Guy de Maupassant
Das Haus Tellier und Anderes
Guy de Maupassant

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Bertha

Schon oft hatte mein alter Freund (man hat zuweilen Freunde, die viel älter sind wie wir) der Doktor Bonnet, mich eingeladen, einige Zeit bei ihm in Riom zuzubringen. Da ich die Auvergne noch nicht kannte, so entschloss ich mich endlich, im Sommer 1876 zu ihm zu gehen.

Als ich eines Morgens mit dem Frühzuge dort eintraf, war die erste Gestalt, welche ich auf dem Perron bemerkte, die des Doktors. Er trug einen grauen Anzug und einen runden schwarzen Hut aus weichem Filz mit breitem Rande, dessen hoher Boden sich nach oben zu wie ein Ofenrohr verengte; ein echter Auvergnaten-Hut, der für einen Köhler gemacht schien. So bekleidet liess der Doktor mit seinem schmächtigen Körper unter der hellen Gewandung, auf dem sein dicker Blondkopf thronte, auf den ersten Blick den alten Junggesellen erkennen.

Er umarmte mich mit jener auffallenden ungestümen Freude, mit welcher die Provinzler die Ankunft langersehnter Freunde zu begrüssen pflegen und rief voll Stolz, indem er mit weitausgestreckter Hand ringsum deutete: »Schau, das ist die Auvergne.« Ich sah weiter nichts Besonderes, als eine Reihe von Bergen vor mir, deren abgestumpfte Kegel auf ehemalige Vulkane schliessen liessen.

Dann wies er mit dem Finger auf den Namen der Station, der am Bahnhofe angebracht war, und sagte feierlich:

»Riom, die Heimat der Beamten, der Stolz des Beamtentums, welches in kürzester Zeit mehr noch die Heimat der Ärzte sein dürfte.«

»Wieso?« fragte ich.

»Wieso?« antwortete er lachend. Drehen Sie den Namen um, dann haben Sie mori, morituri . . . Sehen Sie, lieber Freund, weshalb ich mich hier niedergelassen habe.«

Und sich entzückt über diesen Scherz die Hände reibend, zog er mich mit sich fort.

Sobald ich eine Tasse heissen Kaffee getrunken hatte, ging es an die Besichtigung der alten Stadt. Ich bewunderte das Haus des Arztes und die übrigen sehenswerten Häuser; sie waren alle schwarz, sahen aber im Übrigen mit ihren Façaden aus gehauenem Stein ganz hübsch aus, wie kleine Nippessachen. Ich bewunderte weiter die Statue der heil. Jungfrau, der Schutzpatronin der Fleischer, und erfuhr hierbei die Geschichte eines niedlichen Abenteuers, welche ich vielleicht später 'mal erzählen werde. Dann sagte mir Doktor Bonnet:

»Jetzt bitte ich mich für fünf Minuten zu einem Krankenbesuche zu entschuldigen; dann werde ich Sie auf den Hügel Chatel-Guyon führen und Ihnen noch vor dem Frühstück den Gesamt-Anblick der Stadt und der ganzen Puy-de-Dôme-Kette zeigen. Sie können mich auf dem Trottoir erwarten, ich gehe nur herauf und herunter.«

Er verliess mich, als wir uns einem jener alten, finsteren, stummen und traurigen Häuser gegenüber befanden, wie man sie noch öfters in den kleinen Provinzstädten findet. Dieses hier schien mir übrigens noch ein ganz besonders finsteres Aussehen zu haben, und die Ursache hiervon hatte ich bald entdeckt. Alle grossen Fenster der ersten Etage waren zur Hälfte mit massiven hölzernen Laden geschlossen. Nur die obere Hälfte war zu öffnen, als wollte man alle Leute, die sich in diesem grossen steinernen Sarge befanden, hindern, auf die Strasse zu sehen.

Als der Doktor wieder erschien, teilte ich ihm meine Beobachtung mit.

»Sie haben sich nicht getäuscht«, sagte er, »das arme Wesen, welches dort drüben eingeschlossen ist, darf nicht sehen, was auf der Strasse vor sich geht. Es ist eine Irrsinnige, oder besser gesagt eine Idiotin, oder um es ganz richtig zu bezeichnen, eine Einfältige, was Ihr Anderen, Ihr Normannen, eine ›Null‹ nennen würdet. Ja, sehen Sie 'mal; das ist eine traurige Geschichte und zugleich ein merkwürdiger pathologischer Fall. Soll ich Ihnen erzählen?«

Selbstredend bejahte ich.

»Nun gut!« fuhr er fort. »Es ist jetzt zwanzig Jahre her, dass die Eigenthümer dieses Hauses, meine Kundschaft übrigens, ein Kind hatten, ein Mädchen wie jedes andre Mädchen auch.

Aber ich bemerkte bald, dass, während der Körper dieses kleinen Wesens sich wunderbar entwickelte, sein Verstand völlig zurückblieb.

Es lernte sehr frühzeitig gehen, sprach aber kein Wort. Ich schob dies anfangs nur auf einfache Dummheit; dann stellte ich fest, dass es sehr gut hörte, aber nichts verstand. Bei heftigem Geräusch fing es an zu zittern, ohne sich über die Ursachen desselben klar zu werden.

Es wuchs heran, war hübsch aber stumm; stumm aus Verstandesmangel. Ich versuchte mit allen erdenklichen Mitteln in seinem Kopfe auch nur den Schimmer eines Gedankens zu erwecken, aber es half alles nichts. Ich glaubte zu bemerken, dass es seine Ernährerin erkenne, aber sobald es entwöhnt war, kannte es die Mutter nicht mehr. Niemals konnte es dieses Wort aussprechen, welches die Kinder als erstes stammeln und die auf dem Schlachtfeld sterbenden Soldaten als letztes murmeln, das Wort ›Mutter‹. Es versuchte einige Male etwas zu stottern, einige leere Versuche, und dann war es nichts mehr.

War das Wetter schön, so lachte sie die ganze Zeit und stiess dabei leichte Schreie aus, dem Zwitschern der Vögel vergleichbar; regnete es, so weinte und seufzte sie in einer ganz traurigen herzzerbrechenden Weise, ähnlich wie Hunde klagen, die an einer Leiche heulen.

Sie wälzte sich gern im Grase nach Art der jungen Tiere und lief wie toll umher; jeden Morgen, wenn die Sonne in ihr Zimmer schien, klatschte sie vor Vergnügen mit den Händen. Dasselbe that sie auch, wenn man das Fenster öffnete, damit man sie nur schnell anziehen möchte.

Im Übrigen schien sie keinen Unterschied zwischen den Leuten zu machen, weder zwischen ihrer Mutter noch ihrer Wärterin, zwischen ihrem Vater oder mir, zwischen dem Kutscher und der Köchin.

Da ich ihre unglücklichen Eltern sehr gern hatte, so kam ich fast jeden Tag zu ihnen, und speiste auch oft bei denselben. Hierbei glaubte ich zu bemerken, dass Bertha (dies war ihr Taufname) die Gerichte zu unterscheiden und das eine dem andren vorzuziehen schien.

Sie war damals zwölf Jahre alt, viel grösser als ich und hätte ihrer ganzen Erscheinung nach für achtzehnjährig gelten können.

So kam ich auf den Gedanken, ihren Geschmackssinn zu erwecken und mittels desselben zu versuchen, ihrem Geistesleben Abwechslung zu bringen. Ich wollte sie durch Verschiedenheit der Appetits-Äusserungen durch die ganze Stufenleiter von Geschmacks-Richtungen, wenn auch nicht gerade zu bewussten oder überlegten Entschliessungen, so doch wenigstens zu instinktiven Unterscheidungen bringen, bei denen sich dann doch immerhin eine Art materieller Gedankenarbeit vollzog.

Wenn man so ihre Neigungen reizte, so konnte man vielleicht, namentlich bei sorgfältiger Berücksichtigung derjenigen, die am ausgesprochensten auftraten, eine umgekehrte Wirkung des Körpers auf den Verstand erzielen und allmälig ihr Gehirn aus seiner bisherigen Unthätigkeit aufwecken.

Ich stellte also eines Tages zwei Schüsseln, die eine mit Suppe und die andre mit sehr süssem Vanille-Crême vor ihr hin, und liess sie abwechselnd von beiden kosten. Dann überliess ich ihr die Wahl und sie ass den Crême auf.

In kurzer Zeit war sie sehr wählerisch geworden, so dass sie eigentlich nur noch den Gedanken ans Essen oder besser gesagt, das Verlangen danach im Kopfe hatte. Sie erkannte die Schüsseln ganz genau, streckte die Hände nach denen aus, die sie wünschte, und verzehrte alles mit Gier. Sie weinte, wenn man es ihr fortnahm.

Nun versuchte ich sie auf den Klang der Tischglocke einzuüben; es dauerte lange, gelang aber auch. Es bildete sich zweifellos bei ihr ein unbewusster Zusammenhang zwischen dem Glockenzeichen und ihrem Appetit, also eine Art Beziehung zwischen zwei Sinnen, eine Wirkung des einen auf den andren und folgerichtig ein Ideen-Zusammenhang – wenn man diese Art von instinktivem Zusammenwirken zweier organischer Funktionen als Idee bezeichnen kann.

Meine Hoffnung wuchs, und ich dehnte meine Versuche nun darauf aus, ihr die Stunde der Mahlzeit auf dem Zifferblatt der Wanduhr – und mit welcher Mühe! – begreiflich zu machen.

Lange Zeit hatte sie für die Bewegung der Zeiger absolut kein Verständnis; aber es gelang mir, ihr den Stundenschlag einzuprägen. Die Sache war sehr einfach. Ich liess das Läuten der Tischglocke einstellen, dagegen standen wir Alle auf, um zu Tisch zu gehen, sobald als der kleine Hammer des Uhrwerks zum Anschlagen der Mittagsstunde aushob.

So strengte ich mich z. B. vergeblich an, ihr das Zählen der Schläge beizubringen. Sie stürzte jedesmal auf die Thüre zu, sobald sie überhaupt die Uhr schlagen hörte, aber allmälig wurde es ihr doch klar, dass alle Schläge der Uhr doch nicht die Essensstunde anzeigten, und so fing sie an, das Auge, vom Gehör unterstützt, mehr wie sonst auf das Zifferblatt zu lenken.

Als ich dies bemerkte, trug ich Sorge, jeden Tag zur Mittagsstunde und um 6 Uhr meinen Finger auf die Zahl 12 und 6 zu richten, sobald der so sehnlich von ihr erwartete Augenblick eingetreten war. Ich konnte bald beobachten, dass sie anfing, aufmerksam den Bewegungen der kleinen bronzenen Zeiger zu folgen, die ich in ihrer Gegenwart so oft hatte um das Zifferblatt laufen lassen.

Sie hatte es also begriffen; ich möchte vielmehr sagen, sie hatte es sich gemerkt. Es war mir gelungen, das Bewusstsein oder noch besser die Empfindung der Stunde in ihr zu erwecken, wie man dies, allerdings ohne Hülfe einer Uhr, bei den Karpfen erreicht, indem man ihnen jeden Tag genau zu derselben Zeit Futter wirft.

Nachdem wir nun einmal so weit waren, erregte jede Art von Zeitmesser, die im Hause nur existierte, ihre Aufmerksamkeit in ganz besonderer Weise. Sie verbrachte ihre Zeit damit, sie zu betrachten, sie zu hören und auf die Glockenschläge zu warten.

Einmal passierte sogar etwas sehr Komisches. Das Schlagwerk einer kleinen eingelegten Uhr aus der Zeit Ludwigs XVI., welche man am Kopfende ihres Bettes aufgehängt hatte, war in Unordnung geraten. Sie bemerkte es wohl und wartete seit zwanzig Minuten, das Auge unverwandt auf die Zeiger geheftet, dass die Uhr zehn schlagen sollte. Aber als der Zeiger die Zahl überschritten hatte, war sie ganz verwundert, nichts zu hören; derart verwundert, dass sie sich hinsetzte, ohne Zweifel von einer ähnlichen Gemütsbewegung ergriffen, wie wir sie beim Anblick irgend eines grossen Ereignisses haben. Sie hatte die auffallende Geduld, vor dem kleinen Ding bis elf Uhr zu warten, um zu sehen, was sich dann ereignen würde. Sie hörte natürlich wieder nichts; da ergriff sie, entweder im heftigen Zorn darüber, enttäuscht und betrogen zu sein, oder im ersten Drange der Bestürzung über ein furchtbares Geheimnis, oder schliesslich von rasender Ungeduld darüber verzehrt, dass ihr ein Hindernis entgegentrat, die Ofenzange, und schlug mit solcher Gewalt auf die Uhr los, dass sie im nächsten Augenblick in Trümmer ging.

Ihr Gehirn funktionierte also, es überlegte; wenn auch, wie ich zugeben muss, nur in sehr unklarer Weise und in sehr beschränktem Masse. Denn ich konnte sie nicht dazu bringen, die Personen ebenso wie die Stunden zu unterscheiden. Man musste, um eine Regung ihres geistigen Bewusstseins zu erzielen, an ihre Leidenschaften im wahren Sinne des Wortes appellieren.

Hierfür erhielten wir bald einen andren, leider sehr schrecklichen Beweis.

Sie war äusserlich wunderschön geworden, in der That eine typische Erscheinung, eine Art bewundernswerte aber geistlose Venus.

Sie war jetzt sechzehn Jahre alt, und selten habe ich in dem Alter eine ähnliche Fülle der Formen, eine ähnliche Feinheit und Vollendung der Züge gesehen. Ich nannte sie eine Venus, und sie war es in der That: Blond, zartgerundet, ebenmässig, mit grossen, hellen, träumerischen Augen, deren Bläue der Hanfblüte glich; der Mund geschwungen, mit vollen runden Lippen, ein lieblicher, sinnlicher Mund, ein Mund zum Küssen.

Da trat eines Tages ihr Vater bei mir ein; er machte ein ernstes Gesicht und setzte sich, ohne meinen Gruss zu erwidern.

»Ich muss etwas ganz Wichtiges mit Ihnen besprechen«, sagte er. »Würde es möglich sein . . . kann man . . . Bertha verheiraten?«

Ich war starr vor Erstaunen und rief:

»Bertha verheiraten? . . . aber das ist ja unmöglich!«

»Ich weiss«, sagte er . . . »ja . . . aber denken Sie . . . Doktor . . . es könnte . . . vielleicht . . . wir haben gedacht . . . wenn sie Kinder hätte . . . das wäre für sie eine grosse Gemütsbewegung, ein Glück und . . . wer weiss, ob die Mutterfreuden ihren Geist nicht erwecken würden? . . .«

Ich war ganz verblüfft; das war nicht so unrichtig. Möglicherweise vermochte diese ganz neue Lage, dieser wunderbare Mutter-Instinkt, der im wilden Tiere ebenso wohnt wie im Herzen der Frau, und der die Henne sich dem Hunde entgegenstellen lässt, um ihre Küchlein zu verteidigen, auch in diesem fühllosen Menschenkopfe eine besondere Erregung, eine vollständige Umwälzung hervorzubringen und den bisher unbeweglichen Gedanken-Mechanismus in Gang zu setzen.

Mir fiel sofort ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung ein. Ich hatte einige Jahre vorher eine kleine Jagdhündin gehabt, die so ungelehrig war, dass ich nichts mit ihr anfangen konnte. Kaum hatte sie einmal Junge geworfen, als sie sozusagen von heute auf morgen, wenn auch nicht gerade hervorragend, so doch vielen mittelmässig entwickelten Hunden ähnlich wurde.

Kaum hatte ich diese Möglichkeit erwogen, als der Wunsch, Bertha verheiratet zu sehen, in mir immer reger wurde, wenn auch, offen gestanden, nicht so sehr aus Freundschaft für sie und ihre armen Eltern, als aus wissenschaftlichem Interesse. Wie würde es ausfallen? Das war 'mal wirklich ein merkwürdiges Problem!

»Vielleicht haben Sie Recht . . .« antwortete ich demgemäss dem Vater, »man könnte den Versuch machen . . . Versuchen Sie es . . . aber . . . aber . . . Sie werden niemals einen Mann finden, der sich darauf einlässt.«

»Ich habe schon einen«, sagte er halblaut.

Aufs Neue betroffen stammelte ich:

»Einen geeigneten? . . . Einen aus . . . Ihren Kreisen?«

»Ja«, antwortete er, »vollkommen.«

»Ach! Und . . . darf ich seinen Namen wissen?«

»Ich wollte ihn gerade Ihnen nennen und Sie um Ihre Ansicht über ihn bitten. Er heisst Gaston du Boys de Lucelles!«

»Der Elende!« hätte ich beinahe ausgerufen, aber ich bezwang mich noch rechtzeitig, und nach kurzem Schweigen sagte ich:

»Ja . . . sehr gut. Ich sehe kein Hindernis.«

Der arme Mann drückte mir die Hand:

»Die Hochzeit wird nächsten Monat sein« sagte er.

* * *

Gaston du Boys de Lucelles war ein Taugenichts aus guter Familie, der, nachdem er sein väterliches Erbteil verzehrt und sich eine hübsche Anzahl zum Teil sehr bedenklicher Schulden aufgeladen hatte, nach irgend einer Gelegenheit suchte, um sich aufs Neue Geld zu beschaffen.

Jetzt hatte er sie gefunden.

Er war im Übrigen ein hübscher ansehnlicher Bursch, aber ein Wüstling, von jener Sorte Lebemänner aus der Provinz, die mir so verhasst sind. Ich glaubte indessen, dass er ein für unsere Zwecke ganz passender Ehemann sein würde, dessen man sich nötigenfalls später mit Hülfe einer entsprechenden Pension wieder entledigen könnte.

Er kam jetzt täglich ins Haus, um sich liebenswürdig zu machen und dem hübschen geistesschwachen Mädchen, das ihm übrigens wirklich zu gefallen schien, die Cour auf seine Weise zu schneiden. Er brachte ihr Blumen, küsste ihr die Hand, setzte sich zu ihren Füssen und sah sie mit zärtlichen Augen an; aber sie nahm von seinen Aufmerksamkeiten so gut wie gar keine Notiz und machte in keiner Weise einen Unterschied zwischen ihm und den übrigen Personen ihrer Umgebung.

Die Hochzeit fand statt.

Sie werden begreifen, bis zu welchem Grade meine Neugierde angestachelt war.

Ich besuchte Bertha am andern Morgen, um auf ihrem Gesichte zu lesen, ob sie in irgend einer Weise erschüttert zu sein schiene. Aber ich fand sie ganz so wie alle Tage, lediglich mit der Uhr und dem Essen beschäftigt. Er schien dagegen sehr verliebt und suchte die Heiterkeit und Zärtlichkeit seiner Frau durch allerlei Scherze und Tändeleien zu erwecken, so wie man es etwa mit kleinen Katzen macht.

Er hatte eben nichts besseres zu finden gewusst.

Von jetzt an machte ich bei den jungen Ehegatten häufig meine Visiten und überzeugte mich bald, dass die junge Frau ihren Mann sehr gut als solchen erkannte und ihm dieselben begehrlichen Blicke zuwarf wie vorher den süssen Schüsseln.

Sie folgte allen seinen Bewegungen, unterschied seinen Schritt auf der Treppe oder in den benachbarten Zimmern, klatschte in die Hände, wenn er eintrat, und ihr ganzes Gesicht übergoss ein Schimmer von Glück und Begehrlichkeit.

Sie liebte ihn von ganzem Herzen und mit ihrer ganzen armen kindlichen Seele, mit diesem armen Gemüte, das die Erkenntlichkeit und Anhänglichkeit eines treuen Tieres empfand.

Es war in der That ein wunderbares und rührend harmloses Bild: Diese einfache Zuneigung, noch ganz so sinnlich und doch dabei schamhaft, wie die Natur sie allen Wesen eingepflanzt hatte, ehe der Mensch anfing, ihren Begriff durch alle möglichen Gefühlsduseleien zu verwirren und ausarten zu lassen.

Er aber wurde dieses schönen Geschöpfes, das so hingebend, aber leider stumm war, sehr bald müde. Er blieb nur einige Stunden des Tages bei ihr und fand es völlig genügend, wenn er ihr seine Nächte widmete.

Sie begann hierunter zu leiden.

Sie wartete auf ihn von früh bis spät, die Augen auf die Uhr geheftet, und ohne noch ans Essen zu denken; er aber ass fast immer auswärts, in Clermont, in Chatel-Guyon, in Rojat, kurz irgendwo, und vermied es, nach Hause zu kommen.

Sie wurde immer magerer.

Jeder andere Gedanke, jedes Verlangen, jede Erwartung, jede auch noch so unbestimmte Hoffnung verschwand aus ihrem Herzen, und die Stunden, in denen sie ihn nicht sah, wurden für sie Stunden des bittersten Schmerzes. Bald fing er auch an, die Nächte auswärts zuzubringen. Er trieb sich mit Weibern im Kasino von Royat herum und kehrte erst bei Tagesgrauen heim.

Sie weigerte sich zu Bett zu gehen, ehe er wiederkam. Unbeweglich sass sie in ihrem Stuhle, stets die Augen auf die kleinen Zeiger der Uhr geheftet und deren langsamen Gang auf dem Zifferblatt von Stunde zu Stunde verfolgend.

Wenn sie dann von Weitem den Schritt seines Pferdes hörte, so sprang sie auf und wies bei seinem Eintritt mit der Miene einer Erscheinung auf den Zeiger, als wollte sie sagen: »Sieh nur, wie spät es ist.« Und er fing an, einen Widerwillen gegen diese liebesbedürftige und eifersüchtige Idiotin zu empfinden; er geriet in eine tierische Wut, und eines Nachts schlug er sie.

Man liess mich holen. Sie quälte sich unter wildem Heulen in einer furchtbaren Krisis des Schmerzes, des Zornes, der Leidenschaft und aller möglichen Gefühle. Wer konnte wissen, was in diesem verkümmerten Gehirn alles vor sich ging?

Ich beruhigte sie mit Morphium-Pillen und verbot dann ein für alle Mal ein Wiedersehen mit diesem Menschen; denn ich sah ein, dass die Ehe ihr unfehlbar den Tod bringen müsse.

Dann wurde sie ganz närrisch! Ja, mein Lieber, diese Idiotin ist närrisch geworden. Sie denkt unausgesetzt an ihn und wartet auf ihn Tag und Nacht, schlafend und wachend, heute wie gestern und morgen wie alle Tage. Als ich sah, dass sie immer mehr abmagerte und ihr unruhiger Blick nicht mehr vom Zifferblatt der Uhr wich, liess ich Alles fortnehmen, was an Uhren im Hause hing. So raubte ich ihr die Möglichkeit, die Stunden zu zählen und in der dunklen Erinnerung an die Zeit, wo er sonst heimzukehren pflegte, sich abzugrämen. Ich hoffe, auf die Dauer in ihr die Erinnerung zu ertöten und jenes Licht des Geistes wieder auszulöschen, das ich einst mit so vieler Mühe erweckt hatte.

Und dann machte ich einige Zeit später einen Versuch: Ich zeigte ihr meine Taschenuhr. Sie nahm sie und sah sie lange an. Dann schrie sie plötzlich auf eine furchtbare Art, als wenn der Anblick dieses kleinen Gegenstandes mit einem Male das bereits einschlummernde Gedächtnis wieder aufgeweckt hätte.

Sie ist jetzt mager, so mager, dass man von Mitleid bewegt wird; ihre Augen sind hohl und funkelnd. Und sie geht ohne Unterlass hin und her, wie ein wildes Tier im Käfig.

Ich habe die Fenster vergittern, mit hohen Laden versehen und die Stühle am Boden befestigen lassen, um zu verhindern, dass sie auf die Strasse schaut, ob er wiederkomme.

Ach die armen Eltern! Was für ein Leben müssen sie führen!«

Wir hatten inzwischen den Hügel erreicht und der Doktor wandte sich mit den Worten um:

»Sehen Sie, hier haben Sie Riom vor sich.«

Die Stadt hatte das finstere Aussehen aller alten Städte. Nach hinten zu breitete sich unabsehbar eine grüne, waldige, mit zahlreichen Dörfern und Städten übersäete Ebene aus; der blaue Dunst, in dem sie gebadet war, bildete einen wunderbaren Hintergrund.

Der Doktor begann mir die verschiedenen Orte der Reihe nach zu nennen und mir die Geschichte jedes einzelnen zu erzählen.

Aber ich hörte nicht recht zu; ich dachte nur an die Wahnsinnige, die mir immer vor Augen stand. Sie schien mir wie ein trauriger Geist über der ganzen weiten Gegend zu schweben.

Und plötzlich unterbrach ich den Erzähler mit der unvermittelten Frage:

»Und was ist aus ihm, dem Ehemann, geworden?«

»Er lebt in Royat von der Pension, die ihm ausgezahlt wird. Er ist glücklich und amüsiert sich«, antwortete etwas überrascht mein Freund nach einigem Zögern.

Als wir Beide, traurig und schweigsam, langsamen Schrittes heimkehrten, fuhr plötzlich ein englisches Dog-Kart, von rückwärts kommend, in sausendem Tempo an uns vorüber.

»Das ist er!« sagte der Doktor, meinen Arm ergreifend.

Ich sah nur einen grauen Filzhut, schief auf einem Ohre sitzend, über zwei breiten Schultern, in einer Staubwolke verschwinden.

*


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