps und umreiten die Berge, wir vier Weißen von rechts und die zehn Apachen, welche Winnetou mir angewiesen hat, von links. Jenseits treffen wir zusammen und werden dann erfahren, ob einer der Trupps auf die Fährte gestoßen ist. Ich bin überzeugt, daß dies der Fall sein wird, und dann folgen wir ihr.«
Mein kleiner Sam sah mich von der Seite an, machte ein nicht außerordentlich erbautes Gesicht und rief aus:
»Lack-a-day! Wer hätte das gedacht! Daß ich nicht auch darauf gekommen bin! Ist ja das Einfachste und Sicherste was es gibt; das muß eigentlich jedes Kind einsehen, wenn ich mich nicht irre!«
»Ihr seid also einverstanden, Sam?«
»Vollständig, Sir, vollständig. Sucht Euch nur schnell zehn Rote aus!«
»Ich werde diejenigen wählen, welche am besten beritten sind. Wer weiß, wie lange wir den Kerl zu jagen haben. Darum müssen wir uns auch reichlich mit Proviant versehen. Wenn Ihr diese Gegend leidlich kennt, so wißt Ihr vielleicht, wie lange es dauert, bis man von hier aus die andere Seite der Berge erreicht?«
»Wenn wir uns sehr beeilen, so kann es trotzdem über zwei Stunden währen.«
»So wollen wir nicht länger zögern.«
Ich bestimmte die zehn Apachen, welche sich über meine Wahl freuten, denn dem Mörder nachzusetzen, war ihnen lieber, als bei den Leichen Totenlieder zu singen. Die übrigen zwanzig instruierte ich genau über den Weg, welcher zu Winnetou führte, und dann ritten sie davon.
Kurze Zeit später brachen meine zehn auf, um die Berge nach links, also in einem nach Westen gekrümmten Bogen zu umreiten, während unsere Richtung uns ostwärts um die Höhen führte. Als wir vier dann auch aufsaßen, ritt ich zunächst nach Santers Nachtlager und suchte mir von da aus eine Stelle, wo der Huf des Pferdes, welches ich geritten hatte, tief in den Boden gedrungen war. Von diesem sehr deutlichen Eindrucke nahm ich mir eine genaues Maß auf Papier. Sam Hawkens schüttelte den Kopf darüber und meinte lächelnd:
»Gehört das auch zur Kunst eines Surveyors, Pferdefüße abzumalen?«
»Nein; aber ein Westmann sollte es kennen.«
»Der? Warum?«
»Weil es ihm vorkommenden Falls von großem Nutzen sein kann.«
»In welcher Weise?«
»Werdet es wohl nachher sehen. Wenn ich eine Pferdespur finde, vergleiche ich die Stapfen mit dieser Zeichnung.«
»Ah! Hm! Richtig! Ist gar nicht so übel! Habt Ihr das auch aus Euern Büchern?«
»Nein.«
»Woher denn?«
»Der Gedanke ist mir selbst gekommen.«
»Also gibt es wirklich Gedanken, die sich das Vergnügen machen, zu Euch zu kommen? Hätte das gar nicht gedacht hihihihi!«
»Pshaw! Bei mir befinden sie sich jedenfalls wohler als unter Eurer Perücke, Sam!«
»Recht so, recht so!« rief Dick Stone. »Laßt Euch nur nichts mehr von ihm gefallen! Man sieht ja stündlich, daß Ihr ihn überflügelt habt, Sir.«
»Schweig!« herrschte ihn Sam in komischem Zorne an. »Was willst du vom Fliegen verstehen, und gar vom Ueberfliegen! Es ist eine Beleidigung, mich immer bei der Perücke zu nehmen; ich kann das gar nicht länger dulden.«
»Was willst du dagegen machen?«
»Ich schenke sie dir; dann bin ich sie los, und du erfährst, was für Gedanken darunter wohnen. Uebrigens habe ich ja zugegeben, daß die Ansicht unsers Greenhorns gar keine so üble ist; nur hätte er den zehn Apachen, welche die Berge auf der andern Seite zu umreiten haben, auch ein solches schönes Pferdefußbild mitgeben sollen.«
»Ich habe dies nicht getan, weil ich es für unnötig hielt,« antwortete ich.
»Unnötig? Warum?«
»Weil es ihnen nicht zuzutrauen ist, eine Hufspur mit dieser Zeichnung zu vergleichen. Sie sind doch immerhin Wilde, denen man eine Zeichnung vergeblich in die Hände geben würde. Und sodann bin ich überzeugt, daß sie gar nicht auf Santers Fährte treffen werden.«
»Und ich behaupte das Gegenteil. Nicht wir, sondern sie werden sie finden. Es versteht sich ja ganz von selbst, daß Santer westwärts reiten wird.«
»Das halte ich gar nicht für so selbstverständlich.«
»Nicht? Seine Richtung, als wir ihn trafen, war ja nach Westen; das ist sie jetzt nun wieder.«
»Schwerlich. Er ist ein durchtriebener Kerl, wie ich aus seinem spurlosen Verschwinden ersehe, und wird sich also sagen, daß wir den Gedanken haben werden, den Ihr jetzt ausgesprochen habt. Das heißt, er wird denken, daß wir ihn westwärts suchen, weil er bei unserer Begegnung nach Westen wollte. Aus diesem Grunde wird er sich nach einer andern Richtung, wahrscheinlich ostwärts, retirieren. Das ist doch leicht einzusehen.«
»Wenn Ihr es in dieser Weise sagt, so ist es freilich leicht einzusehen. Wollen nur hoffen, daß es zutrifft.«
Nun gaben wir unsern Pferden die Sporen und jagten über die Prärie dahin, so reitend, daß wir die verhängnisvollen Berge stets zur linken Hand liegen hatten. Natürlich suchten wir es so einzurichten, daß wir immer auf weichem Boden ritten, wo Santer, wenn er dagewesen war, eine deutliche Spur hatte zurücklassen müssen. Dabei waren unsere Augen stets zur Erde gerichtet; denn je schneller wir ritten, desto schärfer mußten wir aufpassen, weil die Fährte uns sonst entgehen konnte.
So verging eine Stunde und noch eine halbe, und wir hatten unsern Halbkreis um die Berge fast zu Ende gebracht, da endlich bemerkten wir einen dunkeln Strich, welcher vor unserer Richtung quer durch das Gras lief. Es war eine Fährte, und zwar die Spur eines einzelnen Reiters, also sehr wahrscheinlich die, welche wir suchten. Wir stiegen ab, und ich schritt eine Strecke ihr entlang, um einen recht deutlichen Eindruck zu finden. Als mir dies glückte, verglich ich ihn genau mit der Zeichnung, und beide waren einander so kongruent, daß es Santer ohne allen Zweifel gewesen sein mußte.
»So eine Zeichnung ist wirklich außerordentlich praktisch,« meinte Sam. »Werde mir das merken.«
»Ja, merke es dir!« stimmte Parker bei. »Und merke dir noch Eins recht gut dazu!«
»Was?«
»Daß es schon so weit gekommen ist, daß der Lehrer, der du ja gewesen sein willst, nun von seinem Schüler lernt!«
»Willst mich wohl ärgern, alter Will? Das wird dir nicht gelingen, hihihihi!« lachte Sam. »Es ist doch wohl eine Ehre für den Lehrer, wenn er den Schüler so weit bringt, daß dieser schließlich klüger und geschickter als der Lehrer ist. Mit dir freilich muß man auf solche Erfolge gleich von vornherein verzichten. Wie viele, viele, lange Jahre habe ich mich bemüht, einen Westmann aus dir zu machen, und es ist alles vergeblich gewesen. Du wirst in deinen alten Tagen nichts verlernen können, weil du in den jungen Tagen nichts gelernt hast.«
»Weiß schon! Möchtest mich gern ein Greenhorn nennen, weil du ohne dieses Wort nicht leben kannst und unserm Old Shatterhand nicht mehr damit kommen darfst.«
»Bist auch eins, und was für eins! Nämlich ein altes, welches sich vor diesem jungen hier zu schämen hat, weil dieses dem alten schon weit überlegen ist, wenn ich mich nicht irre.«
Trotz dieses Wortgefechtes stimmten wir darin überein, daß die Fährte Santers nicht viel über zwei Stunden alt war. Wir wären ihr gern sogleich gefolgt, mußten aber auf die zehn Apachen warten. Das dauerte leider drei Viertelstunden. Ich schickte einen von ihnen zu Winnetou, um diesen wissen zu lassen, daß wir die Spur gefunden hätten; er konnte bei ihm bleiben; dann ritten wir, nun in östlicher Richtung, weiter.
Wir hatten in dieser vorgerückten Jahreszeit nicht mehr ganz zwei Stunden bis zum Abende und mußten uns sehr beeilen. Es galt, bis zur Dunkelheit eine möglichst große Strecke zurückzulegen, weil wir dann bis zum Morgen warten mußten. Wir konnten doch nicht reiten, ohne die Spur zu sehen.
Dagegen war als ganz gewiß anzunehmen, daß Santer den Abend und wohl auch die Nacht dazu benützen werde, uns recht weit vorauszukommen, denn daß man ihn verfolgen werde, das mußte er sich doch unbedingt sagen. Wir hatten dann morgen einen heißen Ritt vor uns, welcher dadurch erschwert und verlangsamt wurde, daß wir auf die Fährte achten mußten, während er eine solche Verzögerung nicht nötig hatte. Glücklicherweise mußte er, wenn er während der Nacht ritt, dann früh ermüdet sein und nicht nur sich, sondern noch viel mehr seinem Pferde eine längere und ausgiebige Ruhe gönnen, ein Umstand, welcher den Unterschied so ziemlich ausglich.
Die von Winnetou und seinem Vater Nuggetberge genannten Höhen verschwanden schnell hinter uns, und wir hatten nun immerfort die ebene Prärie vor uns, welche erst strauchig war und dann nur Rasen, erst noch grünen und später verdorrten, zeigte. Die Spur war sehr deutlich zu sehen, denn Santer war meist scharf geritten, und so hatten die Hufe seines Pferdes deutliche Eindrücke hinterlassen.
Als es zu dunkeln begann, stiegen wir ab und folgten der Spur, die wir im Gehen deutlicher als reitend sahen, noch so lange, bis sie gar nicht mehr zu erkennen war. Da blieben wir halten, glücklicherweise an einer Stelle, wo das Gras wieder einmal einiges Grün zeigte. Da konnten die Pferde fressen. Wir hüllten uns in Decken und legten uns gleich so nieder, wie wir standen.
Die Nacht war sehr kühl, und ich bemerkte, daß meine Begleiter deshalb oft aufwachten. Ich hätte ohnedem nicht schlafen können. Der gewaltsame Tod Intschu tschunas und seiner Tochter hielt mir die Augen offen, und wenn ich sie ja einmal schloß, so sah ich ihre Gestalten in der Blutlache vor mir liegen und hörte Nscho-tschis letzte Worte. Nun machte ich mir Vorwürfe darüber, daß ich nicht freundlicher mit ihr gewesen war und mich in jenem Gespräch mit ihrem Vater nicht anders ausgedrückt hatte. Es war mir, als ob ich sie dadurch in den Tod getrieben hätte.
Gegen Morgen wurde es noch kälter, und ich stand auf, um mich durch Hin- und Hergehen zu erwärmen. Sam Hawkens merkte das und fragte:
»Friert Euch wohl, verehrter Sir? Hättet eine Wärmflasche mit nach dem Westen bringen sollen. Greenhorns pflegen sich doch gern mit solchen Sächelchen zu versehen. Da lobe ich mir meinen alten Rock; kann kein Indianerpfeil und auch keine Kälte hindurch. Soll ich ihn Euch borgen, hihihihi?«
Wegen dieser unangenehmen Kühle waren alle schon vor der Morgendämmerung munter, und kaum konnten wir die Fährte nur einigermaßen wieder erkennen, so saßen wir auf und setzten den Ritt fort. Unsere Pferde hatten ausgeruht und des Nachts wohl auch gefroren; sie griffen daher, weil sie das erwärmte, wacker aus, ohne daß wir sie anzutreiben brauchten.
Noch immer hatten wir Prärie; sie wurde wellig. Auf den Wellenhöhen war das Gras trocken und hart, in den Wellentälern mehr grün und auch weicher. Ja, es gab da zuweilen eine Wasserlache, wo wir anhielten und unsere Tiere trinken ließen.
Während die Spur bisher eine fast genau östliche Richtung gehabt hatte, wendete sie sich zur Mittagszeit mehr südlich. Als Hawkens dies bemerkte, machte er ein bedenkliches Gesicht. Ich fragte ihn nach der Ursache und erhielt die Antwort:
»Wenn es so ist, wie ich vermute, werden unsere Bemühungen wahrscheinlich vergeblich sein.«
»Aus welchem Grunde?«
»Der Kerl ist pfiffig. Er scheint sich zu den Kiowas wenden zu wollen.«
»Das wird er doch nicht tun!«
»Warum nicht? Soll er etwa Euch zuliebe mitten in der alten Prärie stehen bleiben und sich beim Schopfe nehmen lassen? Was Ihr denkt! Er tut sein Möglichstes, sich zu retten. Er hat jedenfalls die Augen offen gehabt und gesehen, daß unsere Pferde besser waren als die seinigen. Darum vermutet er, daß wir ihn wohl bald einholen werden, und ist auf den ganz guten Gedanken gekommen, bei den Kiowas Schutz zu suchen.«
»Ob ihn diese aber freundlich aufnehmen werden?«
»Daran ist keinen Augenblick zu zweifeln. Er braucht bloß zu erzählen, daß er Intschu tschuna und Nscho-tschi erschossen hat, da jubeln sie ihm zu. Wollen uns recht dazuhalten, daß wir vielleicht noch vor Abend an ihn kommen.«
»Wie alt schätzt Ihr die heutige Fährte?«
»Darauf kommt es nicht an. Diese hier hat er in der Nacht geritten. Müssen warten, bis wir dahin kommen, wo er gelagert hat. Dann wollen wir sehen, wie alt seine neue, seine heutige Spur ist. Je länger er ausgeruht hat, desto eher werden wir ihn einholen.«
Gegen Mittag zeigte es sich, wo Santer Halt gemacht hatte. Man sah, daß sich sein Pferd niedergelegt hatte; es war sehr müde gewesen; das hatten wir schon bisher den Spuren angesehen. Wahrscheinlich war er nicht weniger angegriffen gewesen, denn wir schätzten seine neue Spur unter zwei Stunden alt; er mochte länger geschlafen haben, als er gewollt hatte. Der Vorsprung, den er durch den Nachtritt gewonnen hatte, war also eingeholt; ja, wir waren ihm jetzt wohl eine halbe Stunde näher als gestern beim Beginn der Verfolgung.
Seine Spur strebte nun noch mehr nach Süden. Er schien das Gebiet des Canadian verlassen und sich dem Red River nähern zu wollen. Wir ließen unsere Pferde nur von Zeit zu Zeit verschnaufen, denn wir nahmen uns vor, ihn, wenn nur irgend möglich, noch vor Abend einzuholen.
Am Nachmittage hatten wir wieder grüne Prärie, und später trafen wir sogar Buschwerk an. Nach der sorgfältigsten Beurteilung der Fährte konnte der Vorsprung nun nur noch eine halbe Stunde betragen. Vor uns färbte sich der Horizont dunkel.
»Das ist Wald,« erklärte Sam. »Ich vermute, daß wir auf ein Nebenflüßchen des Nordarmes stoßen. Wollte, wir hätten noch länger Prärie; das wäre besser für uns.«
Freilich wäre dies besser gewesen, denn auf der Savanne sah man alles vor sich, während man im Walde leicht auf einen Hinterhalt stoßen konnte. Und bei der Eile, mit welcher wir ritten, war es unmöglich, das Terrain zu untersuchen, bevor wir es betraten.
Sam hatte Recht. Es gab einen kleinen Fluß, der aber kein fließendes Wasser führte, sondern nur hier und da welches in einer Vertiefung zeigte. An den Ufern standen Büsche und Bäume, doch gab dies keinen eigentlichen Wald, sondern nur, um mich so auszudrücken, größere oder kleinere Baumgruppen, welche in verschiedenen Intervallen an den Ufern lagen.
Kurz vor Abend waren wir dem Verfolgten so nahe, daß er jeden Augenblick vor uns auftauchen konnte. Das machte uns eifriger, als wir bisher gewesen waren. Ich ritt allein voran, weil mein Rotschimmel sich am besten gehalten und seine Kräfte noch beisammen hatte. Auch folgte ich, wenn ich mich so an der Spitze hielt, einem innern Triebe. Ich hatte die Ermordeten vor mir liegen sehen und wollte den Mörder haben. Es war nicht das, was man mit Grimm, mit Durst nach Rache bezeichnet, aber doch ein dringendes Verlangen, den Mörder bestraft zu sehen.
Wir ritten wieder durch eine jener Baumgruppen, welche am linken Ufer des Flüßchens lag. Als ich, den andern voran, die letzten Bäume erreichte, sah ich, daß die Fährte rechts ab, hinunter in das wasserleere Bette führte. Ich hielt einen Augenblick an, um dies den hinter mir Herankommenden mitzuteilen, und dies war ein Glück für uns, denn als ich, einige Augenblicke auf sie wartend, dem Flußbette mit meinen Augen folgte, machte ich eine Entdeckung, welche mich veranlaßte, schleunigst vom Rande des Wäldchens zurückzuweichen und mich zu verstecken.
Wenn man von diesem Wäldchen aus nur fünfhundert Schritte zu Fuße ging, kam man wieder an ein Wäldchen, welches aber drüben auf dem rechten Ufer lag. Vor demselben tummelten Indianer ihre Pferde. Ich sah Pfähle in der Erde stecken, welche mit Riemen verbunden waren, an denen Fleisch hing. Wäre ich nur noch eine Pferdelänge weitergeritten, so hätten mich die Roten gesehen. Ich stieg vom Pferde und zeigte unsern Leuten die vor uns liegende Szene.
»Kiowas!« sagte einer der Apachen.
»Ja, Kiowas,« stimmte Sam ihm bei. »Der Teufel muß diesen Santer sehr lieb haben, daß er ihn noch im letzten Augenblicke diese Hilfe finden läßt. Ich streckte schon alle zehn Finger nach ihm aus; aber er soll uns trotzdem nicht entgehen.«
»Es ist keine starke Abteilung der Kiowas,« bemerkte ich.
»Hm! Wir sehen nur die, welche sich diesseits der Bäume befinden; jenseits derselben gibt es jedenfalls auch welche. Sind auf der Jagd gewesen und machen nun hier ihr Fleisch.«
»Was tun wir, Sam? Kehren wir um, um uns möglichst weit zurückzuziehen?«
»Fällt mir nicht ein! Wir bleiben hier.«
»Aber das ist gefährlich!«
»Gar nicht!«
»Wie leicht kann ein Roter hierher kommen!«
»Fällt keinem ein. Erstens befinden sie sich drüben am andern Ufer, und zweitens wird es gleich dunkel werden; da entfernen sie sich nicht mehr aus ihrem Lager.«
»Aber je größer die Vorsicht, desto besser!«
»Und je größer die Angst, desto greenhornlicher! Ich sage Euch, daß wir vor diesen Kiowas so sicher sind als ob wir uns in New York befänden. Die denken nicht daran, hierher zu kommen; aber wir werden zu ihnen gehen. Ich muß diesen Santer haben und wenn ich ihn aus tausend Kiowas herausholen müßte!«
»Ihr seid heut das, was Ihr immer an mir tadelt, nämlich unvorsichtig!«
»Wie? Was? Unvorsichtig? Sam Hawkens und unvorsichtig! Da muß ich lachen, hihihihi! Das hat mir noch kein Mensch vorgeworfen! Sir, Ihr habt doch sonst keine Angst und geht sogar dem Grizzly mit dem Messer zu Leibe; warum da heut diese Bangigkeit!«
»Es ist nicht Bangigkeit, sondern Vorsicht. Wir befinden uns zu nahe bei den Feinden.«
»Zu nahe? Lächerlich! Ich denke sogar, daß wir ihnen noch näher rücken werden. Wartet nur bis es dunkel ist.«
Er war heut anders als gewöhnlich. Der Tod der ›schönen, lieben, guten, roten Miß‹ hatte ihn so empört, daß er nach Rache lechzte. Die Apachen gaben ihm recht; Parker und Stone stimmten ihm auch bei, und so konnte ich nichts dagegen tun. Wir banden unsere Pferde an und setzten uns nieder, um den Anbruch der Dunkelheit zu erwarten.
Ich muß freilich gestehen, daß die Kiowas sich so bewegten, als ob sie sich völlig sicher fühlten. Sie ritten oder liefen auf dem offenen Plane umher, riefen einander zu, kurz und gut, taten so unbefangen, als ob sie sich daheim in ihrem sichern, gut bewachten Indianerdorfe befänden.
»Seht Ihr, wie ahnungslos sie sind!« sagte Sam. »Bei denen gibt es heut keinen einzigen argen Gedanken.«
»Wenn Ihr Euch nicht irrt!«
»Sam Hawkens irrt sich nie!«
»Pshaw! Ich könnte Euch das Gegenteil beweisen. Ich habe etwas in mir wie eine Ahnung, daß sie sich verstellen.«
»Ahnung! Alte Squaws haben Ahnungen, sonst niemand. Merkt Euch das, verehrter Sir! Welchen Zweck könnte es denn haben, sich zu verstellen?«
»Um uns anzulocken.«
»Das ist ganz unnötig, denn wir werden auch ohne Lockung kommen.«
»Ihr nehmt doch an, daß Santer bei ihnen ist?«
»Natürlich. Als er hier an diese Stelle kam, hat er sie gesehen und ist über das leere Flußbette hinüber zu ihnen.«
»Und denkt Ihr, daß er ihnen erzählt hat, was geschehen ist und warum er Schutz bei ihnen sucht?«
»Welche Frage! Es versteht sich ganz von selbst, daß er ihnen das gesagt hat.«
»So hat er ihnen auch mitgeteilt, daß seine Verfolger ihm wahrscheinlich sehr nahe seien.«
»Meinetwegen auch das.«
»Dann wundert es mich, daß sie so gar keine Vorsichtsmaßregeln getroffen haben.«
»Ist gar nicht zu verwundern. Sie halten es einfach für unmöglich, daß die Nähe, von welcher Ihr redet, eine so bedeutende ist, und erwarten uns wohl erst morgen. Sobald es dunkel genug ist, schleiche ich mich hinüber und sehe mir die Gelegenheit an. Dann wird sich finden, was wir tun. Ich muß diesen Santer haben!«
»Ist nicht nötig.«
»Ich halte es für sehr nötig.«
»Wenn Sam Hawkens auf Kundschaft geht, so braucht er keinen Gehilfen. Ich nehme Euch nicht mit. Ich kenne Euch und Eure zwecklose Humanität. Wahrscheinlich wollt Ihr diesem Mörder das Leben erhalten.«
»Fällt mir nicht im Traume ein!«
»Verstellt Euch nicht!«
»Ich spreche so, wie ich denke. Auch ich will diesen Santer haben; ich will ihn lebendig fangen, um ihn Winnetou zu bringen. Und sobald ich sehe, daß dies unmöglich ist, daß ich ihn lebend nicht bekommen kann, so gebe ich ihm eine Kugel in den Kopf. Darauf könnt Ihr Euch verlassen.«
»Daß ist es eben: eine Kugel in den Kopf! Ihr wollt nicht, daß er gemartert werden soll. Auch ich bin ein Feind von solchen Hinrichtungen; diesem Schurken aber gönne ich einen solchen qualvollen Tod von ganzem Herzen. Wir fangen ihn und bringen ihn Winnetou. Muß nur erst wissen, wie viel Kiowas es sind; denn daß es mehr sind, als sich uns hier zeigen, das ist ausgemacht.«
Ich zog es vor, zu schweigen, denn seine Worte hatten die Apachen mißtrauisch gemacht. Sie wußten, daß ich mir für Rattler Mühe gegeben hatte, und so lag für sie der Gedanke nahe, daß ich jetzt eine ähnliche Absicht hege. Ich tat also, als ob ich mich in Sams Willen füge, und streckte mich neben mein Pferd auf die Erde nieder.
Die Sonne war schon längere Zeit verschwunden, und nun senkte sich die Dämmerung nieder. Drüben bei den Kiowas wurden mehrere Feuer angezündet. Die Flammen derselben loderten hoch empor. Dies ist gar nicht Gebrauch bei den vorsichtigen Roten, und so setzte sich in mir der vorhin ausgesprochene Gedanke fester, daß sie es darauf abgesehen hätten, uns anzulocken. Wir sollten glauben, daß sie von unserm Hiersein nichts ahnten, und auf die Idee kommen, sie zu überfallen; taten wir dies, so liefen wir ihnen in die geöffneten Hände.
Während ich so nachdachte, war es mir, als hätte ich ein Geräusch vernommen, welches von keinem von uns verursacht worden war; es war hinter mir, wo niemand von uns lag, weil ich den äußersten Platz eingenommen hatte. Ich lauschte und das Geräusch wiederholte sich; ich hörte es deutlich und unterschied es genau. Es war ein leises Bewegen zäher Ranken, an denen dürre Blätter hingen, ungefähr so, wie wenn man einige Halme aus einem Strohbündel zieht. Es war nicht die Bewegung eines glatten Zweiges, sondern, wie gesagt, einer Ranke, und diese mußte Stacheln oder Dornen haben, denn das Geräusch war in einzelnen Rucken geschehen, von Stachel zu Stachel verursacht worden.
Dieser Umstand sagte mir sofort, wo ich die Ursache zu suchen hatte. Nämlich hinter mir gab es zwischen drei einander nahestehenden Bäumen ein Brombeergesträuch, von welchem eine Ranke bewegt worden sein mußte. Es konnte ein kleines Tier da stecken, aber unsere Lage riet zur Vorsicht. Es konnte auch ein Mensch sein, und das mußte ich untersuchen, mußte es sehen. Sehen? In dieser Dunkelheit? Ja, doch!
Ich habe gesagt, daß drüben bei den Kiowas hohe Feuer loderten. Sie konnten ihren Schein zwar nicht herüberwerfen, aber ich mußte jeden Gegenstand sehen, den ich zwischen sie und mein Auge brachte. Dies konnte ich mit der Brombeerhecke dadurch erreichen, daß ich die andere Seite derselben aufsuchte, was aber unbemerkt zu geschehen hatte. Ich stand also von meinem Platze auf und schlenderte langsam fort, nicht nach der Richtung, in welche ich eigentlich wollte. Als ich weit genug weg war, wendete ich mich um und näherte mich dann dem Wäldchen von der richtigen Seite. Nahe herangekommen, legte ich mich nieder und kroch leise, leise nach der Beerenhecke, welche ich, sogar unbemerkt von meinen Leuten, erreichte. Sie lag grad vor mir; ich konnte sie mit der Hand erreichen, und in derselben Richtung brannten drüben die Feuer. Ich konnte durch einige wenige Stellen blicken, sonst aber war die Hecke zu dicht. Da ja, wirklich, da gab es wieder das erwähnte Geräusch, und zwar nicht in der Mitte, sondern an der Seite der Hecke. Ich rutschte dorthin und sah nun freilich das, was ich geahnt hatte.
Es hatte ein Mensch, ein Indianer, in der Hecke gesteckt und wollte sich nun entfernen. Dies mußte natürlich ein Geräusch verursachen, welches er auf verschiedene Zeitabstände zu verteilen trachtete, und er brachte dies in wahrhaft meisterhafter Weise fertig, denn anstatt eines einzigen lauten Raschelns gab es nun von Minute zu Minute nur ein leises, strohartiges Knistern, welches nur von mir gehört worden war, weil ich so nahe gelegen hatte. Das schwere Kunststück war ihm beinahe gelungen. Sein ganzer Körper befand sich schon im Freien, und nur die eine Schulter mit dem Arme, der Hals und der Kopf steckten noch in der Hecke.
Ich kroch zu ihm hinan, so daß ich hinter seinem Rücken lag. Er befreite sich mehr und mehr. Er bekam die Schulter frei, den Hals, den Kopf und hatte nun nur noch den Arm herauszuziehen. Da richtete ich mich auf die Kniee empor, faßte mit der Linken seinen Hals und hieb ihm die rechte Faust zwei-, dreimal an den Kopf; da lag er still.
»Was war das?« fragte Sam. »Habt ihr nichts gehört?«
»Old Shatterhands Pferd stampfte,« antwortete Dick.
»Er ist fort. Wo er sein mag? Er wird doch keine Dummheiten machen!«
»Dummheiten? Der? Der hat noch keine gemacht und wird auch niemals welche machen.«
»Oho! Er ist imstande und sucht die Kiowas heimlich auf, um sie zu alarmieren und diesem Santer das Leben zu erhalten!«
»Nein, das tut er nicht. Lieber erwürgt er den Mörder, als daß er ihn entkommen läßt. Der Tod der beiden Ermordeten ist ihm riesig nahe gegangen; das mußt du ihm doch angesehen haben.«
»Mag sein. Aber ich nehme ihn nicht mit, wenn ich nachher die Kiowas beschleiche; er kann mir auch gar nichts dabei nützen. Ich will die Kerls zählen und die Oertlichkeit sehen; dann läßt es sich bestimmen, wie wir angreifen müssen. Er macht seine Sache als Greenhorn oft ganz gut, aber sich bei solchen Feuerflammen dem Lager der Kiowas zu nähern, das bringt er doch nicht fertig. Diese Kerls wissen, daß wir kommen; sie sind also vorsichtig und werden die Ohren so spitzen, daß nur ein alter Westmann an sie kommen kann; ihn aber würden sie gewiß sehen und auch hören.«
Da stand ich auf, trat schnell zu ihm und sagte: »Da irrt Ihr, lieber Sam. Ihr glaubt mich fort, und ich bin doch da. Verstehe ich es also oder nicht, mich anzuschleichen?«
»Alle Wetter!« antwortete er. »Ihr seid wirklich da? Man hat Euch doch gar nicht bemerkt!«
»Das ist ein Beweis, daß Euch das mangelt, was mir nach Euern Worten mangeln soll. Es sind überhaupt, ohne daß Ihr es wißt, noch ganz andere Leute da als ich.«
»Wer denn, wer? Wen meint Ihr?«
»Geht hin zu den Brombeeren dort; da werdet Ihr ihn sehen, Sam!«
Er stand auf und folgte meiner Weisung; die andern taten nach seinem Beispiele.
»Hallo!« rief er aus. »Da liegt ein Kerl, ein Indianer! Wie kommt der hierher?«
»Das laßt Euch von ihm selbst sagen!«
»Er ist ja tot!«
»Nein. Ich habe ihn nur betäubt.«
»Wo denn? Doch nicht etwa hier? Ihr waret fort. Ihr habt ihn irgendwo überrascht, ihm einen Eurer Jagdhiebe gegeben und ihn dann hierher gebracht.«
»Das denkt nicht! Er lag hier in den Brombeeren versteckt, und ich habe ihn bemerkt. Als er heraus wollte, um sich davonzuschleichen, gab ich ihm den Hieb. Ihr habt diesen Hieb auch gehört, denn Ihr fragtet danach, und er wurde für ein Stampfen meines Pferdes gehalten.«
»Alle Teufel, das stimmt! Er ist also wirklich dagewesen, hat im Busche gesteckt und alles gehört, was wir gesprochen haben. Welch ein Unheil für uns, wenn es ihm gelungen wäre, unbemerkt fortzukommen! Wie gut, daß Ihr ihn unschädlich gemacht habt! Bindet und knebelt ihn, wenn ich mich nicht irre! Aber warum ist er nicht drüben bei seinen Leuten? Was hat er hier zu tun gehabt? Er muß doch eher dagewesen sein als wir?«
»Ihr sprecht solche Fragen aus und nennt andere Leute Greenhorns? Das sind doch so recht eigentliche Greenhornsfragen! Natürlich ist er eher dagewesen als wir. Die Kiowas wußten, daß wir kommen; sie nahmen an, daß wir der Spur Santers folgen und also hier erscheinen würden. Sie wollten uns empfangen, und um den richtigen Zeitpunkt nicht zu versäumen, stellten sie hier einen Posten aus, der sie benachrichtigen sollte. Aber weil wir zu schnell ritten oder weil er grad nicht gut aufpaßte oder aber weil er grad hier ankam, als wir auch kamen, haben wir ihn überrascht, so daß er sich in die Brombeeren verstecken mußte.«
»Er hätte doch fliehen können, hinüberfliehen zu den Seinen!«
»Dazu fand er keine Zeit, denn wir hätten ihn noch laufen sehen und also erraten müssen, daß die Kiowas von uns wüßten und von ihm gewarnt worden seien. Es ist auch möglich, daß er von vornherein entschlossen war, sich hier zu verstecken, um uns zu belauschen.«
»Dies ist alles ganz gut und möglich. Mag es nun sein, wie es will, es ist ein Glück, daß wir ihn erwischt haben. Nun wird er beichten und alles gestehen müssen.«
»Er wird sich hüten, etwas zu sagen. Ihr bringt nichts aus ihm heraus.«
»Kann sein. Es ist auch gar nicht nötig, daß wir uns Mühe mit ihm geben. Wir wissen doch ohnedem, woran wir sind, und was ich noch nicht weiß, das werde ich bald erfahren, denn ich gehe jetzt hinüber.«
»Um vielleicht nicht wieder herüberzukommen!«
»Warum?«
»Weil Euch die Kiowas behalten werden. Ihr habt ja selbst gesagt, daß es bei diesen vielen großen und hellen Feuern sehr schwer sei, sich anzuschleichen.«
»Ja, für Euch, für mich aber nicht. Darum wird es so, wie ich Euch gesagt habe: ich gehe hinüber, und Ihr bleibt da.«
Er sagte das in einem so bestimmten, gebieterischen Tone, daß ich ihm nun denn doch entgegnete:
»Ihr seid heute ganz ausgewechselt, Sam. Ihr glaubt doch nicht etwa, mir Befehle erteilen zu können? Oder solltet Ihr doch?«
»Natürlich glaube ich das.«
»Nun, da muß ich Euch in aller Freundschaft sagen, daß Ihr Euch irrt. Als Surveyor stehe ich über Euch, denn Ihr seid uns nur als Sicherheitswache zukommandiert gewesen. Sodann wißt Ihr, daß ich unter Zustimmung des ganzen Stammes von Intschu tschuna zum Häuptling erklärt worden bin. Ihr mögt also Eure Stellung zu mir von welcher Seite betrachten, wie Ihr wollt, so stehe ich über Euch und bin es, der zu befehlen hat.«
»Mir hat kein Häuptling etwas zu sagen,« behauptete er. »Und außerdem bin ich ein alter Westmann, während Ihr ein Greenhorn und mein Schüler seid. Das solltet Ihr nicht vergessen, wenn Ihr nicht für undankbar gehalten werden wollt. Es bleibt dabei: Ich gehe jetzt, und Ihr bleibt hier!«
Er ging wirklich. Die Apachen murrten über ihn, und auch Stone meinte verdrossen:
»Er ist heut wirklich ganz anders als sonst. Euch Undankbarkeit vorzuwerfen! Wir sind es doch, die sich bei Euch zu bedanken haben, denn ohne Euch lebten wir nicht mehr. Hat er Euch denn auch einmal das Leben gerettet!«
»Laßt ihn!« antwortete ich. »Er ist ein kleiner, prächtiger Kerl, und grad sein heutiges Auftreten spricht für ihn. Es ist die Wut über Intschu tschunas und Nscho-tschis Tod. Gehorchen werde ich ihm allerdings nicht. Ich gehe jetzt auch. In der Aufregung, in welcher er sich befindet, kann er sich leicht zu etwas hinreißen lassen, was er bei gewöhnlicher Stimmung vermeiden würde. Bleibt hier, bis ich wiederkomme, und selbst wenn Ihr Schüsse hören solltet, geht Ihr nicht vom Platze. Nur dann, wenn Ihr meine Stimme hört, welche bis hierher zu vernehmen ist, kommt Ihr mir zu Hilfe.«
Ich ließ meinen Bärentöter liegen, ebenso wie Sam seine alte Liddy dagelassen hatte, und entfernte mich. Ich hatte bemerkt, wie Hawkens gleich von uns weg durch das Flußbett gegangen war; er wollte sich also von drüben anschleichen. Ich hielt dies für falsch und beabsichtigte, es anders und besser zu machen. Die Kiowas wußten, daß wir flußaufwärts von ihnen zu suchen waren, und richteten also ihre Aufmerksamkeit ganz besonders dorthin; darum handelte Hawkens sehr falsch, indem er sich von dorther annähern wollte. Ich dagegen nahm mir vor, von der entgegengesetzten Seite zu kommen.
Darum ging ich am diesseitigen Ufer abwärts, doch so weit von demselben, daß mich der Schein der jenseits brennenden Feuer nicht treffen konnte, bis das Wäldchen drüben zu Ende war. Da unten war kein Feuer angezündet worden, und die Bäume hielten den Lichtschein ab. Es war hier also so dunkel, daß ich unbemerkt hinunter in das Flußbett und jenseits wieder hinaufgelangen konnte. Nun befand ich mich unter den Bäumen, legte mich nieder und kroch vorwärts. Es brannten acht Feuer. So viele wurden nicht gebraucht, denn ich zählte nur gegen vierzig Indianer; sie waren also nur angebrannt, um uns zu zeigen, wo die Kiowas lagerten.
Diese saßen unter den Bäumen in verschiedenen Gruppen beisammen und hatten ihre Gewehre schußfertig in den Händen. Wehe uns, wenn wir so unvorsichtig gewesen wären, in die uns gestellte Falle zu laufen! Diese war übrigens eine so bemerkbar und dumm gelegte, daß nur ganz unerfahrene Menschen in dieselbe hätten gehen können. Die Pferde der Roten sah ich draußen auf der freien Prärie weiden.
Ich hätte gar zu gern eine der Gruppen belauscht, womöglich die, bei welcher sich der Anführer befand, weil dort sicherer zu hören war, was ich wissen wollte. Aber wo war der Anführer zu suchen? Jedenfalls bei der Gruppe, bei welcher auch Santer saß; so sagte ich mir. Also schob ich mich von Baum zu Baum, um den letzteren zu entdecken.
Nach einigem Suchen sah ich ihn; er saß mit vier Indianern zusammen, von denen allerdings keiner das Abzeichen der Häuptlingswürde trug; das war auch gar nicht nötig, denn nach den Gebräuchen der Roten mußte der Aelteste dieser vier der Anführer sein. Leider konnte ich mich nicht so nahe hinwagen, wie ich gern wollte, denn es gab kein Unterholz, in dem ich Schutz und Deckung gefunden hätte. Aber einige Bäume standen so, daß ihr Gesamtschatten mir eine, wenn auch nur zweifelhafte Sicherheit bot. Da acht Feuer brannten, warf jeder Baum mehrere Schatten, Halbschatten, welche hin und her zitterten und dem Innern des Wäldchens ein gespenstisches Aussehen verliehen.
Zu meiner Freude sprachen die Roten nicht leise, sondern laut miteinander, denn es lag doch nicht in ihrer Absicht, heimlich zu tun; wir sollten sie nicht nur sehen, sondern auch hören. Ich erreichte den erwähnten Schatten und blieb dort liegen, vielleicht zwölf Schritte von Santers Gruppe entfernt. Es war kein geringes Wagnis von mir, da ich von den andern Roten viel leichter als von dieser Gruppe aus entdeckt werden konnte.
Ich hörte, daß Santer das große Wort hatte. Er erzählte von dem Nuggetberge und forderte die Roten auf, mit ihm dorthin zu ziehen und den Schatz zu heben.
»Weiß mein weißer Bruder den Ort, an dem er zu finden ist?« fragte der älteste der vier Indianer.
»Nein. Wir wollten ihn erfahren, aber die Apachen kamen zu schnell zurück. Wir glaubten, sie würden sich so lange verweilen, daß wir sie belauschen könnten.«
»Dann ist alles Suchen vergeblich. Es können zehnmal hundert Mann hingehen, um nachzuforschen; sie werden nichts finden. Die roten Männer verstehen es sehr gut, solche Stellen völlig unkenntlich zu machen. Aber da mein Bruder den größten unserer Feinde und seine Tochter erschossen hat, so werden wir ihm den Gefallen tun, später mit ihm hinzureiten und ihm suchen helfen. Vorher aber müssen wir deine Verfolger fangen und dann auch Winnetou töten.«
»Winnetou? Der wird doch bei ihnen sein!«
»Nein, denn er darf nicht von seinen Toten fort und wird auch die größere Hälfte seiner Krieger bei sich behalten. Die kleinere Hälfte ist dir nach und wird von Old Shatterhand, dem weißen Hunde, angeführt, welcher unserm Häuptlinge die Knie zerschmettert hat. Diese Schar werden wir heute überwältigen.«
»Dann reiten wir nach dem Nuggetberge, um Winnetou kalt zu machen und nach dem Golde zu suchen!«
»Das ist nicht so möglich, wie mein Bruder denkt. Winnetou hat seinen Vater und seine Schwester zu begraben, wobei er nicht gestört werden darf, denn der große Geist würde uns dies nie verzeihen. Aber dann, wenn er fertig ist, überfallen wir ihn. Er wird nun nicht nach den Städten der Bleichgesichter ziehen, sondern heimkehren. Da legen wir ihm einen Hinterhalt oder locken ihn so heran, wie wir es heut mit Old Shatterhand tun, der ganz gewiß dabei ist. Ich warte nur, daß mein Späher zurückkehrt, der sich drüben versteckt hat. Und auch die Wächter, welche sich weit draußen hingelegt haben, haben mir noch keine Meldung gesandt.«
Als ich dies hörte, erschrak ich. Es lagen also Posten vor dem Wäldchen. Wenn Sam Hawkens diese nicht bemerkte und zwischen sie geriet! Kaum hatte ich dies gedacht, so hörte ich ein kurz ausgestoßenes Geschrei mehrerer Stimmen. Der Anführer sprang auf und lauschte. Auch alle andern Kiowas waren still und horchten.
Da näherte sich dem Wäldchen eine Gruppe, welche aus vier Roten bestand, die einen Weißen geschleppt brachten. Er sträubte sich, doch ohne Erfolg; er war zwar nicht gefesselt, wurde aber von den vier Messern seiner Besieger in Schach gehalten. Dieser Weiße war mein unvorsichtiger Sam! Mein Entschluß stand sofort fest: ich durfte ihn nicht stecken lassen, obwohl ich dabei mein Leben wagte.
»Sam Hawkens!« rief Santer, der ihn erkannte. »Good evening, Sir! Habt wohl nicht geglaubt, mich hier wiederzusehen?«
»Schuft, Räuber, Mörder!« antwortete ihm der furchtlose Kleine, indem er ihn bei der Gurgel packte. »Gut, daß ich dich habe; nun bekommst du deinen Lohn, wenn ich mich nicht irre.«
Der Angegriffene wehrte sich. Die Roten griffen zu und rissen Sam von ihm weg. Das gab einen kurzen Tumult, den ich schnell benutzte. Ich zog die beiden Revolver, sprang nach der Stelle hin und mitten unter die Indianer hinein.
»Old Shatterhand!« schrie Santer, indem er erschrocken davonrannte.
Ich schickte ihm zwei Kugeln nach, die aber wohl nicht trafen, gab die übrigen Schüsse auf die Roten ab, welche zurückwichen, und rief Sam zu:
»Fort, mir nach, genau hinter mir her!«
Es war, als ob die Roten vor Entsetzen unfähig zur Bewegung seien; sie standen starr, obgleich ich auf sie geschossen hatte, doch absichtlich nach ungefährlichen Körperstellen. Ich faßte Sam beim Arme und riß ihn mit mir fort, in das Wäldchen hinein, durch dasselbe hindurch und in das Flußbette hinab. Das ging alles so schnell, daß von dem Augenblicke meines Angriffes an bis jetzt kaum mehr als eine Minute vergangen war.
»All devils, war das zur rechten Zeit!« meinte Sam, als wir unten angekommen waren. »Ich wurde von diesen Schurken«
»Schwatzt nicht, sondern folgt mir,« unterbrach ich ihn, indem ich seinen Arm fahren ließ und mich nach rechts wandte, um im Flußbette abwärts zu rennen, denn es galt zunächst, außer Schußweite zu kommen.
Nun erst kamen die völlig überrumpelten und verblüfften Roten zu sich. Ihr Geheul erscholl hinter uns her, so daß ich Sams Schritte nicht mehr hören konnte. Schrille Rufe erschallten, Schüsse krachten; es war ein wahrer Höllenlärm.
Warum flüchtete ich nicht flußaufwärts, unserm Lager zu, sondern abwärts, demselben grad entgegengesetzt? Aus einem sehr triftigen Grunde. Die Roten konnten uns zunächst nicht sehen, weil es unten im Flußbette dunkel war, und rannten jedenfalls aufwärts, weil sie als sicher annahmen, daß wir in dieser Richtung geflohen seien; wir befanden uns also, indem wir abwärts rannten, so ziemlich in Sicherheit und konnten dann in einem Bogen nach unserm Lager zurückkehren.
Als ich glaubte, weit genug gelaufen zu sein, hielt ich an. Das Geheul der Roten ertönte immer noch in der Ferne; da wo ich stand, regte sich nichts.
»Sam!« rief ich mit unterdrückter Stimme.
Es erfolgte keine Antwort.
»Sam, hört Ihr mich?« fragte ich lauter.
Er antwortete auch jetzt nicht. Wo steckte er? Er mußte mir doch gefolgt sein! War er vielleicht gestürzt und hatte sich verletzt? Denn meine Flucht war über rissigen, vertrockneten Schlamm und tiefe Wasserlachen gegangen. Ich nahm Patronen aus dem Gürtel, lud die Revolver wieder und kehrte dann um, langsamen Schrittes nach ihm zu suchen.
Der Höllenlärm, den die Kiowas machten, währte noch immer fort; dennoch wagte ich mich näher und näher, bis ich wieder unter dem Wäldchen an der Stelle stand, wo ich Sam aufgefordert hatte, mir zu folgen. Ich hatte ihn nicht gefunden. Er war wohl anderer Ansicht als ich gewesen und gleich an das andere Ufer gestiegen, ohne auf meine Worte zu achten. Aber da mußte ihn der Schein der Feuer getroffen und beleuchtet haben, und er hatte sich nicht nur den Augen der Kiowas, sondern auch ihren Kugeln preisgegeben. Welche Unbedachtsamkeit von dem kleinen, heut so obstinaten Kerlchen! Es wurde mir abermals angst um ihn; ich entfernte mich wieder von dem Wäldchen, bis ich von demselben aus nicht bemerkt werden konnte, und lief in einem Bogen auf unser Lager zu.
Dort fand ich alles in großer Aufregung. Die roten und weißen Gefährten drängten sich an mich heran, und Dick Stone rief in vorwurfsvollem Tone aus:
»Sir, warum habt Ihr uns verboten, Euch nachzukommen, selbst wenn Schüsse fallen sollten! Wir haben mit wahrer Gier gewartet, daß Ihr rufen würdet. Gott sei Dank, daß wenigstens Ihr wieder da seid, und zwar unverletzt, wie ich sehe!«
»Wo ist Sam? Nicht hier?« erkundigte ich mich.
»Hier? Wie könnt Ihr nur so fragen! Habt Ihr denn nicht gesehen, wie es ihm ergangen ist?«
»Wie denn?«
»Als Ihr fort waret, warteten wir. Nach längerer Zeit hörten wir einige Rote rufen; dann wurde es wieder still. Da auf einmal hörten wir Revolverschüsse und kurz darauf ein entsetzliches Geheul. Dann krachten Flintenschüsse, und wir sahen Sam erscheinen.«
»Wo?«
»Drunten beim Wäldchen, am diesseitigen Ufer.«
»Dachte es mir! Sam ist heut so unvorsichtig gewesen wie noch nie. Weiter, weiter!«
»Er kam auf uns zugelaufen, aber es war eine ganze Menge Kiowas hinter ihm her, die ihn ereilten und festnahmen. Wir sahen dies deutlich, weil die Feuer hell brennen, und wollten ihm Hilfe bringen; aber ehe wir die Stelle erreichen konnten, waren sie mit ihm schon über das Flußbette hinüber und verschwanden unter den Bäumen. Wir hatten große Lust, ihnen nachzufolgen, um sie anzugreifen und Sam zu befreien; aber wir dachten an Euer Verbot und unterließen es.«
»Daran habt ihr sehr klug getan, denn ihr elf Mann hättet nichts erreicht und wäret alle ausgelöscht worden.«
»Aber was tun wir, Sir? Sam ist gefangen!«
»Leider ja, und zwar nun zum zweitenmal!«
»Zum zweiten ?!« rief er erstaunt.
»Ja. Nach dem ersten Male hatte ich ihn schon wieder frei; er brauchte mir nur zu folgen, so stände er jetzt grad so hier wie ich; aber er hat heut eben seinen Kopf für sich.«
Ich erzählte ihnen, was geschehen war. Als ich geendet hatte, sagte Will Parker:
»Da trifft Euch keine Schuld, Sir! Ihr habt weit mehr getan, als was jeder andere gewagt hätte. Sam hat sich selbst in diese Tinte geritten; aber wir dürfen ihn deshalb doch nicht drin sitzen lassen!«
»Nein; er muß heraus. Das wird uns aber nun weit schwerer werden, als es mir zum erstenmal geworden ist; denn wir können uns darauf verlassen, daß die Kiowas doppelt scharf aufpassen werden.«
»Das ist gewiß. Aber vielleicht ist es dennoch möglich, ihn noch einmal herauszuhauen!«
»Hm, möglich ist alles; aber zwölf Mann gegen fünfzig, die nur darauf warten, überfallen zu werden! Und doch ist dies wahrscheinlich die einzige Art und Weise, denn am Tage dürfen wir den Angriff auf das Wäldchen noch viel weniger wagen.«
»Well, so greifen wir noch in dieser Nacht an!«
»Langsam, langsam! Das will überlegt sein.«
»Ueberlegt es, Sir; aber gebt mir inzwischen die Erlaubnis, mich einmal hinüberzuschleichen, um nachzuforschen, wie es steht.«
»Das mögt Ihr tun, doch nicht jetzt, sondern später, wenn einige Zeit verflossen ist und ihre Aufmerksamkeit sich vermindert hat. Und dann geht Ihr nicht allein, sondern ich begleite Euch, und wahrscheinlich nehmen wir auch die andern alle mit.«
»Schön, sehr gut, Sir! Das will ich gelten lassen. Die andern auch gleich mitnehmen, das klingt schon ganz wie Ueberfall. Wir werden unsere Pflicht tun. Sechs bis acht Kiowas nehme ich auf mich allein, und Dick Stone wird nicht weniger haben wollen. Nicht, alter Dick?«
»Yes, hast's getroffen, alter Will,« antwortete der Gefragte. »Es kommt mir auf einige mehr oder weniger gar nicht an, wenn es sich darum handelt, Sam loszumachen. Ist sonst ein kleiner Pfiffikus; hat aber heut grad seinen schwachen Tag gehabt.«
Ja, allerdings, an diesem Tage war Sam recht schwach gewesen. Ich ging im stillen mit mir zu Rate, auf welche Weise er am besten zu befreien sei. Mein Leben hatte ich für ihn wagen dürfen, aber war ich berechtigt, seinetwegen auch dasjenige der Apachen auf das Spiel zu setzen? Vielleicht konnte man auf dem Wege der List leichter und ungefährlicher an das Ziel gelangen. Das mußte sich nachher ergeben, wenn wir uns hinüberschlichen. Um für alle Fälle gerüstet zu sein, wollte ich da die Apachen auch mitnehmen. Vielleicht stellte es sich heraus, daß ein plötzlicher Angriff Vorteile bot, welche wir mit keinen großen Wagnissen erreichen konnten.
Jetzt mußten wir noch warten, denn wir machten die Bemerkung, daß es drüben noch sehr lebhaft zuging. Bald aber wurde es ruhiger, und diese Stille wurde nur durch kräftige, weithin schallende Tomahawkhiebe unterbrochen. Die Roten schlugen Holz von den Bäumen; wahrscheinlich hatten sie die Absicht, Feuer bis zum Morgen in der jetzigen, ungewöhnlichen Weise zu unterhalten.
Dann hörten auch die Axtschläge auf. Die Sterne deuteten Mitternacht an, und ich hielt es für an der Zeit, ans Werk zu gehen. Zunächst sorgten wir dafür, daß die Pferde, welche wir zurücklassen mußten, gut angebunden waren und nicht loskommen konnten; dann sah ich noch einmal nach den Fesseln und dem Knebel des gefangenen Kiowa. Hierauf verließen wir unsern Lagerplatz und schlugen genau denselben Weg ein, auf welchem ich vorhin nach dem Flußbette gegangen war.
Als wir unterhalb des Wäldchens in demselben standen, befahl ich den Apachen, unter der Anführung Dick Stones hier zurückzubleiben und ja jedes Geräusch zu vermeiden. Dann stieg ich mit Will Parker leise zu den Bäumen empor. Als wir die Uferhöhe erreicht hatten, legten wir uns nieder und lauschten. Es herrschte tiefste Stille ringsumher. Nun krochen wir langsam vorwärts. Die acht Feuer brannten noch immer so hoch. Ich sah, daß ganze Haufen starker Aeste in dieselben geworfen worden waren. Das machte mich stutzig. Wir rückten weiter und weiter vor und sahen keinen Menschen. Endlich überzeugten wir uns, freilich unter Beachtung aller Vorsicht, daß das Wäldchen leer war. Es gab keinen einzigen Kiowa mehr da.
»Sie sind fort, wirklich fort, heimlich fort!« sagte Parker erstaunt. »Und doch haben sie die Feuer noch so geschürt!«
»Um ihren Rückzug zu maskieren. So lange die Feuer brennen, müssen wir denken, daß sie noch da sind.«
»Aber wohin sind sie? Ganz fort?«
»Ich vermute es, weil Sam für sie eine gute Beute ist, die sie in Sicherheit bringen wollen. Aber es ist auch möglich, daß sie eine Teufelei beabsichtigen.«
»Welche?«
»Uns drüben zu überfallen, wie wir sie jetzt hier hüben angegriffen hätten.«
»Wetter, das ist freilich möglich! Da müssen wir schleunigst vorbeugen, Sir!«
»Ja; wir müssen hinüber und unsere Pferde in Sicherheit bringen, auch wenn es sich später als unnötig erweisen sollte. Besser ist besser.«
Wir stiegen zu den Apachen hinab und eilten nach unserm Lagerplatze, wo wir alles in Ordnung fanden. Doch die Kiowas konnten auch noch später kommen; darum stiegen wir auf und ritten ein tüchtiges Stück in die Prairie hinein, wo wir uns lagerten. Wenn die Kiowas ja noch kamen, so fanden sie uns nicht am alten Platze und mußten den Tag abwarten, um uns zu sehen. Den Gefangenen hatten wir natürlich nicht liegen lassen, sondern mitgenommen.
Nun blieb auch uns nichts anderes übrig, als uns bis zum Morgen zu gedulden. Wer schlafen konnte, der schlief; wer das nicht fertig brachte, der wachte. So verging die Nacht, und als der Morgen zu dämmern begann, setzten wir uns auf die Pferde und ritten zunächst nach unserem Lagerplatz zurück. Es war niemand dagewesen, und wir hatten uns also ohne Grund entfernt; doch das schadete nichts. Dann ging es über den Fluß nach dem Wäldchen hinüber. Die Feuer waren niedergebrannt und hatten Aschenhaufen hinterlassen als die einzigen Zeichen davon, daß es gestern hier so lebhaft zugegangen war.
Nun untersuchten wir die Spuren. Von der Stelle, an welcher ich die Pferde gesehen hatte, führte die Gesamtspur der Kiowas fort; sie waren hier aufgestiegen, und hatten sich in südöstlicher Richtung entfernt. Es lag klar, daß sie es aufgegeben hatten, sich in einen Kampf mit uns einzulassen, welcher ihnen keinen Nutzen bringen konnte, weil es ihnen nicht mehr möglich war, uns zu überraschen.
Und Sam? Den hatten sie mitgenommen, was Dick Stone und Will Parker außerordentlich in das Gemüt griff. Auch mir tat das liebe Kerlchen herzlich leid, und ich war gern bereit, alles halbwegs Vernünftige zu seiner Befreiung zu unternehmen.
»Wenn wir ihn nicht losmachen, so werden sie ihn am Pfahle martern,« klagte Dick Stone.
»Nein,« tröstete ich ihn. »Wir haben ja auch einen Gefangenen, eine Geisel für ihn.«
»Aber ob sie das wissen!«
»Jedenfalls. Sam ist unbedingt so klug gewesen, es ihnen zu sagen. Wie man es ihm macht, so machen wir es mit unserm Gefangenen.«
»Aber wir müssen diesen Indsmen nachreiten, es mag stehen, wie es will!«
»Nein.«
»Was? Ihr wollt ihn im Stiche lassen?«
»Auch nein.«
»Aber wie reimt Ihr dieses beides zusammen?«
»Dadurch, daß ich mich von diesen roten Kerls nicht an der Nase in der Savanne herumführen lasse.«
»An der Nase? Ich verstehe Euch nicht.«
»Nun, seht Euch einmal ihre Fährte an! Wie alt ist sie wohl?«
»Sie sind schon vor Mitternacht fort, wie es den Anschein hat.«
»Das denke ich auch. Von da an bis jetzt sind gegen zehn Stunden vergangen. Denkt Ihr, daß wir diesen Vorsprung heut einholen können?«
»Nein.«
»Oder morgen?«
»Auch nicht.«
»Und wohin meint Ihr, daß sie geritten sind?«
»Nach ihrem Dorfe.«
»So kommen sie dort an, ehe wir sie einholen können. Seid Ihr nun vielleicht der Ansicht, daß wir zwölf Personen uns mitten in das weite Gebiet der Kiowas wagen können, um eines ihrer Dörfer zu überfallen und einen Gefangenen zu befreien?«
»Das würde Wahnsinn sein.«
»Schön! Wir sind also einer Meinung; wir reiten ihnen nicht nach.«
Da kratzte er sich hinter dem Ohre und murmelte ratlos und ärgerlich:
»Aber Sam, Sam, Sam! Unser alter Sam, was wird mit dem? Wir können ihn doch nicht aufgeben!«
»Nein, das tun wir nicht, sondern wir werden ihn im Gegenteile befreien.«
»Hol Euch der Teufel, Sir! Ich bin nicht dazu geschaffen, diese Art von Rätseln zu lösen. Einmal sagt Ihr, daß wir den Roten nicht folgen wollen, und gleich darauf behauptet Ihr, daß ihr Gefangener befreit werden soll. Das ist doch ganz so, als ob Ihr einen Esel in einem Atem erst ein Kamel und dann einen Affen nennt! Das mag begreifen, wer will, ich aber nicht!«
»Es ist schon etwas anderes, denn Euer Beispiel trifft nicht zu. Die Kiowas wollen nämlich gar nicht nach ihrem Dorfe.«
»Nicht? Wohin denn?«
»Erratet Ihr das nicht?«
»Nein.«
»Hm! Was für alte, erfahrene Westmänner ihr doch seid! Da lobe ich mir doch die Greenhorns, welche solche Nüsse knacken, ohne sich die Zähne daran auszubeißen! Die Roten wollen nämlich nach dem Nuggetberg.«
»Nach dem behold! Sollte das die Wirklichkeit sein, Sir?«
»Sie ist es; darauf könnt Ihr Euch verlassen.«
»Zuzutrauen wäre es ihnen wirklich!«
»Ich traue es ihnen nicht nur zu, sondern ich behaupte es mit Bestimmtheit.«
»Aber sie dürfen doch das Begräbnis nicht stören!«
»Das beabsichtigen sie auch nicht. Sie werden warten, bis es vorüber ist. Sie sind uns und den Apachen feindlich gesinnt; sie streben nach Rache. Da war ihnen Santers Ankunft sehr willkommen. Sie erfuhren den Tod Intschu tschunas und seiner Tochter und freuten sich darüber. Wie gern werden sie Winnetou und uns das gleiche Schicksal wünschen. Sie hatten es uns zugedacht, als sie hörten, daß Santer Verfolger hinter sich habe. Wir aber waren vorsichtig und gingen, Sam ausgenommen, nicht in die Falle. Nun versuchen sie es anders. Sie tun, als ob sie die Absicht hätten, nach ihrem Dorfe zu reiten; das hält uns ihrer Ansicht nach davon ab, ihnen zu folgen; sie nehmen also an, daß wir zu Winnetou zurückkehren werden. Wenn sie aber einige Zeit südöstlich geritten sind und dabei, wenn der Zufall es bietet, noch mehr Krieger an sich gezogen haben, wenden sie um und gehen nach dem Nuggetberge, wo wir, wie sie denken, uns ahnungslos überfallen und abschlachten lassen werden.«
»Schönes Exempel, jawohl, schönes Exempel! Werden aber dafür sorgen, daß es ein anderes Fazit ergibt!«
»Ja, das werden wir. Wahrscheinlich ist ihnen dieser Plan von Santer eingegeben worden, welcher diese Gelegenheit benützen will, sich Gold zu holen. Kurz und gut, ich bin vollständig überzeugt, daß der Stock so schwimmt, wie ich es jetzt erklärt habe. Wollt Ihr nun noch hinter den Kiowas her?«
»Fällt mir nicht ein. Eure Berechnung erscheint mir zwar etwas gewagt, aber so lange ich Euch kenne, habt Ihr Euch noch nie geirrt, sondern stets recht gehabt; darum denke ich, daß es diesmal auch so zutreffen wird. Was meinst du dazu, alter Will?«
»Ich meine, daß es genau so ist, wie Old Shatterhand sagt. Wir müssen fort von hier, augenblicklich fort, um Winnetou rechtzeitig warnen zu können. Seid Ihr einverstanden, Sir?«
»Ja.«
»Und den Gefangenen nehmen wir mit?«
»Natürlich. Wir binden ihn auf Sams Mary, was ihm freilich keinen großen Genuß bereiten wird. Nachdem ihr das besorgt habt, brechen wir gleich auf. Vorher jedoch wollen wir unten im Flusse einen Wassertümpel suchen, um unsere Pferde zu tränken.«
Eine halbe Stunde später waren wir unterwegs, keineswegs sehr zufrieden mit dem Erfolge unseres Rittes. Anstatt Santer zu fangen, hatten wir Sam Hawkens verloren, aber durch seine eigene Schuld, und wenn meine Voraussetzung sich später bewahrheitete, so stand fast mit Sicherheit zu erwarten, daß wir Sam Hawkens befreien und Santer ergreifen würden.
Bei der Verfolgung des Letzteren waren wir natürlich gezwungen gewesen, auf seiner Spur zu bleiben, und hatten infolgedessen einen Umweg gemacht, weil er von seiner ursprünglichen Richtung abgewichen war, und einen stumpfen Winkel geritten hatte. Ich beschloß, diesen Winkel abzuschneiden, und die Folge davon war, daß wir schon kurz nach Mittag des nächsten Tages vor der Schlucht hielten, welche hinauf nach der Lichtung führte, auf der der Ueberfall und Doppelmord geschehen war.
Wir ließen die Pferde unter der Obhut eines Apachen unten im Tale und stiegen empor. Am Rande der Lichtung stand ein Wächter, der uns nur mit einer stillen Bewegung der Hand begrüßte. Wir sahen beim ersten Blicke, wie fleißig die zwanzig Apachen gewesen waren, um das Begräbnis ihres Häuptlings und seiner Tochter vorzubereiten. Ich sah eine Menge schlanker Bäume liegen, welche mit den Tomahawks gefällt und zum Gerüste bestimmt waren. Sodann gab es große Haufen von Steinen, welche herbeigeschleppt worden waren und noch immer herbeigetragen wurden. Zu diesen Arbeitern gesellten sich sogleich die Apachen, welche ich mit mir gehabt hatte. Ich erfuhr, daß das Begräbnis am nächsten Tage stattfinden sollte.
Seitwärts hatte man eine interimistische Hütte errichtet, in welcher die beiden Leichen aufbewahrt wurden. Winnetou befand sich in derselben. Es wurde ihm gesagt, daß wir angekommen seien, und er trat heraus. Wie sah er aus!
Er war ja überhaupt sehr ernst und nur in seltenen Fällen glitt einmal ein Lächeln über sein Gesicht; laut lachen aber habe ich ihn niemals hören; jedoch lag auf seinen männlich schönen Zügen trotz dieses Ernstes stets ein Ausdruck der Güte und des Wohlwollens, und sein dunkles Sammetauge konnte bei Gelegenheit sogar außerordentlich freundlich blicken. Wie oft hat es auf mir mit einer Liebe und Zärtlichkeit geruht, deren Licht man sonst nur in Frauenaugen zu finden pflegt! Heut aber gab es von alledem keine Spur. Sein Gesicht schien steinhart geworden zu sein, und sein Auge blickte düster innenwärts. Seine Bewegungen waren langsam und schwer. So kam er auf mich zu, warf einen trüben, forschenden Blick umher, schüttelte mir matt die Hand, sah mir mit einem Ausdrucke, der mir tief in die Seele schnitt, in die Augen und fragte:
»Wann ist mein Bruder zurückgekehrt?«
»Soeben.«
»Wo befindet sich der Mörder?«
»Er ist uns entgangen.«
Die Aufrichtigkeit gebietet mir, zu gestehen, daß ich bei dieser Antwort den Blick zu Boden senkte. Ich möchte beinahe sagen, daß ich mich schämte, diese Worte auszusprechen.
Auch er sah zur Erde nieder. Ich hätte in sein Inneres blicken mögen! Erst nach einer langen Pause erkundigte er sich:
»Hat mein Bruder die Spur verloren?«
»Nein; ich habe sie noch jetzt. Er wird hierher kommen.«
»Old Shatterhand mag mir erzählen!«
Er setzte sich auf einen Stein; ich tat desgleichen und lieferte ihm einen genauen, wahrheitsgetreuen Bericht. Er hörte ihn wortlos bis zu Ende an, schwieg auch noch darüber hinaus und fragte dann:
»So weiß mein Bruder nicht genau, ob der Mörder von den Revolverkugeln getroffen worden ist?«
»Nein, ich möchte aber annehmen, daß ich ihn nicht verwundet habe.«
Er nickte leise, drückte mir die Hand und sagte:
»Mein Bruder mag mir die Frage verzeihen, welche ich vorhin aussprach, die Frage, ob er die Spur verloren habe! Old Shatterhand hat alles getan, was er tun konnte, und am Schlusse noch außerordentlich weise gehandelt. Sam Hawkens wird es sehr bedauern, unvorsichtig gewesen zu sein; wir werden es ihm verzeihen und ihn befreien. Ich denke auch wie mein Bruder: die Kiowas werden kommen; sie sollen uns aber anders finden, als sie uns zu finden hoffen. Der Gefangene mag nicht hart behandelt, aber scharf beobachtet werden. Morgen sollen die Gräber über Intschu tschuna und Nscho-tschi errichtet werden. Wird mein Bruder dabei sein?«
»Es würde mich sehr schmerzen, wenn Winnetou es mir nicht erlaubte!«
»Ich erlaube es nicht, sondern ich bitte dich darum. Deine Gegenwart wird vielleicht vielen Söhnen der Bleichgesichter das Leben erhalten. Das Gesetz des Blutes fordert den Tod vieler weißer Menschen; aber dein Auge ist wie die Sonne, deren Wärme das harte Eis zerweicht und in erquickendes Wasser verwandelt. Du weißt, wen ich verloren habe. Sei du mir Vater, und sei du mir Schwester zugleich; ich bitte dich darum, Scharlih!«
Eine Träne stand in seinem Auge. Er schämte sich ihrer, die er vor einem andern als mir unmöglich sehen lassen durfte, eilte davon und verschwand bei den Toten in der Hütte. Er nannte mich heut zum erstenmal bei meinem Vornamen Karl und hat ihn auch in Zukunft nie anders als jetzt, nämlich Scharlih, ausgesprochen.
Nun sollte ich von dem Begräbnisse erzählen, welches mit allen indianischen Feierlichkeiten vorgenommen wurde; ich weiß auch sehr wohl, daß eine eingehende Beschreibung dieser Feierlichkeiten gewiß interessieren würde, aber wenn ich an jene traurigen Stunden denke, fühle ich noch heut ein so tiefes Weh, als ob sie erst gestern vergangen wären, und die Schilderung derselben kommt mir wie eine Entweihung vor, nicht eine Entweihung der ›Grabmäler‹, welche wir den beiden Toten damals am Nugget-tsil erbauten, sondern des Denkmales, welches ich ihnen in meinem Herzen errichtete und stets treu gehütet habe. Darum bitte ich, die Beschreibung unterlassen zu dürfen.
Intschu tschunas Leiche wurde auf sein Pferd gebunden, worauf man um beide Erde häufte, bis sich das Tier nicht mehr bewegen konnte; dann bekam es eine Kugel in den Kopf. Der Erdhaufen wurde erhöht, bis er den Reiter, seine Waffen und seine Medizin ganz bedeckte, und dann rundum mit mehreren Steinschichten bis zur Spitze bedeckt.
Nscho-tschi erhielt auf meine Bitte ein anderes Grab. Ich wollte sie nicht so unmittelbar mit Erde bedeckt haben. Wir richteten sie an dem Stamme eines Baumes in sitzende Stellung auf und fügten dann um sie herum Steine zu einer festen, hohlen Pyramide zusammen, aus deren Spitze der Gipfel des Baumes ragte.
Ich bin später einigemal mit Winnetou am Nugget-tsil gewesen, um die Gräber zu besuchen. Wir haben sie immer unverletzt gefunden.