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Am andern Morgen erwachte Doktor Peter Roland mit dem festen Entschluß, Geld zu verdienen und sich eine Stellung zu schaffen.
Schon mehrmals hatte er diesen Plan entworfen, ohne je ernstlich an der Ausführung desselben zu arbeiten. Jedesmal, wenn er sich ein Studium, einen Berufsweg erkoren, hatte der Gedanke, dabei rasch reich zu werden, ihn gelockt und seinen Eifer und seine Zuversicht gestärkt, bis zum ersten Hindernis, auf das er stieß, bis zur ersten Schlappe, die er erlitt und nach welcher er dann sofort in neue Bahnen einlenkte.
Behaglich in seinem Bett ausgestreckt, dachte er nach. Wie viele Aerzte waren nicht in kürzester Zeit Millionäre geworden! Was gehörte denn eigentlich dazu, als ein bißchen Geschicklichkeit und das Talent, etwas aus sich zu machen. Mehr sicher nicht – er hatte ja während seiner Studienzeit den berühmtesten Lichtern der Wissenschaft in die Karten geblickt und hatte im stillen die Ansicht gewonnen, daß sie Dummköpfe seien; jedenfalls wußte er ebensoviel wie sie, wenn nicht mehr. Wenn es ihm auf irgend eine Weise gelang, die reiche und vornehme Praxis in Havre zu bekommen, so war es ein Kinderspiel, hunderttausend Franken im Jahre zu verdienen.
Er fing an, seine Einnahmen genau zu berechnen. Vormittags würde er Krankenbesuche in den Häusern machen, nahm er für die Zahl der Gänge den schon bescheidenen Durchschnitt von zehn Patienten an, so machte die Einnahme von zwanzig Franken für den Besuch mindestens zweiundsiebzigtausend Franken aufs Jahr, eigentlich konnte er kecklich sagen fünfundsiebzigtausend Franken, da ja der Durchschnitt von zehn äußerst niedrig gegriffen war. Nachmittags würde er dann in seiner Sprechstunde durchschnittlich zehn Patienten zum Preis von zehn Franken beraten, macht jährlich sechsunddreißigtausend Franken – Gesamteinkommen also rund hunderttausend. Die Behandlung von älteren Patienten und Bekannten, die er zum Freundschaftspreis von zehn Franken besuchen und um fünf Franken bei sich beraten müßte, würde allerdings diese Summe etwas beeinträchtigen, was sich aber durch Konsultationen mit andern Aerzten und die kleinen Vorteile und Geschäftchen, die zum Beruf gehörten, vollständig ausgleichen würde.
Mit ein bißchen Reklame, einer kurzen Notiz im »Figaro«, daß die medizinische Fakultät von Paris den bescheidenen jungen Gelehrten in Havre nicht aus den Augen lasse, und daß man seine überraschenden, interessanten Kuren dort genau verfolge, war die Sache gemacht, und er stand dann vor den Augen der Welt reicher, berühmter als sein Bruder und war jedenfalls innerlich befriedigter, denn er verdankte das alles seiner eignen Kraft. Daß er sich seinen alten Eltern, die mit Fug und Recht stolz auf seinen Ruhm sein würden, als dankbarer, großmütiger Sohn zeigen werde, verstand sich von selbst. Zu heiraten hatte er nicht im Sinn – wozu sich das Leben mit einer Frau belasten, die ihm nur Zwang auferlegen konnte, während der berühmte Arzt unter seinen Patientinnen nur die hübschesten auszuwählen brauchte, um sich der Liebe zu freuen.
Eine derartige Siegesgewißheit erfüllte ihn, daß er mit einem Satz aus dem Bett sprang, sich rasch ankleidete und des Morgens auf Wohnungssuche in die Stadt ging, um sich den Erfolg ja nicht entschlüpfen zu lassen.
Unterwegs stellte er einige Betrachtungen darüber an, welche Kleinigkeiten oft die Veranlassung unsrer folgenschwersten Entschließungen werden. Seit drei Wochen hätte er diesen Entschluß fassen können, fassen sollen, zu dem ihn nun die Erbschaft seines Bruders so plötzlich angetrieben.
Vor allen Häusern, wo die ausgehängte Tafel: Zu vermieten eine »schöne« oder eine »elegante« Wohnung verhieß, blieb er stehen, nicht als solche bezeichnete Behausungen würdigte er überhaupt seiner Beachtung nicht. Sah er sich dann die Sache an, so geschah es mit äußerst vornehmer Miene: er nahm wesentlich von der Stockhöhe Notiz, skizzierte den Grundriß des Hauses samt Verbindungsthüren, Ausgängen u. s. w. mit wenig Strichen in sein Taschenbuch, und ließ einfließen, daß er Arzt sei, eine bedeutende Praxis habe, und daher auf ein schönes, gut gehaltenes Treppenhaus Wert legen müsse, auch könne er selbstverständlich nur einen ersten Stock brauchen.
Nachdem er sich sieben bis acht Adressen aufgeschrieben und ein paar hundert Bemerkungen dazu gekritzelt hatte, ging er nach Hause, wo er mit einer Viertelstunde Verspätung beim Frühstück anlangte.
Schon im Vorzimmer hörte er Tellergeklapper; man hatte also ohne ihn angefangen. Weshalb denn? Man pflegte doch sonst nicht so übertrieben pünktlich zu sein. Es berührte ihn unangenehm, verstimmte ihn, denn er war nun einmal etwas empfindlicher Natur. Als er eintrat, rief der Vater: »Vorwärts, Peter, vorwärts, mach, daß du zu Tisch kommst! Du weißt doch, daß wir um zwei Uhr beim Notar sein müssen; heute ist wahrhaftig nicht der Tag, die Zeit zu vertrödeln.«
Nachdem er die Mutter geküßt und Vater und Bruder die Hand gereicht hatte, setzte sich der Doktor, ohne ein Wort zu sprechen. Er griff nach der tiefen Platte, die in der Mitte stand und nahm die für ihn übrig gelassene Kotelette; sie war kalt und trocken; jedenfalls hatte man ihm die schlechteste übrig gelassen. Wenigstens hatte man sie bis zu seinem Erscheinen auf dem Feuer lassen können, dachte er im stillen; so wichtig war die Sache beim Notar denn doch nicht, daß man den Kopf ganz zu verlieren und den andern, den ältern Sohn darüber zu vergessen brauchte. Das Gespräch, welches sein Eintritt unterbrochen, wurde indes von den andern wieder aufgenommen.
»Ich weiß, was ich an deiner Stelle, und zwar sogleich thun würde,« sagte Frau Roland zu Hans. »Ich würde mich glänzend einrichten, so daß es den Leuten ein bißchen in die Augen sticht, würde in Gesellschaft gehen, reiten und mir dann ein paar interessante Fälle aussuchen, um gleich mit dem ersten Plaidoyer im Justizpalast festen Fuß zu fassen und Aufsehen zu machen. Es müßte heißen: Schade, daß er seinen Beruf nur so als Liebhaberei betreibt – dadurch wärst du nur um so gesuchter. Gott sei Dank hast du es jetzt nicht mehr nötig, und wenn du überhaupt als Advokat auftrittst, geschieht es ja doch nur, damit du deinen Studienfleiß nicht unnütz aufgewendet und weil ein Mann nicht ohne Beschäftigung sein soll.«
Vater Roland, der sich eben eine Birne schälte, teilte nun seine Auffassung in Bezug auf des Sohnes Zukunft mit.
»Meiner Seel',« sagte er, »wenn ich an deiner Stelle wäre, kauft' ich mir ein hübsches Boot, etwa einen Kutter, nach dem Muster unsrer Lotsenschiffe. Mit dem würde ich bis nach dem Senegal fahren – so würde ich's machen.«
Nun gab auch Peter seine Ansicht preis. Im ganzen bestimmte ja nicht der Besitz den geistigen und sittlichen Wert des Mannes; derselbe war für mittelmäßige Naturen sogar eher eine Ursache der Erniedrigung, in der Hand des Starken freilich ein mächtiger Hebel, nur waren diese Stärken nicht allzu häufig. Wenn Hans wirklich ein Mensch war, der über den Durchschnitt hinausragte, so konnte er es jetzt zeigen, jetzt, wo das Bedürfnis des Erwerbes für ihn wegfiel und ihn nicht mehr zur Arbeit trieb. Aber arbeiten mußte er, hundertfach mehr arbeiten, als er es unter andern Verhältnissen gethan haben würde. Es handelte sich ja jetzt nicht mehr darum, für oder gegen Witwen und Waisen Prozesse zu führen und ein Stück Geld in die Tasche zu stecken, sondern es galt, ein bedeutender, berühmter Jurist, eine Autorität in seinem Fach zu werden.
»Wenn ich Geld hätte, wie wollte ich interessante Sektionen machen!« setzte er als Schluß hinzu.
Vater Roland zuckte die Achseln und meinte: »Larifari! Das Vernünftigste im Leben ist, sich's wohl sein lassen! Wir sind keine Lasttiere, sondern Menschen. Ist einer arm geboren, so muß er arbeiten, da ist nichts zu machen, man beißt die Zähne zusammen und arbeitet; hat man aber seine Renten, na sapperlot! da müßte einer doch ein Schafskopf sein, wenn er sich abplagen wollte und sich die Laune verderben.«
Sehr von oben herab bemerkte Peter: »Unsre Lebensanschauungen sind freilich grundverschieden. Ich schätze Wissen und Können; alles andre ist mir verächtlich!«
Frau Roland, deren Lebensaufgabe es war, täglich die heftigen Zusammenstöße zwischen Vater und Sohn zu mildern und denselben vorzubeugen, suchte sofort das Gespräch auf ein andres Gebiet zu lenken und erwähnte eines Mordes, der in der verflossenen Woche in Bolbec-Rointot verübt worden war. Alsbald entspann sich ein eifriges Hin und Wider über die Einzelheiten des Falles und der Gegenstand fesselte alle durch den geheimnisvollen Reiz, den das Verbrechen, selbst wenn es niedrigster, schamloser und widerlicher Art ist, auf den Menschen ausübt, indem es Neugierde erweckt und die Einbildungskraft beschäftigt.
Von Zeit zu Zeit zog Herr Roland seine Uhr heraus.
»Nicht zu lang schwatzen,« sagte er, »wir müssen uns auf den Weg machen.«
»Es ist noch nicht einmal ein Uhr,« bemerkte Peter mit spöttischem Auflachen, »Wahrhaftig, man hätte mir's ersparen können, meine Kotelette kalt zu essen.«
»Kommst du mit zum Notar?« fragte die Mutter.
»Ich? Nein, wozu denn?« erwiderte er trocken. »Meine Gegenwart wäre höchst überflüssig.«
Hans verhielt sich schweigend, als ob ihn alles dies nicht berühre. Er hatte, als von dem Mord in Bolbec die Rede gewesen, seine Ansicht als Jurist kundgegeben und einige Bemerkungen über Verbrechen und Verbrecher daran geknüpft, dann war er wieder in Schweigen versunken, aber sein leuchtendes Auge, das erhöhte Rot seiner Wangen, ja sogar der glänzende Bart verrieten, wie fröhlich ihm ums Herz war.
Nachdem die Familie ihren Gang angetreten, nahm Peter, der nun abermals allein war, die Wanderung nach den zu vermietenden Wohnungen von neuem auf. Nachdem er zwei bis drei Stunden treppauf und treppab gestiegen war, entdeckte er endlich auf dem Boulevard Franz I. etwas Hübsches, ein großes Zwischengeschoß mit Ausgängen nach zwei verschiedenen Straßen, zwei Salons, einer mit Glasfenstern versehenen Galerie, in welcher die Kranken zwischen blühenden Pflanzen auf und ab gehen konnten, bis die Reihe an sie kam, und einem ganz entzückenden runden Speisezimmer mit Aussicht nach dem Meer.
Schon stand er im Begriff, den Mietvertrag abzuschließen, als der Preis von dreitausend Franken ihm Bedenken erregte; das erste Quartal mußte vorausbezahlt werden, und er hatte keinen Heller.
Das kleine Vermögen, welches der Vater zurückgelegt, gab einen jährlichen Zinsertrag von kaum achttausend Franken, und Peter mußte sich den Vorwurf machen, die Eltern durch sein langes Schwanken in der Wahl eines Berufes, seine verschiedenen, schnell wieder aufgegebenen Versuche und den dadurch bedingten Neubeginn andrer Studien in große Verlegenheit gebracht zu haben. Er sagte dem Hauswirt, daß er in zwei Tagen Antwort senden werde, und ging; unterwegs kam ihm der Gedanke, seinen Bruder, sobald derselbe im Besitz der Erbschaft sein würde, um die Miete für das erste Viertel-, oder besser Halbjahr, also fünfzehnhundert Franken anzugehen.
»Es handelt sich ja nur um ein Darlehen für ein paar Monate,« dachte er. »Vielleicht, daß ich ihm schon vor Ablauf dieses Jahres die ganze Summe vollständig heimzahlen kann. Eigentlich versteht sich das von selbst, und er wird sich freuen, mir das zuliebe thun zu können.«
Da es noch nicht fünf Uhr war, und er nichts, gar nichts zu thun hatte, setzte er sich auf eine Bank in den öffentlichen Anlagen und blieb dort, ohne zu denken, die Augen auf den Boden geheftet, von einer Mattigkeit befallen, die ordentlich schmerzhaft war, lange Zeit auf demselben Fleck sitzen.
Seit seiner Rückkehr in das Elternhaus hatte er Tag um Tag auf die nämliche Weise verbracht, ohne daß ihm die Leere dieses Daseins, der gänzliche Mangel an Thätigkeit je so peinlich zum Bewußtsein gekommen wären. Was hatte er denn nur angefangen vom frühen Morgen bis zum späten Abend?
Zur Flutzeit war er den Damm entlang gebummelt, dann in den Straßen umhergebummelt, in ein Café hineingeschlendert, zu Marowsko hinaufgeschlendert, das war sein Tagewerk gewesen. Und nun, mit einem Schlag, war ihm dies Leben, das er so lang geführt, verhaßt und unerträglich. Wenn er Geld gehabt hätte, so würde er einen Wagen genommen und eine lange Spazierfahrt aufs Land hinaus gemacht haben, an den mit Buchen und Ulmen bepflanzten Umfassungsgräben der Bauerngüter entlang; allein er mußte ja die Ausgabe für ein Glas Bier oder eine Briefmarke ängstlich erwägen, er durfte sich keine derartigen Einfälle gestatten. Plötzlich empfand er, wie hart es ist, mit dreißig Jahren noch auf das Zwanzig-Frankenstück angewiesen zu sein, das man sich beschämt und errötend gelegentlich von der Mutter erbittet, und heftig mit seinem Stock im Sand umherkratzend, sagte er vor sich hin: »Teufel! Wenn ich Geld hätte!«
Wieder trat der Gedanke an die Erbschaft seines Bruders vor seine Seele, peinlich, schmerzhaft, wie ein Wespenstich. Ungeduldig suchte er davon loszukommen: er wollte auf der schiefen Ebene des Neides keinen Schritt weiterthun.
Um ihn her spielten Kinder; blonde Mädchen mit langen, dicken Haaren; mit großem Ernst und gespannter Aufmerksamkeit formten sie kleine Sandhäufchen, um dieselben, sobald sie fertig waren, mit dem Fuß wieder zu zerstampfen.
Peter hatte einen jener düsteren Tage, an denen man in allen Winkeln der eignen Seele herumstöbert, alle Falten seines Herzens durchforscht.
»So ungefähr ist all' unser Thun,« dachte er, dem Treiben der Kleinen zusehend. Er warf die Frage auf, ob nicht die größte Lebensweisheit darin bestehe, zwei oder drei dieser unnützen kleinen Geschöpfe in die Welt zu setzen und sie mit Behagen und Neugierde heranwachsen zu sehen. Eine Sehnsucht nach der Ehe stieg in ihm auf; wenigstens ist man nicht so gottverlassen, wenn man zu zweien ist, wenigstens hat man in den Stunden des Zweifels und der Anfechtung etwas Lebendes, Fühlendes neben sich; schließlich ist es schon ein Trost, eine Frau »Du« zu nennen, wenn einem elend zu Mut.
Die Frauen fingen an ihn zu beschäftigen.
Eigentlich wußte er herzlich wenig von ihnen, nichts als was ein paar Studenten-Liebschaften, welche immer nur so lang gedauert hatten wie sein Monatsgeld, also höchstens vierzehn Tage, und die dann im folgenden Monate wieder angeknüpft oder durch neue ersetzt worden waren, ihn gelehrt. Und doch mußte es Wesen geben, gut, sanft, hingebend und trostbereit – war denn nicht seine Mutter Reiz und Seele des Vaterhauses? Ach, wie sehnte er sich darnach, eine echte, reine Frau zu kennen!
Er stand rasch auf; er hatte im Sinne, Frau Rosémilly einen kleinen Besuch zu machen.
Ebenso plötzlich setzte er sich wieder. Die gefiel ihm doch wahrhaftig nicht! Und weshalb nicht? Sie hatte viel zu viel sogenannten gesunden Menschenverstand, sie war nüchtern und alltäglich, und dann, schien sie nicht Hans ihm vorzuziehen? Ohne daß er sich's klar eingestanden hätte, trug dieser Umstand wesentlich zu seiner Mißachtung der geistigen Begabung der Witwe bei, denn wenn er seinen Bruder auch herzlich lieb hatte, so konnte er doch nicht umhin, ihn für einen mittelmäßigen Kopf und sich selbst für weit bedeutender zu halten.
Bis in die Nacht hinein konnte er nun doch nicht wohl in den öffentlichen Anlagen bleiben, und wie am Abend vorher fragte er sich: »Was soll ich anfangen?«
Ein Bedürfnis nach Rührung, ein Verlangen, gehätschelt und getröstet zu werden, erfüllte seine Seele. Worüber wollte er sich eigentlich trösten lassen? Er hätte es nicht in Worten sagen können, aber es war eine jener Stunden über ihn gekommen, wo man sich matt und schwach fühlt und wo die Nähe einer Frau, die Berührung ihrer Hand, eine Liebkosung, ein Rauschen ihres Kleides, ein zärtlicher Blick aus blauen oder braunen Augen dem Herzen unentbehrlich, unaufschiebbar nötig erscheinen.
Eine kleine Kellnerin kam ihm in den Sinn, die er eines Abends nach Hause geführt und seither ab und zu wiedergesehen hatte.
Er stand abermals auf, diesmal um ein Glas Bier mit diesem Mädchen zu trinken. Was sie ihm sagen würde? Was er ihr sagen würde? Nichts, ohne Zweifel. Was schadet's? Er würde doch ihre Hand eine Weile in der seinen halten! Sie schien damals Gefallen an ihm gefunden zu haben. Weshalb ging er eigentlich nicht häufiger zu ihr?
Als er in den fast leeren Saal der kleinen Bierwirtschaft trat, fand er sie auf einem Stuhl eingenickt. Drei Gäste saßen, die Ellbogen auf die eichenen Tische gelegt, in einer Ecke und rauchten ihre Pfeifen; die Kassiererin las in einem Roman, der Wirt lag in Hemdärmeln auf einer Bank hinter dem Schänktisch und schlief.
Sobald sie seiner ansichtig wurde, stand das Mädchen auf und ging ihm rasch entgegen.
»Guten Tag, wie geht es Ihnen?« sagte sie.
»So, so . . . und dir?«
»Mir, sehr gut. Sie machen sich selten?«
»Freilich, ich habe nicht viel Zeit. Du weißt ja, ich bin Arzt.«
»Ach? Das haben Sie mir noch nie gesagt. Hätt' ich's nur gewußt, letzte Woche bin ich krank gewesen, da wär' ich zu Ihnen gekommen. Was trinken Sie?«
»Ein Glas Bier, und du?«
»Ich? Auch ein Glas Bier, wenn du's bezahlst.«
Wie wenn die Einladung zu dem Glase Bier eine stillschweigende Erlaubnis dazu enthalten hätte, fuhr sie nun fort, ihn »du« zu nennen. Sie setzte sich ihm gegenüber und sie plauderten: von Zeit zu Zeit nahm sie mit jener Vertraulichkeit der Mädchen, deren Zärtlichkeit käuflich ist, seine Hand, und indem sie ihm herausfordernd in die Augen sah, sagte sie: »Weshalb kommst du denn nicht öfter? Du gefällst mir, will ich dir sagen!«
Schon stieg ein Widerwille gegen sie in ihm auf; er fand sie dumm, gemein, den Geruch des niedrigen Volkes an sich tragend. Die Frauen, sagte er sich, sollten uns nur wie Traumgebilde oder vom Strahlenkranze des Luxus umgeben erscheinen, ihre Niedrigkeit muß poetisch verhüllt und verklärt werden.
»Du bist neulich mit einem hübschen, bärtigen Blonden hier vorbeigegangen, ist das dein Bruder?« fragte sie ihn.
»Ja, das ist mein Bruder.«
»Ein verteufelt hübscher Junge!«
»Findest du?«
»Ja wohl, und er sieht aus wie ein flotter Kerl, der zu leben weiß.«
Was wandelte ihn plötzlich an, diesem Schenkmädchen die Geschichte von seines Bruders Erbschaft zu erzählen? Weshalb drängte sich der Gedanke daran, den er von sich wies, wenn er allein war, dessen er sich erwehrte, weil er wußte, daß er ihm innere Pein schuf, weshalb drängte er sich ihm jetzt auf die Lippen, und weshalb gab er dem Bedürfnisse, ihn auszusprechen, nach, wie wenn eine innere Notwendigkeit ihn getrieben hätte, sein von Bitterkeit erfülltes Herz abermals vor irgend jemand auszuschütten?
Die Beine übereinander legend, fing er an: »Er hat Glück, dieser Bruder; eben hat er zwanzigtausend Franken Jahresrente geerbt.«
Sie sperrte die großen, blauen, gierigen Augen weit auf. »Ach, und von wem erbt er das alles, von seiner Großmutter oder seiner Tante?«
»Nein, von einem alten Freund meiner Eltern.«
»Ein Freund – nichts sonst? Nicht zu glauben! Und dir, dir hat er nichts hinterlassen?«
»Nein, Ich habe ihn kaum gekannt.«
Ein paar Augenblicke dachte sie nach, dann bemerkte sie mit eigentümlichem Lächeln: »Das muß man sagen, der hat freilich Glück, der Bruder, die Sorte Freunde ist nicht übel! Natürlich, da ist's kein Wunder, daß er dir so gar nicht ähnlich sieht!«
Es zuckte ihm in den Fingern, sie zu ohrfeigen, er wußte selbst nicht recht, weshalb, und den Mund kraus ziehend, fragte er: »Was willst du damit sagen?«
»Ich? Nichts,« erwiderte sie, äußerst dumm und harmlos dreinschauend. »Ich meine nur, er hat mehr Glück als du.«
Er warf zwanzig Sous auf den Tisch und ging.
»Da ist's kein Wunder, daß er dir so gar nicht ähnlich sieht,« wiederholte er sich. Was hatte sie dabei gedacht? Was für ein Sinn steckte hinter diesen Worten? Unbedingt eine Bosheit, eine Gemeinheit. Ja, das war's: die Person mußte gedacht haben, Hans sei des alten Marschall Sohn.
Bei dem Gedanken, welcher Verdacht damit auf seine Mutter geworfen sei, empfand er eine so heftige körperliche Erschütterung, daß er still stand und sich umsah, ob er sich nicht irgendwo setzen könne.
Ein andres Café war gerade vor ihm, er ging hinein, nahm einen Stuhl, und als der Kellner herbeikam, sagte er: »Ein Glas Bier!«
Er hatte Herzklopfen; kalte Schauer überliefen ihn. Und plötzlich hörte er wieder, wie der alte Marowsko gestern abend gesagt: »Das wird keinen guten Eindruck machen.« Hatte der Pole den nämlichen Gedanken, den nämlichen Verdacht gehabt wie die Dirne?
Den Kopf tief herabgebeugt, starrte er auf den weißen Schaum in seinem Bierglas, sah die Bläschen aufsteigen und zerplatzen und fragte sich: »Ist's denn möglich, daß man so etwas glauben kann?«
Und nun traten die Gründe, welche diesen abscheulichen Zweifel in jedem Menschen hervorrufen mußten, einer nach dem andern, klar, greifbar, verzweiflungsvoll deutlich vor seine Seele. Daß ein alter Junggeselle, der keine Verwandten hat, sein Vermögen den Kindern eines Freundes hinterläßt, ist ja das Natürlichste, Einfachste von der Welt, daß er aber dies ganze Vermögen nur einem dieser Kinder bestimmt, wird die Leute in Erstaunen setzen, sie werden die Köpfe zusammenstecken, flüstern und schließlich – lächeln. Wie war's nur möglich, daß er das nicht vorausgesehen, daß sein Vater es nicht gefühlt, seine Mutter nicht geahnt hatte? Nein, sie waren ja zu glücklich gewesen über dies unverhoffte Geld, als daß solch eine Vorstellung nur in ihnen aufgestiegen wäre, und dann, wie sollten anständige Menschen überhaupt eine derartige Niederträchtigkeit vermuten können?
Aber das Publikum, der Nachbar, der Krämer, der Bäcker und Fleischer, alle, die sie kannten, werden sie nicht insgesamt dieses gräuliche Wort aussprechen, weiter sagen, sich darüber unterhalten und freuen, seinen Vater verlachen und seine Mutter verachten?
Jedem mußte es nun in die Augen springen, was das Mädchen in dem Bierschank bemerkt, daß Hans blond war, und er braun, daß sie einander weder an Gesicht noch Gestalt, an Gang noch Haltung glichen, daß sie grundverschieden waren, äußerlich, innerlich, körperlich und geistig, und wenn in Zukunft von einem Sohne Rolands die Rede war, würden die Leute fragen: »Welcher, der echte oder der falsche?«
Er stand auf, entschlossen, seinem Bruder alles zu sagen, ihn zur Wehr zu rufen gegen die entsetzliche Gefahr, welche der Ehre ihrer Mutter drohte. Und was würde Hans thun? Das Einfachste wäre es sicherlich, die Erbschaft nicht anzutreten, die dann den Armen zufiele, und den Bekannten und Freunden, die schon von der Sache unterrichtet waren, zu sagen, das Testament habe Klauseln und Bedingungen enthalten, die ihm nicht annehmbar erschienen seien, weil er infolge derselben nicht Erbe, sondern einfach Verwalter des Vermögens geworden wäre.
Auf dem ganzen Weg nach Hause überlegte er, wie er den Bruder allein sprechen könnte, ohne in Gegenwart der Eltern die Angelegenheit berühren zu müssen.
Schon an der Hausthür vernahm er lebhaftes Sprechen und Lachen aus dem Salon, und als er eintrat, unterschied er die Stimmen Frau Rosémillys und des Kapitäns Beausire, welche sein Vater mit nach Hause gebracht und zur Feier des großen Ereignisses zu Tisch festgehalten hatte.
Um den Appetit zu reizen, wurde Wermut mit Absynth getrunken, die gute Laune bedurfte schon jetzt keiner besonderen Reizmittel mehr. Der Kapitän, ein kleiner Mann, der vermutlich vom langen auf dem Meer Umhergerolltwerden ganz kugelrund war und dessen Ideen gleichfalls rund waren, wie die Kiesel am Strande, hielt das Leben für eine ganz vorzügliche Erfindung, die man sich zunutze machen müßte, lachte aus vollem Hals und schnarrte dabei sein »R«.
Er stieß eben mit Vater Roland an, während Hans den beiden Damen frischgefüllte Glaser anbot.
Frau Rosémilly lehnte ab, was den Kapitän Beausire, der ihren verstorbenen Mann gekannt, zu dem Ausruf veranlaßte: »Na, na, gnädige Frau, nur nicht zimperlich, bis repetita placent, wie wir sagen, und was heißen soll: ›Zwei Wermut machen jedermann Frohmut!‹ Wissen Sie, seit ich nicht mehr auf See fahre, verschaffe ich mir auf diese Weise jeden Tag vor dem Essen ein wenig künstliches Schlingern: nach dem Kaffee füge ich dann noch etwas Stampfen hinzu, und ich habe hohe See bis zum Abend! Bis zum Sturm lasse ich's nie kommen, beileibe nicht, niemals, hab' allen Respekt vor Havarie!«
Roland, dessen Leidenschaft für das Seewesen der Kapitän schmeichelte, schüttelte sich vor Lachen. Sein Gesicht war dunkelrot und seine Augen glitzerten bereits vom Wermut. Seine ganze Gestalt bestand eigentlich aus einem ungeheuren, schlaff herunterhängenden Bauch, in den sich der übrige Rumpf hineingeflüchtet zu haben schien, ein Bauch, wie er bei Leuten von sitzender Lebensweise nur zu häufig entsteht, und wo Brust, Hals, Arm und Schenkel zu einer unförmlichen Masse zusammenwachsen.
Der Kapitän gehörte gleichfalls nicht zu den Schlanken, aber an dem kurzen, untersetzten Mann war alles stramm und fest und die Muskeln kräftig entwickelt.
Frau Roland hatte nicht einmal ihr erstes Gläschen getrunken; was ihre Wangen höher färbte, war das Glück: mit strahlendem Blick sah sie ihren Hans an.
Erst jetzt war die Freude so recht eigentlich über sie gekommen, jetzt, da alles abgeschlossen, unterschrieben, festgestellt war. In der Art, wie ihr Junge lachte, wie er mit klangvollerer Stimme als zuvor sprach, wie er den Leuten ins Gesicht sah, sich freier, sichrer bewegte, in allem sprach sich das Bewußtsein des Besitzes aus: er hatte zwanzigtausend Franken jährliche Zinsen.
Als die Meldung kam, daß aufgetragen sei, wollte Herr Roland der jungen Witwe den Arm bieten, aber seine Frau rief! »Nichts da, Vater, heute muß Hans allein alle Ehren haben.«
Auf dem Eßtisch war ein unerhörter Luxus entfaltet. Vor dem Teller des Erben, der heute den Platz des Hausherrn einnahm, erhob sich ein ungeheurer Strauß seltener Blumen, ein richtiges, feierliches Tafelbouquet wie eine festlich geschmückte Kuppel, von vier Tafelaufsätzen flankiert, deren eine zur Stütze einer Pyramide von wundervollen Pfirsichen diente, während der zweite eine monumentale Torte trug, die, mit Schlagsahne gefüllt und mit kleinen Glöckchen von gebranntem Zucker verziert, wie eine Biskuitkathedrale aussah; auf dem dritten befanden sich Ananasschnitten in Zucker und auf dem vierten frühe, südliche, schwarze Trauben.
»Der Tausend!« sagte Peter, als er sich setzte. »Da feiern wir, wie mir scheint, die Thronbesteigung Johanns des Reichen.«
Nach der Suppe wurde Madeira herumgereicht, schon sprachen alle gleichzeitig. Beausire erzählte von einem Diner bei einem Negerfürsten, das er in San Domingo mitgemacht, Vater Roland hörte ihm zu, machte aber fortwährend den Versuch, die Beschreibung eines andern Diners einzuschalten, eines Mahles, das ein Freund von ihm in Meudon gegeben hatte, und nach welchem jeder Gast vierzehn Tage krank gewesen war. Frau Rosémilly, Hans und die Mutter besprachen den Plan eines Picknicks in Saint-Jouin, von dem sie sich großes Vergnügen versprachen, und Peter bereute, nicht in der nächsten besten Garküche am Meer gegessen zu haben, um all diesem Geschwätz und Gelächter, das ihm auf die Nerven ging, auszuweichen.
Er sann unaufhörlich darüber nach, wie er es anfangen sollte, seinen Bruder zum Vertrauten seiner Sorgen zu machen und ihn zum Verzicht auf dieses schon in Besitz genommene Vermögen, das er bereits genoß, das ihn im voraus berauschte, zu bewegen. Es mußte Hans sauer werden, dem allem zu entsagen, aber geschehen mußte es; er konnte sich nicht besinnen, nicht schwanken, der Ruf seiner Mutter stand ja auf dem Spiele.
Das Erscheinen einer riesigen Barbe brachte Roland wieder auf Fischereigeschichten und Beausire erzählte auf diesem Gebiete die unglaublichsten Erlebnisse von Gabunland, von St. Marie auf Madagascar, vor allem aber von den Küsten Japans und Chinas, wo die Fische genau so wunderliche Gesichter haben sollten wie die Menschen. Und er fing nun an, diese Fische zu schildern, mit den großen, goldgelben, runden Augen, den seltsamen, fächerförmigen Flossen, den halbmondartigen Schwänzen, und machte dabei all ihre Bewegungen so urkomisch nach, daß die Zuhörer bis zu Thränen lachten.
Nur Peter schien den Beschreibungen des Erzählers keinen Glauben zu schenken und sagte halblaut: »Nicht mit Unrecht nennt man die Normannen die Gascogner des Nordens.«
Nach dem Fisch kam ein Vol-au-vent, darauf Geflügel, Salat, grüne Bohnen und eine Lerchenpastete. Frau Rosémillys Dienstmädchen half beim Auftragen und die Heiterkeit wuchs mit jedem Glas Wein. Als der erste Champagnerpfropfen knallte, ahmte Vater Roland das Geräusch sehr täuschend mit den Lippen nach und versicherte dann, daß ihm dieser Knall weit lieber sei als der einer Pistole.
Peter, der immer reizbarer und verstimmter wurde, bemerkte höhnisch: »Obwohl dir letzterer vielleicht weniger gefährlich wäre.«
Roland, der im Begriff war zu trinken, stellte das volle Glas wieder auf den Tisch und fragte: »Weshalb denn?«
Seit längerer Zeit schon klagte Vater Roland über sein Befinden, litt an Schwindel, Mattigkeit und fortdauerndem, unerklärlichem Unbehagen.
»Weil die Pistolenkugel,« erwiderte der Doktor, »möglicherweise an dir vorbeifliegt, der Wein aber ganz gewiß in deinen Leib kommt.«
»Und was dann?«
»Dann verbrennt er dir den Magen, greift das Nervensystem an, beschwert den Blutumlauf und arbeitet der Apoplexie in die Hände, welche die stets drohende Gefahr für alle Leute deines Schlages ist.«
Die angeheiterte Stimmung des alten Juweliers schien verflogen wie ein Rauchwölkchen, das der Wind verjagt; mit ängstlichen, starren Augen blickte er auf den Sohn und suchte ins klare zu kommen, ob derselbe im Scherz oder Ernst gesprochen.
»Ach! Diese verwünschten Aerzte!« rief Kapitän Beausire. »Da ist doch einer wie der andre, immer dasselbe Lied: essen Sie nicht, trinken Sie nicht, lieben Sie nicht und tanzen Sie keinen Walzer – das alles könnte dem hohen Gesundheitchen etwas zu leide thun. Nun, ich, mein Herr, ich habe alle diese vier Dinge in allen Weltteilen betrieben, so oft ich konnte und so stark ich konnte, und befinde mich vortrefflich dabei.«
Herb und scharf versetzte Peter: »Erstens sind Sie kräftiger als mein Vater, Herr Kapitän, und dann sprechen alle Lebemänner so wie Sie, bis zu dem Tag . . . an dem Sie nicht mehr da sind, um dem vorsichtigen Arzt sagen zu können: ›Doktor, Sie haben recht gehabt‹. Wenn ich mit ansehen muß, wie mein Vater gerade das thut, was am allerschädlichsten und gefährlichsten für ihn ist, so kann ich doch wohl nicht umhin, ihn zu warnen – ein schlechter Sohn, der das unterläßt.«
Nun mischte sich auch Frau Roland schweren Herzens in das Gespräch.
»Aber Peter, was fällt dir denn ein?« sagte sie, »dies einemal wird es ihm doch nicht schaden! Bedenke, was für ein Fest er, wir alle, heute feiern. Du verdirbst ihm ganz die Freude und bringst uns alle um unsern Frohsinn. Das ist recht häßlich, muß ich dir sagen.«
»Er kann es halten, wie er will; gewarnt ist er,« murrte Peter, die Achseln zuckend.
Aber Vater Roland trank nicht. Er sah sein Glas an, sein volles Glas, mit dem köstlichen, golden schimmernden Wein, dessen leichte, berauschende Seele mit den kleinen Blasen, die vom Grund des Krystallkelches aufstiegen, heftig und rasch, als ob sie es eilig hätten, sich zu verflüchtigen, dahinflog. Mit dem Mißtrauen, womit ein Fuchs eine tote Henne beschnuppert, unter welcher er eine Falle wittert, sah Vater Roland den perlenden Wein an und fragte zögernd: »Du glaubst also, daß es mir sehr schaden würde?«
Peter empfand eine Art von Gewissensbiß und warf sich vor, daß er die andern unter seiner Verstimmung leiden lasse.
»Nun, nun, dies einemal kannst du ihn ja wohl trinken,« sagte er tröstend, »aber halte Maß und laß es dir nicht zur Gewohnheit werden.«
Da erhob der Vater sein Glas, konnte sich aber noch nicht entschließen, es an die Lippen zu führen. Er hielt es vor sich hin und sah es wehmütig, von Begierde und Furcht erfüllt, an, dann roch er an dem Wein, kostete ihn und trank in kleinen Schlucken, langsam, mit der Zunge prüfend, das Herz voll Angst, Schwachheit und Gelüste, und sobald er den letzten Tropfen verschluckt, von tiefer Wehmut erfüllt, daß der Genuß nun zu Ende.
Plötzlich begegnete Peter Frau Rosémillys Blick; klar, durchdringend und fest waren die blauen Augen auf ihn gerichtet, und er ahnte, fühlte, las in ihnen, was die kleine Frau mit ihrem rechtschaffenen, einfachen Sinn und Verstand dachte, und wie empört sie in ihrem Innern zu ihm sagte: »Du bist neidisch – du solltest dich schämen.«
Er senkte das Haupt und machte sich mit seinem Teller zu schaffen.
Appetit hatte er nicht; nichts wollte ihm schmecken; ein Verlangen, fortzugehen, quälte ihn, eine Sehnsucht, nicht mehr unter diesen Menschen zu sein, sie nicht mehr schwatzen, scherzen und lachen zu hören.
Indessen fing der perlende Champagner Papa Rolands Seelenfrieden wieder zu stören an, die ärztlichen Ratschläge seines Sohnes gerieten etwas in Vergessenheit, und er liebäugelte mit einer beinahe vollen Flasche, die neben seinem Teller stand. Aus Furcht vor einer neuen Verwarnung wagte er jedoch nicht sie zu berühren und besann sich im stillen auf irgend ein Taschenspielerkunststück, um sich ihrer zu bemächtigen, ohne daß Peter es bekritteln könnte. Endlich geriet er auf eine nahe liegende List; er nahm die Flasche nachlässig und gleichmütig zur Hand, streckte den Arm quer über den Tisch und begann in erster Linie des Doktors eben geleertes Glas zu füllen, worauf er bei allen andern ein gleiches that, und als schließlich das seinige an die Reihe kam, sprach er so laut und lebendig, daß es jedenfalls nur aus Unaufmerksamkeit und Zerstreutheit geschehen sein konnte, daß er sich ebenfalls etwas eingoß, was übrigens von keinem Menschen bemerkt wurde.
Peter trank stark, ohne sich dessen bewußt zu sein. Nervös und erbittert, wie er war, führte er alle Augenblicke ganz gedankenlos den hohen, schlanken Krystallkelch, in dessen durchsichtigem, schäumendem Inhalt man die Bläschen in die Höhe schießen sah, an die Lippen, äußerst langsam und bedächtig schlürfend, um möglichst lang den angenehmen Kitzel der sich verflüchtigenden Kohlensäure auf der Zunge zu spüren.
Allmählich durchströmte eine wohlige Wärme seinen Körper, die vom Magen an, von ihrem Feuerherd, aufsteigend, seine Brust erfüllte, dann die Glieder ergriff und sich durch alle Adern und über jeden Nerv verbreitete, wie eine lauwarme, wohlthätige, Freude bringende Welle. Er fing an, sich behaglich zu fühlen, Verstimmung und Verdruß schwanden, und der Entschluß, am selben Abend noch mit dem Bruder zu sprechen, geriet ins Schwanken, ohne daß er jedoch daran gedacht hätte, denselben ganz aufzugeben – nur verschieben wollte er die Ausführung, um sich selbst nicht allzu früh um sein Wohlbehagen zu bringen.
Zuguterletzt erhob sich Beausire, um einen Trinkspruch auszubringen.
Nachdem er sich in die Runde verneigt, begann er: »Meine huldvollen Damen! Verehrte Herren! Wir sind hier vereint, um ein freudiges Ereignis, das einen unsrer Freunde betroffen, zu feiern. Man hat häufig behauptet, Frau Fortuna sei blind, ich meinesteils glaube einfach, daß sie bisher entweder schlechter Laune oder sehr kurzsichtig gewesen, welch letzterem Mangel sie durch Ankauf eines vortrefflichen Marineglases kürzlich abzuhelfen gewußt hat, mit Hilfe dessen es ihr gelungen ist, im Hafen unsrer Stadt den Sohn unsres braven Kameraden Roland, des Kapitäns der »Perle«, ausfindig zu machen!«
Lebhaftes Bravo ertönte von allen Seiten und lautes Händeklatschen drückte den Beifall der Gesellschaft aus, Vater Roland aber erhob sich redelustig, räusperte sich etwas, da er seine Zunge ein wenig schwer und seine Kehle gar zu gut geschmiert fühlte, und begann dann stotternd: »Danke, Kapitän! Danke Ihnen in meinem und meines Sohnes Namen! Werde nicht vergessen, wie Sie sich bei diesem Anlaß betragen haben! Ich trinke auf Ihr Wohl!«
Augen und Nase wurden dem Wackeren thränenfeucht, und da ihm nichts Weiteres einfiel, setzte er sich wieder.
Lachend stand Hans auf, um an seiner Stelle das Wort zu nehmen.
»An mir ist es,« sprach er, »den verehrten (er sah Frau Rosémilly in die Augen), trefflichen Freunden zu danken, daß sie mir heute einen so sprechenden, ergreifenden Beweis ihrer Zuneigung gegeben. Nicht Worte sollen mir genügen, meine Dankbarkeit an den Tag zu legen; morgen wie heute, an jedem Tag, in jeder Stunde meines Lebens werde ich dieselbe zu zeigen bestrebt sein, denn die Freundschaft, die uns verbindet, gehört nicht zu den vergänglichen.«
»So ist's recht, mein Kind,« flüsterte die Mutter tief bewegt, Beausire aber rief: »Vorwärts, Frau Rosémilly, geben Sie uns einen Trinkspruch im Namen des schönen Geschlechts!«
Gehorsam erhob die junge Frau ihren Kelch und mit sanfter, ein wenig traurig klingender Stimme sagte sie: »Ich – ich bringe mein Glas dem gesegneten Andenken des Herrn Marschall!«
Es ward plötzlich still im Zimmer; ein paar Sekunden lang bewahrte jeder eine gerührte, feierliche Miene wie nach einem Gebet, und Beausire, der nie verlegen war, wenn es sich um eine Artigkeit handelte, bemerkte halblaut: »So Feinfühliges findet doch nur eine Frau.«
Dann wandte er sich an Vater Roland.
»Wer war denn eigentlich dieser Herr Marschall? Sie sind ihm wohl sehr nahe gestanden?«
Der Wein hatte den Alten äußerst weichmütig gestimmt, und halb schluchzend, mit brechender Stimme erwiderte er: »Wie ein Bruder! . . . Sie wissen ja . . . das war ein Mensch, wie man ihn nicht zweimal findet . . . Wir sind unzertrennlich gewesen . . . jeden Abend hat er bei uns gegessen . . . und . . . und dann hat er uns ins Theater eingeladen . . . mehr . . . mehr brauch' ich nicht zu sagen. Ein wahrer Freund . . . ein echter . . . ein wahrer . . . nicht, Luise?«
»Ja, er ist ein treuer Freund gewesen,« versetzte seine Frau ruhig und einfach.
Peter warf einen forschenden Blick auf Vater und Mutter; dann kam die Rede auf etwas Andres, und er fuhr fort, zu trinken.
Der weitere Verlauf des Abends hinterließ ihm kaum eine Erinnerung, man hatte Kaffee getrunken, ziemlich viel Likör dazu genossen und gelacht und gescherzt, dann, gegen Mitternacht, legte er sich mit schwerem Kopf und ziemlich wirren Gedanken zu Bett und schlief wie ein Murmeltier bis zum andern Morgen um neun Uhr.