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Ich saß auf der Mole des kleinen Hafens Obernon bei der Ortschaft La Salis, um hinter Antibes die Sonne untergehen zu sehen. Etwas so Wunderbares und Schönes hatte ich noch nie erblickt.
Das kleine, von dicken, einst von Vauban erbauten Festungsmauern umschlossene Städtchen sprang in das Meer vor, mitten im riesigen Golf von Nizza; die hohen Flutwellen brachen sich zu seinen Füßen und umzogen es mit einem Saum weißen Schaumes. Über den Wällen sah man die Häuser übereinander aufgestapelt bis hinauf zu den beiden Türmen, die sich wie die Spitzen eines antiken Helmes in die Luft streckten. Und die beiden Türme hoben sich auf der milchigen Weiße der Alpenkette von der riesigen, fernen Schneemauer, die den ganzen Horizont umgab, ab.
Zwischen dem weißen Gischt zu Füßen der Mauern und dem weißen Schnee am Himmelssaum bot das kleine Örtchen, hell sich abzeichnend vom blauen Hintergrund der ersten Berge, der untergehenden Sonne eine Pyramide von Häusern mit roten Dächern, deren Fassaden gleichfalls weiß waren, aber von so verschiedener Färbung, daß alle Spielarten vertreten zu sein schienen.
Und auch der Himmel über den Alpen war von einem fast weißen Blau, als ob der Schnee auf ihm abgefärbt hätte. Ein paar silberne Wölkchen schwammen um die bleichen Gipfel. Und auf der anderen Seite des Golfes lag Nizza, am Wasser hingestreckt, wie ein weißer Faden zwischen Meer und Gebirge. Zwei große lateinische Segel, von starker Brise geschwellt, schienen auf der Flut hinzulaufen. Mit glückseligen Augen starrte ich das an.
Das war eines jener köstlichen seltsamen Schauspiele, so reizend zu sehen, daß sie unvergeßlich wie die Erinnerung an ein Glück in uns haften bleiben. Man lebt, man denkt, man leidet, man ist bewegt, man liebt mit dem Blick. Wer mit dem Auge zu fühlen versteht, empfindet, wenn er die Dinge und Wesen betrachtet, denselben tiefen und durchdringenden Genuß, der den Menschen mit fein ausgebildetem Gehör das Herz erbeben macht, wenn er Musik vernimmt.
Ich sagte meinem Begleiter, Herrn Martini, einem richtigen Südländer: – Das ist doch einer der schönsten Blicke, die mir ie vergönnt waren zu bewundern.
Ich habe den Mont Saint Michel, dieses gewaltige, granitene Kleinod, aus dem Sand wachsen sehen bei anbrechendem Tag; ich habe den fünfzig Kilometer langen Saharasee Raïane-chergui gesehen bei einem Mondschein, der strahlte wie bei uns die Sonne, und ich sah weiße Dunstschleier daraus emporsteigen wie milchigen Dampf.
Ich habe auf den Liparischen Inseln den phantastischen Schwefelkrater des San-Angelo gesehen, eine gigantische Blume, die raucht und brennt, eine riesige gelbe Blume, die auf hoher See aufsteigt und deren Stengel ein Vulkan ist.
Etwas Prachtvolleres, wie Antibes bei untergehender Sonne mit der Alpenkette im Hintergrund, habe ich nie erblickt.
Und ich weiß nicht, warum die Erinnerung an die Antike mir kommt. Homerische Verse summen mir im Ohr. Das ist eine Stadt wie im Altertum, eine Stadt aus der Odyssee, es ist Troja, obgleich Troja weit vom Meere ab lag.
Herr Martini zog seinen Reiseführer aus der Tasche und las: »Diese Stadt, ursprünglich eine Kolonie der Marseiller Phoceer, wurde gegen 340 vor Christi Geburt gegründet. Sie erhielt den griechischen Namen Antipolis d. h. Gegenstadt, Stadt einer anderen gegenüber, weil sie sich in der That Nizza, auch einer Marseiller Kolonie, gegenüber befindet.
Nach der Niederwerfung der Gallier machten die Römer aus Antipolis eine Municipalstadt, und die Bewohner erhielten die Rechte römischer Bürger.
Wir wissen durch ein Epigramm von Martial daß zu seiner Zeit –«
Die Fortsetzung unterbrach ich:
– Ach, mir ist's ganz gleich, was sie gewesen ist. Ich sage Ihnen, mir kommt sie wie eine Stadt aus der Odyssee vor. An der asiatischen oder europäischen Küste, sie ähneln sich überall. Und auf der anderen Seite des mittelländischen Meeres giebt es keine, die so in mir die Erinnerung an die Zeiten des Altertums erweckt wie diese, die Erinnerung an die Zeiten der klassischen Helden.
Ich hörte Schritte und wendete den Kopf. Eine Frau, eine große, braune Frau kam den Weg entlang, der am Meer hin nach dem Kap führt.
Herr Martini brummte mit Betonung der Endsilben:
– Sie wissen doch, das ist Frau Parisse.
Aber ich antwortete:
– Frau Parisse? Wer ist das?
Er schien erstaunt, daß ich von ihr nichts wüßte.
Ich versicherte, ich wüßte in der That nichts, und blickte der Frau nach, die, ohne uns zu sehen, träumend mit ernsten, langsamen Schritten dahinging, wie gewiß einst die Damen des Altertums. Sie mochte etwa fünfunddreißig Jahr alt sein und war schön geblieben, sehr schön, wenn auch etwas stark geworden.
Und Herr Martini erzählte mir folgendes:
Frau Parisse, eine geborene Combelombe, hatte ein Jahr vor dem Krieg 1870 Herrn Parisse, einen Regierungsbeamten, geheiratet. Damals war sie ein schönes, junges Mädchen, so schlank und lustig, wie sie heute stark und traurig ist.
Sie hatte sich nur widerwillig mit Herrn Parisse verheiratet, einem jener kleinen Männer mit Wanst und kurzen Beinen, die immer in einer zu weiten Hose hintrotten.
Nach dem Kriege bekam Antibes als Garnison ein einziges Linien-Bataillon, das Johann de Carmelin befehligte, ein junger Offizier, der im Feldzuge einen Orden bekommen hatte und eben erst zum Bataillonskommandeur befördert worden war.
Da er sich in der Festung furchtbar langweilte, in dieser erstickenden Maulwurfsfalle, eingeschlossen zwischen zwei Reihen gewaltiger Mauern, ging der Major öfters auf dem Kap spazieren, einer Art Park oder Wald, dessen Pinien durch die Stürme vom Meer gebeugt waren.
Dort traf er Frau Parisse, die sich an Sommerabenden, um unter den Bäumen frische Luft zu schöpfen, auch dort erging. Wie sie dazu kamen, sich zu lieben? Ja, wer soll das wissen. Sie trafen sich, sie sahen sich, und wenn sie sich nicht mehr sahen, dachten sie aneinander, ohne Zweifel. Und vor dem jungen Offizier stand immer das Bild der jungen Frau mit ihren braunen Augen, schwarzen Haaren, dem dunklen Teint, das Bild der schönen frischen Südländerin, die lächelnd ihre Zähne zeigte. Und während er so an sie dachte, ging der Offizier auf und ab und kaute an seiner Cigarre, statt zu rauchen. Und das Bild des Majors in seiner engen Uniform mit den roten Hosen, der goldenen Stickerei, dem blonden Schnurrbart auf der Lippe, erschien wohl abends vor den Augen der Frau Parisse, wenn ihr Herr Gemahl unrasiert, ruppig angezogen, mit seinen kurzen Beinchen und dem dicken Wanst zum Abendessen heimkehrte.
Sie mochten wohl, weil sie sich so oft trafen, lächeln, wenn sie sich sahen, und weil sie sich immer sahen, bildeten sie sich ein, daß sie sich kennten. Dann hat er sie wohl gegrüßt, sie war erstaunt, dankte ganz wenig, nur so wenig, wie sie vielleicht mußte, um nicht unhöflich zu erscheinen. Aber nach vierzehn Tagen erwiderte sie seinen Gruß schon von fern, ehe sie noch Seite an Seite waren.
Er sprach mit ihr. Von was? Wahrscheinlich vom Sonnenuntergang. Und sie bewunderten ihn zusammen und blickten häufiger einander in die Augen, als in die Weite. Und der Sonnenuntergang gab zwei Wochen lang den banalen, ewig wiederkehrenden Gesprächsstoff zu einer Unterhaltung von ein paar Minuten.
Dann wagten sie, zusammen ein Stück zu gehen, von allem Möglichen zu sprechen. Aber ihre Augen erzählten sich schon tausend intime Dinge, jene geheimen, reizenden Worte, deren Widerschein im weichen, bewegten Blick liegt, die das Herz schlagen machen, denn sie sprechen mehr als ein Geständnis.
Dann hatte er wohl ihre Hand genommen und jene Worte gesprochen, die die Frau errät, obgleich sie sie nicht zu hören scheint.
Und sie waren sich klar geworden, daß sie sich liebten, ohne daß sie es sich mit etwas Sinnlichem oder Rohem bewiesen hätten.
Auf diesem Standpunkt der Zärtlichkeit wäre sie wohl stehen geblieben. Aber er wollte mehr, und täglich bestürmte er sie, seinen glühenden Wünschen nachzugeben.
Sie widerstand, wollte nicht und schien entschlossen zu sein, nicht schwach zu werden.
Und doch sagte sie ihm eines Abends zufällig: – Mein Mann ist eben nach Marseille gefahren und wird vier Tage fortbleiben.
Johann de Carmelin warf sich ihr zu Füßen, bat sie, am Abend gegen elf Uhr die Thür offen zu lassen. Aber sie hörte ihn nicht an und kehrte erzürnt heim.
Der Major war den ganzen Abend schlechter Laune. Und am anderen Tag bei Morgengrauen lief er wütend auf den Festungswerken herum, von den Trommlern zu den Schützen, und es regnete Strafen auf Offiziere und Leute, wie ein Steinhagel auf eine Menschenmenge niederprasselt.
Aber als er zum Frühstück heimkehrte, fand er in einem Umschlag unter der Serviette nur die vier Worte: »Heute abend zehn Uhr.« Ohne Grund gab er dem Kellner fünf Franken Trinkgeld.
Der Tag erschien ihm fürchterlich lang, und er verbrachte ihn damit, sich zu parfümieren und zu putzen.
Im Augenblick als er sich zum Essen an den Tisch setzte, bekam er einen zweiten Brief und fand folgendes Telegramm: »Liebes Kind, Geschäft erledigt, komme heute abend neun Uhr. Parisse.«
Der Kommandant fluchte so laut, daß der Kellner die Suppenschüssel zu Boden fallen ließ.
Was sollte er anfangen? Er wollte sie heute abend sehen, mochte es kosten, was es wollte. Und er würde sie sehen. Er war entschlossen, alle Mittel anzuwenden, und wenn er den Mann festnehmen und einstecken sollte. Da kam ihm plötzlich eine wahnsinnige Idee. Er ließ sich Papier geben und schrieb:
Gnädige Frau!
Ich schwöre Ihnen, er kehrt heute abend nicht zurück, und ich werde um zehn Uhr dort sein, wo Sie mich erwarten. Fürchten Sie nichts, ich stehe für alles, auf mein Wort als Offizier.
Johann de Carmelin.
Und nachdem er diesen Brief hatte zu ihr bringen lassen, speiste er ganz ruhig.
Gegen acht Uhr ließ er Hauptmann Gribois, seinen nächsten Untergebenen, kommen und sagte zu ihm, indem er die zusammengeknitterte Depesche des Herrn Parisse zwischen seinen Fingern hin und herrollte.
– Herr Hauptmann, ich habe eben ein sehr merkwürdiges Telegramm bekommen, dessen Inhalt ich Ihnen nicht einmal mitteilen kann. Sie werden sofort die Thore der Stadt schließen und bewachen lassen und zwar so, daß kein Mensch, hören Sie, kein Mensch, vor morgen früh sechs Uhr weder heraus- noch hereinkommt. Dann lassen Sie Patrouillen durch die Straßen gehen und die Einwohner zwingen, um neun Uhr zu Haus zu sein. Wer nach dieser Stunde noch draußen getroffen wird, wird durch die Patrouillen zwangsweise nach Haus geschafft. Wenn die Mannschaften mir diese Nacht begegnen, dürfen sie mich nicht erkennen und sollen die Passage frei geben. Haben Sie wohl verstanden?
– Jawohl, Herr Major.
– Ich mache Sie verantwortlich für die Ausführung meiner Befehle, mein lieber Hauptmann.
– Jawohl, Herr Major.
– Darf ich Ihnen eine Chartreuse anbieten?
– Sehr gern, Herr Major.
Sie tranken zusammen den gelben Likör, und Hauptmann Gribois ging davon.
Punkt neun Uhr lief der Zug von Marseille in den Bahnhof ein. Zwei Reisende stiegen aus, und der Zug fuhr weiter nach Nizza.
Der eine war groß und mager, Herr Saribe, ein Ölhändler; der andere dick und klein, Herr Parisse.
Seite an Seite gingen sie ihren Weg, die Reisetasche in der Hand, um die, einen Kilometer entfernte Stadt zu erreichen.
Aber als sie an das Thor am Hafen kamen, streckten ihnen die Posten das aufgepflanzte Seitengewehr entgegen und forderten sie auf, umzukehren.
Sie waren ganz verstört und erstaunt, gingen ein Stück zurück und berieten. Nachdem sie dann einer des anderen Ansicht vernommen, traten sie vorsichtig wieder näher, um zu unterhandeln und ihre Namen zu nennen.
Aber die Soldaten mußten strengen Befehl haben, denn sie drohten zu schießen, und die beiden Reisenden flohen entsetzt im Laufschritt davon, ihre schweren Reisetaschen im Stich lassend.
Sie gingen nun um die Festung herum und wollten zum Thore, das nach der Straße von Cannes liegt, herein. Es war gleichfalls geschlossen und auch durch einen drohenden Posten bewacht. Die Herren Saribe und Parisse waren vorsichtige Leute, machten nun keinen Versuch weiter und kehrten wieder zum Bahnhof zurück, um ein Unterkommen zu finden, denn die Umgebung der Befestigungswerke war nach Dunkelwerden nicht sicher.
Der dienstthuende Beamte war ganz erstaunt, und schläfrig erlaubte er ihnen, bis zum Tagesanbruch im Wartesaal zu verweilen.
Im Dunkeln hockten sie auf den grünen Samtsofas, Seite an Seite, viel zu erschrocken, um an Schlaf zu denken.
Die Nacht wurde ihnen lang. Gegen halb sieben Uhr erfuhren sie, daß die Thore wieder geöffnet waren und man endlich nach Antibes konnte.
Sie gingen hin, fanden aber auf der Straße ihre im Stich gelassenen Reisetaschen nicht wieder.
Als sie noch etwas ängstlich durch das Thor die Stadt betraten, kam ihnen Major de Carmelin, listig lächelnd, den Schnurrbart aufgedreht, selbst entgegen, um sie zu befragen.
Er grüßte höflich und bedauerte, daß sie eine so böse Nacht gehabt hätten, aber er hätte seinem Befehl nachkommen müssen.
In Antibes war alles außer sich. Die einen wollten von einem Überfall wissen, den die Italiener beabsichtigt hätten, die anderen von der Landung eines kaiserlichen Prinzen, andere glaubten an eine orleanistische Verschwörung. Erst später erriet man die Wahrheit, als man erfuhr, daß das Bataillon des Kommandanten in eine entfernte Garnison versetzt, und daß der Major de Carmelin streng bestraft worden sei.
Herr Martini war mit seiner Erzählung fertig. Frau Parisse kehrte zurück, ihr Spaziergang war beendet. Mit ernster Miene ging sie an mir vorüber, den Blick nach den Alpen hinüber, deren Gipfel jetzt rosa im letzten Sonnenschein glänzten.
Ich hatte Lust, die arme, traurige Frau zu grüßen, die wohl jetzt immer an diese schon so ferne Liebesnacht dachte und an den verwegenen Mann, der es gewagt hatte, um einen Kuß von ihr eine ganze Stadt in Belagerungszustand zu versetzen und seine ganze Laufbahn zu gefährden.
Heute hatte er sie wahrscheinlich längst vergessen, wenn er nicht vielleicht beim Glase Wein diesen gewagten zärtlichen Ulkstreich erzählte.
Hatte er sie wiedergesehen? Liebte er sie noch? Und ich dachte: »Das ist wieder ein Zug moderner Liebe, komisch und doch eigentlich heroisch. Der Homer, der diese Helena besänge mit dem Abenteuer ihres Menelaus, müßte die Seele Paul de Kocks haben. Und doch ist der Held dieser Verlassenen tapfer, schön, stark wie Achilles und gerissener denn Odysseus der Vielgewandte!«