Dr. Karl May
Der Schatz im Silbersee
Dr. Karl May

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Dreizehntes Kapitel.

Edelmut Old Shatterhands.

Es war an demselben Morgen, als an dem Bache, welchem gestern abend die Utahs mit ihren Gefangenen gefolgt waren, ein Reitertrupp aufwärts ritt. An der Spitze desselben befand sich Old Firehand mit der Tante Droll. Hinter ihnen ritten Humply-Bill und der Gunstick-Uncle mit den englischen Lord; kurz, es waren die Weißen alle, welche das bereits erzählte Abenteuer am Eagle-tail erlebt hatten und dann nach den Bergen aufgebrochen waren, um nach dem Silbersee zu gelangen. In Denver war Butler, der Ingenieur, mit Ellen, seiner Tochter, zu ihnen gestoßen. Er hatte sich von der Farm seines Bruders direkt dorthin begeben, da es nicht seine Absicht hätte sein können, sein Kind den Gefahren eines abermaligen Zusammentreffens mit den Tramps auszusetzen. Das Mädchen, welches sich auf keinen Fall von dem Vater hatte trennen mögen und ihm zuliebe mit in die Wildnis ging, saß in einer Art von Sänfte, welche von zwei kleinen, aber ausdauernden indianischen Ponies getragen wurde.

Winnetou war jetzt nicht zu sehen, da er als Kundschafter, wozu er sich außerordentlich eignete, voranritt. Zufälligerweise hatte der Weg, welcher von ihm und Old Firehand vorgezeichnet worden war, den Trupp nach dem Walde und über die Blöße geführt, auf welcher Old Shatterhand und seine Begleiter mit den Utahs zusammengetroffen waren. Die beiden Anführer waren erfahren und scharfsinnig genug, die Spuren lesen zu können; sie hatten gesehen, daß Weiße von den Indianern gefangen genommen worden seien, und waren sofort bereit gewesen, der Fährte zu folgen, um vielleicht Hilfe zu bringen.

Sie ahnten nicht, daß von den Utahs das Kriegsbeil ausgegraben worden sei. Sowohl Winnetou als auch Old Firehand wußten sich mit diesem Stamme in tiefstem Frieden, und beide waren überzeugt, bei demselben eine freundliche Aufnahme zu finden und ein gutes Wort für die gefangenen Weißen einlegen zu dürfen.

Wo die Roten ihr Lager aufgeschlagen hatten, wußten sie nicht genau; aber sie kannten den See, und da die Umgebung desselben sich prächtig zum Kampieren eignete, so glaubten sie, die Utahs dort zu finden. Trotz der vorausgesetzten freundlichen Gesinnung wäre es ganz und gar gegen den Gebrauch des Westens gewesen, sich ihnen zu zeigen, ohne sie vorher beobachtet zu haben. Darum war Winnetou vorangeritten, um zu rekognoszieren. Eben als der Trupp die Stelle, an welcher die Ufer des Baches auseinander traten, um die Ebene zu bilden, erreicht hatte, kehrte der Apache zurück. Er kam im Galopp geritten und winkte schon von weitem, daß man anhalten solle. Das war kein gutes Zeichen, und darum fragte Old Firehand, als Winnetou vollends herangekommen war: »Mein Bruder will uns warnen. Hat er die Utahs gesehen?«

»Ich sah sie und ihr Lager.«

»Und Winnetou durfte sich ihnen nicht zeigen?«

»Nein, denn sie haben das Beil des Krieges ausgegraben.«

»Woran war das zu erkennen?«

»Aus den Farben, mit denen sie sich bemalt hatten, und auch daraus, daß ihrer so viele beisammen sind. Die roten Krieger vereinigen sich zu so vielen nur im Kriege und zur Zeit der großen Jagden. Da wir uns nicht in der Jahreszeit der Büffelzüge befinden, kann es nur das Schlachtbeil sein, um welches sich so viele geschart haben.«

»Wie groß ist ihre Zahl?«

»Winnetou konnte das nicht genau sehen. Es standen wohl dreihundert am See, und in den Zelten werden sich wohl auch welche befunden haben.«

»Am See? So viele? Was hat es da gegeben? Vielleicht ein großes Fischtreiben?«

»Nein. Beim Treiben der Fische bewegen die Menschen sich vorwärts; diese aber standen still und blickten ruhig in das Wasser.«

»Alle Teufel! Sollte das etwa eine Exekution bedeuten? Sollte man die Weißen in das Wasser geworfen haben, um sie zu ertränken?«

Diese Vermutung Old Firehands bewegte sich auf nicht ganz falscher Fährte, denn der Apache hatte die Utahs in dem Augenblicke beobachtet, in welchem das Wettschwimmen begonnen hatte. Winnetou antwortete mit solcher Zuversicht, als ob er mit am See gestanden und alles beobachtet hätte: »Nein, man will sie nicht ertränken; aber es gilt ein Schwimmen um das Leben.«

»Hast du Grund, das zu vermuten?«

»Ja. Winnetou kennt die Gebräuche seiner roten Brüder, und Old Firehand ist mit denselben auch so gut bekannt, daß er mir beistimmen wird. Die Utahs tragen die Kriegsfarben und betrachten die bei ihnen befindlichen Weißen also als Feinde. Dieselben sollen getötet werden. Aber der rote Mann läßt seinen Feind nicht schnell sterben, sondern er martert ihn langsam zu Tode; er wirft ihn nicht in das Wasser, um ihn rasch zu ertränken, sondern er gibt ihm einen überlegenen Gegner, mit welchem er um das Leben schwimmen muß. Da der Gegner stets besser schwimmt als das Bleichgesicht, so ist der Weiße unbedingt verloren. Man läßt ihn schwimmen, nur um sein Sterben, seine Todesangst zu verlängern.«

»Das ist richtig, und ich bin also ganz deiner Ansicht. Wir haben die Spuren von erst vier und dann zwei Weißen gezählt; das sind sechs. Man wird sie nicht alle schwimmen lassen, sondern jeden auf eine andre Art um sein Leben kämpfen lassen. Wir müssen uns beeilen, sie zu retten.«

»Wenn mein weißer Bruder das thut, so wird er sich nur beeilen, selbst zu sterben.«

»Nun, das muß gewagt werden. Ich baue darauf, daß ich mich gegen die Utahs niemals feindlich gezeigt habe.«

»Darauf darfst du dich nicht verlassen. Haben sie das Kriegsbeil gegen die Weißen ausgegraben, so behandeln sie ihren besten Freund als Feind, wenn er ein Bleichgesicht ist; sie würden auch deiner nicht schonen.«

»Aber die Häuptlinge würden mich schützen!«

»Nein. Der Utah ist nicht treu und aufrichtig, und kein Häuptling dieses Volkes hat auf seine Krieger den Einfluß, welcher dich zu retten vermöchte. Wir dürfen uns nicht zeigen.«

»Aber du darfst doch zu ihnen gehen!«

»Nein, denn ich weiß nicht, ob sie das Beil nicht auch gegen andre rote Nationen geschliffen haben.«

»Dann sind diese sechs Weißen aber doch rettungslos verloren!«

»Mein Bruder mag das nicht glauben. Ich habe zwei Gründe, welche dagegen sprechen.«

»Nun, erstens?«

»Erstens habe ich bereits gesagt, daß die Gefangenen der roten Männer nur langsam sterben dürfen; es ist aber noch früh am Morgen, und wir haben also noch Zeit, das Lager zu beobachten. Vielleicht erfahren wir mehr, als wir jetzt wissen, und dann können wir leichter einen Entschluß fassen.«

»Und zweitens?«

Der Apache machte ein äußerst pfiffiges Gesicht, als er antwortete: »Es befindet sich bei den Bleichgesichtern ein Mann, welcher sich und die Seinigen nicht so leicht töten läßt.«

»Wer?«

»Old Shatterhand.«

»Was!« fuhr der Jäger auf. »Old Shatterhand, mit welchem du droben am Silbersee zusammentreffen willst? Sollte er wirklich schon hier sein?«

»Old Shatterhand ist so pünktlich wie die Sonne oder ein Stern am Himmel.«

»Hast du ihn gesehen?«

»Nein.«

»Wie willst du da behaupten, daß er sich hier befindet!«

»Ich weiß es bereits seit gestern.«

»Ohne es mir zu sagen?«

»Schweigen ist oft besser als sprechen. Hätte ich gestern gesagt, wessen Gewehr auf der Blöße gesprochen hat, so würdet Ihr nicht ruhig geblieben sein, sondern viel schneller vorwärts gedrängt haben.«

»Sein Gewehr hat gesprochen? Woher weißt du das?«

»Als wir den Waldessaum und das Gras der Lichtung absuchten, fand ich ein Bäumchen mit Kugellöchern. Die Kugeln stammen aus Old Shatterhands Wunderbüchse; ich weiß das genau. Er hat die roten Männer erschrecken wollen, und sie fürchten sich nun vor seinem Gewehre.«

»Hättest du mir das Bäumchen gezeigt! Hm! Wenn Old Shatterhand sich unter diesen Weißen befindet, so braucht uns allerdings nicht allzu bange zu sein. Ich kenne ihn; ich weiß, was er leistet, und welchen Respekt die Indianer für ihn hegen. Was sollen wir thun? Was schlägst du uns vor?«

»Meine Freunde werden mir jetzt folgen und dabei einzeln hintereinander reiten, damit die Utahs, wenn sie ja auf unsre Fährte treffen sollten, nicht zählen können, wieviel Personen wir sind. Howgh!«

Er wendete sein Pferd nach rechts und ritt weiter, ohne zu fragen, ob Old Firehand ihm beistimme, und ohne sich umzuschauen, ob man ihm folge.

Die Ufer des Baches waren, wie schon gesagt, auseinander getreten, um als erst niedriger und dann immer mehr ansteigender Höhenzug die Ebene des Sees einzusäumen. Die Ebene war baumlos, aber die Höhen standen voller Wald, welcher bis zum Fuße derselben herniederstieg und dann einen lichten Saum von Büschen bildete. Hinter diesen Büschen und unter den Bäumen Schutz und Deckung suchend, folgte Winnetou der Höhe rechts, welche die nördliche Seite der Ebene begrenzte und dann im Westen an jenen Bergstock stieß, dessen Wasser den See speiste.

Auf diese Weise umritten die Weißen die Ebene von dem östlichen bis zu dem westlichen Punkte derselben, wo sie an den Bach gelangten und, einige hundert Schritte vom See entfernt, sich unter Bäumen befanden, zwischen denen hindurch sie auf das Lager sehen konnten. Dort stiegen sie ab. Doch banden sie ihre Pferde nicht an; es behielt vielmehr ein jeder die Zügel des seinigen in der Hand, und Winnetou verschwand, um die Umgebung abzusuchen. Er kehrte sehr bald zurück und meldete, daß er nichts Verdächtiges gefunden habe. Es war kein Utah heute an diesen Ort gekommen. Nun erst band man die Pferde an und lagerte sich in das weiche Moos. Der Platz war wie dazu gemacht, das Lager heimlich und dabei mit aller Gemütlichkeit zu beobachten.

Man sah die Utahs vor demselben stehen nach Süden hin. Dann erblickte man zwei Männer, welche sich von dem Haufen trennten und aus Leibeskräften südwärts rannten. Old Firehand nahm sein Fernrohr vor das Auge, sah hindurch und rief: »Ein Wettlauf zwischen einem Roten und einem Weißen! Der Rote ist schon weit voran und wird siegen. Der Weiße ist ein sehr kleiner Kerl.«

Er gab dem Apachen das Rohr. Kaum hatte dieser den kleinen Weißen vor das Glas bekommen, so fuhr er auf: »Uff! Das ist der Hobble-Frank! Dieser kleine Held muß um sein Leben laufen und kann den Roten unmöglich überholen.«

»Der Hobble-Frank, von dem du uns erzählt hast?« fragte Old Firehand. »Wir dürfen die Hände nicht in den Schoß legen; wir müssen einen Entschluß fassen!«

»Jetzt noch nicht,« meinte der Apache. »Noch hat es keine Gefahr. Old Shatterhand ist ja bei ihm.«

Die Bäume standen so, daß man nicht das ganze Terrain des Wettlaufes zu übersehen vermochte. Die beiden Läufer waren rechts verschwunden; man erwartete ihre Rückkehr und war natürlich überzeugt, daß der Rote zuerst erscheinen werde. Wie erstaunte man aber, als an Stelle dessen der Kleine erschien, ganz gemächlich gehend, als ob es sich um einen Spaziergang handle.

»Der Frank zuerst!« rief Old Firehand. »Wie ist das möglich!«

»Durch List,« antwortete Winnetou. »Er hat gesiegt, und wir werden es erfahren, wie er es angefangen hat. Hört ihr, wie die Utahs zornig schreien! Sie entfernen sich; sie kehren in das Lager zurück. Und seht, dort stehen vier Bleichgesichter; ich kenne sie.«

»Ich auch,« rief Droll. »Old Shatterhand, der lange Davy, der dicke Jemmy und dieser kleine Hobble-Frank.«

Diese Namen erregten allgemeines Aufsehen. Einige kannten einen oder mehrere der Genannten persönlich; die andern hatten genugsam von ihnen gehört, um ihnen das größte Interesse zu widmen. Die Bemerkungen flogen hin und her, bis Winnetou zu Old Firehand sagte: »Sieht mein Bruder jetzt, daß ich recht hatte? Unsre Freunde haben ihre Waffen noch; es kann also nicht gefährlich um sie stehen.«

»Einstweilen noch, ja; aber wie bald kann sich das ändern. Ich schlage vor, ganz offen hinzureiten.«

»Will mein Bruder hin, so mag er es thun; ich aber bleibe hier,« antwortete der Apache in sehr bestimmtem Tone. »Old Shatterhand kennt die Verhältnisse und weiß, was er thut; wir aber kennen sie nicht und würden ihn vielleicht in der Ausführung seines Planes stören. Bleibt hier, ich werde so weit wie möglich vordringen, um zu erfahren, was geschieht.«

Er behielt das Fernrohr in der Hand und verschwand zwischen den Bäumen. Es verging eine lange halbe Stunde; da kehrte er zurück und meldete: »Es gibt mitten im Lager einen Zweikampf. Die Utahs stehen so eng beisammen, daß ich die Kämpfenden nicht sehen konnte; aber den Hobble-Frank sah ich. Er zog die Pferde heimlich und vorsichtig hinter das Zelt und gab ihnen die Decken. Die Weißen wollen fort.«

»Und heimlich? Also fliehen?« fragte Old Firehand. »So postieren wir uns hier an den Weg und nehmen sie auf oder gehen ihnen gar entgegen.«

»Keins von beiden,« entgegnete der Apache kopfschüttelnd.

»Meine Ansichten scheinen heute bei meinem roten Bruder stets auf Widerspruch zu stoßen!«

»Old Firehand mag nicht zürnen, sondern nachdenken. Was werden die Roten thun, wenn die Weißen fliehen?«

»Sie werden dieselben verfolgen.«

»Wenn man vier oder sechs Männer verfolgt, wie viele Krieger braucht man dazu?«

»Nun, zwanzig bis dreißig.«

»Gut! Diese werden wir sehr leicht besiegen. Wenn wir uns aber den Utahs zeigen, wird der ganze Stamm hinter uns her sein, und dann muß viel Blut fließen.«

»Du hast recht, Winnetou. Aber wir können die Roten doch nicht blind machen. Sie werden unsre Zahl sehr bald aus der Fährte erkennen.«

»Sie werden die Fährte betrachten, welche vor ihnen ist, aber nicht diejenige, welche sich hinter ihnen befindet.«

»Ach, du meinst, daß wir ihnen folgen?«

»Ja.«

»Ohne daß wir uns Old Shatterhand zeigen?«

»Wir werden mit ihm sprechen, aber nur du und ich. Horch! Was ist das?«

Vom Lager her erscholl ein fürchterliches Geheul, und gleich darauf sah man vier Reiter im Galopp aus demselben kommen. Es waren die Weißen. Sie schlugen die Richtung nach dem obern Ende des Sees ein, hatten also die Absicht, den Bach zu erreichen und an demselben aufwärts zu reiten.

»Da kommen sie,« sagte Winnetou. »Old Firehand mag mir folgen. Meine andern weißen Brüder aber müssen mit den Pferden schnell tiefer in den Wald hinein und dort warten, bis wir zurückkehren. Sie mögen unsre Pferde mitnehmen.«

Er nahm Old Firehand bei der Hand und zog ihn mit sich fort, immer am hohen Ufer des Baches entlang, unter den Bäumen hin, bis an eine Stelle, von welcher aus man das Lager sehen konnte, ohne von dort aus bemerkt zu werden. Da blieben sie stehen.

Old Shatterhand kam schnell näher. Er hielt sich mit seinen Begleitern nahe am Wasser, ritt also unten, während der Apache und Old Firehand oben standen. Als er die Stelle erreichte, erklang es von oben herab: »Uff! Meine weißen Brüder mögen hier halten bleiben.«

Die vier parierten ihre Pferde und blickten nach oben.

»Winnetou, Winnetou!« riefen sie zugleich.

»Ja, es ist Winnetou, der Häuptling der Apachen,« antwortete er. »Und hier steht noch einer, welcher ein Freund meiner weißen Brüder ist.«

Er zog den gewaltigen Jäger hinter einem Baume hervor.

»Old Firehand!« rief Old Shatterhand. »Du hier, du! Ich muß hinauf, dich zu begrüßen! Oder komm herab!«

Trotz der Gefahr, in welcher er sich befand, machte er Miene, vom Pferde zu springen.

»Halt, bleib!« wehrte ihm Old Firehand ab. »Auch ich darf nicht zu dir.«

»Warum?«

»Die Utahs, welche dir folgen werden, dürfen von unsrer Gegenwart nichts ahnen.«

»Ach! Seid ihr allein?«

»Nein. Wir sind wohl vierzig Jäger, Rafters und sonstige Westmänner. Du wirst gute Bekannte bei uns finden. Jetzt ist es nicht Zeit zum Erzählen. Wo wolltest du hin?«

»Nach dem Silbersee.«

»Wir auch. Reitet jetzt weiter. Sobald eure Verfolger vorüber sind, kommen wir auch und nehmen sie in die Mitte.«

»Recht so!« rief Old Shatterhand. »Welch eine Freude und welch ein Glück, euch hier zu treffen! Aber wenn wir auch keine langen Reden halten können, so müßt ihr doch in Kürze erfahren, was geschehen ist. Könnt ihr von da oben aus das Lager sehen?«

»Ja.«

»So paßt auf, damit ich nicht überrumpelt werde. Ich will euch das Nötigste erzählen.«

Die Freude dieser Männer über das Zusammentreffen war gewiß groß; aber die Verhältnisse verboten es, ihr Worte zu verleihen und dabei Zeit zu verschwenden. Man machte sich gegenseitig in kurzer Weise die nötigen Mitteilungen, welche der geübte Scharfsinn dieser Leute sehr leicht zu ergänzen vermochte. Als man damit zu Ende war, ergriff Winnetou das Wort, indem er Old Shatterhand fragte: »Mein weißer Bruder kennt die tiefe Schlucht, welche von den Bleichgesichtern Night-Canon genannt wird?«

»Ja; ich bin ja mit dir mehrere Male dort gewesen.«

»Sie ist von hier aus in fünf Stunden zu erreichen. Sie erweitert sich in ihrer Mitte zu einem runden Platze, dessen Wände, die niemand zu ersteigen vermag, bis zum Himmel zu reichen scheinen. Erinnert Old Shatterhand sich dieser Stelle?«

»Sehr gut.«

»Bis dorthin mag mein weißer Bruder reiten. Ist er durch diese runde Stelle gekommen, so mag er sich jenseits derselben festsetzen. Die Schlucht ist da so schmal, daß kaum zwei Reiter einander ausweichen können. Er bedarf seiner Gefährten gar nicht und kann allein mit seiner Zauberflinte mehrere hundert Utahs aufhalten. Wenn sie dort angekommen sind, so können sie weder vorwärts noch rückwärts, denn wir werden schnelle hinter ihnen sein. Es bleibt ihnen nur die Wahl, sich bis auf den letzten Mann erschießen zu lassen oder sich zu ergeben.«

»Gut, wir werden diesem Rate folgen. Aber sagt mir nur vor allen Dingen noch das eine: Warum reitet ihr zu so vielen hinauf an den Silbersee?«

»Das will ich dir sagen,« antwortete Old Firehand. »Es gibt da oben eine äußerst reiche Silbermine, aber in so wasserloser Gegend, daß die Ausbeutung derselben eine Unmöglichkeit ist, falls es uns nicht gelingt, Wasser zu schaffen. Da ist mir der Gedanke gekommen, das Wasser des Silbersees hinzuleiten. Gelingt uns das, so nehmen wir Millionen aus der Mine. Ich habe einen Ingenieur mit, welcher die technischen Punkte erst zu begutachten und, im Falle des Glückes, dann auszuführen hat.«

Über Old Shatterhands Gesicht flog ein undefinierbares Lächeln, als er bemerkte: »Eine Mine? Wer hat sie entdeckt?«

»Ich selbst war mit dabei.«

»Hm! Leite den See nach dieser Mine, so machst du ein doppeltes Geschäft.«

»Wieso?«

»Auf dem Grunde desselben liegen Reichtümer, gegen welche deine Silberader die reinste Armut ist.«

»Ah! Meinst du den Schatz im Silbersee?«

»Allerdings.«

»Was weißt du davon?«

»Mehr, als du denkst. Du wirst es später erfahren, wenn mehr Zeit als jetzt dazu ist. Aber du selbst sprichst von diesem Schatze. Von wem hast du darüber erfahren?«

»Von – – na, auch davon später. Mache dich fort! Ich sehe Indianer aus dem Lager kommen.«

»Hierher?«

»Ja, zu Pferde.«

»Wie viele?«

»Fünf.«

»Pshaw! Sie sind nicht zu fürchten; aber ihr dürft euch doch nicht vor ihnen sehen lassen. Es ist die Avantgarde, welche uns nicht aus den Augen lassen soll; das Gros wird jedenfalls bald folgen. Also vorwärts! Auf Wiedersehen im Nachtcanon!«

Er gab seinem Pferde die Fersen und ritt mit den drei Begleitern davon. Old Firehand und Winnetou duckten sich nieder, um die fünf Utahs zu beobachten. Sie kamen heran und ritten, die Blicke aufmerksam nach vorn und gegen die Erde gerichtet, vorüber, ohne zu ahnen, was für gefährliche Leute sich in der Nähe befanden.

Nun kehrten die beiden zu ihren Leuten zurück. Diese hatten sich in den Wald zurückgezogen und befanden sich nahe der Einmündung des Baches in den See. Old Firehand wollte ihnen mitteilen, was er mit Old Shatterhand besprochen hatte; da fiel sein Auge auf mehrere Utahfrauen, welche sich dem Ufer des Sees näherten; sie trugen die zum Angeln nötigen Gerätschaften in den Händen. Er machte Winnetou auf sie aufmerksam und sagte: »Wenn man diese Squaws belauschen könnte, so würde man über die Absicht ihrer Krieger vielleicht etwas erfahren.«

»Winnetou wird es versuchen, wenn sie nahe genug herankommen,« antwortete der Apache.

Ja, sie kamen nahe genug herbei. Sie wollten nicht im See, sondern in der Mündung des Baches fischen. Dort setzten sie sich unter Büschen nebeneinander ans Ufer hin, warfen die Angeln aus und sprachen miteinander. Sie schienen es gar nicht zu wissen oder wenigstens sich nicht daran zu kehren, daß der Angler nicht sprechen darf. Winnetou wand sich wie eine Schlange zu ihnen hin und legte sich hinter die Büsche, an denen sie saßen. Es war unterhaltend, sie und zugleich auch ihn beobachten zu können. So lag er wohl über eine Viertelstunde und kehrte dann zurück, um zu melden: »Wenn diese Squaws nicht besser schweigen lernen, werden sie niemals eine Forelle fangen. Sie haben mir alles gesagt, was ich wissen wollte.«

»Und was war das?« wurde er gefragt.

»Die fünf Krieger, welche an uns vorüberritten, sollen die Fährte Old Shatterhands deutlicher machen, und in kurzer Zeit werden fünfzig andre folgen, angeführt von dem »großen Wolfe«.«

»So ist er unverletzt?«

»Ja. Der Hieb Old Shatterhands hat ihm die rechte Hand gelähmt und seinen Atem ins Stocken gebracht. Dieser ist ihm zurückgekehrt und die Hand hindert ihn nicht, die Verfolgung selbst zu leiten. Old Shatterhand soll erschossen werden, damit er den Navajos nichts über die Absichten der Utahs verraten kann. Diese letzteren zerstreuen sich heute in der ganzen Gegend, um zu jagen und Fleisch zu machen, denn morgen soll das Lager abgebrochen werden.«

»Wohin wird es verlegt?«

»Die Frauen und Kinder ziehen zu den Alten in die Berge, wo sie sicher sind; die Krieger aber folgen dem »großen Wolfe« nach, um den Versammlungsplatz aller Utahstämme aufzusuchen.«

»Wo ist derselbe?«

»Das schienen die Squaws nicht zu wissen. Mehr konnte ich nicht erfahren; es ist aber für das, was wir vorhaben, genug.«

»So können wir nichts thun, als warten, bis der »große Wolf« mit seinem Truppe vorüber ist. Daß er fünfundfünfzig Männer mit sich nimmt, zeigt uns, welchen Respekt er vor Old Shatterhand hat. Eine solche Überzahl gegen vier Weiße!«

»Old Shatterhand ist mein Freund und Schüler,« meinte Winnetou stolz. »Er hat fünfundfünfzig nicht zu fürchten.«

Nun legte man sich auf die Lauer, bis wohl nach einer Stunde der »große Wolf« mit seinen Leuten kam. Sie ritten vorüber, ohne einen Blick unter die Bäume zu werfen. Ihr Aussehen war ein höchst kriegerisches. Sie waren ohne Ausnahme mit Schießgewehren bewaffnet. Der Häuptling trug die rechte Hand in einer Binde. Sein Gesicht war noch dicker bemalt als am Morgen. Von seinen Schultern hing der mit Federn geschmückte Kriegsmantel auf den Rücken des Pferdes nieder; aber der Kopf trug nicht mehr den Schmuck der Adlerschwingen. Er war besiegt worden und wollte diese Auszeichnung erst wieder anlegen, wenn er seine Rache befriedigt hatte. Seine besten Leute ritten die besten Pferde, welche sich im Lager befunden hatten.

Zehn Minuten später folgte der kühne Winnetou ganz allein und nach abermals zehn Minuten brachen die andern auf.

Von einem wirklichen Wege war natürlich keine Rede. Man ritt immer am Wasser aufwärts. Dieses hatte im Frühjahre während des Hochwassers an den Ufern gefressen. Losgerissene Steine und Stämme lagen überall, und man kam infolgedessen nur sehr langsam vorwärts, besonders da die Sänfte nur schwer über solche Hindernisse zu bringen war. Als man dann die Lehne des Berges hinter sich hatte, wurde es besser. Die größte Steigung war überwunden, und je weniger Fall das Wasser hatte, desto weniger zerstört war die Umgebung des Baches.

Was die Fährte betrifft, welcher man folgte, so konnte dieselbe gar nicht deutlicher sein. Da Old Shatterhand solche Verbündete gefunden hatte, hielt er es nicht mehr für nötig, für eine unlesbare Spur zu sorgen. Die ihm folgenden fünf Utahs waren mit Absicht so geritten, daß ihre Hufeindrücke leicht zu sehen waren, und da der »große Wolf« keinen Feind hinter sich wußte, war es ihm nicht eingefallen, Vorsicht anzuwenden. Die Richtung nach dem Nachtcanon führte an der schmalsten Stelle der Elk Mountains quer über das Gebirge. Als man sich oben befand, wurde der Bach verlassen; es ging mitten durch Urwald, welcher kein Unterholz hatte. Die weit auseinander stehenden Stämme vereinigten ihre Kronen zu einer so dichten Laubdecke, daß nur an einzelnen Stellen ein Sonnenstrahl durchzudringen vermochte. Der Boden war moderig und weich und zeigte die Fährte tief eingeschnitten.

Einige Male näherte man sich dem Apachen so, daß man ihn zu sehen bekam. Seine Haltung war eine sehr unbesorgte. Er wußte, daß die Utahs ihre Aufmerksamkeit wohl schwerlich hinter sich richteten.

Zehn Uhr war es gewesen, als Old Firehand mit seinen Leuten vom See aufgebrochen war. Bis ein Uhr ging es fast nur durch Wald und dann über eine Buschprairie, was den Weißen sehr lieb sein mußte. Wäre die Prairie offen gewesen, so hätte man viel größere Abstände nehmen müssen. Das grasige Land senkte sich oft zu Thal, um drüben wieder emporzusteigen, dann kam wieder Wald, aber nicht für lange Zeit, denn schon nach wenigen Minuten erreichte man den jenseitigen Saum desselben. Dort hielt der Apache, um seine Gefährten zu erwarten. Warum er nicht weiterritt, diese Frage beantwortete er nicht durch Worte, sondern dadurch, daß er vorwärts zeigte.

Ein Anblick wirklich ganz einziger Art bot sich den Weißen. Man hatte das Gebiet des Elkgebirges hinter und dasjenige des Grand-River mit seinen Canons vor sich. Von rechts, von links und von da, wo die Reiter hielten, senkten sich drei schwarze, schiefe Felsenebenen wie riesige, unten zusammenstoßende Schiefertafeln gegeneinander. Die Neigung derselben war so stark und ihre Fläche so glatt, daß man unmöglich im Sattel bleiben konnte. Es war fast schaurig, bis auf den tiefen Grund, den man doch erreichen mußte, zu blicken. Von beiden Seiten, da wo die Riesentafeln zusammenstießen, floß ein Wasser abwärts, aber ohne einen Baum, einen Busch oder auch nur einen Halm zu nähren. Unten vereinigten sich die beiden Wasser, um in einem Felsenspalt zu verschwinden, welcher die scheinbare Breite eines Lineales besaß.

»Das ist der Night-Canon,« erklärte Old Firehand, indem er auf diese Spalte deutete. »Er trägt diesen Namen, weil er so tief und schmal ist, daß das Licht der Sonne nicht hinabzudringen vermag und es in seiner Tiefe selbst am hellen Tage fast Nacht ist; daher der Name Nachtcanon. Man reitet da um die Mittagszeit in einer ziemlichen Dämmerung. Und seht da unten!«

Er zeigte abwärts, dahin, wo das Wasser im Spalt verschwand. Dort bewegten sich kleine Gestalten; Reiter waren es, so klein, daß sie dem Beobachter kaum bis an die Kniee zu reichen schienen. Das waren die Utahs, welche soeben im Felsenspalt verschwanden.

Dieser war fast senkrecht in eine gigantische Steinmauer gerissen, über welcher eine weite, weite Ebene lag, die von nebelfernen Bergriesen, dem Bookgebirge, abgeschlossen wurde. Die Tante Droll blickte in die Tiefe und sagte zu dem schwarzen Tom: »Da solle wir 'nunter? Das kann doch nur een Schieferdecker fertig bringe! Das is ja de reene Lebensgefährlichkeet, wenn's nötig is! Wennste dich hersetzt, und ich geb' dir eenen Schwupps, so kannste bis 'nunter Schlitte fahre.«

»Und doch müssen wir hinab,« meinte Old Firehand. »Steigt ab, und nehmt eure Pferde bei den Zügeln, aber kurz. Wir müssen es allerdings gerade wie beim Schlittenfahren machen, wenn es einen Berg hinabgeht. Da man kein Schleifzeug und keinen Hemmschuh hat, kann man nur dadurch hemmen, daß man im Zickzack abwärts fährt. So auch wir jetzt, immer herüber und hinüber.«

Dieser Rat wurde befolgt, und es zeigte sich, daß derselbe gut war. In gerader Richtung wäre man schwerlich ohne verschiedene Schiffbrüche hinabgekommen; der Abstieg nahm weit über eine halbe Stunde in Anspruch. Ein wahres Glück, daß die Utahs so ahnungslos waren! Hätten sie ihre Verfolger bemerkt und sich im Felsenspalt festgesetzt, so wäre es ihnen ein Leichtes gewesen, sie während dieses langsamen Abstieges, ohne alle Gefahr für sich, einen nach dem andern wegzuputzen.

Endlich war man unten und ordnete sich zum Eindringen in den Canon, welcher hier so schmal war, daß neben dem Wasser nur zwei Reiter Platz fanden. Voran war natürlich wieder Winnetou. Ihm folgte Old Firehand, neben welchem jetzt der Lord ritt. Dann kamen die Jäger und nachher die Rafters, welche den Ingenieur und seine Tochter zwischen sich nahmen. Der Trupp war seit dem Eagletail dadurch größer geworden, daß sich Watson, der Schichtmeister, mit noch mehreren Arbeitern angeschlossen hatte.

Gesprochen durfte nicht werden, da jeder Laut in diesem Spalte viel weiter als im Freien zu hören war. Der Hufschlag der Pferde konnte zum Verräter werden; darum war Winnetou abgestiegen und, während sein Pferd von einem Rafter geführt wurde, auf seinen weichen Mokassins den Gefährten vorangegangen.

Es war wie ein Ritt durch die Unterwelt. Vor und hinter sich den engen Spalt, unter sich den starren, steinbesäeten Felsen und das dunkle, unheimliche Wasser und rechts und links die gerade aufstrebenden Felsenwände, welche so hoch waren, daß sie den Himmel nicht sehen ließen, sondern oben zusammenzustoßen schienen. Die Luft wurde, je weiter man eindrang, desto kälter und schwerer, und das Tageslicht verwandelte sich in Dämmerung.

Und lang war der Canon, ewig lang! Zuweilen wurde er ein wenig breiter, so daß er Raum für fünf oder sechs Reiter bot; dann traten die Wände wieder so eng zusammen, daß man vor Angst, erdrückt zu werden, laut hätte aufschreien mögen. Sogar den Pferden war es nicht geheuer; sie schnaubten ängstlich und strebten schnell vorwärts, um aus dieser Enge erlöst zu werden.

Eine Viertelstunde verging und noch eine; da – – unwillkürlich blieben alle halten – – gab es einen Krach, als ob zehn Kanonen zugleich abgeschossen worden seien.

»Um Gottes willen, was war das?« fragte Butler, der Ingenieur. »Stürzen vielleicht die Felsen ein?«

»Ein Flintenschuß,« antwortete Old Firehand. »Der Augenblick ist da. Je ein Mann für drei Pferde bleibt zurück; die andern vor. Absteigen!«

Im Nu waren über dreißig Mann, jeder die Büchse in der Hand, auf den Füßen, um ihm zu folgen. Schon nach wenigen Schritten sahen sie Winnetou stehen, den Rücken ihnen zugekehrt und die Silberbüchse nach vorwärts zum Schusse angelegt.

»Die Waffen nieder, sonst spricht meine Zauberbüchse!« ertönte eine gewaltige Stimme; man wußte nicht, woher, ob von oben hernieder oder aus dem Erdboden heraus.

»Nieder die Waffen!« donnerte es abermals in der Sprache der Utahs, daß in dem engen Spalte aus den wenigen Silben ein ganzes Gewittergrollen wurde. Dann fielen schnell aufeinander drei Schüsse. Man hörte, daß sie aus einem und demselben Laufe kamen. Das mußte der Henrystutzen Old Shatterhands sein, dessen Knall hier allerdings die Stärke eines Kanonenschusses hatte. Gleich darauf blitzte auch die Silberbüchse Winnetous auf. Die Getroffenen schrieen, und dann folgte ein Geheul, als ob alle Scharen der Hölle losgelassen seien.

Old Firehand hatte den Apachen erreicht und konnte nun sehen, was und wen er vor sich hatte. Der Spalt erweiterte sich auf eine kurze Strecke und bildete einen Raum, welchen man am besten ein Felsengemach nennen konnte. Es war von rundlicher Gestalt und so groß, daß vielleicht hundert Reiter in demselben Platz finden konnten. Das Wasser lief am linken Rande desselben hin. Auch hier herrschte Dämmerung; doch konnte man die Schar der Utahs sehen.

Die fünf vorausgesandten Krieger hatten einen großen Fehler begangen. Sie waren hier halten geblieben, um die Ihrigen zu erwarten. Hätten sie das nicht gethan, so wären die jenseits postierten vier Weißen gezwungen gewesen, sie anzureden, und sie hätten wohl rückwärts fliehen können, um die Ihrigen zu warnen. Da sie aber so lange gewartet hatten, bis diese nachkamen, so waren sie nun alle eingeschlossen. Drüben stand Old Shatterhand mit dem erhobenen Henrystutzen, und neben ihm kniete der Hobble-Frank, damit Davy und Jemmy über ihn hinwegschießen könnten. Die Roten hatten ihre Waffen auf die Aufforderung des ersteren nicht sofort gesenkt, und darum waren die Schüsse gefallen. Fünf tote Utahs lagen am Boden. Die andern konnten kaum an Gegenwehr denken; sie hatten genug zu thun, ihre Pferde zu bändigen, welche durch den außerordentlichen Wiederhall der Schüsse scheu geworden waren.

»Werft die Waffen weg, sonst schieße ich wieder!« ertönte Old Shatterhands Stimme abermals.

Und von der andern Seite her erschallte es: »Hier steht Old Firehand. Ergebt euch, wenn ihr euer Leben retten wollt!«

Und neben diesem rief der Apache: »Wer kennt Winnetou, den Häuptling der Apachen? Wer sein Gewehr gegen ihn erhebt, der verliert seinen Skalp. Howgh!«

Waren die Utahs der Meinung gewesen, den Feind nur vor sich zu haben, so sahen sie jetzt, daß ihnen der Rückweg auch verschlossen war. Dort stand die mächtige Gestalt Old Firehands und die stolz-schlanke des berühmten Apachenhäuptlings. Neben ihnen hielt, da sonst kein Raum vorhanden war, die Tante Droll mit angeschlagenem Gewehr im Wasser, und zwischen diesen dreien sah man verschiedene Gewehrläufe ragen.

Kein einziger der Utahs wagte, sein Gewehr wieder zu erheben. Sie starrten nach vorn und nach hinten und wußten nicht, was sie thun sollten.

Widerstand leisten wäre ihr Verderben gewesen, das sahen sie ein; aber sich so schnell und ohne alle Verhandlung ergeben, das widerstrebte ihnen. Da sprang Droll aus dem Wasser, schritt bis zum Häuptling vor, hielt ihm den Lauf des Gewehres an die Brust und rief ihm zu: »Wirf das Gewehr weg, sonst drücke ich los!«

Der »große Wolf« hielt den Blick starr auf die dicke, fremdartige Gestalt geheftet, als ob er ein Gespenst vor sich sehe; die Finger seiner Rechten öffneten sich und ließen das Gewehr fallen.

»Den Tomahawk auch und das Messer!«

Der Häuptling griff in den Gürtel, nahm die beiden genannten Waffen heraus und warf sie fort.

»Binde deinen Lasso los!«

Auch diesem Befehle gehorchte der »große Wolf«. Droll nahm den Lasso und band mit demselben die Füße des Häuptlings unter dem Bauche seines Pferdes zusammen. Dann nahm er dieses letztere beim Zügel, führte es auf die Seite und rief dem Gunstick-Uncle, welcher hinter Old Firehand stand, zu: »Komm her, Onkel, und fessele ihm die Hände!«

Der Uncle kam steif und gravitätisch herbeigeschritten und antwortete: »An den Gürtel will ich hinten – – ihm die beiden Hände binden.«

Er schwang sich hinter dem »großen Wolf« auf das Pferd, machte seine Worte zur That und sprang dann wieder ab. Es war, als habe der Häuptling gar nicht gewußt, was mit ihm vorging; er befand sich wie im Traume. Sei Beispiel wirkte. Die Seinen ergaben sich nun auch in ihr Schicksal; sie wurden ebenso entwaffnet und gebunden wie er, und das ging außerordentlich schnell von statten, da alle Weißen nur darauf bedacht waren, zu thun, was der Augenblick erforderte.

Gern hätte der Hobble-Frank Winnetou begrüßt; Davy und Jemmy hatten ganz dasselbe Verlangen; aber man durfte jetzt nicht an solche Herzensangelegenheiten denken, sondern mußte die Erledigung derselben für später aufheben. Es galt vor allen Dingen aus dem Canon zu kommen. Darum wurde, als der letzte Rote gebunden war und man die erbeuteten Waffen aufgelesen hatte, sofort der Weiterritt angetreten. Voran ritten die Jäger, dann kamen die Roten, und den Beschluß bildeten die Rafters. Winnetou und Old Firehand ritten mit Old Shatterhand voran. Sie hatten ihm still die Hand gegeben, die einzige Begrüßungsart, welche sie einstweilen für nötig hielten. Gerade vor den Gefangenen ritten zwei, welche sich viel näher standen, als sie dachten, nämlich die Tante Droll und der Hobble-Frank. Keiner sagte ein Wort zu dem andern. Nach einiger Zeit nahm Droll die Füße aus den Steigbügeln, stieg im Reiten auf den Rücken des Pferdes und setzte sich verkehrt in den Sattel.

»Heavens! Was soll das heißen?« fragte Frank. »Wollt Ihr Komödie spielen, Sir? Vielleicht seid Ihr in einem Cirkus als Clown angestellt gewesen?«

»Nein, Master,« antwortete der Dicke. »Ich habe nur die Gewohnheit, die Festtage so zu feiern, wie sie fallen.«

»Wie meint Ihr das?«

»Ich setze mich verkehrt, weil es uns sonst verkehrt gehen kann. Denkt doch daran, daß hinter uns fünfzig Rote reiten; da kann leicht etwas geschehen, woran man nicht gedacht hat. Ich behalte sie in dieser Stellung im Auge und habe den Revolver in der Hand, um ihnen, wenn's nötig ist, eine Pille zu geben. Wenn Ihr gescheit seid, so macht es auch so!«

»Hm! Was Ihr sagt, ist sehr richtig. Mein Pferd wird es nicht übelnehmen; ich drehe mich auch um.«

Einige Sekunden später saß auch er verkehrt im Sattel, um die Roten beaufsichtigen zu können. Es ging nun gar nicht anders, als daß diese beiden possierlichen Reiter einander oft ansehen mußten; dabei wurden ihre Blicke immer freundlicher; sie gefielen einander offenbar. Das ging so eine Weile, ohne daß dabei ein Wort fiel, bis endlich der Hobble-Frank nicht länger zu schweigen vermochte. Er begann: »Nehmt mir's nicht übel, wenn ich Euch nach Eurem Namen frage. So wie Ihr da neben mir sitzet, habe ich Euch schon gesehen.«

»Wo denn?«

»In meiner Einbildung.«

»Alle Wetter! Wer hätte geahnt, daß ich in Eurer Einbildung lebe! Wieviel Mietzins habe ich da zu bezahlen, und wie steht es mit der Kündigung?«

»Ganz nach Belieben; aber heute ist es mit der Einbildung alle, da ich Euch nun in Person sehe. Wenn Ihr der seid, für den ich Euch halte, so habe ich viel Spaßhaftes von Euch gehört.«

»Nun, für wen haltet Ihr mich denn?«

»Für die Tante Droll.«

»Und wo habt Ihr von dieser gehört?«

»An verschiedenen Orten, an denen ich mit Old Shatterhand und Winnetou gewesen bin.«

»Was! Mit diesen beiden berühmten Männern seid Ihr geritten?«

»Ja. Wir waren oben im Nationalpark und dann auch in den Estacato.«

»Donner und Doria! Da seid Ihr wohl gar der Hobble-Frank?«

»Ja. Kennt Ihr mich?«

»Natürlich! Der Apache hat oft von Euch gesprochen und Euch noch heute, als wir vor dem Lager der Utahs lagen, einen kleinen Helden genannt.«

»Einen – kleinen – Helden!« wiederholte Frank, indem ein seliges Lächeln über sein Gesicht ging. »Einen – kleinen – Helden! Das muß ich mir aufschreiben! Ihr habt richtig geraten, wer ich bin; aber ob auch ich richtig geraten habe?«

»Für wen haltet Ihr mich denn?«

»Für die Tante Droll, wie ich schon gesagt habe.«

»Die bin ich auch.«

»Wirklich? Das freut mich herzlich!«

»Wie seid Ihr denn auf die Vermutung gekommen, daß ich diese Tante bin?«

»Eure Kleidung sagte es mir, und ebenso Euer Verhalten. Ich habe oft erzählen gehört, daß die Tante Droll ein ganz außerordentlich couragiertes Weibsbild ist, und als ich Euch vorhin so mit dem Häuptlinge der Utahs umspringen sah, dachte ich mir gleich: Das und keine andre ist die Tante!«

»Sehr ehrenvoll für mich! Na, wir sind wohl beide Kerle, welche ihre Schuldigkeit thun. Aber die Hauptsache für mich ist, daß ich vernommen habe, Ihr seid ein Landsmann von Old Shatterhand?«

»Das ist richtig.«

»Also ein Deutscher?«

»Ja.«

»Woher denn da?«

»Gerade aus der Mitte heraus. Ich bin nämlich ein Sachse.«

»Alle Wetter! Was für einer? Königreich? Altenburg? Koburg-Gotha? Meiningen-Hildburghausen?«

»Königreich, Königreich! Aber Ihr kennt diese Namen so genau. Seid Ihr etwa auch ein Deutscher?«

»Natürlich!«

»Woher denn da?« fragte Frank nun seinerseits entzückt.

»Auch aus Sachsen, nämlich Sachsen-Altenburg.«

»Herrjemerschnee!« fiel da der Kleine in seinem heimischen Dialekte ein. »Ooch een Sachse, und zwar een Altenburger? Is es denn die Möglichkeet! Aus der Schtadt Altenburg oder vom Lande, he?«

»Nich aus der Residenz, sondern aus der Langenleube.«

»Langen– – leube?« fragte Frank, indem ihm der Mund offen stehen blieb. »Langenleube-Niederhain?«

»Jawohl! Kennen Sie es?«

»Warum sollte ich nich? Ich habe ja Verwandte dort, ganz nahe Verwandte, bei denen ich als Junge zweemal off der Kirmse gewesen bin. Hören Sie, dort gibt's aber Kirmsen, im Altenburgischen! Da wird gleich vierzehn Tage lang Kuchen gebacken. Und wenn so eene Kirmse alle is, da geht sie off dem nächsten Dorfe wieder an. Drum schpricht man dort nur so im allgemeenen vom Altenburger Landessen.«

»Das is richtig!« nickte Droll. »Mache könne mersch, denn habe thune mersch. Aber Se habe Verwandte bei uns? Wie heiße denn die Leute, und wo schtamme se her?«

»Es is ganz nahe Verwandtschaft. Das is nämlich so! Mein Vater hat eenen Paten gehabt, dessen selige Schwiegertochter sich in der Langenleube wieder verheiratet hat. Später schtarb sie, aber ihr Schtiefsohn hat eenen Schwager, und der is es, den ich meene.«

»So! Was war er denne?«

»Alles mögliche. Er war een ganzer Kerl, der alles fertig brachte. Bald war er Kellner, bald Kirchner, bald Bürgergardenfeldwebel und bald Hochzeitsbitter, bald –«

»Halt!« unterbrach ihn Droll, indem er herüberlangte und seinen Arm ergriff. »Wie war sein Name?«

»Seinen Vornamen kenne ich nicht mehr; aber sein Familienname war Pampel. Ich nannte ihn nur immer Vetter Pampel.«

»Wie? Pampel? Höre ich recht?« rief Droll. »Hatte er Kinder?«

»Die schwere Menge!«

»Wisse Se, wie Se geheeße habe?«

»Nee, nich mehr. Aber off den größten kann ich mich noch sehr gut besinnen, denn ich war dem Kerl gut. Er hieß Bastel.«

»Bastel, also Sebastian?«

»Jawohl, denn Sebastian wird off Altenburgisch Bastel ausgeschprochen. Ich gloobe, er hieß ooch noch Melchior dazu, een Name, der in Altenburg sehr gäng und gäbe is.«

»Richtig, sehr richtig! Es thut schtimme, es thut sehr genau schtimme! Sebastian Melchior Pampel? Wisse Se, was aus ihm geworde is?«

»Nee, leider nich.«

»So sehe Se mal mich an, schaue Se mal her zu mir!«

»Warum?«

»Weil ich es bin, der draus geworde is.«

»Sie – Sie?« fragte der Kleine.

»Ja, ich! Ich war der Bastel, und ich weeß noch ganz genau, wer bei uns off der Kirmse gewese is; des war der Vetter Frank aus Moritzburg, der nachher Forschtgehilfe geworde is.«

»Der bin ich, ich in eegener Person! Vetter, also hier, hier mitten in der Wildnis finden wir uns als schtammverwandte Menschen und Cousängs! Wer hätte das für möglich gehalten! Komm her, Bruderherz, ich muß dich an meinen Busen drücken!«

»Ja, ich ooch. Hier haste mich!«

Er langte herüber, und der andre langte hinüber. Die Umarmung war, da beide verkehrt auf ihren Pferden saßen, mit einigen Schwierigkeiten verbunden, welche aber zur Not überwunden wurden.

Die finster blickenden Indianer wußten jedenfalls nicht, was sie von dem Gebaren der beiden halten sollten; diese aber kehrten sich nicht an die bemalten Gesichter; sie ritten Hand in Hand nebeneinander, mit dem Rücken nach vorn, und sprachen von der seligen Jugendzeit. Sie hätten wohl noch lange kein Ende gefunden, wenn nicht im Zuge eine Stockung eingetreten wäre. Man hatte nämlich das Ende der Spalte erreicht, welche auf einen größeren und viel breiteren Canon mündete.

Zwar war die Sonne schon so tief gesunken, daß ihre Strahlen den Boden desselben nicht mehr erreichten, aber es gab doch Licht da und eine reine, bewegte Luft. Die Reiter atmeten erleichtert auf, als sie ins Freie gelangten, welches sie freilich nicht eher betraten, als bis sie vorsichtig Umschau gehalten hatten, ob keine feindlichen Wesen in der Nähe seien.

Dieser Canon war vielleicht zweihundert Schritte breit und hatte auf seinem Grunde ein kleines, schmales Flüßchen, welches man leicht durchwaten konnte. Am Wasser gab es Gras und Buschwerk, und auch einige Bäume standen da.

Die Roten wurden von den Pferden genommen und dann mit wieder gefesselten Füßen auf die Erde gesetzt. Nun erst war der richtige Augenblick zur ausgiebigen Begrüßung gekommen, und er wurde gehörig ausgenutzt. Diejenigen, welche sich bisher noch nicht gekannt hatten, lernten sich schnell kennen, und es dauerte gar nicht lange, so gab es keine andre Anrede als das trauliche »Du«. Davon waren natürlich Firehand, Shatterhand, Winnetou, der Lord und der Ingenieur ausgenommen.

Der Trupp Old Firehands hatte Proviant bei sich gehabt, und es wurde zunächst gegessen. Dann sollte über das Schicksal der Roten entschieden werden. Hierüber gab es mehr als eine Ansicht. Winnetou, Old Firehand und Old Shatterhand waren bereit, sie frei zu geben; die andern aber verlangten eine strenge Bestrafung. Der Lord meinte: »Bis dahin, wo die Zweikämpfe vorüber waren, halte ich sie nicht für strafbar, dann aber mußten sie euch die Freiheit geben. Statt das zu thun, haben sie euch verfolgt, um euch zu ermorden, und ich zweifle gar nicht daran, daß sie dies gethan hätten, wenn ihnen die Gelegenheit dazu geworden wäre.«

»Das ist sehr wahrscheinlich,« antwortete Old Shatterhand; »aber sie haben die Gelegenheit dazu nicht gefunden, und es also auch nicht gethan.«

»Well! So ist die Absicht strafbar.«

»Wie wollt Ihr diese Absicht bestrafen?«

»Hm! Das ist freilich schwierig.«

»Mit dem Tode doch nicht?«

»Nein.«

»Mit Haft, Gefängnis, Zuchthaus?«

»Pshaw! Prügelt sie tüchtig durch!«

»Das wäre das Schlimmste, was wir thun könnten, denn es gibt für den Indianer keine größere Beleidigung, als Schläge. Sie würden uns über den ganzen Kontinent verfolgen.«

»So legt ihnen eine Geldstrafe auf!«

»Haben sie Geld?«

»Nein, aber Pferde und Waffen.«

»Ihr meint, daß wir ihnen diese nehmen sollen? Das wäre grausam. Ohne Pferde und Waffen müßten sie verhungern oder in die Hände ihrer Feinde fallen.«

»Ich begreife Euch nicht, Sir! Je nachsichtiger Ihr mit diesen Leuten seid, desto undankbarer werden sie. Gerade Ihr solltet nicht so milde denken, da gerade eben Ihr es seid, an dem sie sich vergangen haben.«

»Und gerade weil sie sich an mir, Frank, Davy und Jemmy vergangen haben, sollten wir vier es sein, die über ihr Schicksal zu bestimmen haben.«

»Macht, was Ihr wollt!« sagte der Lord, indem er sich unwillig abwendete. Gleich aber drehte er sich ihm wieder zu und fragte: »Wollen wir wetten?«

»Worüber?«

»Darüber, daß diese Kerle es Euch übel vergelten, wenn Ihr sie mit Nachsicht behandelt?«

»Nein.«

»Ich setze zehn Dollar!«

»Ich nicht.«

»Ich setze zwanzig gegen zehn!«

»Und ich wette gar nicht.«

»Niemals?«

»Nein.«

»Schade, jammerschade! Ich habe es während dieses ganzen langen Rittes vom Osagenook bis hierher zu keiner Wette gebracht. Nach allem, was ich von Euch hörte, muß ich Euch für einen veritablen Gentleman halten, und nun sagt auch Ihr mir, daß Ihr niemals wettet. Ich wiederhole es: Macht, was Ihr wollt!«

Er war beinahe zornig geworden. Er hatte sich sehr leicht und gut in das Leben des fernen Westens gefunden, aber daß nie jemand mit ihm wetten wollte, das wollte ihm nicht behagen.

Die Worte Old Shatterhands, daß er, Frank, Jemmy und Davy allein das Recht besäßen, über das Schicksal der Roten zu entscheiden, war nicht ohne Wirkung geblieben, und nach längerer Debatte einigte man sich dahin, daß diesen genannten vier die Entscheidung anheimgegeben werden solle, doch sei dabei darauf zu achten, daß man von den Roten keine weiteren Feindseligkeiten zu erwarten habe. Es sollte also ein festes Abkommen mit ihnen getroffen werden. Dazu genügte es nicht, daß mit dem Häuptlinge allein verhandelt wurde; seine Untergebenen mußten auch hören, was er sagte und versprach. Vielleicht blieb er dann aus Rücksicht auf ihre gute Meinung über seine Ehrenhaftigkeit seinen Versprechungen getreu.

Es wurde also ein weiter Kreis gebildet, der aus allen Weißen und Roten bestand. Zwei Rafters mußten aufwärts und abwärts im Canon Wache halten, um die Annäherung eines Feindes sofort zu melden. Der Häuptling saß vor Winnetou und Old Shatterhand. Er sah sie nicht an, vielleicht aus Scham, vielleicht auch aus Verstocktheit.

»Was denkt der »große Wolf«, was wir jetzt mit ihm machen werden?« fragte Old Shatterhand in der Utahsprache.

Der Gefragte antwortete nicht.

»Der Häuptling der Utah hat Angst; darum antwortet er nicht.«

Da erhob er den Blick, bohrte ihn mit grimmigem Ausdrucke in das Gesicht des Jägers und sagte: »Das Bleichgesicht ist ein Lügner, wenn es behauptet, daß ich mich fürchte!«

»So antworte! Überhaupt darfst nicht du von Lügen sprechen, denn du selbst bist es, der welche geredet hat.«

»Das ist nicht wahr!«

»Es ist wahr. Als wir uns noch in eurem Lager befanden, fragte ich dich, ob wir frei sein würden, wenn ich den Sieg errungen hätte. Was antwortetest du mir?«

»Daß ihr gehen könntet.«

»War das keine Lüge?«

»Nein, denn ihr seid gegangen.«

»Aber ihr habt uns verfolgt!«

»Nein.«

»Willst du es leugnen?«

»Ja, ich leugne es.«

»Zu welchem Zwecke habt ihr dann das Lager verlassen?«

»Um nach dem Versammlungsorte der Utahs zu reiten, nicht um euch zu verfolgen.«

»Warum hast du denn fünf deiner Krieger auf unsre Fährte gesandt?«

»Das habe ich nicht gethan. Wir haben das Kriegsbeil ausgegraben, und wenn dies geschehen ist, so hat man vorsichtig zu sein. Als ich euch die Freiheit versprach, falls du mich besiegen würdest, wußte ich gar nicht, nach welcher Richtung ihr euch wenden wolltet. Wir wollten euch ziehen lassen und haben Wort gehalten. Ihr aber habt uns überfallen, uns alles abgenommen und fünf unsrer Krieger getötet. Die Leichen derselben liegen noch drin im Felsenspalt.«

»Du weißt nur zu gut, was ich von deinen Worten zu denken habe. Warum schossen deine Wächter auf uns, als wir fortritten?«

»Sie wußten nicht, was ich euch versprochen hatte.«

»Warum stießen alle deine Leute das Kriegsgeschrei aus? Diese kannten dein Versprechen ganz genau.«

»Dieses Geschrei galt nicht euch, sondern den Wächtern, daß diese nicht mehr schießen sollten. Gerade das, was wir gut gemeint haben, legst du uns für schlimm aus.«

»Du verstehst es, dich sehr scharfsinnig zu verteidigen; aber es gelingt dir nicht, deine Unschuld zu beweisen. Ich will einmal sehen, ob deine Krieger den Mut besitzen, aufrichtiger zu sein, als du bist.«

Er legte einigen der Roten die Frage auf, wem ihr jetziger Ritt gegolten habe, und sie antworteten übereinstimmend mit dem Häuptlinge, daß sie keine böse Absicht gegen die Bleichgesichter verfolgt hätten.

»Diese Leute wollen dich nicht Lügen strafen,« fuhr er, zu dem »großen Wolfe« gerichtet fort. »Aber ich habe einen unumstößlichen Beweis. Wir haben dein Lager umschlichen und deine Leute belauscht. Wir wissen, daß ihr uns töten wolltet.«

»Das vermutet ihr nur!«

»Nein, wir haben es gehört. Wir wissen auch, das Lager morgen abgebrochen wird, und daß alle Krieger dir nach dem Versammlungsorte der Utahs folgen werden, die Frauen und Kinder aber gehen zu den Alten in die Berge. Ist das wahr?«

»Ja.«

»Nun, so ist auch das andre wahr, was wir hörten. Wir sind fest überzeugt, daß ihr uns nach dem Leben getrachtet habt. Welche Strafe werdet ihr wohl dafür erhalten?«

Der Rote antwortete nicht.

»Wir hatten euch nichts gethan, und ihr nahmt uns mit, um uns zu töten. Jetzt habt ihr uns das Leben nehmen wollen; ihr hättet also mehr verdient als nur den Tod. Aber wir sind Christen. Wir wollen euch vergeben. Ihr sollt eure Freiheit und eure Waffen zurückerhalten, und dafür müßt ihr uns versprechen, daß keinem von uns, die wir hier sitzen, jemals von euch ein Haar gekrümmt werde.«

»Spricht das deine Zunge oder dein Herz?« fragte der Häuptling, indem er einen ungläubig forschenden, scharf stechenden Blick auf Old Shatterhand warf.

»Meine Zunge hat niemals andre Worte als mein Herz. Bist du bereit, mir das Versprechen zu geben?«

»Ja.«

»Daß wir alle, welche wir uns hier befinden, rote und weiße Männer, von heute an Brüder sind?«

»Ja.«

»Die einander beistehen wollen und müssen in jeder Not und in jeder Gefahr?«

»Ja.«

»Und bist du bereit, das mit der Pfeife des Friedens zu beschwören?«

»Ich bin bereit.«

Er antwortete schnell und ohne alles Besinnen; dies ließ darauf schließen, daß es ihm ernst mit seinem Versprechen war. Der Ausdruck seines Gesichtes ließ sich infolge der dick aufgetragenen Farbe nicht bestimmen.

»So mag die Pfeife reihum gehen,« fuhr Old Shatterhand fort. »Ich werde dir die Worte vorsagen, welche du dabei nachzusprechen hast.«

»Sage sie, und ich werde sie wiederholen!«

Diese Bereitwilligkeit schien ein gutes Zeichen zu sein, und der wohlmeinende Jäger freute sich von Herzen darüber, konnte aber nicht umhin, noch eine Warnung auszusprechen: »Ich hoffe, daß du es dieses Mal ehrlich meinst. Ich bin stets ein Freund der roten Männer gewesen; ich berücksichtige, daß die Utahs jetzt angegriffen worden sind. Wäre das nicht der Fall, so würdet ihr jetzt nicht so wohlfeilen Kaufes davonkommen. Erweisest du dich aber nochmals treulos, so bezahlst du es mit dem Leben. Das versichere ich dir, und ich halte Wort!«

Der Häuptling blickte vor sich nieder, ohne den Blick zu dem Sprechenden zu erheben. Dieser nahm sein Calumet vom Halse, an welchem er es hängen hatte, und stopfte es. Nachdem er es in Brand gesteckt hatte, löste er die Fesseln des Häuptlings. Dieser mußte sich erheben, den Rauch nach den bekannten sechs Richtungen blasen und dabei sprechen: »Ich bin der »große Wolf«, der Häuptling der Yampa-Uthas; ich spreche für mich und diese meine Krieger, welche sich bei mir befinden. Ich rede zu den Bleichgesichtern, welche ich sehe, zu Old Firehand, Old Shatterhand und allen andern, auch zu Winnetou, dem berühmten Häuptlinge der Apachen. Alle diese Krieger und weißen Männer sind unsre Freunde und Brüder. Sie sollen sein wie wir, und wir wollen sein wie sie. Es soll ihnen niemals von uns ein Leid geschehen, und wir werden lieber sterben als zugeben, daß sie uns für ihre Feinde halten! Das ist mein Schwur. Ich habe gesprochen. Howgh!«

Er setzte sich wieder nieder. Nun wurden auch die andern von ihren Fesseln befreit, und die Pfeife ging von Mund zu Mund, bis alle geraucht hatten. Selbst die kleine Ellen Butler mußte ihre sechs Züge thun; man durfte um ihrer selbst willen mit ihr keine Ausnahme machen.

Darauf erhielten die Roten auch ihre ganzen Waffen wieder. Das war kein Wagnis, wenn man ihrem Schwure trauen konnte. Dennoch aber verhielten sich die Weißen so vorsichtig wie möglich, und jeder von ihnen hatte die Hand in der Nähe seines Revolvers. Der Häuptling holte sein Pferd herbei und fragte dann Old Shatterhand: »Mein Bruder hat uns die Freiheit vollständig zurückgegeben?«

»Vollständig.«

»So dürfen wir fortreiten?«

»Ja, wohin ihr wollt.«

»Wir werden nach unserm Lager zurückkehren.«

»Ach! Ihr wolltet ja nach dem Versammlungsorte der Utah! Jetzt gibst du doch zu, daß euer Ritt nur uns gegolten hat.«

»Nein. Ihr habt uns die Zeit geraubt, so daß wir nun zu spät kommen würden. Wir kehren zurück.«

»Durch den Felsenspalt?«

»Ja. Lebe wohl!«

Er gab ihm die Hand und stieg auf. Dann ritt er in den Spalt hinein, ohne sich nach einem andern Menschen umzublicken. Seine Leute folgten ihm, nachdem jeder von ihnen freundlich gegrüßt hatte.

»Und der Kerl ist doch ein Schuft!« meinte der alte Blenter. »Hätte er die Farbe nicht so fingerdick auf dem Gesichte, so könnte man ihm die Falschheit von demselben ablesen. Eine Kugel vor den Kopf wäre das beste gewesen.«

Winnetou hörte diese Worte und entgegnete: »Mein Bruder kann recht haben, aber es ist besser, Gutes thun anstatt Böses. Wir bleiben während der Nacht hier, und ich werde jetzt den Utahs folgen, um sie zu belauschen.«

Er verschwand im Felsenspalt, nicht zu Pferde, denn zu Fuße konnte er seine Absicht leichter ausführen.

Eigentlich war allen jetzt viel wohler und freier zu Mute als vorher. Was hätte man mit den Utahs machen sollen? Sie töten? Unmöglich! Sie als Gefangene mit sich herumschleppen? Ebenso unmöglich! Jetzt hatte man sie verpflichtet, Frieden und Freundschaft zu üben, und war sie los geworden. Das war besser als jedes andre.

Der Tag neigte sich zur Rüste, zumal es hier im Canon eher dunkel wurde als außerhalb desselben. Einige der Männer gingen, Holz zum Lagerfeuer zu suchen. Old Firehand ritt südwärts im Canon hinab und Old Shatterhand nordwärts hinauf, um zu rekognoszieren. Man mußte vorsichtig sein. Beide legten eine bedeutende Strecke hinter sich und kehrten, als sie nichts Verdachterregendes bemerkten, wieder zurück.

Es waren hier wohl seit langer Zeit keine Menschen gewesen, welche ein Feuer gebrannt hatten, denn es gab, trotzdem von einem Walde keine Rede war, genug Holz zum Brennen. Die Frühjahrsflut hatte vieles mitgebracht und angeschwemmt. Niemand freute sich mehr über das Feuer als der Lord, denn er fand da brillante Gelegenheit, mit Hilfe seines Bratgestelles seine kulinarischen Geschicklichkeiten zu entwickeln. Es gab noch einen kleinen Fleischvorrat und auch Konserven, Mehl und dergleichen, was man aus Denver mitgenommen hatte. Da konnte er braten und backen nach Herzenslust.

Später stellte sich Winnetou wieder ein. Dieser Mann hatte sich trotz der in dem Felsenspalt herrschenden Stockdunkelheit mit seinen geübten Augen zurechtgefunden. Er erzählte, daß die Utahs die Leichen mitgenommen und dann ihren Weg wirklich fortgesetzt hatten. Er war ihnen bis jenseits des Spaltes gefolgt und hatte noch deutlich gesehen, daß sie die steile Felssenkung emporgeritten und dann oben im Walde verschwunden waren. Dennoch wurde eine Wache tief in den Spalt postiert, um von da aus jeden Überfall unmöglich zu machen. Zwei andre Wächter standen je hundert Schritte ober- und unterhalb des Lagerplatzes im Hauptcanon; auf diese Weise war für vollständige Sicherheit gesorgt.

Natürlich gab es außerordentlich viel zu erzählen, und es war später als Mitternacht, als man sich zur Ruhe legte. Old Firehand revidierte vorher die Posten, um sich zu überzeugen, daß dieselben wachsam seien, und erinnerte die andern an die Reihenfolge, in welcher die Ablösung stattzufinden hatte. Dann löschte man das Feuer, und es wurde still und dunkel im Canon. –


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