Hugo Marti
Rumänische Mädchen
Hugo Marti

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69 Sonja

70 I.

Man erhob sich geräuschlos vom Tisch. Sherban trat zur alten Fürstin, griff nach ihrer rechten Hand und führte die Fingerspitzen mit leichtem Anstand an seine Lippen. Sie legte die Linke auf sein dunkles Haar, zog ihm den Kopf ein wenig herunter und küßte ihn auf die Stirne. Er sagte halblaut: «Danke, Großmama.» Dann schritt sie am Hauslehrer vorbei, der sich leicht verneigte, lächelte ihm aus ihrem runzligen, beherrschten Gesichte zu und sagte mit einladender Entschiedenheit: «Wir setzen uns auf die Veranda. Bleiben Sie bei uns?» Und durch die weitoffenen Flügeltüren trat sie hinaus in die dunkelglühende Sommerabendsonne.

Alexander und Sherban folgten ihr; wie zwei Freunde schritten sie nebeneinander, und der Erzieher hatte leicht seinen Arm um den Nacken des Knaben gelegt. Beide waren sie von fast gleicher Größe: 71 Alexander schlank, braun und sehnig, sein Zögling hoch aufgeschossen und mit seinen zu langen Gliedern beinahe linkisch. Der Hals des Jungen stieg steil aus dem weißen Kragen der Hemdbluse empor, die Knöchel, noch ganz schmal hinter den breiten Knabenhänden, standen weit aus den Aermeln hervor, und die kurze Hose reichte nicht mehr ganz bis zu den knochigen, straff gemodelten Knien.

Die Fürstin stand bei den Rosen, die am Geländer der Verandatreppe heraufklommen und als blutrote Welle am weißen Gemäuer emporschlugen. Die Bäume des Parks warfen lange Schatten, die tief in den sinkenden Rasen hineingeglitten waren; nah und fern glühten Wipfel und loderten in den windstillen, blausilbernen Himmel hinauf. Die Hitze des Tages zitterte aus den Mauern und stieg aus der rissigen Erde; nur die Blumenbeete, die eben begossen worden waren, lagen kühl und schwarz.

72 «Darf ich das Spielbrett holen?»fragte Sherban.

«Gewiß, mein Junge, wenn du Lust hast», erwiderte die Fürstin. Ihr Französisch, immer gewählt und rein, klang flüssig, fast ein wenig zu hastig. Sprach sie mit der Dienerschaft und den Bauern rumänisch, so tönte es diesen fremd, und sie verstanden den freundlich bestimmten Sinn der Rede nicht immer sofort.

Die Fürstin hatte sich in einen Korbstuhl gesetzt; Alexander ging auf der Veranda hin und her und steckte seine kurze Pfeife in Brand. Die alte Dame beobachtete ihn, und als er endlich bei der Treppe stehen blieb, unentschlossen, und dann wieder zurücktrat, sagte sie lächelnd: «Sie spüren die Eintönigkeit des rumänischen Sommers, die Abgeschiedenheit des alten Landhauses an Ihrem Leibe, der hinter dem Wall dieser halbverwilderten Parkbäume wie in einem Gefängnis lebt.»

Alexander setzte sich der Fürstin 73 gegenüber. Er zog seine Augenbrauen empor:«Was soll ich darauf antworten? Ihre Gesellschaft –»

Sie unterbrach ihn lachend: «Ich bin eine alte Frau, mein Enkel ist ein Knabe.»

Alexander wehrte ab. Er wurde eifrig. «Der Junge, von dem Sie sprechen, gilt mir denn doch mehr als ein Schulknabe. Das wissen Sie, Fürstin.»

Sie nickte.

«Schon allein ihn zu beobachten, möchte mir Unterhaltung genug zu bieten wissen. Sherbans Jugend ist in diesen Wochen der Kampfplatz eigensinnigster Gegner: Knabe und Jüngling haben sich in ihm zum Zweikampf gestellt. Die Hand des Erziehers –»

Das Gespräch stockte auf eine leise Handbewegung der Fürstin hin. Schritte klangen im Zimmer, Sherban trat auf die Schwelle. Er trug das Spielbrett unter dem Arm. Als er es auf den Tisch vor die Fürstin hinsetzte, sagte er: «Heute darfst 74 du mich nicht so rasch besiegen, Großmama.»

Sie schlug das Brett auf; die milchhellen Elfenbeinfelder schimmerten matt aus der dunkelschwarzen Ebenholzeinfassung. Die Fürstin nahm zwei kleine Würfel in die hohle Hand, ließ sie leise gegeneinander klappern und warf sie dann lässig aufs Brett. Hastig griff Sherban darnach. Er setzte die Steine rasch und lärmend, während die Fürstin nach langem Erwägen sie geräuschlos schob, ihr Spiel mit Bemerkungen begleitete und den Jungen lächelnd in die Enge trieb.

«Nun setze ich hier», sagte sie, «und wenn nicht ein Glücksfall dir unverdientermaßen wohl will, wirst du bald die Waffen strecken.»

«Dies Spiel ist ungerecht», murrte Sherban und rückte verzweifelt die Steine vorwärts. «Ich finde es geradezu blöde. Werfe ich schlecht, so muß ich verlieren. 75 Aber was kann ich denn dafür, daß ich unglücklich werfe?»

«Ueberlegen, überlegen», mahnte die Fürstin. «Auch zum ungerechtesten Siege gehört doch etwas mehr als Glück.»

«Ueberlegen –», knirschte Sherban geärgert. «Auf dem Tennisplatz, wo es nichts zu überlegen gibt, stehe ich auch gegen Aeltere – wie, Alexander? Aber hier! Nein, nun ists ja aus. Du hast mich wieder geschlagen.»

«Ich bedaure, mein Junge, dir nicht vor dem Netz mit dem Schläger in der Hand begegnen zu können. Aber du würdest mich ja nicht ernst nehmen.»

«Noch ein Spiel?» fragte Sherban höflich.

«Ja», erwiderte die Fürstin. Und sie begannen aufs neue. Sherban nahm sich eifrig zusammen. Aber als ihm, ohne daß ers bemerkt hatte, wieder ein Stein in Gefahr geraten war, stieg ihm das Blut bis unter die Haare hinauf und er biß die 76 Zähne in die Lippen. Er verlor, klappte das Brett zusammen, verbeugte sich leicht und sagte: «Danke, liebe Großmama. Du entschuldigst mich; Alexander hat mir Aufgaben diktiert, die noch nicht erledigt sind.» Und er trat ins Haus.

Seine Schritte verhallten auf dem Teppich; eine Tür fiel ungewöhnlich hart ins Schloß. Die Blicke der Fürstin und des Erziehers begegneten sich. Beide lächelten.

Nach einer Pause sagte die Fürstin: «Mir gefällt diese unwirsche Kraft der heutigen Jugend. Sie steht ihr gut für vieles, was ihr wohl an Geist und Geschmeidigkeit früherer Geschlechter verloren gegangen ist. Das Brettspiel kommt aus der Mode; man mißt sich mit dem Tennisschläger in der Faust. Man protestiert, wenn es schief geht, gegen übernatürliche Ungerechtigkeiten. Und selbst besiegt, ergibt man sich noch nicht. Hier stehe ich, da mein Feind, – eine dritte Macht, und hieße sie das Schicksal selbst, 77 wird, in trotziger Rede wenigstens, ausgeschaltet aus einem anständigen Wettkampf.»

«Ob es nicht je und je Menschen gegeben hat, die sich ganz auf sich selber stellen wollten?» zweifelte Alexander.

«Auf sich selber stellen, ja», sagte die Fürstin langsam.«Aber das meint man nicht. Das Wesentliche ist: man stellt sich außerhalb, oder in den Mittelpunkt; wie Sie wollen. Und so betrachtet, steckt das heutige Geschlecht in Kinderschuhen. Denn, nicht wahr, das ist echte Jungenart? Aber jede Mode kann mit Geschmack getragen werden.»

«Entschuldigen Sie», wehrte Alexander ernsthaft ab, ohne das Lächeln der Fürstin zu beantworten. «Sie verallgemeinern. Dieses brutale, ja blinde Zupacken, sich in den Mittelpunkt stellen, äußerlich und behauptend, das ist doch wohl schon ein wenig veraltet.»

«Es ist möglich», gab die Fürstin zu, in 78 einem rasch sinkenden Tonfall, der das Gespräch für sie als bedeutungslos verklingen ließ. «Ich müßte mit allen meinen Fingern reden, wenn ich Ihnen die Moden aufzählen wollte, die ich miterlebt habe. Das alles wechselt so viel rascher als früher. Meist geht es doch nur um geringfügige Aenderungen im Aermelschnitt oder in der Farbentönung.»

Alexander wollte reden, über sein braunes Gesicht flog leise Röte, eine leichte Verwirrung ließ seine Hände unruhig, stumm durch die Luft tasten, als gehörten sie nicht zur beherrschten Gesamtheit seines sportgezügelten Körpers.

«Wenn einer», begann er zaudernd; dann mit einem Ruck: «Wenn einer dieses Kinderstadium – zugegeben! – hinter sich hat, ganz hindurchgegangen ist durch alle Jugendnöte und Wachstumskrankheiten, auf den Königssitz im Weltmittelpunkt verzichtet und sich eingereiht hat in den großen Heerbann geschaffener 79 Wesen und nun nichts für sich behalten will als das freie Selbstbestimmungsrecht in seinem Innern, Maß und Macht in seinem Reiche, das aber recht eigentlich nicht von dieser Welt ist, das in die Tiefe, nicht in die Breite geht, – darf dieses im Handumdrehen erledigt werden mit dem guten Witz von einer Modevariation?»

Die Fürstin hatte Alexander unverwandt angeschaut; sie war seinen ungewöhnlich weiten, den Ausdruck mühsam heranzwingenden Handbewegungen aufmerksam gefolgt. Als er nun, am Ende seiner Rede, die Augen stolz fragend zu ihr erhob, – denn während er gesprochen hatte, waren seine Blicke suchend und unstet im Abenddunst über den Baumkronen umhergeglitten, – senkte sie rasch die ihren, in denen ein belustigtes Lachen erlosch. Sie schien nun auch eine Antwort zu überlegen, die sich plötzlich Alexander selber gab, indem er laut und vernehmlich sagte: «Nein.»

80 Erregt erhob er sich, ging ein paarmal auf der Veranda hin und her, blieb erstaunt stehen, als er bemerkte, daß der Schatten der Bäume über sie gekrochen war. Das Licht lag blasser am Himmel, die Ferne des Parks hatte sich in einem zackigen, feingeschnittenen Schattenriß verdichtet, der Rasen war von feuchten Nebelstreifen überdeckt.

«Und auf das freie Selbstbestimmungsrecht verzichtet man nicht?» fragte die Fürstin mit leiser, doch nachdrücklicher Betonung.

«Ah nein, gewiß nicht», gab Alexander hart zurück und blieb vor ihr stehen.

Die Fürstin hob leicht die Hand und ließ sie seitlich abwärts gleiten.

Alexander zuckte mit der Schulter. Nach einer Weile, zaghaft, sagte er: «So betrachtet, allerdings –. Ich verstehe Sie, Fürstin. Aber wieder aufgeben, was man als Wertvollstes aus dem Kampfe 81 heimgetragen, – nie.»Und nochmals, als wehrte er sich gegen etwas: «Niemals!»

Die Fürstin sprach ruhig: «Es ist ja doch immer die Freiheit, um die aller Streit und alles Gerede geht. Wir andern, wir Alten, fanden sie in der horchenden, demütigen Unterwerfung unter das große Gesetz. Nennen wir es Schicksal; es gibt viele Namen dafür. Es läßt uns streckenweise in lockeren Zügeln gehn – Sie sind auch nicht jeden Schritt hinter Ihrem Zögling her! Aber seine Hand ist doch jederzeit da, uns zu meistern. Das kommt Ihnen schwächlich vor, mein Gedankengang ist Ihnen zuwider. Wir lassen uns fallen, tiefer und tiefer, bis wir in die Hand sinken, die unter allem ruht; Sie aber mühen sich, zu steigen. Beides fordert Mut, den Sie verehren. Sie sollten mich verstehen.»

Alexander warf den Kopf zurück: «Heißt das nicht die Waffen strecken?»

Die Fürstin lachte. «Nein, behalten Sie Ihr Schwert. Wir brauchen Helden, 82 das Schicksal Widerstände. Es ist alles gut.»

Alexander schüttelte den Kopf.

Die Stille wuchs langsam aus den Abendschatten heraus. Sie ging von den Bäumen über die Wiesen, sie rann aus der Luft, sie war in den Düften der Blumen und der Felder, in den Düften, die stärker und weicher wurden. Dunkelklare Seide war mit Silbernägeln hoch über allem gespannt.

«Wir erwarten morgen Besuch», sagte die Fürstin, die sich erhob. «Sonja, – ich glaube, Sie sahen sie noch nie bei uns. Auf ein paar Tage bloß. Wollen Sie, bitte, Sherban etwas mehr Freizeit lassen?»

«Natürlich, gern», antwortete Alexander.

«Doch soll der Unterricht ohne Störungen weitergeführt werden. Sie wissen, Sonja ist meine Enkelin –?»

«War nicht Sherban in den Osterferien auf dem Gute ihrer Eltern, seines Onkels? Er erzählte mir von ihr.»

83 «So?» fragte die Fürstin. Es klang gleichgültig. Aber ihre Augen hoben sich rasch und scharf.

«Weniges nur», fuhr Alexander fort. «Sie reite gut, spiele vorzüglich Tennis –. Sherban wird entzückt sein.»

«Sie wird uns allen frohe Abwechslung bringen», sprach die Fürstin und reichte ihm ihre kleine, harte Hand, die er küßte.

Dann schritt er über die Verandatreppe hinunter und in die Dunkelheit hinein. Er ging unter den hohen Bäumen, deren Zweige zu beiden Seiten der Allee tief bis auf den Rasen herunterhingen. Die Luft war dumpf unter dem dichten Blätterdache. Vom Hofe her klang Musik: Hackbrett und Geige. Ein Feuer flackerte.

Er wandte sich ab. Er schritt zum Bache hinunter, durch den Nebel der Wiesen. Am Wasser war es kühler. Dunkel floß es zwischen den Bäumen dahin, langsam, lautlos.

84 Nach einer Weile glitt sein nackter Körper blank in die Flut und schwamm mit der Strömung vorwärts, dem See zu. Der Laubgang weitete sich, der Himmel tat sich hoch oben auf, das Wasser stand unbewegt. Alexander schwamm bis zum Kahn, kletterte hinein, band ihn los, stieß mit wenigen Ruderschlägen bis in die Mitte des Sees, legte sich dann langhin auf den Boden des Bootes und verschränkte, leise treibend, die Arme unter seinem Kopf. Von fernher tönte die Geige in die schwere Stille der Sommernacht.

85 II.

Der Tennisplatz lag schon im Schatten der hohen Bäume, als ihn Alexander und Sherban nach dem letzten Spiel verließen. Der Junge war, knapp aber entschieden, Sieger geblieben. Er sammelte die Bälle und barg sie in einem kleinen Netz, während Alexander seine leichte, hell- und dunkelblaugestreifte Jacke überzog. Sie gingen auf dem schmalen Weg in den Park und bogen dann zum Hause hinauf, das grell hinter den Büschen und der Wiese stand.

Alexander trug den Schläger unter dem linken Arm, die Hände staken in den Taschen der weißen Flanellhose; in seinem langsamen, weitausholenden Gang schritt er dahin. Der Junge hatte den Schläger wie eine Waffe geschultert und lachte aus dunklen Augen in verlegenem Stolz.

«Sie spielten recht zerstreut», sagte er, als Alexander stehen blieb und sich eine 86 Zigarette anzündete. «Sonst hätte ich Sie heute wohl kaum besiegt.»

«Warum gerade heute?» fragte Alexander gleichgültig. Sherban lachte laut. Er gab keine Antwort.

Sie traten in die Allee, die zum Hause bog. Sherban ging langsamer. Und plötzlich sagte er: «Was Sie von Sonja denken werden, darauf bin ich neugierig. Aber Sie werden natürlich schweigen, mir nichts davon sagen –.»

Alexander horchte auf. Langsam wandte er sich um und sagte: «Wir könnten vielleicht noch eine Viertelstunde im Park spazieren gehen? Zeit zum Umziehen bleibt uns genug; man geht ja später zu Tisch.»

Sie schritten wieder unter die Bäume zurück. In einem Laubgang, der sich dem Bach entlang in verschwiegener Wildnis hinzog, faßte Alexander den Jungen unter dem Arm und sagte: «Nun erzählen Sie mir, was Sie den ganzen Tag schon auf der Zungenspitze tragen.»

87 Sherban fuhr auf: «Was denn? Was denn hätte ich Ihnen zu erzählen? Gar nichts! Sie irren sich.»

Alexander schaute lächelnd dem zappligen Bubenwesen zu; dann spottete er: «Ich muß mich getäuscht haben. Und jetzt wirken Sie so ruhig, daß sicher kein brennendes Geheimnis hinter Ihren Augen zu vermuten ist. Entschuldigen Sie.»

«Wenn Sie schon so anfangen», sagte Sherban leise, «dann sag ichs eher gar nicht.»

«Aha», stellte Alexander fest. «Sehen Sie in mir den ernsten Mann, der Ihre wichtigen Geheimnisse zu bewahren weiß.»

Der Junge runzelte die Stirne. «Sie machen sich über mich lustig. Ich aber will Ihr Ehrenwort, daß Sie das, was Sie von mir erfahren werden, nicht über Ihre Lippen gehen lassen.»

«Gehen Sie zu Anika in die Küche», erwiderte Alexander.

88 Sherban senkte den Kopf. «Es ist wahr.» Dann, plötzlich und ruckweise: «Sie werden Sonja sehen, heut abend. Sie kennen sie noch nicht.»

«Ich freue mich natürlich, ihre Bekanntschaft zu machen», warf Alexander in die Stille, die sich breit und tief hinter des Jungen Worten aufgetan hatte.

«Nicht das –», wehrte Sherban ab. «Ach, Sie wissen ja schon alles. Lassen Sie doch nicht immer mich reden. Sie wissen immer alles, was ich denke.»

«Nun?» fuhr Alexander ohne Rührung fort. «Nun? Mut.»

«Ja, ich liebe sie», sagte Sherban kräftig, hastig, mit erhobenem, rotem Gesicht.

Alexander sah aus ruhigen Augen auf ihn; als er fühlte, wie nach einer Weile im Jungen schon die Scham über das Geständnis wuchs und ihn verwirrte, bemerkte er, zur Ablenkung, gutmütig und trocken: «Sie wird dieser Liebe wohl wert sein.»

89 «Nein –», stieß Sherban heftig hervor. Er ließ den Arm seines Erziehers fahren und stampfte wütend die Erde. Lachend fragte Alexander: «Nicht? Finden Sie nicht?»

Da brach auch fröhlich und sprudelnd das Lachen aus Sherbans rotem Mund; er umschlang den ältern Freund stürmisch und drängte und schob ihn vom Pfade ab ins Gebüsch. Eine Weile rangen sie keuchend, Brust an Brust, und Sherban stieß kurze Schreie aus und stöhnte: «Ach, Sie, Sie, immerfort spotten Sie –!»

Alexander hob den Jungen endlich auf freien Armen hoch in die Luft und setzte ihn fest auf den Boden nieder. «So, können Sie jetzt sprechen? Wollen Sie jetzt reden? Oder soll ich gehen?»

Nach einigen Schritten begann der Junge mit leiser, von innerer Erregung brüchiger und heiserer Stimme: «Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen werden. Sie sind so kühl, – nein, aber so beherrscht. 90 Ich weiß ja, daß man so sein soll. Männer sollen so sein. Ich will es auch werden, so wie Sie. Nicht jeder soll mich wie eine Zeitung lesen können. Ich will mir Mühe geben. Aber –.» Er zögerte, suchte nach Worten, griff sich an die Brust. «Hier drinnen, seit Ostern, brennt ein Feuer –.»

«So soll es sein, stark und sengend», sagte Alexander leise betont. Seine Stimme war nun dunkel und aller Spott ferngehalten.

«Aber muß es mir den Frieden nehmen?» knirschte Sherban. «Seither ist alle Ruhe zum Teufel. Bis heute wünschte ich nur eines: Sonja möchte herkommen, bei uns wohnen, unter einem Dache mit mir, in einer Luft mit mir; und nun, da sie anrückt, wärs mir leichter zu Mute, wenn sie dort geblieben wäre, wo ich sie nicht mit meinen Augen sehen kann.»

«Mein Junge», sagte Alexander nach einer Weile, «ist nicht alles schwer, was wir zum erstenmal anpacken oder 91 aufgehalst bekommen? Und nun gar das Lieben. Das muß man gleich auf den ersten Schlag hin recht tun, oder mindestens das erstemal recht tun. Versuche gibts da nicht. Das fühlen wir – und stutzen.»

Sherban lächelte. «Mir ist seit Ostern, als ob etwas, das ich nie gesehen, von dem ich noch nie gehört habe, irgendwo am Wege auf mich wartete; etwas, dem ich vielleicht nicht gewachsen bin und das ich nicht einmal vorher mit meinen Augen messen kann. Gerade wie beim Spiel mit Großmama, wo ich auch stets den kürzeren ziehen muß. Ich werde wohl auch hier geschlagen werden. Denn ich spüre, daß man viel, sehr viel Glück nötig hat. Und das läßt mich ja immer im Stich.»

Alexander unterbrach ihn nicht. Er suchte Worte. Und als er sprach, färbte Leidenschaft den ruhigen Klang seiner Stimme. «Nein, Junge, so ist es nicht. Zu einem Waffengang trittst du an, nicht zu einem Würfelspiel. Diesem Großen, 92 das unbegreiflich und übermächtig irgendwo auf dich wartet, mußt du gemessen und gesammelt entgegentreten. Nicht so oder anders fällt ein Würfel, sondern so und so greifst du an, stößt du zu, wehrst du dich. Gespannt wie ein tadelloses Schlägergeflecht, und das Handgelenk hart und doch biegsam. Ritterlich spielen, aber immer straff. Es geht nicht nur um Sonja. Es geht um deine erste Liebe, Junge, und sie ist vielleicht die einzige in deinem Leben, an die du dich später erinnern magst.»

Langsam schritten sie zum Hause hinan und durch die leere Halle in ihre Zimmer. Alexander bot dem Jungen die Hand, ehe sie sich trennten. Dieser ergriff sie stürmisch, dann, in plötzlicher Besinnung, sagte er ruhig: «Sie sollen sich in mir nicht täuschen.» Lächelnd trat Alexander in sein Zimmer und stieß die Fenster weit auf. –

Nach einer Viertelstunde ging er hinunter, im Abendanzug und vom Bad 93 erfrischt. Auf den letzten Treppenstufen blieb er stehen, lauschend und schnuppernd. Ueber einem der Sessel in der Halle lag ein weißer Mantel, durch die offenstehenden Zimmertüren klang von der Veranda her lautes Reden und Lachen; ein fremder Duft geisterte leis umher.

Absichtlich trat Alexander etwas lauter auf, als er durch die Zimmer schritt, und vermied es, auf den Teppichen zu gehen. Ehe er über die Schwelle auf die Veranda trat, räusperte er sich kurz und unnötigerweise.

«Ah, da ist Herr Alexander, Sherbans Erzieher», sagte die alte Fürstin, ohne von ihrer Handarbeit aufzusehen. «Du kennst ihn ja noch nicht, Sonja.»

Alexander trat zwei Schritte vor und bot dem Mädchen, das ihn musterte, die Hand. Es griff kräftig und mit einem entschlossenen Ruck hinein. Dabei öffnete es ein wenig die Lippen, ohne doch die 94 schimmernden Zahnreihen voneinander zu lösen.

Alexander ließ sich in einem Sessel nieder, ohne die einladende Handbewegung der Fürstin abzuwarten oder zu verdanken. Sein Blick ging unverzüglich und rasch über die helle, schlanke Gestalt, die ihm gegenüber im Korbstuhl lehnte.

Eine Weile lang sprach niemand, und als Alexander den Mund öffnete, um zu fragen, ob auf der Landstraße sehr viel Staub liege (er sei heute nicht ausgeritten), kam ihm Sonja eben zuvor und sagte:

«Du kannst dir denken, Großmama, daß man bei uns wieder von nichts anderem spricht als vom Skandal, den Jonel in Paris angerichtet haben soll. Ich glaube nicht daran. Aber seitdem Tante Katja bei uns Ferienaufenthalt genommen hat, ist es auf unserem Gute nicht mehr zum Aushalten. Du kennst sie ja –. Ich bin froh, auf ein paar Tage ihrem prophetischen Klatsch entflohen zu sein.»

95 Die Fürstin erwiderte nichts. In plötzlichem Entschluß blickte Sonja zu Alexander hin, auf sein Gesicht, dessen ruhige ebenmäßige Züge sie zu ärgern schienen; sie faltete leicht die Stirne zwischen den Augenbrauen.

Alexander spürte ihren Blick, aber er hielt still. Er zog nur ein ganz kleines die beiden Mundwinkel herab. Ein leises Geräusch drehte ihm plötzlich den Kopf. Unter der Türe, noch auf dem weichen Teppich des Zimmers, stand Sherban, unschlüssig vor der gar reglosen Stille, auf einen Anlaß zu seinem Auftreten wartend. Er trug eine Matrosenbluse und lange, dunkelblaue Hosen; seine Hände lagen auf dem Rücken, der Kopf war in lauschender Befangenheit leicht zur Seite geneigt.

Und wiederum, ohne das Gesicht zu erheben, sagte die Fürstin: «Da ist auch Sherban, und wir können zu Tische gehn.»

«Ach Sherban!» Sonja fuhr herum und vom Stuhl empor. Sie gaben sich die 96 Hände, Sherban errötete und verbeugte sich lächelnd mehrmals, das Mädchen aber drückte ihm die Finger zusammen, schüttelte sie heftig und mit jungenhafter Fröhlichkeit und bestellte ihm Grüße von Onkeln und Tanten, Vettern und Basen, Hunden und Pferden.

«Nun aber soll ein Leben losgehen, Sherban! Was meinst du? Sind eure Pferde alle wohl? Uebrigens, hast du neue Tennisbälle gekauft? Sie waren letztes Jahr so schlecht, erinnerst du dich? Aber damals warst du noch ein kleiner Junge, und wir schickten dich immer Nüsse holen, Andrei und ich, wenn wir dich los sein wollten. Und heute gehst du in langen Hosen! Ei sieh mal, meinetwegen doch wohl?»

Die Fürstin sah rasch und unbemerkt zu Alexander hinüber. Seine Augen blitzten ihr lachend entgegen.

«Sherban kleidet sich, wie er es für angemessen hält», erklärte die Fürstin, 97 wieder ihrer Handarbeit zugewandt. «Er hat genügend Geschmack und läßt sich nicht dareinreden. Und du bildest dir wohl nichts ein?»

«O nein, das brauchst du nicht», bekräftigte Sherban und trat rücklings ans Geländer. Sein Blick ging hilflos zur alten Fürstin.

«Ich habe gerade deinetwegen meine kürzesten Röcke mitgenommen, sieh her!» rief Sonja unbeirrt, reckte sich hochauf und hob die Arme in die Luft. Aus ihren Halbschuhen stiegen schmal und hochristig die Knöchel, und ihre biegsam schlanke Gestalt glich einer aufzüngelnden Flamme. «Siehst du: ich etwas jünger, du etwas älter. Und immer gute Kameraden.» Sie blinzelte ihm zu, faßte ihn unter dem Arm, wollte ihn zur Verandatreppe ziehen.

«Wohin denn schon, wohin?» fragte die Fürstin, erhob sich und legte die 98 Handarbeit in einen gestickten Beutel, der an der Rücklehne ihres Sessels hing.

«Ach ja, ich vergaß, wir sollen zu Tisch», lachte Sonja. «Ich wollte in den Stall laufen. Reitet ihr oft?»

«Beinahe jeden Tag. Alexander reitet jeden Tag», sagte Sherban eilig.

«Fein. Reiten Sie gern?» fragte sie Alexander. Und ohne auf seine Antwort zu warten: «Konnten Sie schon reiten, ehe Sie hier waren? Eigentlich sonderbar; ich dachte mir immer, bei Ihnen gibt es nur Berge und langsam stapfende Maultiere. Haben Sie einen guten Sitz im Sattel?»

Sie musterte ihn, der lächelnd vor ihr stand, vom Scheitel bis zur Sohle.

«Sie spielen auch Tennis; ich weiß es. Sherban hat mir viel von Ihnen vorgeschwärmt. Ich machte mir ein ganz anderes Bild von Ihnen. Sonderbar. Ich glaubte, Sie seien kleiner. Sie sind ja größer als ich. Sie spielen wohl gern 99 vorne am Netz? Mit hundert Finten, denke ich. Wir werden ja sehn –.»

Sie drehte sich eilig um und schritt vor ihm durch die Türe. Ein Strudel Wohlgeruch wirbelte hinter ihr her.

Alexander folgte ihr und sah auf die in langen Schritten federnde Gestalt, die sich kaum merklich in den Hüften wiegte. Er nagte an seiner Unterlippe. Aber lächelnd und ohne eine Spur von geheimem Aerger auf dem sonnenbraunen Gesicht setzte er sich ihr gegenüber an den runden, hellgedeckten Tisch.

100 III.

«Out!» schrie Sherban und riß seinen Schläger schräg nach hinten, um den Ball vorbeisausen zu lassen. Er richtete sich aus seiner vorgebeugten Stellung auf.

«Wie, out?» Sonjas Stimme schrillte vom andern Ende des weißen, flimmernden Platzes über das Netz. Sie hatte schon zwei Schritte getan, um Stand zu wechseln, und schnellte auf weichen Sohlen herum.

«Ja, deutlich: hier.» Sherban wies mit dem Schläger auf einen flachen Fleck im Sande hinter der weißgekalkten Linie.

«Ich habe ebenso deutlich bemerkt, daß der Ball gut war», trotzte Sonja. «Ich weiß ungefähr, wie meine Bälle sitzen.»

Der Junge zuckte mit den Schultern. «Also: vierzig fünfzehn.»

«Nein.» Sonja war ans Netz getreten und hatte beide Hände darauf gelegt. «Mein lieber Vetter, wenn du behauptest, daß mein Ball out war, – du mußt doch 101 wissen, was du behaupten darfst! Ich gebe dir noch einen Ball. Du stehst sowieso nicht gerade glänzend.»

«Laß nur», sagte Sherban. «Laß, geh rüber, auf die rechte Seite.»

Sonja ging in langsamen, aber bestimmten Schritten nach der linken Seite.

«Nein, der Ball war in, er war schon gut», schrie der Junge. «Hörst du, Sonja? So hör doch auch.»

«Vorhin sagtest du out, jetzt sagst du in –. Hier, noch einen Ball; ich will es.»

In kreisendem Schwung wirbelten Arm und Schläger empor; der Schwung riß ihre Gestalt auf die Spitzen der Füße empor; der Ball, vom dumpf tönenden Saitengeflecht entsandt, flitzte knapp übers Netz und fuhr vor Sherban flach und schräg ausbiegend vom Boden empor. Der Junge tat, als hätte er ihn nicht zu fassen vermocht.

«Das will ich nicht, Sherban, das ist ekelhaft», rief Sonja und stampfte mit 102 dem Fuß. «Entweder spielen wir richtig, oder ich lass es bleiben.» Und mit zurückgeworfenem Haupte ging sie in die andere Ecke hinüber, las sich im Schreiten mit dem Schläger einen Ball vom Boden auf und fing ihn griffsicher mit der linken Hand in der Luft ab.

Morgensonne überflutete schon den ganzen Platz. Der harte Sand und das weiße Netz flimmerten, die Metallknöpfe der beiden Pfosten leuchteten, halb im Schatten des großen Standschirms, halb im Lichte brannte Sonjas rote Jacke. Rings um das Drahtgitter herum hingen an den Bäumen saftig grüne Blätter reglos und müde in der Morgenluft.

Eine Weile lang hörte man keinen Laut als das dumpfe Klingen der Schläger, das knirschende Gleiten der weißen Schuhe auf dem trockenen Sande, hastig und eifrig bei Sherban, gemessen und sparsam sicher bei Sonja, und das leise Zählen nach jedem Spiel. Von Zeit zu Zeit traten beide 103 in einem sich begegnenden Bogen ans Netz, und der Junge bot ihr die Bälle, die er zusammengelesen, auf dem Schläger hinüber. Sie nahm drei davon in die linke Hand und ließ die andern liegen.

Als sie wieder ein Spiel vollendet hatten, sagte Sherban gleichgültig: «Ich denke, wir könnten vielleicht ein wenig durch den Park gehen, im Schatten herum. Es wird gar zu warm hier.»

Sie lächelte. «Zu warm? Hältst dus nicht mehr aus? Ich möchte noch spielen.»

«Also, dann spielen wir natürlich.» Voll Eifer bückte er sich nach den Bällen.

«Und dann – haben wir nicht deinem besorgten Schulmeister versprochen, ihn beim Tennis zu erwarten?» fragte sie und sah in die Luft.

«Alexander ist noch nicht zurückgekehrt», erwiderte Sherban halblaut und keuchend, aus seiner Arbeit heraus.

«Ist er denn nicht droben im Haus?» 104 fragte Sonja rasch und blickte nun auf den Jungen.

«Er ritt nach der Station, um die Post zu holen; so sagte er mir beim Frühstück», antwortete Sherban laut, beinahe gereizt. «Auf ihn kannst du noch lange warten. Wenn er einmal im Sattel sitzt.»

«Ich, auf ihn warten? Aber –» und ihr Lachen erstarrte zu klirrendem Trotz – «aber er versprach, uns beim Tennis zu suchen. Sein Wort wird er wohl halten?»

Sherban hob den Arm, und der Ball sauste. Kurz und sicher kam er zurück. Sonnenkringel flimmerten jagend auf ihm; die beiden Gestalten in den hellen Gewändern flogen hin und her, zurück und nach vorne, beugten sich zur Erde nieder und schnellten empor, reckten die Arme und zuckten in die Luft wie züngelnde Flammen über dem lichtgebadeten, glutversengten Platz.

Nun, mitten im Spiel, ließ Sonja ihren 105 Schläger sinken und trat in den Schatten unter den Schirm.

«Gehn wir in den Park», sagte sie ruhig und nahm ihre mattrote Jacke von der Bank. «Uebrigens, wenn es deinem Schulmeister beliebt, uns so lange warten zu lassen, weil er gerade Lust hat auszureiten –.»

Sherban hielt ihr die Jacke hin. Langsam schlüpfte sie in den einen, dann in den andern Aermel und senkte dabei ihren Nacken. Sherban schloß die Augen. Die Sonnenwärme flutete wie eine heiße Welle aus der roten Seide.

«Hilf mir doch, der Kragen ist ja nach innen umgeschlagen», sagte Sonja ungeduldig und griff mit beiden Händen über ihre Schultern. Sherban streifte ihr zitternd die Haarsträhnen auf dem kühlfeuchten Hals zur Seite und häkelte den Kragen herauf. Sie warf den Nacken befriedigt zurück.

106 Da schloß er, zagend, aber mit harten Jungenhänden, seine Finger ihr um Haare und Stirn und riß ihr Haupt an seine Brust. Lachend gab sie nach. Als sie aber, steil über sich, seine Augen groß und angstvoll sah, entwand sie sich eines Ruckes seinem Griff, fuhr herum und murrte: «Du bist langweilig, mein lieber junger Vetter.»

«Sonja», stöhnte er und hob die Hände vor die Brust.

Nun lächelte sie. «Am Osterfest haben wir uns das Wort gegeben, gute Freundschaft miteinander zu halten. Erinnerst du dich? Gilt das noch oder gilt das nicht mehr?»

«Doch, doch», gurgelte er hervor. Wie würgende Hand lag es um seine Kehle. Er trat von Sonja weg, stand herum, starrte über den flimmernden Platz, bis ihn die Augen schmerzten. Sonja setzte sich auf die Bank und beobachtete ihn scharf. Ihr weißer Schuh wippte auf und 107 ab. Sie wollte sprechen, da sagte er, trüb und tonlos: «Alexander ist zurückgekehrt. Ich höre ihn oben bei der Treppe.»

Sonja erhob sich von der Bank, lauschte, trat näher.

«Er reitet die Allee herunter, hörst du?» fuhr Sherban eifriger fort. «Er kommt hierher.»

«In den Park! Rasch», flüsterte Sonja und packte ihn am Arm.

Sie glitten durch die Gitterpforte, schlichen im Schatten der Bäume den schmalen Pfad hinunter und drangen durch das buschige Laubwerk in die kühle Dunkelheit des Waldes.

«Jetzt mag er uns suchen», lachte Sonja hell heraus. Sherban verzog, kaum merklich, den Mund. Sie rüttelte ihn am Arm. «Warum deine Fratzen? Macht es dir keinen Spaß, ihm einen Streich zu spielen?»

«Doch, natürlich», stimmte er bei. 108 «Sonst, wenn wir allein sind, ergibt sich ja nie eine Gelegenheit dazu.»

«Ich fände sie, wär ich an deiner Stelle! Glaubst du, ich habe meine Kindermädchen –.»

Sherban warf heftig ein: «Er – das ist ganz etwas anderes.» Dann leiser: «Er ist doch mehr mein Freund als mein Lehrer.»

Sie schwieg überrascht. Sie reckte sich und hob den Kopf. Sie sagte: «Er führt sich auf, als zähle er sich mit zur Familie.»

«Wir mögen ihn alle gut leiden», erwiderte Sherban, als wolle er ihn verteidigen. Er suchte nach Worten. Er zuckte die Achseln: «Wozu das Gerede über ihn? Du kennst ihn ja nicht.»

«Er mag jetzt nur wieder nach Hause reiten, wenn er den leeren Tennisplatz besichtigt. Er mag sich zu seinen Büchern setzen –»

«Das wird er sicher nicht tun», spottete Sherban.

109 «Wird er nicht tun? So mag er es bleiben lassen. Ueberhaupt. Was gehts mich an? Meinetwegen –»

«Er wird baden gehn.»

Darauf schwieg sie. Nach einer Weile, als Sherban daran dachte, wie er sie um den Kopf gefaßt und an sich gezerrt hatte, sagte sie kurz und kräftig: «Das alles gefällt mir an ihm.»

Sherban erzuckte leicht. Er hob einen Stein vom Boden und schleuderte ihn hoch in den Wipfel eines Baums nach einer Krähe, die träg und schweren Fluges hinwegsank. Prüfend folgten Sonjas Augen dem Wurf. Er bückte sich nach neuen Steinen und begann sie nach allen möglichen Zielen zu entsenden. Auch sie tat nun mit, und jedesmal, wenn sie ihren schmalen Körper zurückbog, fest auf beiden Füßen stehend, und mit straffem Arm den Kiesel warf, nicht über den Kopf hinaus, sondern flach an der Seite vorbei, hatte er Lust, sie aufzuheben und 110 wegzutragen. Wandte sie sich ihm zu, lachend, jubelnd: «Getroffen!», senkte er die Augen und bückte sich nach einem Stein.

Plötzlich jagte sie auf und durch die Büsche davon, und er setzte sich gemächlich hinter ihr her in Trab. Ihre hellen Farben verschluckte das matte Grün des Unterholzes. In großen Bogen lockte sie ihn kreuz und quer durch die verwachsene Wildnis und stand mit einemmale still, am Rand einer schmalen Lichtung, die sachte niederglitt zum See.

«Jetzt legen wir uns in die Sonne», sagte sie und kauerte sich halb hinter einem Haselbusch ins hohe Gras nieder. Sie stützte den linken Arm auf den Boden, drehte mit der rechten Hand einen Halm zwischen ihren Zähnen und blickte in Sherbans erhitztes Gesicht hinauf. «Also – magst du nicht?» Still hockte er sich hinter ihr nieder, die langen Beine breitwinklig von sich weg gestreckt. «Hier, zeig her», befahl sie, «leg deine Beine 111 übers Kreuz, sei meinem Kopf das Kissen!»

Er tat willig, wie sie ihn hieß, und sie schob ihren Haarschopf zwischen seine Knie, rückte mit ihrem Körper noch etwas hinauf und herab, bis sie wohl gebettet lag, und schloß dann die Lider. Sherban stemmte die Arme halb hinter sich auf den Boden. Sein Kreuz schmerzte, die Hände begannen nach einer Weile zu zucken. Wütend grub er die Finger ins Gras, wühlte er sie in die warme, dürre Erde. Sein Kopf sank aus gezerrtem Nacken vornüber. Mittagssonne sengte ihm den Scheitel. Im Schatten lag ihr Gesicht.

Sein Blick, starr und voll Haß, schreckte plötzlich zusammen. Er hatte bemerkt, daß ihre Wimpern leicht flatterten und ihre Lider blinzelnd ein wenig gehoben waren. Die Augen sah er nicht, ihr Spähen fühlte er. Und langsam hob auch er den Kopf und schaute auf den See hinaus.

112 Glatt und flimmernd lag er, unbewegt von Ufer zu Ufer, aber weit drüben lief ein Riß in seinen blitzenden Spiegel, eine Furche warf ruhige Wellen nach links und rechts, und in der Spitze der Furche, die langsam weiter vorstieß, hob und senkte sich ein Kopf, schimmerte dann und wann ein Arm. In weitem Bogen spannte sich die Furche ans jenseitige Ufer zurück. Ein Mann entstieg dem Wasser. Nun stand er auf der Wiese, bis über die Knöchel im hohen Gras. Nun schritt er über die Lichtung in den Schatten. Ein Pferd hob den Kopf leise schnaubend aus dem Gras empor und drehte den Hals dem Heranschreitenden zu. Nun bückte er sich, hob einen schleifenden Zügel auf und zwängte dem Roß die Stange ins Gebiß. Und nun sprang er dem Tier auf den blanken Rücken. Wie ein Schatten flogen Roß und Reiter über die sonnige Wiese, braun beide und vom hellen Licht übergossen in kupfermattem Glanz, und glitten zwischen 113 den hohen, laublosen Stämmen ins Dunkel. Dumpf klangen Hufschläge vom moosigen Grund herüber, Zweige knackten, dann war es wieder still. Glatt und flimmernd lag der See, heiß und dürr die Wiese und träg der schmale Schatten an ihrem Rande.

Sonja senkte langsam ihre Wimpern. Sherban fühlte ihr Haupt zwischen seinen Knien leise zittern. Ueber die Wipfel im Westen schob sich eine bleiweiße, geballte Wolke in den stillen Mittag hinauf.

114 IV.

Die flirrende Glut des Nachmittags brannte durch die halboffene Tür ins verdunkelte Zimmer herein. Durch die Ritzen der Fensterladen stach sie, schmal und scharf wie ein Dolch, in die blassen Farben des Teppichs.

«Nun, reiten wir eigentlich oder reiten wir nicht?» fragte Sonja und stellte hart das Glas mit eisgekühltem Wasser, aus dem sie getrunken, auf den Tisch.

Sherban erhob sich, träge und noch abwartend, von seinem Stuhl: «Wenn du meinst –, ich kann ja die Pferde satteln lassen.» Alexander rührte sich nicht; er starrte durch die Tür in die zitternde Nachmittagsluft hinaus.

«Aber, liebes Kind, ich fürchte, es zieht ein Gewitter herauf», warnte die alte Fürstin.

«Wie ihr glaubt –.» Sonja zuckte mißmutig die Schultern. Ihre Lippen schlossen sich eng, ihre Augen gingen zu 115 Alexander. Flehen und kindische Wut brannten darin. Plötzlich sagte Alexander lächelnd und laut:

«Eigentlich gibt es ja kaum etwas Schöneres, als ein Gewitter über die Ebene heraufziehen zu sehen. Wir könnten nach den Weinbergen hinüber reiten; der Weg ist schattig und nicht allzu weit.»

«Ja, reiten wir doch!» jauchzte Sonja. «Geh, sattle die Pferde, Sherban; willst du?»

Langsam ging der Junge durch das dunkle Zimmer und zur Tür hinaus. Die alte Fürstin erhob sich nach einer Weile plötzlich und schritt ihm rasch nach.

Stille im Gemach, flirrende Glut auf der Schwelle. Von fernher der Knall einer zugeworfenen Türe.

«Es ist ja Unsinn, was Sie uns da abtrotzen», stieß Alexander aus trockenem Hals hervor.

«Finden Sie?» fragte Sonja höflich und trat ins Licht an die Türe. Sie trug 116 ein knappes, blaues Reitkleid und hellbraune Stiefel. Sie stieß mit dem Fuß den vorgelegten Fensterladen zurück, lehnte sich an den Türrahmen und blinzelte über den grellweißen Kiesplatz vor der Veranda.

Alexander beobachtete sie, fühlte, daß sie sprechen wollte, hörte schon den Unterton ihres Satzes, verstand noch nicht seinen Sinn. Gespannt blickte er ihr aufs Gesicht, das sie ihm nicht zuwandte, als sie endlich gleichmütig sagte:

«Ich habe gestern abend Ihre Reitkunst in Zweifel gezogen. Sie haben mich gründlich belehrt. Verzeihen Sie meinen Zweifel.»

Alexander lächelte unsicher. «Aber haben Sie denn die Prüfung schon abgenommen? Was hat Ihre Zweifel umzustürzen vermocht? Sie wissen ja nicht –.»

«Doch, ja», sagte sie leise. Und nach einer Weile, in der glühender als vorher das Licht um ihre schlanke Gestalt zu zittern schien, wandte sie langsam, ruhig 117 das Haupt nach ihm hin, sah ihn lächelnd an und sagte leise: «Heute morgen. Sie badeten. Dann ritten Sie durch den Wald.»

Alexander schloß die Augen, öffnete sie, schloß sie wieder. Rote Kreise wirbelten durch die gelbe Hitze. Dann straffte sein Körper sich und war gerüstet.

«Noch bleibt das Tennis. Da hat Ihr Spott noch nicht verspielt.»

Während er sprach, fühlte er schon, daß der Satz seinem Willen entglitt.

Sie zog die Lippen verächtlich herab. «Da wich ich Ihnen ja aus.»

Alexander fragte rasch: «Sie wünschten also, nicht von mir besiegt zu werden?»

Sonja trat in den Schatten des Zimmers zurück und stand vor ihm, der sie anstarrte. «Wünschen Sie, daß ich das auch zugebe?»

Er erwiderte hart: «Dann weiß ich, daß Sie es jetzt schon bereuen, die Niederlage versäumt zu haben.»

Sie schwieg und senkte um ein weniges ihren Scheitel. Er ging an ihr vorbei, auf 118 die Veranda hinaus. Alles Licht war kühlender als der dumpfdunkle Raum, in dem sie stand.

Er schritt auf halbem Wege nach den Ställen hinüber und wartete auf Sherban, der mit den drei gesattelten Pferden kam. Die Tiere waren unruhig und folgten widerwillig ihrem Lenker auf den hellen Platz vor dem Hause. Alexander trat vor Sherban hin, faßte mit seiner Rechten nach der Hand, welche die drei Zügel hielt, und sagte hastig: «Laß die Pferde in den Park laufen, gib sie frei, sag, sie hätten sich dir vom Halfter gerissen. Es ist nicht gut, daß wir reiten.»

Mit einem scheuen Blick streifte ihn Sherban, dann schritt er an ihm vorbei und führte mit trotziger Faust die störrischen Tiere weiter. Vom hellen Hause her erscholl laut und ungeduldig Sonjas Ruf: «Endlich, Sherban!» und ihre Reitpeitsche klatschte gegen das Gemäuer.

Sie stiegen alle auf und ritten unter 119 den hohen Bäumen davon, durchs Tor hinaus. Dicker Staub wirbelte auf der breiten Dorfstraße unter den Hufen der Pferde auf und legte sich wolkig seitwärts auf das graue Grasbord und in die Felder hinein. Aus hohen, spitzblättrigen Maisstauden ragten die schiefen Strohdächer; Hunde kläfften faul zwischen nackten, braunen Kindern herum.

Sie ritten in leichtem Trab dahin, alle drei nebeneinander. Die Bauern wichen ihnen aus und trieben ihre Ochsenkarren von der Straße aufs Feld, hastig und mit lautem Zuruf, wo sie ihnen begegneten. Sonja neigte ernsthaft und feierlich ihren Kopf, wenn sie gegrüßt wurde; Sherban erhob nicht die Augen vom staubigen, ausgedorrten Boden.

Am Holzpfahl vor der Dorfschenke standen zwei Ochsen im Joch angebunden, zwei Bauern hockten unter dem Vordach im schmalen Schatten. Sherban blieb zurück, um die andern vorbeireiten zu 120 lassen. Als Sonja ihr Pferd mit einem leichten Hieb antrieb, entglitt die Peitsche ihrer Hand und fiel in den Staub. Alexander zügelte sein Tier, aber schon war Sherban aus dem Sattel gesprungen und beugte sich nach der Gerte. Sein Pferd erschreckte sich und tänzelte einige Schritte zurück. Er reichte Sonja die Peitsche und wandte sich dann, um sein Tier beim Zügel zu packen. Steil stieg es empor und tat einen Sprung zur Seite. Hart klangen die Hufe auf dem rissigen Boden, dichter Staub wölkte auf, aus dem Sherban nach einer kleinen Weile ruhig herausritt, fest im Sattel und Bügel; das Pferd aber warf den Kopf zurück.

«Konntest du nicht sitzenbleiben und warten, bis die Bauernlümmel aufstanden?» rief ihm Sonja zu. Sie war rot geworden und trieb nun ihr Pferd an. Alexander blieb ihr zur Rechten, aber Sherban trabte von nun an im Staube hinterher.

121 Sie bogen von der großen Straße ab, über weite Wiesen nach dem Fluss hinunter, der in schmalen, halbvertrockneten Rinnsalen durch das breite, steinige Bett sickerte. Karrengeleise wiesen die Furt. Dumpfe Hitze lag über den bröckelnden Uferhalden und den stachligen Gestrüppen; tief sanken die Pferde im warmen Sande ein. Mitten im Wasser hielten sie an; gierig bogen die Tiere ihre Hälse, um zu trinken.

Sonja strich mit den Fingern durch die Mähne ihres Pferdes und sagte plötzlich, ohne sich umzuwenden, zu Sherban: «Das mit der Reitpeitsche war recht ungeschickt von mir. Du hast dich, wie immer, galant und ritterlich erwiesen, mein lieber Vetter.» Sherban zuckte die Achseln und schwieg. Mit einem Ruck riß Sonja die Zügel empor und trieb ihr Tier aus der Flut hinaus, jenseits über Geröll und Sand die Böschung hinan. Hoch über dem Flusse standen Roß und Reiterin, dunkel vor einer 122 grauweißen, unbeweglich geballten Wolke. Alexander und Sherban ritten ihr nach.

Im Trab zogen sie weiter über wellige Wiesen, dann unter Obstbäumen hindurch, und alle beugten tief ihre Leiber auf die Nacken der Pferde hinunter, um durch die fruchtbeschwerten Zweige zu preschen, deren Blätter ihnen Gesicht und Schultern peitschten.

Als sie langsamer durch einen Hohlweg nach den Weinbergen hinaufritten, lenkte Sherban sein Pferd von ihnen weg und sagte: «Ich habe einen Auftrag für den Pächter; es wird nicht lange dauern. Wenn ihr einverstanden seid, können wir uns unten an der Furt wieder treffen. Ich reite von seinem Hause aus geraden Wegs hinunter, ohne euch erst wieder hier abzuholen.»

Alexander blickte auf Sonja. Diese antwortete rasch: «Einverstanden.» Sherban verschwand zwischen den hohen Rebstöcken.

123 Von der Kuppe des Weinbergs, auf der sie stille hielten, gingen ihre Blicke über die weite, aufgerollte Ebene, darinnen die Flüsse aufschimmerten und die Felder gelb zwischen lichten Gehölzen lagen, und manchmal verloren sich die Bänder der Straßen in dunkle Parke, manchmal leuchtete weiß eine Hauswand, blitzte stechend ein Fenster auf, und in der Ferne glitt alles blau und dunstig in die flache Wölbung des Meers. Riesige Schatten wie von langsam rudernden Vögeln schweiften träge über die rotgoldenen Aecker und graugrünen Fluren. Durch bleiweißes Gewölk tropften glühende Sonnenstrahlen. Strichig zog der Gewitterregen heran.

«Sie lieben dieses Land nicht», sagte Sonja.

Alexander schwieg.

«Sie sind fremd in ihm und hassen es, weil Sie es nicht verstehen», beharrte sie.

«Nein», erwiderte er zögernd. «Aber 124 ich fühle, daß ich es bald verlassen muß, wenn ich gesund bleiben will.»

Sie lachte. «Das ist Einbildung. Sie haben bloß nicht den Mut, in dieser Luft und Weite zu gedeihen. Sie sind feige.»

«Mag sein», gab er kurz zurück.

Durch die Stille klangen, lang hingezogen, die Hornstöße der Wächter von einem Weinberg zum andern. Der dumpfe Ruf erstickte in der heißen Luft, die über den buschigen Hügeln brütete. Und jede Stille zwischen den Klängen dehnte sich schwerer, drückender.

«Reiten wir über den Kamm», sagte Sonja und trieb ihr Pferd an. «Durch jenes Tälchen führt ein Pfad in die Felder hinab.»

Alexander folgte ihr. Sie saß lässig im Sattel. Ihr Kopf, mit bloßen Haaren, war in den Nacken zurückgebogen. Ihre Gemächlichkeit reizte Alexander vollends, und er sagte grimmig, indem er böse nach ihrem sonneüberfluteten und 125 windzerzausten Haarschopf sah: «Ich verstehe doch nicht, warum Sie Sherban so behandeln. Jeder Ihrer Sätze ist eine unverdiente Ohrfeige für ihn. Sie wissen vielleicht gar nicht, wie weh Sie ihm tun.»

Gleichmütig, fast belustigt kam ihre Antwort: «Haben Sie Ihre Unterrichtsstunde heute noch nicht gegeben?»

«Nein», lachte er bitter. «Sherban hat frei gekriegt, um Sie zu unterhalten und Ihres Besuches froh zu werden.»

«Und das Versäumte holen Sie bei mir nach?»

«Gar nicht», sagte Alexander, und seine Stimme klang nun weicher. «Aber sehen Sie es denn nicht, wie Sie ihn quälen? Sie sind kein Kind mehr, und er liebt Sie.»

Sonja drehte sich halb auf dem Sattel herum. «Ihre Belehrung ist köstlich. Glauben Sie wirklich, ich gehe ahnungslos durch alle Anschwärmungen hindurch, die mir links und rechts entgegenrauchen?»

Er zuckte stumm die Schultern.

126 Sie warf den Kopf herum und ritt rascher. «Gibt ihm seine Liebe Rechte auf mich? Darf er von mir verlangen, weil er mich liebt?» Alexander nickte. «Oh, welche Weisheit!» fuhr sie belustigt fort. «Und wenn nun ich auf einen Dritten Ansprüche erhöbe, weil ich ihn liebe, und dieser wieder auf eine Vierte, wo gerieten wir da hin? Lieben Sie, indem Sie Schuldscheine vorweisen? Eine sichere Wirtschaft. Ich verstehe nichts davon. Ich will nichts davon verstehen.»

Sie ritten schweigend weiter, durch den buschumsäumten Hohlweg hinunter und in die Ebene hinaus. Der Schatten einer Wolke überholte sie und dämpfte die Farben plötzlich ab.

«Es braut sich etwas über unsern Köpfen zusammen», sagte Alexander hastig. Kaum verstummt, ärgerte ihn der Satz. Er verzog die Lippen. Sonja schüttelte ihren Kopf. Laut herauslachend sahen sich beide an.

127 «Auch davor fürchten Sie sich? Wirklich? Das Land, die Luft, die Weite, die Menschen – und ein Gewitter im Hochsommer? Da hielt ich Sie eben noch für einen Kerl, mit dem gut durch die Welt zu reiten wäre, der zur Seite bliebe, wenn mein Pferd durchgeht, und mir in die Zügel fahren könnte, wo ich selber schon beinahe das Gefühl um links und rechts verloren habe, durch das ewige Hinundherzerren aller Kindermädchen und Erzieherinnen und Anstandsdamen und Tanten, mit denen meine Jugend gesegnet war. Das glaubte ich von Ihnen, aber –: es braut sich etwas über unsern Köpfen zusammen!» Ihr Lachen war zornig, sie schluckte Tränen. «Nein, das Gewitter bricht nicht los, zu Donner und Blitz langt es nicht, ein elender Landregen ist im Anzug, und vor dem graut auch mir. Da fühle ich mich wohler zu Hause. Heim!»

Ihre Gerte strich über die Weichen des Tiers, das in langem Sprunge vorschnellte 128 und dann, Erdklumpen hinter sich aufwerfend, über die flache Wiese sauste. Staub und Gras flog in Alexanders Gesicht; auch er gab seinem Pferd freien Zügel.

Sie hielten beide auf die Lücke im Ufergesträuch zu, wo der breite Karrenweg über die Böschung zur Furt niederging. Von den Weinbergen her, im Galopp auch er, sprengte Sherban über die Ebene; Alexander sah flüchtig seitwärts und fern den schlanken Körper des Knaben, der sich über den Nacken des Tieres beugte, – nun verschwand er hinter einer Bodenwelle.

Nahe aufeinander liefen die beiden Pferde. Ihr Keuchen und das dumpf dröhnende Schlagen der Hufe hetzte sich jagend mit dem Knarren der Sättel und dem Klirren des Gestänges.

«Ich halte Schritt», rief Alexander und griff in ihre Zügel.

«Lassen Sie mein Pferd los,» drohte Sonja. Ihre Hand schlug nach seiner Faust. Die Tiere fielen in Trab.

129 «Ich zeige Ihnen, daß ich es wirklich zu zügeln vermag», lachte er.

«Ach, zeigen, zeigen!» zischte sie. «Zeigen, daß Sie dieses können und jenes vermögen und daß man Ihnen ja nicht überlegen sei! Elender Schulmeisterstolz. Finden Sie Geschmack daran? Mir ist er zuwider! Lassen Sie los; jetzt ists zu spät. Ihr Spiel ist verloren.»

«Spiel?» jauchzte er, griff nach ihrem flatternden Haarschopf und riß ihren Kopf auf seine Schulter. Sie ließ es lachend geschehen.

In gleichem Ruck, die Hälse zur Seite geworfen, brachen ihre Pferde plötzlich aus.

«Sherban!» schrie Sonja. Ihr Arm wies übers Flachfeld.

«Sein Pferd ist ihm durchgegangen», stöhnte Alexander durch die verbissenen Zähne. Er jagte das Ufer hinauf, an struppigen Gebüschen vorüber, hinter denen die Geröllhalde tief zum Flußbett niederhing.

130 Zehn Pferdelängen vor ihm durchbrach das rasende Tier knackend das Buschwerk, Stein und Staub wirbelte hochauf, und herrenlos durchstürmte Sherbans Roß den aufspritzenden Fluß und hastete drüben über das Feld, vor dunkeln, tiefhängenden Wolken.

Alexander sprang aus dem Sattel, warf die Zügel Sonja zu und kletterte die Halde hinunter.

Der Knabe lag mit weitgereckten Armen mitten in den Steinen. Schwere Regentropfen klatschten herab und wischten das Blut, das langsam aus der Schläfe sickerte, von seiner braunen Stirne weg. Seine großen Augen, ganz offen, starrten auf Sonja, die oben im Gebüsch, zwischen den beiden unruhigen Pferden, mit vorgebeugtem Leibe stand, und zuckten nicht mehr, als Alexander sich bei ihm niederwarf und ihn laut beim Namen anrief.


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