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Der Dreifaltigkeitsplatz lag beinahe menschenleer in der brennenden Julisonne da. Eine drückende Hitze lastete auf Paris, als ob die Luft von dort oben schwer, brennend auf die Stadt herabgefallen wäre, eine dicke kochende Luft, die weh that einzuatmen.
Die Kaskaden vor der Kirche plätscherten nur leise, als wären sie müde zu laufen, auch schlaff und weich und die Flut in dem Bassin, in dem Blätter und Papierfetzen herumschwammen, sah grünlich, dick und schlammig aus.
Ein Hund war über den steinernen Rand gesprungen und badete sich in dem zweifelhaft reinlichen Wasser. Ein paar Leute die auf den Bänken des runden kleinen Gartens saßen, der an dem Portal liegt, sahen dem Tier fast neidisch zu.
Du Roy zog die Uhr. Es war erst drei. Er kam eine halbe Stunde zu früh.
Er lachte als er an das Stelldichein dachte. »Die Kirchen sind bei ihr zu allem gut,« sagte er sich. »Sie trösten sie, daß sie einen Juden geheiratet hat, geben ihr in der politischen Welt das Ansehen, als wehrte sie sich dagegen, heben sie in den Augen der guten Gesellschaft und dienen ihr bei galanten Abenteuern. Sie benutzt die Religion wie einen Entoutcas, bei schönem Wetter dient er als Stock, bei Sonnenschein als Sonnenschirm, wenn es regnet als Regenschirm, und wenn man nicht ausgeht, läßt man ihn im Corridor. Und so giebt es Hunderte die den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, aber nicht wollen, daß man ihn lästert, und die ihn bei passender Gelegenheit als Vermittler benutzen. Wenn man sie in eine Chambre-garni-Wohnung lotsen wollte, so fänden sie das empörend, aber ihr Techtel-Mechtel am Fuße des Altars abzumachen, da ist weiter nichts dabei.«
Langsam schritt er am Bassin hin. Dabei sah er wieder nach der Uhr des Kirchturms, die gegen seine zwei Minuten vorging. Es war an ihr drei Uhr fünf Minuten.
Er meinte drinnen wäre es doch noch eine angenehmere Temperatur und trat ein. Die Kühle eines Kellers schlug ihm entgegen. Er atmete erleichtert auf und ging um das Schiff herum, um sich genau zu orientieren.
Ein anderer regelmäßiger Schritt, ab und zu aufhörend und wieder beginnend, klang im Hintergrund des weiten Raumes als Echo seinen eignen Schritten nach, die unter der hohen Wölbung schallten. Er war doch neugierig, wer das sein mochte, und suchte den Spaziergänger. Es war ein dicker Herr mit Glatze, der dahin schritt den Blick zur Decke gerichtet und den Hut in der Hand auf dem Rücken haltend.
Hier und dort kniete ein altes Weib und betete, das Gesicht in den Händen vergraben.
Das Gefühl der Einsamkeit, der Verlassenheit, des Friedens packte einen hier, und das durch die Scheiben fallende gedämpfte Licht that den Augen wohl.
Du Roy fand es hier sehr mollig.
Er kehrte wieder zum Portal zurück und sah von neuem nach der Uhr, aber es war erst ein viertel. Nun setzte er sich an den Haupteingang; er bedauerte nur, nicht rauchen zu können.
Man hörte jetzt nahe am Chor, auf der andern Seite der Kirche, den langsamen Schritt des dicken Herrn.
Jemand trat ein. Georg blickte sich schnell um. Es war eine gewöhnliche Frau in wollenem Kleid, die am ersten Betstuhl in die Kniee sank und unbeweglich, die Hände gefaltet, den Blick emporgerichtet, liegen blieb.
Du Roy betrachtete sie mit Interesse. Er fragte sich, welches Leid, welcher Schmerz, welche Verzweiflung wohl dieses arme Herz zermalmten. Der Hunger sah ihr aus allen Zügen. Vielleicht hatte sie noch einen Mann, der sie prügelte, oder ein sterbendes Kind.
Er murmelte still in Gedanken:
»Ach es giebt doch viel Leid auf der Welt, und viel Unglück!« – und eine Wut gegen die unerbittliche Natur stieg in ihm auf. Dann dachte er daran, daß diese armen Menschen wenigstens meinten, daß man sich dort oben um sie kümmerte, und daß ihr Soll und Haben in den ewigen Himmelsregistern sorgfältig gebucht würde.
– Dort oben? – Wo denn?
Und Du Roy, den das Schweigen der Kirche träumen ließ, überschlug die ganze Schöpfung mit einem Gedanken und sagte vor sich hin:
– Ach ist das dumm alles!
Er fuhr zusammen. Er hatte ein Kleid rauschen hören. Sie war es.
Er stand auf und ging auf sie zu. Sie gab ihm nicht die Hand und flüsterte leise:
– Ich habe nur einen Augenblick Zeit, ich muß nach Hause. Knieen Sie neben mir nieder, daß man uns nicht sieht.
Und sie ging in das Hauptschiff und suchte eine passende sichere Stelle, wie jemand, der die Kirche genau kennt. Sie hatte ihr Antlitz hinter einem dichten Schleier verborgen und trat leise auf, so daß man ihren Schritt kaum hörte. Als sie in die Nähe des Chores gekommen war, drehte sie sich um und flüsterte in jenem gedämpften Ton, in dem man in der Kirche spricht:
– Auf der Seite ist es besser, hier wird man zu sehr gesehen.
Sie verneigte sich vor den Heiligtümern des Hauptaltars mit tiefem Kopfneigen und einer leichten Biegung des Oberkörpers, dann wendete sie sich rechts, ging wieder ein bißchen in der Richtung auf den Eingang zurück, trat dann kurz entschlossen in einen Betstuhl und kniete nieder.
Du Roy kniete im Betstuhl daneben und sobald sie unbeweglich thaten als ob sie beteten, sagte er:
– Dank! Dank! Dank! Ich liebe Sie wahnsinnig! Ich möchte es Ihnen immer sagen! Ich möchte es Ihnen sagen, wie es kam, daß ich Sie liebe, daß Sie mich gewonnen haben auf den ersten Blick. Darf ich es Ihnen einmal sagen? Ihnen mein Herz ausschütten?
Sie hörte ihm zu, in einer Stellung als wäre sie ganz versunken und hätte nichts vernommen; doch sie antwortete zwischen den Fingern sprechend:
– Ich bin ja verrückt, Sie so sprechen zu lassen, verrückt, daß ich gekommen bin, verrückt, daß ich das thue, verrückt, Ihnen Hoffnung zu lassen, daß dieses . . . daß dieses Abenteuer eine Fortsetzung haben könnte. Vergessen Sie alles und sprechen Sie niemals wieder mit mir davon.
Sie hielt inne. Er suchte nach einer Antwort, nach ein paar leidenschaftlichen entscheidenden Worten, aber da er seine Worte nicht mit einer entsprechenden Geste begleiten konnte, so fühlte er sich wie gelähmt.
Er begann:
– Ich erwarte nichts, ich hoffe nichts. Ich liebe Sie: Sie können thun, was Sie wollen, ich werde es Ihnen so oft sagen, so laut, so laut, so heiß, daß Sie mich endlich verstehen müssen. Ich möchte alle meine Zärtlichkeit und Liebe Wort für Wort, Stunde für Stunde, Tag für Tag hinein gießen in Ihre Seele, daß Ihre Seele ganz davon durchdrungen wird, wie eine Flüssigkeit eindringt, die Tropfen um Tropfen niederfällt, daß sie Sie milder mache, weicher, und später einmal zwänge mir zu antworten: Auch ich liebe Dich!
Er fühlte wie ihre Schulter zuckte an seiner Seite, wie sie zitterte. Und da stammelte sie hastig:
– Ich liebe Sie auch!
Er fuhr zusammen, als ob man ihn auf den Kopf geschlagen hatte und sagte:
– O mein Gott!
Sie begann wieder mit zitternder Stimme:
– Darf ich Ihnen das wirklich gestehen? Ich fühlte mich so schuldbeladen und verächtlich. Ich, die ich zwei Töchter habe. Aber ich kann nicht, ich kann nicht anders. Ich hätte das nie gedacht, nie geglaubt, aber es überwältigt mich. Hören Sie mich an, hören Sie mich an; ich habe nie jemand geliebt, außer Ihnen, das schwöre ich Ihnen. Ich liebe Sie seit einem Jahr in der Stille meines Herzens. Ach ich habe gelitten, wenn Sie wüßten, wie . . . und gekämpft, ich kann nicht mehr . . . ich . . . ich liebe Sie.
Sie schluchzte in ihre Hände die sie vors Gesicht gelegt, und ihr ganzer Körper zitterte in tiefster Erschütterung.
Georg flüsterte:
– Geben Sie mir Ihre Hand, daß ich sie berühren und drücken kann.
Langsam zog sie die Hand von ihrem Gesicht. Er sah daß ihre Wange feucht war und eine Thräne an den Wimpern hing bereit niederzutropfen.
Er hatte ihre Hand genommen und preßte sie, indem er sagte:
– Ach ich möchte Ihre Thränen trinken.
Sie sagte mit leiser, gebrochener Stimme, die wie ein Stöhnen klang:
– Schonen sie mich. Ich bin verloren!
Er hätte am liebsten gelacht. Was konnte er ihr hier thun! Er legte die Hand, die er umfaßt hatte, auf sein Herz und fragte:
– Fühlen Sie wie es schlägt? – Denn er wußte absolut nicht mehr was er sagen sollte.
Aber seit ein paar Minuten kam der regelmäßige Schritt des Spaziergängers wieder näher. Er war um den Altar herum gegangen und ging nun mindestens das zweite Mal durch das rechte kleine Seitenschiff. Als Frau Walter ihn ganz nahe bei dem Pfeiler, der sie verbarg, hörte, entzog sie Georg ihre Hand und verbarg ihr Gesicht.
Und sie blieben beide unbeweglich knieen, als schickten sie vereint heiße Gebete zum Himmel. Der dicke Herr kam bei ihnen vorbei, warf ihnen einen gleichgiltigen Blick zu und entfernte sich, immer den Hut in der Hand auf dem Rücken, nach dem Hauptschiff zu.
Aber Du Roy, der gern ein Stelldichein wo anders als gerade in der Dreifaltigkeitskirche haben wollte, flüsterte:
– Wo sehe ich Sie morgen wieder?
Sie antwortete nicht. Sie schien wie leblos, wie zur Statue des Gebetes erstarrt. Er fragte von neuem:
– Kann ich Sie nicht morgen im Park Monceau treffen?
Sie nahm die Hände vom Gesicht, wandte ihm ihr blutloses, von furchtbarem Leid entstelltes Antlitz zu und sagte in abgerissenen Sätzen:
– Lassen Sie mich . . . lassen Sie mich jetzt . . . gehen Sie . . . gehen Sie . . . nur fünf Minuten . . . ich leide zu sehr in Ihrer Nähe . . . ich will beten . . . ich kann nicht . . . lassen Sie mich Gott anflehen . . . daß er mir verzeiht . . . lassen Sie mich beten . . . allein . . . daß er mich rette . . . lassen Sie mich nur fünf Minuten . . .
Ihr Gesicht war verstört, ihre Züge hatten einen so schmerzlichen Ausdruck angenommen, daß er aufstand ohne ein Wort zu sagen. Dann sagte er nach einem Augenblick Zögern:
– Ich komme nachher wieder.
Sie nickte, als wollte sie sagen: Ja nachher. Und er schritt die Kirche hinauf dem Chor zu.
Da versuchte sie zu beten. Sie machte übermenschliche Anstrengungen Gott anzurufen und rief mit bebendem Leib und verzweifelter Seele um Erbarmen zum Himmel. Sie schloß krampfhaft die Augen, um den nicht mehr zu sehen, der eben von ihr gegangen. Sie verbannte ihn aus ihren Gedanken, sie wehrte sich gegen ihn, aber statt der erwarteten himmlischen Hilfe in der Angst und Not ihres Herzens, sah sie immer noch den emporgewirbelten Schnurrbart des jungen Mannes vor sich.
Seit einem Jahr kämpfte sie so täglich gegen eine immer zwingender werdende Herrschaft, gegen sein Bild, das sie verfolgte in ihren Träumen, das sie erregte und ihr den Schlaf raubte. Sie fühlte sich gefangen wie ein Tier im Netz, gefesselt und jenem männlichen Wesen in die Arme geworfen, das sie überwunden hatte, besiegt nur durch den Bart über der Lippe und den Ausdruck in seinen Augen.
Aber nun fühlte sie sich hier in der Kirche, in Gottes Nähe schwächer noch, verlorener, unglückseliger, als bei sich zu Haus. Sie konnte nicht mehr beten, sie konnte nur an ihn denken. Sie litt schon darunter, daß er fortgegangen. Aber verzweifelt wehrte sie sich und stemmte sich dagegen und rief mit aller Kraft ihrer Seele um Hilfe. Sie, die noch nie einen Fehltritt gethan, hätte eher sterben mögen, als so zu fallen. Sie murmelte verzweifelte Gebete, aber sie lauschte auf Georgs Schritt, der jetzt fern verhallte unter der hohen Wölbung.
Sie fühlte, daß es aus sei, der Kampf war unnütz. Aber sie wollte nicht nachgeben, und eine jener nervösen Krisen packte sie, die die Frauen zitternd, heulend, in Krämpfen zur Erde wirft. Ihr schlugen alle Glieder, sie fühlte, daß sie fallen und sich mit lautem Schreien zwischen den Betstühlen am Boden wälzen würde.
Jemand näherte sich schnellen Schrittes. Sie wandte den Kopf, es war ein Priester. Da erhob sie sich, stürzte auf ihn zu, hielt ihm die gefalteten Hände entgegen und stammelte:
– Ach, retten Sie mich! Retten Sie mich!
Er blieb erstaunt stehen:
– Was wünschen Sie, gnädige Frau.
– Sie sollen mich retten, haben Sie doch Mitleid mit mir. Wenn Sie mir nicht helfen, bin ich verloren.
Er blickte sie an und fragte sich, ob sie nicht den Verstand verloren. Endlich antwortete er:
– Was kann ich für Sie thun?
Er war ein großer junger Mann, etwas stark, mit vollen hängenden Backen, die einen dunklen Schimmer hatten, weil er sorgfältig rasiert war, ein schöner, ein gut repräsentierender Stadtvikar, aus einem wohlhabenden Viertel, der reiche Beichtkinder gewöhnt ist.
– Ich will Ihnen beichten und dann raten Sie mir, stützen Sie mich, sagen Sie mir, was ich thun soll.
– Ich nehme jeden Sonnabend von drei bis sechs Uhr die Beichte entgegen.
Aber sie packte ihn beim Arm, drückte ihn und wiederholte:
– Nein, nein, nein, sofort, sofort! Es muß sein! Er ist da! Hier in der Kirche! Er wartet auf mich!
Der Priester fragte:
– Wer wartet auf Sie?
– Ein Mann . . . der mich verderben wird . . . der mich in seine Schlingen zieht, wenn Sie mich nicht retten . . . Ich kann ihm nicht mehr entfliehen . . . Ich bin zu schwach! . . . Zu schwach! So entsetzlich schwach!
Sie sank ihm zu Füßen und schluchzte:
– Haben Sie Mitleid mit mir, mein Vater, retten Sie mich im Namen Gottes, retten Sie mich.
Sie hielt ihn an seinem schwarzen Priestergewand fest, daß er sich nicht losmachen konnte. Er blickte sich ängstlich nach allen Seiten um, ob nicht irgend ein gottloses oder frommes Auge diese Frau, hier zu seinen Füßen gesehen?
Endlich kam er zur Überzeugung, daß er ihr nicht entgehen konnte und sagte:
– Stehen Sie auf. Ich habe den Schlüssel zum Beichtstuhl zufällig bei mir.
Er suchte in der Tasche, zog einen Schlüsselring hervor, wählte einen Schlüssel aus und ging mit eiligen Schritten zu einem der kleinen Holzhäuschen, in denen sich die Gläubigen ihrer Sünde entledigen.
Durch die Mittelthür trat er ein und schloß sie hinter sich, und Frau Walter die in dem engen Raum daneben niedergesunken war, stammelte mit der Leidenschaft der Hoffnung:
– Segnen Sie mich, mein Vater, ich habe gesündigt . . .
Du Roy war rund um die Kirche gegangen und schritt nun das linke Seitenschiff herab. Als er eben in der Mitte stand, begegnete er wieder dem dicken Herrn mit der Glatze, der mit ruhigen Schritten seines Weges ging, und er fragte sich: was sucht der Kerl nur hier?
Der Spaziergänger hatte seine Schritte verkürzt und blickte Georg an, mit dem sichtbaren Wunsche, mit ihm ein Gespräch anzuknüpfen. Als er ganz nahe war, grüßte er und sagte sehr höflich:
– Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe, aber können Sie mir nicht sagen, in welcher Zeit diese Kirche gebaut worden ist?
Du Roy antwortete:
– Ja, das weiß ich selbst nicht, ich denke so vor zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren ist sie gebaut. Ich bin auch zum ersten Mal hier.
– Ich auch. Ich hatte sie noch nie bemerkt. – Da begann der Journalist Interesse zu schöpfen und sagte:
– Sie scheinen sie ja sehr genau zu betrachten in allen Einzelheiten.
Der andere antwortete ergebungsvoll:
– Ach nein, ich sehe sie mir nicht an. Ich warte auf meine Frau. Wir wollten uns hier treffen, aber sie hat sich verspätet.
Dann schwieg er und fuhr nach ein Paar Sekunden fort:
– Es ist furchtbar heiß draußen.
Du Roy betrachtete ihn. Er fand, daß er ganz gutmütig aussah, und plötzlich bildete er sich ein, er sähe Forestier ähnlich.
– Sind Sie aus der Provinz? fragte er.
– Ja, aus Rennes. Und darf ich fragen, ob Sie nur aus Neugier in die Kirche gekommen sind?
– Nein, ich erwarte eine Dame. – Der Journalist grüßte und ging lächelnd davon. Als er wieder an das Hauptportal kam, sah er abermals das arme Weib, das noch immer kniete und betete, und er dachte: Donnerwetter, die ist aber zäh! Er war nicht mehr ergriffen und bemitleidete sie nicht mehr.
Er ging langsam vorbei und schritt das rechte Seitenschiff wieder hinauf, um Frau Walter zu treffen.
Von weitem suchte er die Stelle, wo er sie verlassen hatte und wunderte sich, sie nicht zu sehen. Er meinte, er habe sich im Pfeiler geirrt, ging nochmals bis zum letzten und kehrte zurück. Sie war also fort! Er war ganz erstaunt und wütend. Dann bildete er sich ein, daß sie ihn suchte, und schritt nochmals um die Kirche. Aber als er sie nicht fand, kehrte er zu dem Betstuhl zurück, den sie verlassen, in der Hoffnung sie würde wieder dort hin kommen. Er setzte sich hin und wartete.
Bald zog ein leises Gemurmel seine Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte niemand in jener Ecke der Kirche gesehen, woher kam also dieses Flüstern? Er stand auf, um Nachforschungen anzustellen, und in der Kapelle daneben entdeckte er, daß unter der Thür des Betstuhls ein Stück Kleid heraus lugte, das auf die Fliesen hing. Er näherte sich, um sich die Frau anzusehen; er erkannte sie. Sie beichtete.
Die Lust überkam ihn, sie bei den Schultern zu packen, sie aus dem Kasten heraus zu reißen. Dann dachte er:
– Ach was, jetzt ist der Pfarrer daran, morgen ich.
Und er setzte sich ruhig der Öffnung der Beichtstuhls gegenüber, still wartend, indem er nun über das ganze Abenteuer lächelte.
Er lauerte lang. Endlich stand Frau Walter auf, drehte sich um, sah ihn und trat auf ihn zu. Sie hatte kalte, strenge Züge und sagte zu ihm:
– Ich bitte Sie, mich nicht zu begleiten, mir nicht zu folgen und nie wieder mich allein zu besuchen. Ich würde Sie nicht empfangen. Adieu!
Und in würdiger Haltung ging sie davon.
Er ließ sie fortgehen, denn aus Grundsatz erzwang er nie eine Sache. Aber als dann der Priester etwas verlegen selbst aus seinem Versteck herauskam, schritt er gerade auf ihn zu, blickte ihm in die Augen und rief ihm ins Gesicht:
– Wenn Sie nicht den Rock trügen, würde ich Ihnen was auf Ihre dumme Schnauze geben.
Dann wandte er sich auf dem Absatz herum und verließ pfeifend die Kirche.
Im Portal stand der dicke Herr, den Hut auf dem Kopf, die Hände noch auf dem Rücken. Er war müde zu warten und übersah den weiten Platz und alle Straßen, die dort zusammentrafen.
Als Du Roy an ihm vorbei kam, grüßten sie sich.
Da der Journalist nichts zu thun hatte, ging er zur ›Vie française‹. Sobald er eintrat, sah er an der beschäftigten Miene der Angestellten, daß etwas Außergewöhnliches vorging, und schnell trat er beim Chef ein.
Der alte Walter stand nervös da, diktierte in abgehackten Sätzen einen Artikel und erteilte zwischendurch den Reportern, die ihn umstanden, Aufträge, gab Boisrenard Ermahnungen und öffnete Briefe.
Als Du Roy eintrat, rief der Chef freudig:
– Ah, das trifft sich famos! Da ist der Liebling.
Er hielt etwas verlegen inne und entschuldigte sich:
– Verzeihen Sie, daß ich Sie so genannt habe, aber ich bin durch die Ereignisse sehr erregt und dann höre ich ja immer, wie meine Frau und meine Töchter Sie von Morgen bis Abend Liebling nennen, und da gewöhnt man sich selbst daran. Nicht wahr, Sie nehmen es mir nicht übel?
Georg lachte:
– Nicht im geringsten, der Spitzname verletzt mich nicht.
Der alte Walter begann von neuem:
– Schön, da nenne ich Sie also Liebling, wie alle Welt. Also denken Sie einmal, es haben sich große Ereignisse zugetragen. Das Ministerium hat ein Mißtrauensvotum mit 310 Stimmen gegen 102 erhalten. Es ist gefallen. Jetzt sind unsre Ferien wieder mal aufgeschoben ad calendas graecas, und dabei ist heute schon der 28. Juli. Spanien ist böse wegen Marokko und das hat Durand de l'Aine und seinen Gesellen das Genick gebrochen. Die Karre ist in Dreck gefahren bis oben rauf. Marrot soll das neue Kabinet bilden, er nimmt General Boutin d'Acre als Kriegsminister, unser Freund Laroche-Mathieu bekommt das Auswärtige, er selbst wird Präsident und behält das Portefeuille des Innern. Wir werden ein offiziöses Blatt. Ich habe eben einen Leitartikel entworfen. Ich setze nur unsre Grundsätze auseinander und weise den Ministern den Weg.
Er lächelte und fuhr fort:
– Den Weg den sie einschlagen wollen! Natürlich! Aber ich müßte irgend etwas Interessantes über Marokko haben, etwas Aktuelles, einen Sensationsartikel! Irgend so was, und das müssen Sie mir finden.
Du Roy dachte eine Sekunde nach, dann antwortete er:
– Ich habe es. Ich liefere Ihnen einen Aufsatz über die politische Lage unserer ganzen afrikanischen Kolonien, Tunis links, Algerien in der Mitte, Marokko rechts, einen Geschichtsabriß über die Rassen, die diese weiten Gebiete bewohnen und den Bericht über eine Reise an der Marokkanischen Grenze bis zur großen Oase Figuig, bis wohin noch kein Europäer vorgedrungen ist und die jetzt zu dem Konflikt geführt hat. Ist Ihnen das recht?
Der alte Walter rief:
– Wundervoll! Und wie soll er heißen?
– Von Tunis nach Tanger!
– Ausgezeichnet!
Und Du Roy suchte in den alten Nummern der ›Vie française‹ seinen ersten Artikel wieder auf: ›Erinnerungen eines Chasseur d'Afrique.‹ Der Artikel würde unter anderem Namen, etwas aufgefrischt und umgearbeitet ausgezeichnet passen, denn darin war die Rede von Kolonial-Politik, von der Bevölkerung in Algerien und einer Reise in die Provinz Oran. In drei Viertelstunden war die Geschichte frisch gemacht, zusammen gestoppelt, gut umgearbeitet, mit einem aktuellen Beigeschmack und ein paar Worten des Lobes für das neue Kabinet.
Als der Chef den Artikel gelesen hatte, sagte er:
– Das ist ausgezeichnet! Ausgezeichnet! Ausgezeichnet! Sie sind ein großartiger Kerl! Allerhand Hochachtung!
Und Du Roy kehrte zum Essen heim, sehr befriedigt vom Tageslauf, trotz seiner Niederlage in der Dreifaltigkeitskirche, denn er fühlte, daß er trotzdem gewonnen hatte.
Seine Frau erwartete ihn fieberhaft erregt und rief, als sie ihn sah:
– Du weißt doch, daß Laroche Minister des Auswärtigen ist?
– Ja, ich habe sogar deswegen schon einen Artikel über Algerien gemacht!
– Wieso denn?
– Du kennst ihn, den ersten den wir zusammen geschrieben haben: ›Erinnerungen eines Chasseur d'Afrique‹. Ich habe ihn zu diesem Zweck durchgesehen und umgearbeitet.
Sie lächelte und sagte:
– Ja, das paßt ja ausgezeichnet!
Dann sagte sie, nachdem sie einen Augenblick nachgedacht hatte:
– Ich denke eben an die Fortsetzung, die Du damals machen wolltest und aus der . . . nichts mehr wurde. Jetzt können wir uns ja daran machen. Das giebt eine ganze Reihe aktueller Artikel.
Er antwortete, indem er sich zu Tisch setzte:
– Sehr richtig. Jetzt steht dem ja auch nichts mehr im Wege, da Forestier, der gehörnte, krepiert ist.
Sie antwortete lebhaft in trockenem verletzten Ton:
– Der Scherz ist wirklich nicht am Platze, und ich bitte, das nun bleiben zu lassen. Es hat jetzt lange genug gedauert.
Er wollte ironisch antworten, als man ihm ein Telegramm brachte, das ohne Unterschrift nur den einzigen Satz enthielt:
»Ich hatte ganz den Kopf verloren, verzeihen Sie mir und kommen Sie morgen um 4 Uhr in den Park Monceau.«
Er begriff und sagte ganz glückselig zu seiner Frau, indem er das Telegramm einsteckte:
– Ich thue es nicht wieder, liebes Kind, ich sehe ein, daß es dumm ist.
Und er begann zu essen. Während er aß, wiederholte er sich im stillen die Worte:
»Ich hatte ganz den Kopf verloren. Verzeihen Sie mir und kommen Sie morgen 4 Uhr in den Park Monceau.«
Sie war also besiegt, denn das hieß soviel als:
»Ich ergebe mich. Ich gehöre Ihnen wann und wo Sie wollen.«
Er fing an zu lachen.
Magdalene fragte:
– Was ist denn los?
– Ach weiter nichts. Ich dachte an einen Pfaffen, dem ich vorhin begegnet bin, der so lächerlich aussah.
Am andern Tag kam Du Roy pünktlich zum Stelldichein.
Auf allen Bänken des Parkes saßen Leute, die die Hitze bedrückte, und nachlässige Kindermädchen, die zu träumen schienen, während die Kinder im Sand der Wege spielten.
Er fand Frau Walter in der kleinen altertümlichen Ruine, wo eine Quelle plätschert. Mit unglücklichem, unsicherm Ausdruck machte sie die Runde in der engen Säulenhalle.
Sobald er sie gegrüßt hatte, sagte sie:
– Aber diese Menge Menschen hier!
Er benutzte die Gelegenheit und sagte:
– Ja, das ist wahr, wollen wir nicht wo anders hin?
– Ja wohin?
– Ganz gleich! Wir nehmen einen Wagen, wir ziehen auf Ihrer Seite die Vorhänge zu, da sieht Sie niemand.
– Ja, das wäre besser. Hier sterbe ich vor Angst.
– Schön, sagte Du Roy, kommen Sie in fünf Minuten an den Ausgang, der an den äußern Boulevard führt, dorthin hole ich eine Droschke. – Und er lief davon.
Sobald sie ihn wieder getroffen hatte und das Fenster auf ihrer Seite verhüllt war, fragte sie:
– Was haben Sie dem Kutscher gesagt? Wohin soll er fahren?
Georg antwortete:
– Kümmern Sie sich nicht weiter darum, er weiß schon Bescheid.
Er hatte dem Kutscher die Adresse seiner Wohnung in der Rue de Constantinople genannt.
Sie sagte:
– Sie haben keine Ahnung, wie ich um Sie leide, wie mich das alles quält und peinigt. Ich war gestern hart gegen Sie in der Kirche, aber ich wollte Sie fliehen um jeden Preis, ich hatte solche Angst mit Ihnen allein zu sein. Haben Sie mir verziehen?
Er nahm ihre Hand und sagte:
– Ja, ja, was sollte ich Ihnen nicht verzeihen, wenn ich Sie doch liebe, wie ich Sie liebe.
Sie blickte ihn flehend an:
– Aber hören Sie, schonen Sie mich, Sie dürfen nicht . . . Sie dürfen nicht . . . sonst kann ich Sie nicht wiedersehen.
Zuerst antwortete er nicht. Jenes Lächeln spielte um seine Lippen, das die Frauen gewann, und er flüsterte endlich:
– Ich bin Ihr Sklave.
Da begann sie ihm zu erzählen, wie sie gemerkt, daß sie ihn liebe, als sie hörte, er würde Magdalene Forestier heiraten. Sie erzählte alle Einzelheiten, wann es gewesen und wie.
Plötzlich schwieg sie. Der Wagen hatte gehalten. Du Roy öffnete die Thür.
– Wo sind wir? fragte sie.
Er antwortete:
– Steigen Sie aus, und gehen Sie in dieses Haus, hier sind wir ungestörter.
– Aber wo sind wir?
– Bei mir! Es ist meine Junggesellenwohnung, die ich wieder gemietet habe . . . auf ein paar Tage nur . . . damit wir einen Winkel haben, wo wir uns sehen können.
Sie hatte sich an die Polster des Wagens geklammert, entsetzt bei dem Gedanken, hier mit ihm allein zu sein, und sie stammelte: – Nein, nein! Ich will nicht! Ich will nicht!
Er sagte mit nachdrücklichem Tone:
– Ich schwöre Ihnen, daß ich Sie schonen werde. Kommen Sie. Man wird ja auf uns aufmerksam. Die Leute werden gleich stehen bleiben. Schnell! schnell! Steigen Sie aus.
– Ich schwöre, daß ich Sie schonen werde.
Ein Weinhändler stand unter seiner Thür und sah ihnen neugierig zu. Das Entsetzen kam über sie und sie huschte ins Haus. Sie wollte die Treppe hinauf. Er hielt sie am Arm zurück.
– Hier unten ist es!
Er stieß sie in seine Wohnung.
Sobald er die Thür geschlossen hatte, packte er sie wie seine Beute. Sie wehrte sich, kämpfte und stammelte:
– O mein Gott! O mein Gott!
Er küßte ihr Hals, Augen und wütend die Lippen, ohne daß sie sich seiner heißen Liebkosungen erwehren konnte.
Und während sie ihn zurückstieß und seinem Mund auswich, erwiderte sie, ohne es zu wollen, seine Küsse. Plötzlich gab sie den Widerstand auf und besiegt und ergeben ließ sie sich entkleiden. Geschickt und schnell mit leichter Hand, wie eine Zofe, zog er ihr die einzelnen Kleidungsstücke aus. Sie hatte ihm ihre Taille entrissen, um ihr Gesicht darin zu verstecken, und blieb so ganz in Weiß inmitten ihrer Röcke stehen, die zu ihren Füßen gesunken waren. Er ließ ihr die Schuh und trug sie auf den Armen zum Bett. Da flüsterte sie ihm ins Ohr mit gebrochener Stimme:
– Ich schwöre Ihnen . . . . ich schwöre Ihnen . . . ich habe nie einen Liebhaber gehabt. – Als ob ein junges Mädchen gesagt hätte: »Ich schwöre Ihnen, daß ich Jungfer bin.«
Und er dachte: »Das ist mir höchst schnuppe!«