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Als Frau Annemarie ihrem Manne den Besuch ankündigte, sah er sie erstaunt an und sagte dann: »So. – Seit Jahren, ja schon seitdem du hier lebst, habe ich dir je und je vorgeschlagen, du möchtest doch mal jemand einladen, eine Freundin vielleicht, irgend einen Menschen, der dir nahe steht. Du hast es immer hinausgeschoben, immer lag dir etwas im Wege. Jahr für Jahr sprach ich umsonst. Erinnerst du dich?«
Sie schwieg. Seine Worte verklangen vorwurfsvoll in der Stille. »In den letzten Jahren ließ ich es dann bleiben; man mag nicht immer gute Räte geben, wenn sie in den Wind geschlagen werden. Nun ja, mich soll es freuen, wenn du dich ein wenig erheiterst. Nötig hast du's schon, Liebste.« Er neigte sich leicht über ihren Stuhl hinab. Dann schritt er wieder durchs Zimmer.
105 »Wen hast du dir hergebeten? Ich hörte den Namen nicht recht.«
Frau Annemarie wiederholte ihn und fügte hinzu: »Du weißt doch, Doris Körte, aus Danzig. Wir standen sehr gut zusammen. An unserer Hochzeit sah ich sie zuletzt.«
Er blickte nachsinnend an ihr vorbei. »Doris Körte –.« Und dann, sich plötzlich erinnernd: »Doris Körte, sie lebt in Berlin? Malt?«
Frau Annemarie hob erstaunt den Kopf. »Ja,« sagte sie und wollte etwas fragen. Er aber lachte und spitzte den Mund. »Oho!«
»Wie?« Ihr Ton klang gespannt, spröde.
»Ein Komplott?«, spöttelte er.
Sie schwieg eine Weile. Es wurde ihr klar: Klaus hatte auch ihm einmal von Doris erzählt, es konnte nicht anders sein. Aber sie wunderte sich doch und glaubte es kaum. Und es war ihr peinlich, fast, als hätte Christian ihre eigenen Gedanken hervorgezerrt. Aber eigentlich ging es sie ja nichts an, ob Klaus auch zu ihm von Doris gesprochen hatte.
»Nein,« sagte sie ruhig. »Kein Komplott. Ich lud Doris ein, Klaus hatte keine Ahnung davon.«
Er hob den Finger und machte ein ungläubiges Gesicht. »Bei euch Frauen ist man nie sicher!«
106 Sie sah ihn ruhig an. Sie zog die Mundwinkel nicht herunter, so wenig wie sie jemals, wenn sie vor Schmerzen sich kaum aufrecht halten konnte, etwas davon in ihren Zügen merken ließ; es zog sich ihr in solchen Augenblicken nur die Kehle ein wenig zusammen, wie von einer leichten Trockenheit. Und sie sagte, leise lächelnd:
»Ihr Männer seid ja so klug, – was kann man vor euch verbergen?«
»Na ja!«, lachte er heraus und sah sie stolz an. »Da haben wirs also. – Liebste, du verwöhnst den Jungen, den Klaus. Schon früher, als er jeweilen von der Schule herauskam. Aber jetzt erst recht. Ich hätte nie geglaubt, daß er hier so lange aushalten würde. Ich weiß auch nicht warum. Was er hier nur hat? – Ich sehe ihn ja selten genug, höchstens bei Tisch!«
»Ich sehe ihn nicht viel öfter,« sagte sie ruhig.
Er schüttelte den Kopf. »Seltsam. Ich sage ihm nichts. Und seine Studien, – die gehen mich nichts an. Meinetwegen mag er jahrelang hier bleiben. – Also, wann kommt sie, deine Freundin?«
»Morgen.«
»Schön. Ich freue mich wirklich.« Und er ging in sein Zimmer.
107 Frau Annemarie blieb noch eine Weile in ihrem Stuhl am Fenster sitzen. Sie kam wieder auf den Gedanken zurück, was Klaus wohl ihrem Mann erzählt habe, und ihre Verwunderung wich nicht. Und flüchtig, wie der Schatten einer schnell jagenden Wolke, den man kaum über die Wiesen gleiten sieht, fuhr es ihr durch den Sinn: absagen? Aber sie verwarf den Gedanken wieder. Und alles blieb ihr unklar, voll Widerspruch und dunkler Verworrenheit. Sie zog leise die Hände zurück. –
An diesem Nachmittag, als Christian das Haus verlassen hatte und über den Hof nach den Stallungen ging, schritt sie zu ihrem Flügel und legte die Hand aufs schwarzglänzende Holz. Aber sie öffnete ihn nicht, sondern blieb eine Weile sinnend davor stehen. Dann ging sie langsam zurück. Sie spielte nicht.
Klaus saß oben in seiner Giebelstube, die Arme lässig um die Kniee geschlungen, und lauschte in die Stille. Er hatte Christian aus dem Flur treten hören, die Türe war schwer ins Schloß gefallen, sein Schritt auf dem Schnee gedämpft verhallt.
Nun wurde er unruhig, sah nach der Uhr, trat ans Fenster und blickte hinaus. Schnee lag auf 108 den Aesten, schimmernd auf den weiten Feldern. Sein Licht stemmte sich leise, schmerzlich der Dämmerung entgegen, die unsicher umging und nicht wußte, wo sie auf die weglose Ebene heraustreten sollte; sie irrte spähend am dunkeln Waldrand hin und her und macht bald da, bald dort, an den Birken nun und jetzt am Dornenhag ein paar rasche Schritte ins helle Feld hinaus und trat frierend wieder unter die schützenden Bäume zurück. Unterdessen glitten vom Haff her schwankende Schatten auf den Strand und winkten nach dem Wald hinüber. Aber noch lange lagen die Felder blank schimmernd zwischen dem grauen Wasser und den dämmerdunkeln Tannen.
Da drehte sich Klaus heftig um, ging durchs Zimmer hinaus auf den Flur und stieg die Wendeltreppe hinab.
»Warum spielst du heute nicht?« Er blieb vor Frau Annemarie stehen, die Brauen leicht zusammengezogen.
Sie sah zu ihm auf, fragend, fast lächelnd über seine ungebärdige Bewegung.
Er fuhr leiser, bittender fort: »Du weißt ja, nur noch zwei Abende. Später spielst du doch nie mehr, wenn Doris da ist.«
109 Sie senkte den Kopf und zog langsam einen Faden roher Seide durch die Finger. »Aber Doris wird spielen,« sagte sie.
Er kehrte sich um und ging zur Türe hinaus. Frau Annemarie sah ihm nach, sie blickte auf das dunkle Holz, bis seine Schritte auf den Treppenstufen vor dem Haus klangen und es dann wieder stille war.
Christian von Dohm wunderte sich, als Klaus nicht zum Abendessen erschien.
»Ich kann es mir eigentlich gar nicht sagen, woher er dies hat. Es ist doch eine Schwäche, sich so schlampig gehen zu lassen. Wir Dohms –, das war früher anders. Wir packten zu, wo es uns gefiel. Dieses unentschlossene, schmachtende Gebahren –, wozu sich schämen, wenn man den Teufel in sich hat? Das ist doch nichts für uns! Wie Liebste?«
Sie sah ihn ruhig an.
Er sagte: »Ich meinte nur so. Nimm es mir nicht übel. Aber man kann doch auftreten, meine ich. – Ich liebe die Umwege nicht.« Er sagte es mit der ganzen Ueberzeugung in seiner männlichen, lauten Stimme und sah sie bekräftigend an. Als sie nichts erwiderte, zuckte er die Achseln und aß still weiter.
110 Gegen Mitternacht trat Klaus mit dem alten Druske und Timm, dem jungen Kutscher, aus dem Dorfkrug. Sie stampften durch den Schnee nach den Hütten, die mit dunkeln Dächern in den Gärten lagen.
»In einem alten Briefe, was mir der gnädige Herr selig mal vorgelesen hat, steht es aufgeschrieben, daß wir immer auf Kampken gesessen haben, seit die Dohms drunten im Wasserschloß hausen,« versicherte der alte Druske und schwang die Hände. »Wir sind nicht so wie die andern, wie ihr, Timm; hörst du?«
Er blieb stehen und faßte den Kutscher an den Schultern. »Ihr seid hergezogen, von dort und von anderswoher, aber wir sind immer dagewesen, wie die Herrschaft, weiß Gott wie lange.« Seine Zunge stolperte zwischenhinein auf eigenen Wegen. Klaus zog ihn am Arm auf die Straße zurück; sie waren im Schnee vom Weg aufs Feld geraten.
»Immer waren wir hier,« rief er laut.
Klaus nickte und zog ihn weiter. Mitten im Dorf blieb der Alte plötzlich wieder stehen, starrte die Straße hinunter und reckte den Arm. Klaus und Timm blickten über die Zäune und den Schnee nach den Parkbäumen.
111 »Habt ihr sie gesehen?«, flüsterte der Alte.
»Komm und laß das Geschwätz,« drängte Timm. »Mir frieren die Füße im Schnee fest. Was kiekst du so stur?«
»Habt ihr sie denn nicht gesehen?«, wiederholte er und ließ den zitternden Arm langsam sinken. »Da war sie wieder, die alte Karosse. Gerumpelt hat sie, und sind doch alle Löcher im Weg zugeschneit. Junger Herr, was soll auch werden?«
Er schüttelte den Kopf mit der hohen Pelzkappe, unter der die weißen Strähnen hervorhingen.
Klaus tat ein paar Schritte und kam dann zu ihm zurück, um ihn weiter zu ziehen. Der Alte murmelte vor sich her:
»Nach Taktau ist er gefahren und hat sich die schöne Frau geholt, Nacht für Nacht. Es war eine Sünde vor Gott und den Menschen und nicht wohl getan«. Klaus begann zu lachen. Der Alte sah ihn von der Seite an und brummte, dann sagte er laut: »Man soll da nicht lachen. Es büßt sich alles.«
»War sie denn verheiratet, die schöne Frau, oder muß alle Liebe gebüßt werden?«, fragte Klaus und lachte weiter in die kalte Nacht hinaus.
»Sie war verheiratet. Er kümmerte sich wenig darum.«
112 »Das gefällt mir!«, sagte Klaus laut. Timm lachte.
»Nein, nein,« flüsterte der Alte und hob die Hände. Er stand groß zwischen den niederen Hütten im Schnee und streckte die Arme abwehrend vor sich her. Dann wandte er sich und schwankte zu seinem Gartenzaun, stieß die Pforte auf und schloß sie sorgsam hinter sich zu. Nach einer Weile war er in der dunklen Tür verschwunden.
»Gute Nacht, junger Herr,« rief Timm und brachte die Mütze vom Kopf. »Und für den Grog auch schönen Dank.«
Klaus ging die Allee hinunter, sah rasch an der Hausmauer hinauf, – ein Fenster war schwach erleuchtet –, dann schlug er an den Steinstufen den Schnee von den Schuhen, hielt plötzlich inne, als er das laute Klappern in der Stille hörte, und versuchte, leise die Wendeltreppe empor zu steigen. Oben warf er sich in den Kleidern aufs Bett und grub den Kopf in die kalten Kissen.
Der Schnee schimmerte durchs Fenster herein, die Schatten lagen geduckt wie große Tiere an den Wänden. –
Am nächsten Tage, nach dem Mittagessen, trat er vor Frau Annemarie. Sie hatte ihn während der 113 Mahlzeit leise beobachtet, aber nicht vom Besuch gesprochen, der mit dem Abendzuge erwartet wurde.
»Das war eine Kinderei, gestern. Verzeih. Heute aber wirst du spielen, ja?«
Er sagte es leise, und es war nicht drängend und nicht bittend.
Frau Annemarie antwortete nach einer kleinen Weile: »Ja.«
Er warf rasch den Kopf zurück, hob die Hände in zuckender Freude und blickte Frau Annemarie jäh an. Sie sah zum Fenster hinaus, aber nichts entging ihr. Er fuhr fort: »Christian geht ja weg heute Nachmittag, – weißt du es?«
Sie erschrak über diesen ungezügelt aufjubelnden Ton und erwiderte nichts. Er beugte sich über ihre Hand und küßte sie, dann verließ er das Zimmer.
Eine der großen Gaststuben wurde hergerichtet, Frau Annemarie trug aus dem verschneiten Park einige Tannenzweige hinauf und stellte sie in dem braunen Krug auf den runden Tisch, der vor dem dunkelbezogenen Sofa mit der geschweiften Rücklehne stand; sie schaute sich im Zimmer um, gab dann den Befehl, der Kutscher möge um sechs 114 Uhr mit dem Schlitten vorfahren, der junge Herr werde selber kutschieren, und kehrte langsam in ihr Gemach zurück.
Die Helligkeit des Tages erlosch frühe, Schneewolken stießen am Himmel herauf. Da setzte sich Frau Annemarie an den Flügel und schlug leise ein paar Töne an. Sie lauschte, die Finger auf den Tasten und den Kopf zum Fenster gebogen.
Klaus trat herein, auf den Zehenspitzen, ging zum Kamin und setzte sich in einen der tiefen Sessel. Er streckte die Füße gegen das flackernde Feuer und wandte das Gesicht langsam nach dem Flügel hin.
»Du weißt ja nun, was ich spiele,« sagte sie, ohne sich umzusehen, »wünschest du etwas Besonderes?«
Er machte eine kurze Bewegung mit den Fingern, legte sie dann gegeneinander und bat: »Spiele.«
Sie zögerte noch eine Weile und begann darauf eine Fuge. Ihr Körper straffte sich unter den Tönen, legte sich abwechselnd ein wenig nach vorne und wieder zurück, und ihr Kopf war leicht in den Nacken geworfen. Wenn Klaus hinüberschaute, sah er vor dem hellen Fenster ihren schmalen Hals und den Haarknoten in scharfem, dunkelm Umriß. Ihre Hände hoben sich selten von den 115 Tasten empor, sie schimmerten weiß durch die Nachmittagsdämmerung, die breiter und weicher durchs Gemach floß, je länger sie spielte. Stunden gingen vorüber.
Zuletzt, ein fahles Leuchten nur noch auf den Noten, die sie kaum mit den Augen streifte, spielte sie die Appassionata. Darüber war es Nacht geworden, und als sie den letzten Akkord ausklingen ließ und sich rasch erhob, fiel aus dem Kamin der schwache Schein der verglimmenden Glut auf ihr Gesicht. Ihre Augen waren groß und still und gingen langsam durch die Dunkelheit. Sie setzte sich Klaus gegenüber ans verlöschende Feuer und legte die Hände in den Schoß.
»Es ist nun Zeit, Klaus, du mußt fahren,« sagte sie leise.
Er antwortete nicht, schlug mit dem Zeigefinger die Asche von der Zigarette in den Kamin hinein und legte ein Bein übers andere.
Frau Annemarie fröstelte leicht und reckte die Hände gegen die Glut.
Auf der Treppe vor dem Hause klapperten laute Tritte, jemand streifte die Holzschuhe von den Füßen und tastete sich durch den Flur. Dann klopfte es.
116 »Ja,« rief Frau Annemarie. Die Türe wurde langsam aufgestoßen, und ein ferner, schwacher Schein glitt herein. »Wer ist denn da?«, fragte Frau Annemarie.
Timms knappe Stimme sagte: »Es ist angespannt, gnädige Frau. Soll ich vorfahren?«
»Ja.« Und nach einer Weile, als er zu warten schien, fügte sie hinzu: »Ich werde es dem jungen Herrn sagen.«
Dann schloß sich die Türe, die Schritte tappten davon, und draußen auf den Fliesen klapperten die Holzschuhe wieder.
»Hast du gehört?«, sagte Frau Annemarie mit leisem Drängen. »Du mußt nun gehen.«
»Er mag doch fahren,« kam es aus dem Dunkel, und die Glut der Zigarette rötete auf einen Augenblick die zusammengezogenen Brauen.
»Nein, nicht so,« bat Frau Annemarie. »Du bist manchmal noch, wie du als Junge warst, Klaus. Trotzig wie ein Kind. – Geh jetzt.«
»Wenn ich aber –, warum soll ich denn fahren?«
Schritte gingen wieder über den Flur, die Türe wurde aufgeklinkt. »Ist jemand hier?« Christian trat herein und schrie zurück: »Licht, Marjells, bringt Licht!«
117 Er sah Frau Annemaries Gesicht, von der Kaminglut leise überstrahlt.
»Liebste, was ist denn das wieder? So im Dunkeln zu sitzen, allein? Ich begreife dich manchmal gar nicht.«
»Ich bin ja nicht allein. Klaus leistet mir Gesellschaft,« gab sie ruhig zurück.
Die Marjell kam und stellte die Lampe auf den Tisch, drehte den Docht herauf und schlurte wieder aus dem Zimmer.
Christian sah auf die Uhr. »Es ist ja allerhöchste Zeit, Klaus. Wenn du noch zum Zug kommen willst, mußt du die Pferde laufen lassen, was das Zeug hält.«
Klaus erhob sich langsam und schritt aus dem Zimmer. Christian lachte hinter ihm her:
»Da will er uns glauben machen, ihm liege nichts an dieser Fahrt! Doris mag unterdessen am Bahnhof anfrieren und gleich in der ersten Stunde ihre tollkühne Reise in unsere Wintereinöde heraus verfluchen. Und ihm verbrennt derweilen beinahe das Herz! Umwege, Umwege, – wie, Beste?«
Sie trat ans Fenster und sah durch die feuchten Scheiben hinaus. Hufe stampften im Schnee, dann klirrten die Schellen.
118 »Jetzt fährt er wieder ohne Pelz in die Winternacht hinaus!«, sagte Frau Annemarie leise und legte die Stirn an die kühle Scheibe. Die Schellen verklangen hinter den letzten Bäumen der dunkeln Allee, auf dem schneeverwehten, schimmernden Feldweg.
Klaus stand neben den Pferden, als der Zug vor dem kleinen Bahnhof hielt, klopfte ihnen die unruhigen Hälse und trat dann einen Schritt um die Ecke. Aber die Pferde stampften und rissen an der Schlittendeichsel, er mußte ihnen wieder in die Zügel greifen und beruhigend zusprechen.
Plötzlich stand sie neben ihm, sah ihm von der Seite her ins Gesicht und sagte: »Also, da bin ich. Guten Abend, Klaus!«
Er drehte sich um, er hatte ihre Schritte im Schnee nicht gehört; Wärme schlug ihm entgegen aus dem Pelzmantel, der ihre große Gestalt verhüllte. Er griff langsam, als hätte ihn das Wiedersehen ganz überrascht, nach ihrer Hand und fühlte ihren langen, starken Druck. Eine Weile ließ er sogar seine Finger still in ihrer Hand liegen, halb unter dem weichen, dunkeln Pelz, und spürte das Blut aus ihrem 119 starken, gesunden Körper zu ihm herüber drängen. Wie leiser Schwindel wirbelte es ihm durch den Kopf, als er mit ihr zum Schlitten trat und sie sich behende in den Sitz schwang. Er stieg neben sie, legte ihr eine Decke über die Kniee und löste die Zügel vom Knopfe. Ein Gefühl, als sei eine Last von ihm genommen worden und alles nun gut, durchrieselte ihn warm und klingend, als er die Pferde über den Schnee dahin traben ließ und sich zur Seite den ruhig zurückgelehnten Körper spürte, so oft er ein wenig die Zügel an sich zog.
Doris blickte über die matten Schneefelder, in denen da und dort ein dunkler Baumstamm mit kahlen, hochgereckten Aesten fror und über welche von ferneher kleine, verlorene Lichter aus niederen Fenstern glommen; sie sah, von der Laterne bestrahlt, vor der geschweiften Schlittenwand die blanken Rücken der Pferde, die gleichmäßig sich hoben und senkten, mit dem dumpfen Takt der Hufe im Schnee. Und sie sah einmal flüchtig auf die Hand, welche die Leine hielt, in ihrem breiten Handschuh, und auf das Gesicht, aus dem die Augen scharf über die Ohren der Pferde hinweg in den schwach erleuchteten Schnee spähten, um den Weg längs den Bäumen nicht zu verlieren.
120 Da sagte sie leise: »Klaus –.« Und als er den Kopf ein wenig zu ihr herab neigte, die Wange auf ihre Schulter legte, küßte sie ihm die Schläfe mit ihren windkalten Lippen.
Und noch einmal durchschwang ihn der Glaube: nun wird es doch wieder gut. Er streifte leicht mit der Leine die Rücken der Pferde, daß sie weit ausgriffen und den Schnee über die Schlittenwand herein schlenderten, auf die dunkle Decke, die über Doris Knieen lag.
»Wie geht es Annemarie?«, fragte sie.
»Immer gleich. Sie sitzt beständig zu Hause. Man merkt nicht viel von ihrer Krankheit.«
»Schrecklich, ein solches Leben,« flüsterte Doris. »Wenn unsereinen so etwas träfe, – wie? Jahrelang stille halten, einsam sitzen müssen, – aber das will sie ja selber so. Ich kann mir das einfach gar nicht vorstellen.«
»Ich habe mich so daran gewöhnt, seit ich hier draußen bin; glaubst du, ich sehe noch, daß sie krank ist?«
Doris blickte ihn scharf von der Seite her an. Ein merkwürdiger Zug um seinen Mund, eine Linie, die er früher nicht besessen hatte, fiel ihr auf, und auch aus seiner Stimme, so hell sie in dieser Stunde klang, tönte ihr eine unbekannte Mattigkeit.
121 »Warum bist du eigentlich zum Semester nicht zurückgekommen?«, fragte sie plötzlich.
Er zuckte die Achseln. »Es gefiel mir hier besser.«
Sie sah vor sich hin und schwieg. Nach einer Weile sagte sie nebenbei: »Wir hatten dich alle erwartet und waren erstaunt.«
Er lachte kurz auf. »Weißt du, ich gestehe, daß ich sehr selten an die Berliner Gesellschaft gedacht habe. Ich vermißte sie wenig. Es war so viel hier draußen –.« Er brach ab, mitten im Gedanken.
»So? was denn?«, fragte sie lächelnd, spöttisch.
Er mußte sich selber besinnen, sah sie rasch an und sagte darauf, den Kopf leicht zur Seite geneigt: »Es wurde doch Herbst – und dann Winter –, ganz langsam –.«
Sie lachten beide, und Doris dunkle Stimme brach immer voller auf wie eine rote Rose. Klaus lauschte ihr und sagte leise: »Es ist gut, daß du da bist.«
»Ja, ich glaube es auch,« erwiderte sie. »Aber warum schriebst du nie mehr, schon seit zwei Monaten?«
»So lange?«, fragte er erstaunt.
»Du weißt nicht einmal mehr die Zeit,« lachte sie. »Hast du alles vergessen?«.
»Vieles,« gab er leise zur Antwort.
122 Sie sah ihn wieder an und zog dabei die Brauen leicht zusammen. »Das ist traurig.«
»Ja,« sagte er und nickte.
Da wandte sie das Gesicht weg und blickte in den Schnee hinaus. Es war ihr, als wiche er immer zurück, wo sie erwartete, daß er ihr entgegentreten und widersprechen sollte.
»Da sind schon die Hütten und dort die Bäume vor dem Haus,« sagte er und hob den Arm.
»Ja, ich erkenne es wieder. Ist das Haff schon gefroren?«
»Noch nicht überall. Es schneite immer und war zu warm.«
»Ich habe die Schlittschuhe mit.«
Er verwunderte sich und mußte wieder lächeln. »Das ist ja fein; ich glaube, es wird sehr lebendig werden hier draußen.«
Während er noch redete, erinnerte er sich, daß Christian am Anfang auch zu ihm so gesprochen hatte, dieselben Worte: »Nun wird es lebendig werden –.« Er war bald unterlegen gegen die Stille, aber Doris war stark, viel stärker als er und voll Wille und Spannkraft. Vielleicht gelang es ihr. Er sann darüber nach und zweifelte schon ein wenig daran, als er hinter ihr die Treppenstufen 123 hinaufstieg, nachdem er Timm die Zügel zugeworfen hatte.
Im warmen Flur, unter dem Licht der hochgezogenen Ampel, öffnete Doris ihren Pelz und ließ ihn lässig über die Schultern auf einen der Sessel herunter gleiten. Das Mädchen sah ihr mit großen Augen zu und sprang herbei, um den Mantel aufzufangen. Es nahm ihr auch den Hut aus der Hand und trug alles weg.
Doris stand hoch unter dem Lichte, hob die Arme empor und fuhr mit den Fingern leicht und flüchtig über die hellen Haare. Sie strich sich eine Strähne aus der Stirne zurück und schob sie über dem Ohr unter die breite, schimmernde Flechte. Das Licht spielte auf ihrer langen, kräftigen Hand und den nackten Gelenken, von denen die weichen Spitzen der Aermel lose zurückgefallen waren.
Klaus lehnte am Türpfosten, die Finger in den Taschen und ein Bein quer vors andere geschoben. Er sah Doris an und folgte mit seinen Blicken ihren sicheren, ruhigen Bewegungen; er erinnerte sich dabei in verwischten, flüchtigen Bildern, wie er früher stundenlang jede leiseste Linie, jede Bewegung an ihr ausgekostet hatte wie an einem unendlich reichen Kunstwerk.
124 »Wir sind hier nicht in meiner Malbude,« sagte sie und faßte ihn am Arm. »Wo ist Annemarie?«
Er tat die Türe vor ihr auf, und sie gingen nebeneinander durch die Zimmer. Annemarie trat ihnen langsam entgegen, streckte Doris die Hand hin und hieß sie willkommen:
»Ich habe dich solange nicht mehr gesehen.«
Doris legte den Arm um ihre Schultern, wie eine ältere Schwester es sorglich der jüngeren tut.
»Ist es so lange schon her? Ich meine, es war erst vor kurzer Zeit. Die Jahre rasen vorüber, man kann kaum aufatmen in all der Hast.«
Christian von Dohm trat ein, mit raschen Schritten, und sagte schon auf der Schwelle:
»Wie hübsch, wie hübsch, daß Sie gekommen sind. Wir freuen uns alle so sehr. Hoffentlich findet die winterliche Einöde Gnade vor Ihren Künstleraugen.«
»Sie ist wundervoll; ich habe schon die Schlittenfahrt genossen.«
»Ach, sowas –! Viel Schnee, viel Land, viel Wasser, und alles gar still. Im Sommer sollten Sie mal herkommen; jetzt sieht das Land doch allzu ärmlich aus.«
Sie setzten sich, und eine Weile war es still.
125 »Es ist herrlich,« sagte Doris leise. »Ausruhen –. Hier wird man gesund. Es ist ein Hundeleben, wie wir es in der Stadt führen. Eine Zeitlang ostpreußische Stille: das ist ein Bad für unsere verstaubten Seelen. Hier muß man ja gesunden.«
»Es gehört immer Glaube dazu,« lächelte Frau Annemarie.
Christian fuhr dazwischen: »Hier gesunden? Sie erlauben schon! Uns allen täte Stadtluft gut, – wie, Liebste? Na ja, du bist ja nicht dazu zu bewegen, ich weiß es schon. Nein, glauben Sie das nicht vom Gesundwerden. Es ist meistens sehr langweilig hier, tödlich langweilig. Ich mache nicht Reklame, Sie sehen. Umso aufrichtiger wissen wir Besuche zu schätzen. Die Gastfreundschaft in unserem einsamen Land ist etwas vom Eigennützigsten.«
Doris lachte und sah Christian an, mit ihren prüfenden Blicken, die lange auf allen Dingen lagen, hartnäckig, bis sie ihr Bild in sich aufgenommen hatten.
»Wie man ein ganzes Leben hier draußen zubringen kann, ist mir ja allerdings auch unbegreiflich,« sagte sie. »Es braucht doch auch noch etwas anderes als Stille und gesunde Luft! Etwas, das uns zu schaffen gibt: Stadt, Ruhelosigkeit, Handwerk, 126 – eben das ganze Hundeleben, über das wir schimpfen und ohne das wir doch nicht auskommen.«
»Natürlich,« stimmte Christian bei und sah Frau Annemarie an. Er war lebhaft und nickte von Zeit zu Zeit. »So ist es, Sie haben ganz recht.«
Klaus legte den Kopf ein wenig zur Seite: »Wir, wir, – immer wir! Ach –.« Er ließ die Faust leise auf die Armlehne des Sessels fallen.
Doris lachte. »Laß nur! Ich will ja nicht verallgemeinern. Du bist geblieben, wie du warst; ich erkenne dich wieder an deinem Aufmucken, wenn ich von uns Menschen in der Mehrzahl spreche. Das war von jeher unser Thema!«
»Aber, Beste, essen wir denn nicht bald?«, fragte Christian. »Nach dieser langen Fahrt, – Sie kommen doch eben von Berlin?«
»Nein, von Danzig. Ich bin seit ein paar Wochen dort.«
»Ach so. Gleichwohl –.«
Frau Annemarie erhob sich und ging hinaus. Klaus bemerkte, wie sie rascher als sonst und schlank aufgerichtet schritt, aber ihre Hände waren geballt, und ihre Nägel gruben sich ins Fleisch. Als sie zur Türe hinausgegangen war, sagte Doris:
»Ich bin froh, Annemarie so wohl zu finden.«
127 »Sie finden sie wirklich wohl?«, fragte Christian, die Stirne sorgenvoll gerunzelt.
»Aber natürlich. Geht so eine kranke Frau?«
»Ja, Sie müssen es besser beurteilen können als wir«, erwiderte er. »Sie kommen soeben erst her und haben andere Augen als wir.«
»Ach, das –. Aber gewiß, ich bin erstaunt, mit großer Freude erstaunt.«
Klaus erhob sich rasch und verließ das Zimmer. Als er die Türe aufriß, sah er im Nebenraum Frau Annemarie: sie stemmte die Hände auf den Tisch, beugte sich vornüber und schien ihn nicht zu hören. Er zog die Türe hinter sich ins Schloß, und Frau Annemarie reckte sich krampfhaft empor und wandte sich um. »Was ist dir?«, fragte er halblaut.
»Nichts, Klaus,« sagte sie und versuchte, ihrer Stimme den ruhigen Ton zu geben.
»Doch.« Er trat näher. »Du hast Schmerzen. Dir ist nicht wohl.«
Sie tat ein paar Schritte vom Tische weg. »Es ist ja nichts, du siehst. – Warum kamst du heraus?«
»Ich wollte – rasch hinauf in mein Zimmer gehen.« Er schritt neben ihr her. »Willst du dich nicht auf meinen Arm stützen?«
»Danke, danke. Es ist wirklich nichts.« Sie sah 128 ihn lächelnd an. »Und ich habe ja Besuch. Wer denkt da an Kranksein?«
Er ging die Wendeltreppe hinauf und in sein Giebelzimmer. Er trat ans Fenster, sah in die Winternacht hinaus, kehrte über die dunkeln Dielen zum warmen Ofen zurück und schritt auf und ab. Schon konnte er das Glück nicht mehr begreifen, das ihn vor einer Stunde überflutet hatte, so jäh und stark, als er neben Doris im Schlitten hergefahren und ihm ihr starker Körper nahe gewesen war. Sie stand so gesund da, mit ihren klaren Augen und ihren knappen Worten; sie war so fremd hier, wo alles still und zwischen Licht und Schatten vor sich ging.
Er schüttelte den Kopf und stieg langsam die Treppe hinunter, zum Abendessen. Von ferne hörte er, durch die offene Türe, wie sie lachend sagte: »Ach was, der Mensch ist doch dazu da, sich nicht unterkriegen zu lassen!« Christian erwiderte ernst: »Sie haben recht.« Die Türe schloß sich, Klaus hörte nichts mehr vom Gespräch. Er lächelte voll Spott und Zweifel, als er die untersten, knarrenden Stufen herabstieg. Dann trat er in den Speisesaal.
»So, nun endlich zu Tisch!«, rief Christian. »Bitte hier, gnädiges Fräulein.«