Fritz Mauthner
Vom armen Franischko
Fritz Mauthner

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Wie der Franischko Geographie studierte

Vor dem Laden eines Buchhändlers standen zwei Knaben im Alter von ungefähr zwölf und zehn Jahren. Es waren junge Brüder, welche eben das Schulhaus verlassen hatten und den kurzen Weg bis zu der elterlichen Wohnung nun auf alle mögliche Weise zu verlängern wußten. So machten sie es alle Tage. Das eine Mal betrachteten sie aufmerksam und wißbegierig den lebendigen Hummer im Schaufenster des Kaufmanns, ein anderes Mal zählten sie die Pflastersteine oder liefen in ziemlich spitzen Winkeln über den Damm hinüber und herüber, oder sie lernten alle Firmen und Anzeigen der Straße auswendig.

Heute hielten sie – wie gesagt – vor einer Buchhandlung, weil eine große Landkarte in ihnen eine Erinnerung an die letzte Geographiestunde geweckt hatte. Unbekümmert um das Treiben, wie es sich um diese Vormittagsstunde in allen Teilen der Hauptstadt entfaltete, standen sie da und fragten einander aus. Ihre hellen Augen suchten auf der ausgehängten Karte von Mitteleuropa umher, bis sie einen bekannten Ortsnamen gefunden hatten. Hier lag Berlin, der Sitz der Regierung, da Wien, wo die Donau blau ist, da Nürnberg, wo die Häuser fünfhundert Jahre alt sind und davon schiefe Fenster und spitze Dächer bekommen haben, da Straßburg, die wunderschöne Stadt, da im äußersten Winkel Thorn, wo der Pfefferkuchen herkommt, und ganz unten Genf, wohin die Eltern der beiden Kinder in den Ferien reisen wollten.

Der Jüngere wurde nicht müde, zu fragen und selbst zu antworten, obgleich der Ältere ihn schon zweimal mit den Worten: »Du, Otto, wir bekommen kein Frühstück!« zur Eile gemahnt hatte.

»Du willst nur gehen, weil du dich schämst! Du weißt aber auch gar nichts, Ernst. Hier ist Hamburg, wo man nach Amerika fährt.«

Und der kleine energische Otto stellte sich auf die Fußspitzen, um mit dem Zeigefinger den Punkt auf der Karte deuten zu können. Der stillere und langsamere Ernst nahm die Mitteilung ohne jede Empfindlichkeit hin, aber sein Wetteifer war doch geweckt. Er hatte eben einen kleinen Slowakenjungen erblickt, der neugierig neben ihnen stehengeblieben war. Er hatte es sich gemerkt, wo die Slowaken herkamen, und mit einem stolzen Aufleuchten seiner großen blauen Augen fragte er: »Ich weiß auch etwas, was du nicht weißt. Wo ist Trenschin?«

»Trenschin? Da kommen die Mausiratzenfaller her!« antwortete Otto lebhaft, um wenigstens seine kulturhistorischen Kenntnisse zu zeigen, da er die geographische Lage nicht sofort feststellen konnte.

»Ja«, sagte Ernst. »Aber zeig es mir auch! Du bist ja immer der Klügere! Wenn du es aber nicht gleich findest, so ergib dich!«

»Nein, nein«, rief Otto, während seine Augen unruhig die Karte auf und ab liefen.

Der Slowakenjunge, den die bunten Farben im Schaufenster angezogen hatten und der jetzt bei den letzten Worten des Knaben in eine ungeheure Aufregung geriet, war der kleine Franischko, der auch heute mit seinen vielen Mausefallen, Deckeln, Töpfen, Quirlen, Trichtern, Lämpchen, Bechern und ähnlichen Blechwaren beladen, von Haus zu Haus ziehend, hierher geraten war. Es war Franischko, der die wohlerzogenen, sauber gehaltenen Knaben nicht beneidete, bloß bewunderte.

Was wußten die vornehm gekleideten jungen Herren von Trenschin?

Trenschin war weit, weit weg. Viele Monate mußte man wandern, wandern am Fluß vorbei und durch blühende Felder, über Berg und Tal, durch Wald und Sand, wandern bei Nacht und Wind und bei sengender Sonnenglut, wandern mit lahmen Füßen, unter drückenden Warenlasten, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, bevor man hierher gelangte zu den fremden deutschen Menschen. Oder hatte ihn der Tatko in der Runde herumgeführt? War er hier am Ende wieder in der Nähe der Heimat? Der Tatko hatte ihn allein hier zurückgelassen und ihm verboten, an die Heimat zu denken. Und der arge Majster schlug ihn, wenn er nach Trenschin fragte.

Sollten diese beiden Knaben ihm Auskunft geben können?

Noch immer suchte Otto den bezeichneten Ort. Seine Lippen bewegten sich, weil er innerlich die Namen aller bekannten Städte las, an denen sein Auge unbewußt vorüberglitt. Da plötzlich rötete sich sein Gesicht, und jubelnd rief er: »Da ist Trenschin!«

Der kleine Slowakenjunge zitterte. Die beiden Knaben sahen so freundlich aus – sie würden ihn nicht schlagen! Besonders der ältere mit seinem ruhigen, milden Gesicht flößte Vertrauen ein. Da faßte sich Franischko ein Herz und trat an die Knaben heran, als sie sich eben zum Gehen wandten.

»Bitt' ich, gnädiges junges Herr, bitt' ich untertänigst, wu... wo ise Trenschin?«

Die erste Bewegung der beiden Knaben sah beinahe aus wie ein Fluchtversuch. Aber schon blieb Otto stehen und betrachtete den kleinen Frager mit überlegener Miene.

»Schäm dich, Mausiratzenfaller«, sagte er. »Du, Ernst, der ist dumm. Er ist selbst aus Trenschin und weiß nicht, wo es liegt.«

»Bitt' ich, gnädigstes junges Herr, wo is Trenschin? Bitt' ich, hab' ich Mutterle meiniges da unten. Wo ise Trenschin?«

Otto reckte sich wieder empor und zeigte mit dem Finger auf den Punkt der Landkarte. »Da ist dein Trenschin«, sagte er.

»Bitt' ich, seh ich nix Trenschin. Trenschin is großmächtige Stadt, Massa Häuser, is hier Glas und Papier, is nix Trenschin.«

Und der kleine Franischko sah enttäuscht auf den Altersgenossen, welcher ihm noch vor kurzem wie ein höheres Wesen erschienen war. Otto schaute erst noch auf seinen Bruder, ob dieser auch ein aufmerksamer Zeuge seines Triumphes sei, dann begann er zu Franischko: »Du bist ein ganz großer Esel. Du mußt doch Geographie gelernt haben und weißt nicht einmal, was eine Landkarte ist? Das hier ist eine Landkarte, und da stehen alle Städte und Dörfer und Marktflecken und Flüsse und Nebenflüsse darauf. Eine Landkarte ist nämlich, wenn man, weiß du, das ist so, wie wenn einer ein Bild aufzeichnet. Das ist auch viel kleiner, aber man kann doch alles darauf sehen. Auf dieser Karte steht beinahe die halbe Erde, aber die ist tausendmal größer.«

»Vielleicht zweitausendmal. Meinst du nicht, Otto?« sagte Ernst.

Franischko hörte mit offenem Munde den unverstandenen Reden zu. Wenn er doch auch so klug wäre wie diese Knaben, welche das Bild der Erde zu deuten wußten! Aber hier war keine Zeit zu Wünschen und Betrachtungen. Inständig begann er wieder: »Armes Franischko nix lernt! Wo ise Trenschin?«

Die beiden Knaben schauten einander betroffen an. Auf der Landkarte wußten sie wohl Bescheid, aber dieser Slowakenjunge verlangte offenbar zu wissen, wo der Ort wirklich auf der weiten Erde läge. Das war ihnen noch nie eingefallen, daß die Wissenschaft auch einen Nutzen gewähren könnte. Ernst faßte sich zuerst.

»Komm mit«, sagte er zu dem Kinde. »Papa wird es dir sagen. Papa weiß alles.«

»Dazu brauchen wir noch lange nicht den Papa«, rief Otto erregt. »Ich weiß es ganz gut, Mausiratzenfaller. Schau, wir sind hier« – und er wies mit dem Finger auf einen Punkt auf der Landkarte –, »und Trenschin liegt rechts. Rechts ist Osten. Trenschin liegt also im Osten.« Und herausfordernd blickte er auf seinen Bruder.

»Ja, Trenschin liegt im Osten«, wiederholte Ernst, indem er bewundernd den jüngeren Bruder betrachtete.

»Wo ise Ost, wo ise Trenschin? Liebes gnädiges junges Herr, wo ise Trenschin?«

Ohne eine Silbe zu antworten, lief Otto, gefolgt von seinem Bruder und dem Slowakenjungen, über den Damm auf die andere Seite der Straße. Hier schien die Mittagssonne hell auf das saubere Pflaster. Otto stellte sich stramm hin, das Gesicht seinem eigenen Schatten zugewendet. Dann streckte er die linke Hand in gerader Richtung von sich, deutete mit dem Finger und rief: »Dort ist Osten.«

»Das habe ich ja gesagt«, rief Ernst mit rotem Gesicht.

Und die beiden Brüder begannen so lebhaft zu streiten, daß sie bald des landfremden Kindes vergessen hätten, wenn Franischko sie nicht mit seinem kläglichen und immer dringenderen »Wo ise Trenschin?« an sich erinnert hätte.

Die Streitenden einigten sich. Beide stellten sich nebeneinander auf, ihren Rücken der Sonne zugewendet, beide streckten die rechten Arme aus und riefen: »Dort ist Osten, dort ist Trenschin.«

Lange starrte Franischko in die bezeichnete Himmelsrichtung, als wollte er sie seinem Gedächtnisse für immer einprägen. Schon hatten seine beiden Freunde ihn verlassen, da rief er ihnen nach, ohne sich von der Stelle zu rühren, ohne seinem Blick eine andere Richtung zu geben. Die Knaben kehrten zurück.

»Ise sich viel weit nach Trenschin?«

Ernst stieß seinen Bruder an. »Das wollen wir doch lieber den Papa fragen. Das haben wir noch nicht gelernt.«

Otto lachte, faßte seinen Bruder bei der Hand und schleppte ihn wieder zur Landkarte. Hier verglich er aufmerksam die Entfernungen, rieb sich die Stirne, kratzte unter der Mütze den Kopf und sagte endlich mit Entschiedenheit: »Vierundzwanzig Stunden.«

»Aber Otto, wie kannst du das wissen?«

»Das kann ich ganz gut wissen«, schrie Otto unter lebhaften Gestikulationen. »Papa sagt gestern beim Kaffee, daß die Reise nach Genf zwei Tage dauern wird. Von hier nach Genf ist doppelt so weit wie nach Trenschin. Siehst du? Gerade doppelt so weit.« – Und er maß die Entfernungen mit dem Bleistift. – »Drei Bleistifte nach Genf, einundeinhalb nach Trenschin. Also kommt man nach Trenschin in einem Tage. Und ein Tag hat vierundzwanzig Stunden. Das wirst du doch wenigstens wissen, Ernst!«

»Das ist wahr«, erwiderte Ernst, und sie kehrten zu Franischko zurück und teilten ihm mit, daß er vierundzwanzig Stunden nach Trenschin brauchte. Die Augen des Knaben erglänzten in Tränen.

»Liebes Gott in Himmel soll segnen viel tausend Male gnädigstes junges Herr.« Und Franischko griff nach den Ärmeln des Knaben, um sie zu küssen. Sie liefen aber davon und kehrten ohne weiteren Aufenthalt nach Hause zurück, wo sie mit Schelten empfangen wurden. Nachdem sie jedoch ihr Abenteuer berichtet hatten, war der Zorn der Mutter bald beschwichtigt, sie gab den Knaben das verwirkte Frühstück und versprach, dem Vater über das Herumtreiben auf der Straße heute nicht zu klagen.

Des Abends wurden aber die Streiche der Kinder doch gewissenhaft berichtet, und die Eltern priesen um die Wette die Schlauheit ihres Jüngsten.

Franischko stand noch lange da und starrte nach Osten, nach Trenschin. Die Wagen rasselten an ihm vorbei, das Gewirr von tausend Menschenstimmen schlug an sein Ohr, die Hunde bellten, von allen Türmen schlug in seltsamem Gemisch die zwölfte Stunde. Und aus dem Gerassel und Gewirr, aus dem Glockenklingen und dem Hundebellen vernahm Franischko, deutlich wie im Traum, die Melodie des trauten Liedes, das die Mädchen beim Tanze sangen:

Wo ist mein Land? Wo steht mein Haus?
Trenschin, du dornenreiche!
Rose, du düftereiche!
Dort ist mein Land! Dort zog ich aus!

Näher und näher hörte er die schwermütige Weise, schon konnte er die einzelnen Stimmen unterscheiden. Die laute helle Stimme, welche alle anderen übertönte, war das nicht die schwarze Katscha, und der tiefe Baß, der sich immer zu ihr hielt, war das nicht der lange Ondrej? Und jener leise, leise Ton, der immer zu weinen schien, wenn er zu dem Verse »Trenschin, du dornenreiche!« kam, war das nicht die Mamka, die liebe alte müde Mamka, die sich immer so innig freute, wenn der Franischko nach Hause kam? Ja, die Mamka wird ihn gewiß freudig willkommen heißen! Und konnte ihm selbst der strenge Tatko böse sein, wenn er zwei Arbeitstage versäumte, um einmal zu Hause zu sein? Der Tatko war nicht böse, nein, auch wird die Mamka für den Franischko bitten.

Ob er es wagt? Wieder tönt um sein Ohr ein Lied, der wilde Sang von der »Uherska krajina«, und er glaubt offenen Auges den Imrich und die Bora zu sehen, wie sie tanzen, und die Zigeuner zu hören, die dazu aufspielen – und juchhei! auf springt er und in rhythmischen Sprüngen, wie zum Tanze, eilt er davon – dem Osten entgegen. In vierundzwanzig Stunden wird er bei der Mamka sein! Die Waren auf seiner Schulter klirren den Takt, und die Hunde umspringen ihn kläffend, und die Leute auf der Straße blicken ihm lachend nach. –

Wie flog er dahin! Schon lagen die Häuser der Stadt hinter ihm, und zwischen Gärten und Landhäusern hin führte sein Weg. Er hatte ihn gut gemerkt: rechts stand die Sonne! Und wenn sie sank und unterging? Bah, dorthin – dorthin mußte er! Er kannte sein Ziel. – Dort liegt Trenschin!

Jetzt war er auf freiem Felde. Über Hecken hinweg, durch wogende Kornfelder eilte der Knabe. Wohl rief ihn hier ein Feldhüter an, wohl setzten ihm da die Dorfbuben nach, aber Franischko war schneller als sie alle. Ja, sucht ihn nur einzuholen! Wenn ihr nicht Flügel habt und nicht auch zur Mutter eilt – ihr erjagt ihn nicht. Einmal hörte er gar drohend hinter sich rufen und endlich einen Schuß. Aber der Schuß galt gewiß den Spatzen auf den Pflaumenbäumen, die dort die Wiese umsäumen, nicht ihm. Wer könnte so schlecht sein und auf den Franischko schießen, der zu seiner Mamka läuft?

Und jetzt den Berg hinauf. Anfangs ging es mit derselben Hast wie seit drei Stunden. Plötzlich aber wurde dem Franischko schwarz vor den Augen, seine Brust keuchte, und ein kalter Schweiß lief ihm über die Stirn. Franischko erschrak. Die kluge Mamka hatte ihm einst nicht umsonst eingeschärft, man müßte den Berg hinauf fein langsam gehen. Er durfte ja heute nicht krank werden. Auch war es töricht, so in die Welt hinein zu rennen. Der gelehrte Knabe hatte ja nur von vierundzwanzig Stunden gesprochen und dabei gewiß nicht an ein Laufen von vierundzwanzig Stunden gedacht.

So fing denn Franischko an, bedächtiger vor sich hinzuschreiten. Nicht so langsam, daß er hätte verschnaufen können, aber auch nicht so schnell, daß der Schwindel wiedergekommen wäre, der ihn auf dem Berge beinahe umgeworfen hätte.

Und die Sonne sank immer tiefer, und Franischko wurde immer müder. Und als die Sonne untergegangen war und Dämmerung immer dichter den Knaben umgab, da verband er seine Richtung mit den Sternen und schritt weiter. Kein Laut war zu vernehmen, als das Klirren des Warenhaufens auf seiner Schulter, der bei jedem seiner Schritte hart niederfiel und ihn zu Boden ziehen zu wollen schien. Wie, wenn er die Waren hier irgendwo zurückließ, um sie auf dem Rückwege wieder abzuholen?

Er mußte noch eine halbe Stunde gehen, bevor er zu einem Hause kam. Es war eine einsame Schenke, etwa tausend Schritt von den ersten Häusern eines kleinen Dorfes entfernt; aus ihren Fenstern blinkte ihm helles Licht entgegen. Franischko pochte an der Tür und bat um die Erlaubnis, die Waren bis zum übernächsten Tage hier zurücklassen zu dürfen. Der Wirt und seine junge Frau waren allein im Hause. Lachend nahm der Mann die Sachen in Empfang. Während die Frau sich entfernte, um das anvertraute Gut zu verwahren, sank Franischko an der Schwelle zusammen und lehnte, sofort vom Schlafe übermannt, an dem Türpfosten.

Jetzt rief der Mann ihn an. Franischko fuhr empor und murmelte in seiner Muttersprache einige Worte des Dankes. Die Frau kehrte zurück und blickte mitleidig auf den Knaben. Ohne einen ärgerlichen Ruf ihres Mannes zu beachten, sagte sie: »Du bist müde. Willst du nicht lieber bei uns im Stalle übernachten, als in der Dunkelheit weiterlaufen?«

»Bitt' ich, will ich zu Mutterle«, antwortete Franischko.

»Wie weit hast du denn noch zu deiner Mutter?«

»Bitt' ich, morgiges Tag, wann am heißesten is, Franischko bei Mutterle sein.«

»Und den ganzen weiten Weg willst du machen, ohne dich einmal auszuruhen? Hast du denn etwas Geld, um dir Brot zu kaufen, wenn dich hungert?«

Franischko schüttelte traurig den Kopf. Wohl trug er beinahe einen Gulden, den Erlös des Tages, bei sich in der Ledertasche. Aber das Geld gehörte dem Majster, Franischko durfte es nicht anrühren.

»Ein Stück Brot werde ich ihm doch geben dürfen?« fragte die Frau, indem sie dem Wirt schmeichelnd nahe rückte.

»Meinetwegen denn«, brummte der Mann. »Soviel wird sein Blech noch wert sein.«

Franischko erhielt dankbar eine große Schnitte Brot. Er hielt sich aber nicht auf, sondern begann im Weiterschreiten seine Mahlzeit. Wie neu belebt eilte er nach der kurzen Rast und kleinen Stärkung weiter. Jahr und Tag war es ihm nicht so gut geworden, ohne seine schwere Last einherzugehen. Nichts zu tragen!

Die vornehmen Herren konnten's nicht besser haben.

Franischko betete für die gute Frau, die ihm das Brot gereicht hatte. Ja, freilich mußte er in der Nähe der Heimat sein, denn das war kräftiges schwarzes Brot, wie es in Trenschin gebacken wurde, und nicht so ein saueres Zeug, wie er es in der Stadt zuweilen bekam. Franischko mußte laut lachen. Wenn die Sonne aufging, dann erkannte er gewiß die Gegend, denn dann war er nur noch wenige Stunden von der Heimat entfernt, und da kannte er viele Meilen ringsum jedes Maulwurfsloch. Vielleicht schritt er schon jetzt zwischen wohlbekannten Bergen dahin. Der Bach, dessen Lauf er schon seit einer Stunde folgen durfte, war vielleicht die Kyssucza. Franischko hielt ein Weilchen inne, lief zum Bache hinab und tauchte seine Fingerspitzen beinahe zärtlich in das Wasser; dann schöpfte er mit der hohlen Hand und trank. Er konnte es aber nicht mit Sicherheit sagen, ob es die Kyssucza war. Er eilte weiter.

Der Mond ging auf und stärkte mit seinem stillen Licht den Mut des Knaben. Er begann zu singen, um sich die Zeit zu vertreiben.

Ich geh' nicht nach Hause,
Ich geh' nicht nach Hause,
Zu Hause setzt es Hau'.
Die Baba wird mich hudeln,
Ich aß ihr alle Nudeln.
Ich geh' nicht nach Hause,
Ich geh' nicht nach Hause,
Zu Hause setzt es Hau'.

Das dumme Lied! Nur die Melodie war schön, aber die Worte hatten gar keinen Sinn; denn zu Hause war es gut und niemand hudelte ihn. Auch lachte der Franischko in sich hinein, als ihm bei der Wiederholung des Liedes einfiel, daß er noch niemals über den Sinn des Liedes nachgedacht hatte. Da hörte er damit auf und pfiff die Melodie stillvergnügt vor sich hin, bis neue Gedanken die Lieder ablösten. Er wird einen rechten Hunger haben, wenn er zu Hause ankommt. Der Vater wird zwar ein bißchen schelten, wird aber doch die Mamka gewähren lassen, die ihm sicherlich eine Suppe kochen wird. Oder gar einen richtigen Kaffee? Franischko wurde ganz verlegen bei dem Gedanken.

Das ist ein großer Wald, durch welchen Franischko jetzt wandert. Mitternacht ist es auch gewiß. Jetzt könnten Wunderdinge geschehen. Da ruft ja der Kuckuck um Mitternacht. Das ist ein glückliches Zeichen. Vielleicht tanzen die abgeschiedenen Seelen heimlich in diesem Walde und dann hat vielleicht die Geisterkönigin Mitleid mit ihm und anstatt ihm sein Blut auszusaugen, gibt sie ihm den Geisterring zu eigen mit dem goldenen Reif und dem bläulich schimmernden Stein. Dann sprengt der Franischko mit seiner Hilfe die Ketten der Erde und reißt aus ihrem Schoß den Berg von Gold und bringt ihn nach Trenschin, und wenn die Mamka seidene Kleider haben will, so schneidet sie fortan nur ein Stück von dem goldenen Berge ab und trägt es in die Stadt zum Juden. Das wird ein lustig Goldschneiden werden!

Oder wie? Will die Geisterkönigin den Ring nicht geben? Wer verscheucht die Geister, daß sie ängstlich auseinanderstieben und sich in Nebelfetzen verwandeln, die jetzt auf einmal um den Bergwald hängen? Das sind gewiß die nächtlichen Räuber, die auf schwarzen Rossen den Wald durchjagen, die Grafen töten und die lichten Jungfrauen aus ihren Ketten befreien. Dann wird der Räuberhauptmann auf ihn zugeritten kommen und wird ihm die Kehle abschneiden wollen. Franischko aber wird höflich den breiten Hut vom Kopfe ziehen und versichern, daß die sechsundachtzig Kreuzer in seiner Tasche nicht ihm gehören, sondern dem Majster, und daß er zu seiner Mamka eile. Dann wird der Räuberhauptmann ihm den Hut mit goldenem Geschmeide füllen und ihm sagen, daß er die Mamka grüßen lasse.

Zwischen Wachen und Träumen wandelt Franischko durch die Stille der Nacht. Er merkt es nicht, wie die Sterne verblassen, nicht, wie ein leiser Wind durch die Blätter des Waldes rauscht und ihn nun mit Frost durchschauert, nicht, wie vor ihm der Himmel sich rötlich erhellt. Mit müden Füßen und müden Augen schreitet er fort, von beseligenden Bildern umgaukelt. Da wird es lichter und lichter um ihn und jetzt – er tritt aus dem Walde, und vor ihm zwischen Himmel und Erde flammt der erste Strahl der Sonne über das Land. –

Wie festgebannt bleibt Franischko stehen. So weit das Auge reichte, auf vielen, vielen Meilen überall üppige Felder, stattliche Dörfer, blanke Kirchtürme und in der Ferne, wo der Himmel schon anfing, eine große Stadt. So sah es in der Umgegend von Trenschin nicht aus! Ein unendlicher Schmerz ergriff den kleinen Franischko, die Tränen schossen ihm in die Augen, aber er wußte nicht recht, was ihn so jählings packte. Es mußte doch ein wenig weiter bis Trenschin sein als er dachte. Aber dann tat Eile not! Vorwärts! Vorwärts!

Er sang nicht mehr, er träumte und sann nicht mehr. Vorwärts nach Osten eilte er, und vergaß alles andere. Er vergaß die Gesichte der Nacht, die Mamka und den drohenden Majster, er vergaß den Schmerz an seinen Füßen und den quälenden Hunger. Weiter! Weiter! Der Vormittag ist noch lang und Franischko kann noch gehen! Und die Leute sind wohltätig. Schon hatte ihm das hübsche Mädchen einen Trunk süßer Milch gegönnt, es war ein tiefer, tiefer Trunk, wie Franischko ihn lange nicht getan. Im nächsten Dorfe hat ihm ein ganz kleines Kind einen Apfel geschenkt und dann, als die Sonne heißer herunter schien, hat ihm jemand – war's der Pfarrer oder war's seine gute Mamka? – Bier gereicht.

Ja, das Bier, das hatte ihn gestärkt! Oder hatte es ihn gar trunken gemacht? Es war ja nur ein Glas! Und doch – Franischko fühlte es, daß er nicht klar im Kopfe war. Oder war es eine schwere Krankheit, welche das Blut peitschte, daß es ihm die Schläfen zu sprengen drohte? Wohin wollte er denn nur so eilig durch die spitzigen Nadeln hindurch, die ihm die Füße zerstachen? Warum versteckte er sich nicht vor dem glühenden Eisen, welches von oben her seine Augen umflimmerte? Franischko ist doch so stark, daß er es mit dem Majster schon aufnehmen wird, wenn der Majster ihn schlagen will. Oh, er soll nur kommen!

Horch! Was war das? Hinter ihm, im letzten Dorfe, schlug die Turmuhr viele Schläge.

Was ging das den Franischko an? Aber nein – er wollte ja diese vielen Schläge anderswo hören, ganz anderswo! Jetzt schallte der erste Glockenschlag aus dem andern Dorfe rechter Hand herüber. Eins – zwei. Franischko zählte. Pamboschko na nebi! Zwölf Uhr mittags! Heiliger Gott, um zwölf Uhr sollte er ja zu Hause sein und wenn er nicht zur rechten Zeit kommt, so stirbt vielleicht die Mamka! Pamboschko na nebi! Und Franischko steht müßig da in fremder, fremder Gegend und zählt die Schläge einer fremden Dorfuhr. Das soll seine Mamka nicht von ihm sagen, daß er sie im Tode vergessen habe.

Aber wo war Trenschin? Plötzlich hatte er die Richtung vergessen, von der er kam. Wo war Trenschin? Dort konnte es nicht sein, denn dort war ein großer Teich, in dem der Franischko ertrinken würde. Dort auch nicht, denn von dort her kam die Glut, welche ihm das Blut zum Sieden brachte. Aber dort! Das war keine hohe Pappel, wie der böse Majster, der jetzt mit drohend erhobener Faust dicht hinter ihm stand, ihm wohl einreden wollte, das war der Arm der Mamka, der ihm winkte.

»Mamko, mila Mamko!« brachte Franischko mit heiserer Stimme noch hervor, dann jagte er fort, der Mamka entgegen. Durch hohe Kornfelder hindurch, über Stoppeln und Steine, über Gräben und durch dichtes Untergehölz, das ihm die armseligen Kleider in Fetzen riß, ging die Jagd.

Auf einmal wurde es finster. Ob Nacht oder Blindheit, er taumelte weiter. Er stürzte und sprang wieder empor. Dann wurde es noch einmal Licht um ihn her, das glühende Eisen näherte sich den Augen, heiß und rot flammte es vor ihm auf und mit einem Schrei stürzte er zu Boden.

So fand ihn der Lehrer. Der Lehrer war ein trauriger Mann mit blassen Wangen und schwarzen Augen. Böse Kinder fürchteten sich vor ihm, aber er war gut gegen den armen Franischko. Er trug ihn mit Hilfe eines Knechtes nach seinem fernen Häuschen, kühlte ihm die brennende Stirn, wachte an seinem Lager und flößte ihm eine labende Arznei ein. Tag um Tag verging, bevor die Macht des Fiebers gebrochen war. Doch endlich, an einem hellen Sonntagsmorgen, erwachte Franischko wieder zum Bewußtsein und sah in ein Paar milder dunkler Augen und fühlte eine weiche Hand, welche lind über seine abgemagerten Wangen glitt. Das war beinahe so schön wie bei der Mamka.

Dann kamen herrliche Tage. Franischko war noch zu schwach, um sich vom Lager zu erheben, der Lehrer aber brachte ihm schmackhafte Suppen und Weißbrot, später gar Honig und allerhand Früchte, und plauderte mit ihm des Abends und erzählte ihm Märchen, so schön, so schön. Später durfte Franischko in das Gärtchen hinaustreten und sich unter den hohen Birnbaum ins Gras legen. Es war wie im Vaterhaus, und die beiden Knaben hatten doch wohl den richtigen Weg gewiesen.

Franischko mußte dem Lehrer erzählen, wie er in dieses Dorf gekommen und was ihm da zugestoßen sei. Der Lehrer blickte so mitleidig, wie das Christusbild in der Kirche, als Franischko die Geschichte seiner Reise erzählte. Nachdem Franischko alles berichtet hatte, was er wußte, fragte er so zutraulich, wie er sich sonst keinem Menschen zu nähern wagte: »Bitt' ich, frag' ich, Pane Lehrer, haben wullt Knaben böse fuppen armes Franischko mit ganz ganz kleines Bilderle von großmächtigen Erden?«

Der Lehrer antwortete: »Nein, mein guter Franischko, wohl gibt es Bilder von der Erde, aber die Kinder wissen sie nicht zu deuten. Man muß groß geworden sein, um die Bilder ins Unendliche zu vergrößern, man muß alt geworden sein, um sich auszukennen auf der Erde. Freue dich, Franischko, daß du noch klein und jung bist. So siehst du noch die schönen farbigen Bilder, wir sehen nur noch die häßliche farblose Wirklichkeit. Du dankst es mir heute, daß ich dich aus der Ohnmacht geweckt habe. Möchtest du mir nicht fluchen, wenn auch du dereinst das Bild von der Erde begreifst.«

Franischko schwieg lange und schaute vergnügt in die Krone des Birnbaumes. Dann sagte er: »Verstund ich gar nix, Pane Lehrer, ober bin ich lustiges Franischko, weil mich gnädigste Knabe nix wullt fuppen.«

Eines Morgens erwachte Franischko so munter, daß er mit der Sonne aufstand und wild im Freien umherlief. Plötzlich hielt er inne und begann bitterlich zu schluchzen. Es fiel ihm ein, daß er nun gesund sei, und daß die Herrlichkeit beim guten Lehrer nun ein Ende haben müsse. Doch der Lehrer sollte nicht sehen, wie schwer dem Franischko der Abschied fiel. Franischko trocknete die Augen, trat in die Stube des Lehrers und sagte ihm, daß er gesund sei und nun wieder an die Arbeit gehen müsse. Trotz seinem mutigen Vorhaben brach er jedoch bei den letzten Worten wieder in Tränen aus und war nicht mehr imstande, die Dankesworte hervorzubringen, welche er noch auf dem Herzen hatte.

Auf Wunsch des Lehrers mußte Franischko diesen Tag noch bei ihm zubringen und vom Besten genießen, was des Lehrers Küche bot. Oh, der Lehrer, das mußte ein gar reicher Mann sein! Als er hörte, wie gut der Franischko seine Waren geborgen hatte und wie ihn allein die Furcht vor seinem Majster noch quälte, da gab ihm der bleiche Mann, ohne mit der Wimper zu zucken, eine große, große Summe Geldes, ganze fünf Gulden, ebensoviel, vielleicht noch mehr, als die schwerste Warenlast Franischkos wert war.

Am nächsten Morgen mußte Franischko aufbrechen. Der Lehrer war in der Schule beschäftigt und konnte darum nicht Abschied nehmen.

Franischko war in jener tollen Nacht wohl recht sehr irre gegangen, denn die Hauptstadt war, wie der Lehrer ihm gesagt hatte, nur etwa zehn Stunden entfernt. Auch erkannte Franischko die Landschaft nicht wieder, durch welche er jetzt nach Anweisung seines Wohltäters schweren Herzens wanderte. Erst nachmittags, als die zahlreichen Gemüsefelder schon die Nähe der großen Stadt verrieten, erkannte der müde Knabe das Plateau wieder, auf welchem ihn der Wald aufgenommen hatte. Und nun fand er auch nach kurzer Zeit das einsame Haus, dessen gutherzigen Bewohnern er seine Ware übergeben hatte.

Als er auf das Gebäude zu schritt, sah eben – von Franischko nicht bemerkt – der Wirt zum Fenster hinaus. Kaum hatte er den Slowakenjungen erblickt, schloß er das Fenster, rief seine Frau und zog sich mit ihr in die Stube zurück.

Als Franischko bei der Haustür anlangte, empfing ihn ein fremder junger Mann mit höhnischlachendem Gesicht und fragte nach seinem Begehr. Franischko erzählte, daß er die Waren hier zurückgelassen habe und nun abholen wolle. Pamboschko na nebi, liebes Gott im Himmel werde den braven Vaterle und Mutterle lohnen!

»Dann hat er ihnen wohl schon alles gelohnt!« antwortete der Mann. »Du meinst wohl den früheren Wirt und seine Frau. Die sind vor vierzehn Tagen beide gestorben.« Franischko erschrak heftig und fragte eifrig nach seinen Waren.

»Ich weiß von nichts«, lautete die rauhe Antwort. »Die Verwandten des früheren Wirtes sind gekommen und haben alles fortgenommen, wahrscheinlich auch dein Blechzeug. Sie sind seitdem mit allem Hab und Gut nach Amerika ausgewandert. Und jetzt schau, daß du fortkommst, Mausiratzenfaller, sonst hetz' ich die Hunde.«

Franischko schlich sich betrübt davon. Der Verlust seiner Waren war zu ertragen, denn seinem Majster war das Geld des Lehrers gewiß noch lieber. Doch der Tod der braven Menschen hatte ihn geschmerzt. Langsam ging Franischko ins Dorf zurück, trat in die Kirche und betete ein Vaterunser für die Verstorbenen, welche ihn in seiner Not unterstützt hatten. Dann nahm er beruhigt seinen Weg auf.

Als er bei dem Wirtshause wieder vorüberkam, glaubte er den Wirt und seine Frau, oder vielmehr ihre abgeschiedenen Seelen am Fenster lachen zu sehen. Sie freuten sich im Himmel gewiß über sein Gebet. Franischko schlug ein Kreuz und schritt eiliger der Stadt entgegen.


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