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Graf Leven speiste an seiner vereinsamten Tafel, nur von den beiden nackten Kindern bedient, von Brigitte und von Achmed, dem syrischen Kastraten.
In kleinen vorsichtigen Schlucken schlürfte der alte Herr den Rest seiner Punschbowle und knusperte dazu von der leichtesten Pastete. Achmed stand mit gekreuzten Armen der Befehle gewärtig ihm gegenüber, Brigitte huschte auf Katzenpfötchen hin und her, die Finger gespreizt unter der silbernen Platte. So war es still im Saal und deutlich vernehmbar der scharfe Knall mehrerer Pistolenschüsse, der vom Grenzforst herüberdrang.
»Das ist aus dem Revier unseres allerdurchlauchtigsten Clemens Wenzeslaus,« sagte lachend Graf Leven. »Seine Landjäger pürschen auf Wilderer und haben sie hoffentlich wiederum gefehlt.«
Die Kinder schwiegen. Das Wort ihres Herrn galt nie an sie gerichtet, außer wenn er Zärtlichkeiten sprach.
»Es wäre ein artiger Spaß, mit diesen 70 entronnenen Strolchen den Abendtrunk zu beschließen. Sie können mich belehren, wie man Schlingen und Eisen legt, sei's gegen Füchse und Hasen, sei's gegen ihr eigenes Gelichter.«
Schwerfällig hob er seine invaliden Knochen vom Lehnstuhl und humpelte, gestützt auf die beiden Kinder, hinaus nach der Altane.
Noch war die Nachtluft in diesem Frühjahr allzu frisch, so daß es die Kleinen fröstelte. Der Alte nahm es wahr, wandte sich zurück und griff nach dem weißwollenen Burnus, der am Pfeiler hing, eigenhändig sie zu bekleiden. Wie Zwillinge, gleich an Höhe und schlanker Form, schmiegten sich die beiden schimmernden Gestalten an einander. Da schlang der Graf den weiten Mantel eng um ihre Glieder, schnürte sie warm zusammen, als ob er zwei Lilienstengel mit einem Schleierband umwände: die schön gepaarten Blütenkelche hoben sich strahlend daraus hervor.
Graf Leven beugte sich über das Geländer nach dem Hof hinab:
»Heda, ihr Lumpen! Schlaft ihr mit den Hühnern auf eurer Streu? – Aufgewacht! – Vorwärts! – Peter, bist du's? – Sattle deine Mähre und nimm den Schweißhund mit! Reite drüben durchs kurfürstliche Revier, nachzuschaun, wen sie geschossen haben! Schlepp herüber, wen du erwischen kannst! Ob tot oder lebendig, ich nehm ihn auf, ich lad ihn mir zu 71 Gaste. – Marsch, Peter, vorwärts! – Hopp, Tyras, Hopp! – Sputet euch, ihr faulen Tiere! Noch leb ich und halte mit, wenn sie um Kopf und Kragen würfeln in diesem gottverfluchten Winkel!«
Vom Walde her, über den Ställen, war die Sichel des Mondes aufgestiegen, trat neben die Zinnen des morschen Wartturms und ließ dessen blinde, rissige Fensterscheiben in fahlem Lichte blinken. Von Westen her strebte als einziges Gestirn die Venus ihm entgegen.
»Siehe da, das Zeichen eurer Standarten!« sagte Graf Leven, griff in Achmeds kurze Locken und bog den Knabenkopf zu sich herüber. »Wie lange schon ist es uns entschwunden, mein Kleiner! Seit Jahren schon, und du bist inzwischen fast so etwas wie ein deutscher Jüngling geworden. – Sprich, wo war es doch? Hast du's vergessen oder denkst du zu viel daran?«
»Herr, in Belgrad war's, bei Ali Mara, dem Wesir.«
»Nein, nicht in Belgrad sahen wir es zum letzten Male, sondern davor. Als die Deinen abzogen von den Wällen und Laudon dich mir gnädigst überließ, in der Hoffnung, du würdest unter meinem Dache christliche Sitte lernen! – Welch große Zeit, mein Kleiner! Spielend zogen wir von Feste zu Feste, gleich munteren Springern im Schachbrett, und versorgten uns mit hübschen Dingen für die nahen Tage unsres Alters.«
72 In den Saal zurückgekehrt, lagerten sich die drei um den Kamin. Die Kinder warfen den Burnus ab und badeten sich wohlig im rötlichen Abglanz der Flammen. Katzenhaft tändelnd wälzten sie sich auf dem Teppich um einander, zwischen den Füßen ihres Herrn, der sich die geschmeidigen Rücken zum Schemel nahm. Bald war Brigitte müde und entschlummerte, während Achmed die zwei einzigen Saiten seines Rebec streichend, eintönige Lieder auf arabisch sang, in denen die Namen von Jussuf und Suleikha rhythmisch wiederkehrten.
Es mochte fast Mitternacht sein, als Peter, der Knecht, dem Grafen seine Heimkehr meldete. Sein Streifzug war erfolgreich gewesen: er hatte am Ufer der Saar in der Tat einen Verwundeten aufgespürt und mit sich aufs Pferd genommen, einen sehr jungen, mit Staub und Blut bedeckten Offizier. Der lag nun ohnmächtig unten in der Halle und war, unterdes der Peter hier schwatzte, vielleicht gar schon gestorben.
Graf Leven sprang auf und stürmte, so gut die steifen Knochen es erlaubten, die Treppe hinab, dem Gaste beizustehn.
Gott, was erblickte er! – O, Jammer! – Ein feiner, blasser Bursch, beinahe noch von Achmeds Alter, in zerfetzter Leutnantsuniform! Die Abzeichen waren dem Grafen bekannt: vom Husarenregiment de Berchigny, der edelsten Truppe einer vermaledeiten 73 Republik. Zwei Schußwunden hatten ihn niedergestreckt, eine leichtere am Oberarm, eine schwere im Genick. Der Säbel, den die schmale Faust noch hielt, zeigte mit dunklen Flecken an, daß ein Held sich hatte zu wehren gewußt.
»Tücher her! Wundessig! Wasser!« Mit erfahrener Hand leistete der alte Soldat seinem Kameraden den ersten notwendigen Beistand. »In deine Kammer, Peter! Schlaf dich aus, zuvor aber weck mir die andern! Alle Leute, hörst du, alle! Der Pavillon im Park soll sogleich hergerichtet werden! Und der Jochen soll satteln, soll im Galopp nach Trier hinüber, den Leibchirurgen, der am Domplatz wohnt, aus den Federn jagen und ihn samt seinen Instrumenten vor sich hertreiben, bis die Gäule zuschanden gehen! Auf meinem Grund und Boden beißt kein Offizier vom Adelsregiment de Berchigny ins Gras.«
Neugierig kamen die Kinder im Burnus herangeschlichen.
»Wie schön und fremd er ausschaut, der arme junge Herr!« flüsterte Brigitte. »Darf ich ihn anrühren, das Haar ihm aus der Stirne streichen? Darf ich ihm helfen?«
Freundlich nickte der Graf ihr zu. Da wuschen die Kinder dem fremden Jüngling das Antlitz, kämmten ihm das zerzauste Haar, schnitten ihm die Kleider 74 vom Leibe und trugen ihn auf einer Bahre sorgsam und sachte in sein neues Heim.
Das war ein Lusthäuschen, hundert Schritte weit vom Schloß, in aller Eile ausreichend gesäubert, nun ganz wohnlich und warm: das geräumige Hauptgemach in Gestalt eines Sechseck angelegt, die Wände von der Decke bis zur Diele mit Spiegeln bekleidet. Ein breites und elastisches Lotterbett ward vorderhand zum Krankenlager ausersehen. Spieltische, von Polstern umgeben, Guéridons und Taburetts auf geschweiften Füßen standen zu behaglichem Gebrauch umher; auf dem Kaminsims tickte die Standuhr aus Porzellan, geschmückt mit Liebesgöttern, darunter knisterten das Reisig und die Buchenklötze.
Kaum hatte man den jugendlichen Krieger hier gebettet, als er blinzelnd die Augen öffnete. Ein Blick auf die ehrwürdige Gestalt des alten Grafen und auf die Kinder, die ihn bebend umdrängten, genügte zu seiner Beruhigung. Er lächelte, noch ein wenig matt, aber doch zufrieden und nannte seinen Namen:
»Vicomte Guy Ronchet de Montaigu,« und fügte errötend sogleich hinzu: »Excusez, Monsieur, . . . un peu malpropre . . . mal à l'aise . . .«
»Pas de quoi!« rief Leven und wehrte lachend ab.
Darauf schloß Guy de Montaigu seine 75 langbewimperten Lider, doppelt beruhigt, und versank in Schlummer.
»Geh schlafen, auch du, Herr!« mahnte Achmed leise. »Wir wachen bei ihm.«
»Ja, Herr, wir wachen und behüten ihn,« bekräftigte Brigitte.
So vertraute denn Graf Leven seinen Gast den Kindern an und begab sich zur Ruhe.
Gegen Morgen traf der kurfürstliche Leibarzt endlich ein.
* * *
»Wie fühlen Sie sich, mein lieber Vicomte?« fragte Graf Leven nach einigen Tagen, als der Patient bereits auf der Couchette lehnte und mit Appetit seine Morgenschokolade nahm.
»Ich fühle nichts, als daß ich da bin, endlich einmal nichts auf der Welt als mich selbst, meinen Kopf, meine Glieder, mein Behagen! Das ist vielleicht unhöflich gegen Ihre Güte, aber Sie werden es verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß ich seit vier Jahren immer nur die Canaille gespürt habe, die Tyrannei des Pöbels.«
»Sie sind von ihr mißhandelt worden, auch Sie, in Ihren jungen Tagen?«
»Den Mißhandlungen, ja merkwürdigerweise 76 sogar der gewaltsamen Schändung entging ich durch Zufall. Dabei bin ich fast doppelt so alt als der Dauphin, der einem Jacobiner zur langsamen Vernichtung übergeben worden ist. Zwar hat niemand mich persönlich angerührt – nur im Kerker La Force habe ich den letzten Winter über gelegen –, aber da meine Eltern in Paris wohnten, so war die Canaille mit ihrem Dunste beständig um uns. Ich klage sie nicht an. Sie ist ja kein ebenbürtiger Gegner, sondern nur eine notwendige Pest, ein Gestank, ein Klumpen Kotes . . . Endlich also bin ich bei Ihnen, Graf, nun wieder gesäubert, in frischer, reiner Luft. Keine Canaille gibt es hier, nur einen Diener und eine Dienerin von der scharmantesten Art. Eine widerliche Kruste ist von mir abgefallen: der dumme Titel Citoyen, das Patent vom Nationalkonvent, die dreifarbige Kokarde, der erzwungene Eid auf die Verfassung. All das bin ich, da ich nun glücklich über die Grenze kam, endlich, endlich los.«
»Glücklich? Man hat Sie fast entzwei geschossen?«
»Bah, das war nichts, verglichen mit dem Früheren. Das kleine Lösegeld, das jeder von uns zahlen muß, bevor er dieser – dieser Nation den Rücken kehrt.«
»Nur begreife ich nicht: Ihr Regiment war doch das einzige, das mit General Dumouriez zu den 77 Österreichern überging. Warum schlossen Sie sich ihm nicht an?«
»Mißgeschick! Weil ich an jenem sechsten April gerade auf Patrouille war. Zehn Meilen von Mézières erfahre ich, daß Dumouriez samt meinem Kolonel bereits beim Koburg ist. Was soll ich tun? Ich schicke meine drei Husaren zum Teufel, das heißt zum neuen Konventsgeneral, und suche die Luxemburger Grenze zu erreichen. Vergebens; denn sie war besetzt von unsren niederträchtigsten Regimentern. Ich schlage einen Haken gegen Westen. Das ganze Land wimmelt von Nationalgarden wie ein Bauernbett von Wanzen. Meine Karten reichen nicht aus, ich gerate in die Irre und schleiche mich endlich mit genauer Not an Verdun, an Saarlouis vorüber, halb verhungert, ohne Nachtquartiere, bis an Ihre Grenze. Da müssen denn zu guter Letzt republikanische Landjäger meine Montur erkennen und mich verfolgen bis in Ihr Gebiet hinein. ›Schiffbruch im Hafen!‹ rief mir einer der Sansculotten höhnisch zu. Er hat sich gewaltig geirrt.«
»Eine angenehme Gesellschaft jetzt, diese Ihre Landsleute!«
»Meine Landsleute sitzen in Koblenz und Trier, nicht mehr in Frankreich. Und da ich jetzt gottlob auch nicht mehr Citoyen und nicht mehr Leutnant bin, bin ich auch kein Franzose mehr, sondern nichts als Ich schlechtweg, ich Guy Ronchet de Montaigu.«
78 Wohlgefällig betrachtete Graf Leven seines Gastes hochmütig gewölbte Brauen und die dünnen, mokanten Lippen, die ihn bei all ihrer Jugendfrische an den großen Voltaire erinnerten.
Er rauchte seine Wasserpfeife und schmunzelte in stillem Vergnügen vor sich hin. An ihm vorüber blickte Guy durch die weit geöffneten Fenster in den Park hinaus, wo der Morgengesang der Vögel im letzten Gezwitscher erstarb, wo die Wipfel der Steineichen rauschten und in der Ferne ein Kuckuck schlug.
»Wie angenehm,« fuhr Guy dann fort, »bei Ihnen nichts andres zu vernehmen als die eigenen Stimmen, die meinige und die Ihre, die eines lieben Freundes Tonfall hat. In Frankreich spüren unsre Ohren nur mehr die Populace. Unmöglich, dort einmal für sich zu bleiben! In Paris auf allen Gassen, im Lager unter allen Zelten immer nur Gebrüll! Es ist der unvermeidliche Chorus zu jedem Selbstgespräch, zu jeder Konversation, jedem Liebesgeflüster, ja selbst zu den Kommandos der Offiziere. Weshalb, weshalb nur die Canaille immer brüllen muß! Andre Bestien brüllen, wenn sie hungrig sind. Aber die Canaille brüllt auch, nachdem sie sich am Blut gesättigt, brüllt und lärmt weiter ohne Sinn und Verstand. – Stellen Sie sich vor, welch ein Entzücken ich empfinden muß, bei Ihnen endlich einmal zu erfahren, was Stille heißt!«
»Ja, sprechen Sie, lieber Vicomte! Sprechen Sie 79 weiter, wenn auch nur für mich, der ich in meinen Jahren keine menschliche Stimme mehr um mich höre. Ich liebe den Akzent Ihrer deutschen Sprache. Es ist, so dünkt mich, beinahe Wienerisch. Wo haben Sie das gelernt?«
»Von meiner Mutter, die eine Baronin Thugut war. Sie sprach mit mir allein nie anders als Deutsch. So kommt es, daß ich zur Hälfte Deutscher bin und meine andre degradierte Hälfte um so leichter zu vergessen vermag.«
Die Kinder traten ein. Sie brachten auf Anordnung des Grafen aus dessen Kleiderkammer ein neues Gewand für Guy, an Stelle der zerfetzten Uniform einen Staatsrock von hellblauem Sammet, mit Goldbesatz, ein Spitzenjabot, ein langes Gilet mit Seidenstickerei und Kniehosen von bewunderungswürdigem Schnitt. Des Grafen verstorbener Sohn hatte es kein einziges Mal getragen. Ja, in Deutschland gab es noch dergleichen. Guy Ronchet aber, den Citoyen, hatten bis auf diesen Tag die Patrioten zu Lederpantalons und jene dicken bunten Halstüchern genötigt, die den Hals vor der Guillotine vergebens zu schützen suchten. Brigitte legte die Sachen vor Guy auf einen Sessel nieder, damit er sie besichtige, und schickte sich, nachdem er sie genügend bewundert hatte, an, sie gegen sein Nachtgewand zu vertauschen. Für ihren alten Grafen hatte sie keinen Blick.
80 »Ei, Brigitte,« sprach dieser sie in erheucheltem Unmut an, »hast du deinen gnädigen Herrn über dem schönen Seigneur schon ganz vergessen? Warum reichst du mir dein Mäulchen nicht wie sonst? Und auch du, Achmed, betest mit verzückten Blicken zu dem neuen Propheten, den Allah dir gesandt.«
Erschreckt warf sich Achmed dem Grafen zu Füßen, Brigitte mit gesenkten Wimpern an seine Brust.
»O, sehen Sie doch, Vicomte,« rief Leven überrascht, »wie reizend! Zum ersten Mal errötet unsre Kleine. Haben Sie beachtet, wie das blasse Rosa, von den Brüstchen sich verbreitend und allmählich sich vertiefend, das ganze Kind in eine Art von Sonnenaufgang hüllte? Süperb! Süperb! – Das sind nun meine letzten schwachen Freuden.«
»Sie ist in der Tat über die Maßen niedlich, Ihre Jungfer Brigitte,« bestätigte Guy mit naivem Kennerenthusiasmus.
»Und ebenso Achmed! Nicht wahr? Sie geben dereinst ein hübsches Paar.«
»Ihr werdet euch heiraten, wie?« fragte Guy, aufrichtigen Anteil nehmend.
»Ja, das werden wir,« antwortete stolz Brigitte, und Achmed fügte, nicht weniger strahlend hinzu:
»Der gnädige Herr und auch wir zwei, wir wollen alle gern.«
81 »Ich möchte sie gut versorgt wissen nach meinem Tode,« bemerkte der Graf. »Beide vereint werden sie sich nicht zu beklagen haben.«
»Aber trägst du kein Verlangen, Jungfer Brigitte,« erkundigte Guy sich weiter, »später auch kleine Kinder zu bekommen?«
»Gewiß, Seigneur,« nickte sie eifrig, »ich werde bekommen, so viel ich mag.«
Väterlich klopfte der Graf ihr die Wange:
»Du wirst deren finden, wo immer du sie suchst. Der liebe Gott wird sie dir schenken und Achmed wird seine Zustimmung dazu geben.«
»Achmed stimmt zu,« versicherte der junge Kastrat, voll Zärtlichkeit für seinen Herrn sowie für seine Braut, wenn auch ein ganz klein wenig traurig.
»Wie nett und gefällig er ist, der arme Patron!« meinte Guy, indem er ihn schelmisch zupfte. »Selber so voll Anmut wie ein kleines Mädchen! Nicht mit allzu vielen Kindern darfst du ihn kränken, du lebensfreudige Brigitte! Denn keiner deiner Liebhaber wird je so reizend sein wie dieser dein Gemahl. Wirklich lieb muß man euch alle beide haben. Ach, wären mir doch je in meinem Leben zwei so entzückende Gespielen beschieden gewesen!«
Glückselig waren die Kinder über dieses Kompliment. Es ging ihnen süßer ein als alle Lobsprüche ihres weißhaarigen Gebieters.
82 Der wies sie nun freundlich in ihren gewohnten Winkel vor dem Kamin. Dort hockten sie sich gehorsam nieder, neben einander geschmiegt wie zwei artige Tiere.
Dann unterhielt der Graf den nachdenklich gewordenen Guy von seinen eigenen Feldzügen und Reisen, von der unvergleichlich holden Liederlichkeit seiner Kaiserstadt, rühmte die Finessen und Maitressen des alten Fürsten Kaunitz, belustigte sich über die törichten Reformversuche des guten Joseph und beklagte endlich, gemeinsam mit dem Vicomte, das Schicksal von Seiner Majestät erlauchter Schwester, die noch immer im Temple Patrioten und Henkersknechten zu unzüchtiger Augenweide diente.
»So wären wir denn abermals an dem Punkte,« sagte Guy, »wo der Citoyen zu erzählen hat, Greueltaten zu berichten wie ein schlechtes Journal. Graf, ersparen Sie es mir! Alle diese Straßenszenen wiederholen sich zu eintönig, um der Beachtung wert zu sein. Oder soll ich Ihnen beschreiben, wie die Kreaturen des Sieur Marat meinen Vater vor meinen Augen septembrisierten, wie zwölf Pikenstöße und das Doppelte an Säbelhieben erforderlich waren, um ihn in die formlose Masse zu verwandeln, die auf dem Pflaster eine Leichenpyramide krönen sollte? Oder haben Sie zufällig von dem Bonmot meiner Mutter gehört, die erst kürzlich mit einer Gruppe von 83 Hofdamen das Schafott bestieg? Auf der Schwelle dahin wollte die Herzogin von Broglie ihr einen letzten Nadelstich versetzen und kicherte: ›Comment, Madame de Montaigu, vous pâlissez? Mettez donc un peu de rouge!‹ – ›... ne vaut pas la peine,‹ entgegnete ihr stolz Maman, ›à l'instant Madame la Guillotine rougira de mon sang.‹ – Nein, beachtenswert sind nur einige wenige Erinnerungen aus meiner frühesten Zeit, als unsre schimmernde Welt noch stand, der arme König unser Sonnengott und selbst ich ein Sternbild, wenn auch nur eines der kleinsten war, stets von einem rötlichen Trabanten begleitet, meinem dicken Abbé Sillery. O, er war mit Fett ebenso lustig ausgepolstert wie mit Gelehrsamkeit. Kein Unsinn ließ sich ausdenken, den er nicht auf der Stelle mit überzeugenden Gründen hätte beweisen können. Er war Schüler von Helvétius und de La Mettrie und einer Menge andrer Philosophen, mit deren Hilfe er meiner Mutter auf Wunsch gar oft bewies, daß mein Vater überhaupt nicht existiere, wofür ihn dieser mit Backenstreichen bedachte, versüßt durch Louis-d'ors. Mich lehrte Sillery die Liebe zu mir selbst. Auf dieser unglücklichsten aller Liebesleidenschaften klebe ich nun fest wie jener Genius dort am Plafond auf seiner Wolke.«
»So erlauben Sie mir denn, Vicomte, Sie aus Ihrer Verlassenheit zu erlösen indem ich Ihrer Jugend passende Gesellschaft biete. Wollen Sie für die 84 Zeit Ihres Aufenthaltes in meinem Hause von den beiden Kleinen dort Gebrauch machen? Ich stelle sie Ihnen völlig zur Verfügung und will nur hoffen, daß Sie mit ihren Diensten zufrieden sind. Zumal Brigitte, ein Jungfräulein ohne Fehl, wird sich gewiß alle Mühe für Sie geben, und Achmed versteht sich zum mindesten auf einige syrische Zauberkünste.«
Guy wußte sich kaum zu fassen vor Überraschung und Entzücken:
»Aber Graf . . . verehrter Gastfreund . . .! dies ist ein Geschenk so großherzig, so fürstlich, daß es Raub bedeutete, nähme ich es an. Ja, von welcher Seite ich es auch betrachte, ich würde Sie offensichtlich damit bestehlen. Denn wenn ich auch nur die Herzen der Kinder für mich gewänne, diese Teilung wäre allein schon für Sie ein irreparabler Schaden.«
»Die Herzen, liebster Freund, besitzen Sie schon. Und eben weil auch meines mit darunter ist, können Sie wegen des Schadens ohne Sorge sein. Ich sitze nicht wie Harpagon eifersüchtig auf meinen Schätzen. Mit dem jungen Vicomte de Montaigu teile ich sie wie mit meinem Blutsbruder, und ich werde stets glücklich sein, mein Liebstes in Ihren Händen zu wissen.«
Überströmend von Beteuerungen seines Glückes wollte Guy den alten Herrn umarmen. Der aber wehrte fast erschrocken ab:
»Nicht mich! Nicht mich, mein teuerster Vicomte! 85 Moi je me sauve. - Regardez par de là!° - Faites vous servir et servez vous!«
* * *
Die Kinder, vom Vicomte wegen ihres guten Verhaltens auf einige Stunden beurlaubt, liefen Hand in Hand durch den dichtesten Forst und genossen die Umarmungen der Junisonne nicht minder dankbar als die ihres neuen Herrn. Von den Tieren des Waldes wurden sie als ihresgleichen anerkannt: äsende Rehe äugten wohlwollend den beschwingten Füßen nach, wilde Kaninchen setzten sich zum Gruße auf die Hinterläufe, und selbst der Fuchs strich in vollendetem Phlegma an ihnen vorüber, da er wohl wußte, daß nur durch Kleider die Menschen als solche sich verraten. Freilich als ein runzliges Bauernweib des Weges kam, vermeinte es zwei Hexlein vom Blocksberg zu erblicken, kreischte auf, schlug ein Kreuz und flüchtete querfeldein vor der Teufelsbrut. Tapfrer hielt der Fuhrknecht auf dem Karren. Er hatte von dem Ärgernis schon manches munkeln hören. Drohend schüttelte er die plumpen Fäuste: »Ihr Adelshunde, Schufte niederträchtige!« knirschte er zwischen den breiten Kiefern. »Nehmt euch in acht! Bald sind wir auch so weit wie die da drüben in Paris. Dann wollen wir euren Metzen das weiße Fell schon gerben!« 86 Die Kinder lachten über den wunderlichen Zorn. Lag doch des Grafen mächtige Hand schützend über ihnen.
Am Ufer des Flusses warf sich Achmed mit gekreuzten Armen nieder gegen Osten und nahm, vom Anblick des Wassers zu alten moslemitischen Erinnerungen verleitet, die frommen Waschungen vor. Seinen weltabgewandten Augen zum Trotz plätscherte Brigitte, die heidnische Nixe, neben ihm in den Fluten.
»Sei still du mit deinem Gemurmel!« rief sie neckend und bespritzte ihn. »Was betest du da für unnütz Zeug?«
»Gutes von Allah, das die Eunuchen mich gelehrt. Höre!
›Die lauteren Diener Allahs
Die sollen sichren Lohn empfangen:
Früchte; und geehrt sollen sie sein
In den Gärten der Wonne,
Auf Polstern einander gegenüber.
Kreisen soll unter ihnen ein Becher aus reinem Born,
Weiß, süß den Trinkenden;
Und bei ihnen sollen sein sanft blickende, großäugige Mädchen,
Huris, verschlossen in Zelten . . . . .‹«
So sprach Achmed seiner Freundin die Verse der verheißungsvollen Sure vor, aufgelöst in Sehnsucht und im Vorgeschmack jener Früchte, die auf Erden ihm unerreichbar wuchsen.
Brigitte aber schüttelte sich, daß eine Gloriole blanker Tropfen sie umwirbelte; dann sprang sie ihm tröstend bei:
87 »Gib dich zufrieden, du mein lieber Mann! Blicken meine Augen dir nicht sanft genug? Ist unser Seigneur nicht ebenso wie dein Gott Allah gut und groß? Siehe, nun bin ich bei dir. – Spielen wir doch!«
»Bleibst du auch? Wie lange wirst du bleiben?«
»Für ewig – wenn du mir folgst.«
Er hielt sie krampfhaft fest, klammerte sich an ihre Schenkel, zog sie stürmisch zu sich nieder:
»Ach, mit Männern wirst du davongehen, mit einem nach dem andern, und der Rest, der für mich bleibt, wird immer geringer werden.«
»Die Männer werde ich hinter mir herziehen; aber nur mit dir, neben dir will ich gehen, neben meinem Manne, den ich lieb habe.«
»Du gehörst dem Seigneur. Wenn er dich nun weiter verschenkt, ohne deinen Mann?«
»Längst habe ich ihn gebeten, und er hat mir versprochen, daß er uns immer beisammen läßt.«
»Ein guter, großer, ein gnädiger Herr! Süß, ihm zu dienen!«
»Süß, über ihn zu herrschen!« rief Brigitte liebestoll. Ihren Leib schnellte sie mänadenhaft hin und her, ihre Arme zuckten durch das hohe Gras wie zwei weiße Schlangen. »Achmed, Liebster, welch ein Herr! – Presse mich an dich, noch einmal so, daß ich ihn fühle, unsren Seigneur!«
88 »Süß, ihm zu dienen!« seufzte der Knabe. »Dien ich ihm auch recht? Ach, unnützer als ein kleines Mädchen und zu nichts geschickt!«
»Doch, guter Junge, doch! Deine Hand ist geschmeidig, nur klagt dein Mund zu viel. – Wie hart und knochig war des alten Grafen Faust, so gut er es auch meinte! Er packte uns an, als wären wir sein rostiges Schwert. Du weißt ja, wie er es manchmal an sich drückt, so in grimmiger Lust. Du streichelst scheu und eher allzu zaghaft, recht wie eine liebe kleine Freundin. Dahingegen der Seigneur . . .!« Ernsthaft richtete sich Brigitte auf, setzte sich in Positur zum rechten und vollkommenen Ausdruck ihrer leidenschaftlichen Bewunderung. »Der Seigneur ist herrlich wie der liebe Gott. Alles kann er und versteht er, das Große wie das Allerkleinste. Wo seine Hand mir wehe tut, heilen seine Lippen. Und wenn er schilt, so sind seine härtesten Worte doch nur wie eitel Schmeichelei. Sprich, Achmed, sahest du je etwas Schöneres, Edleres als ihn?«
»Niemals, niemals! Selbst die Peitsche schwingt er nicht zur Strafe, sondern nur zur Lust.«
Mit einem Anflug leichter Eifersucht betrachtete Brigitte den rötlichen Streif an Achmeds Lenden:
»O, das ist nichts gegen seine spitzen Tigerzähne! Hier – lege den Finger auf das Mal! – Hier hielten 89 sie mich gepackt. O, Achmed, laß mich nicht an seine weißen Zähne denken!«
Beider Träume wanderten umher in der Irre, zogen nicht der Zukunft eines reicheren Lebens entgegen, noch blickten sie rückwärts nach dem gütigen alten Herrn, der sie aus dem Unrat des Volkes emporgezogen hatte, achteten auch nicht ihrer nächsten Gefährten, der zutraulichen Tiere – der Libelle, die sie umkreiste, der zierlichen Bachstelze zu ihren Füßen, des tanzenden Mückenschwarms – nicht ihnen rauschten die Wipfel des Hunsrücks, nicht für sie vergoldete die Sonne den Strom; die Träume strichen umher, im engsten Kreise um die Körper, in einem tückischen Labyrinth und suchten unruhig, schon lange begierig, nach dem Heimweg zu ihrem Seigneur.
So erhoben sich die Kinder und schlenderten wieder Hand in Hand zurück zum Park. Brigitte erzählte – sich zur Anfeuerung, dem Freunde zur schonenden Vorbereitung – das Märchen von der holdseligen Gräfin Dubarry, die, wie sie von den Mägden vernommen hatte, gleich ihnen ein Auswurf des gemeinen Volkes, dank vieler gottbegnadeter Sünden bis zu einem Königsthron emporgestiegen war, bis zur Herrschaft über den auf Erden Allerhöchsten, der nicht anders als im Purpurmantel ihre Gunst erbetteln durfte.
* * *
90 Als die sechs venetianischen Spiegel ihm sein Bild verhundertfacht zurückwarfen, das Bild eines reich gekleideten Jünglings, der, allein im Raum, mit verschränkten Armen und gekreuzten Füßen in einem damastenen Sessel lehnte, da winkte sich Guy melancholisch zu:
›Willkommen Ich – Mir in meiner erborgten Pracht! Willkommen auch als Bettler! Denn Guy bleibt Guy und hat an Guy de Montaigu noch seine Freude im leeren Raum, nachdem seine Welt in die Unendlichkeit versank. Oder ist auch Guy de Montaigu jetzt nur noch ein Phantom, weil die Leuchten erloschen, die ihn als Persönlichkeit aus dem Dunkel lösten? Höre ich deshalb auf zu existieren, weil Mächte der Finsternis mich aller sichtbaren Güter beraubten? – Ein schmutziger Pöbel mordet mir die Familie, zieht meine Güter ein, verteilt meine Gelder unter die Damen der Halle, sitzt zu Gericht über meine Namen, Titel und Prärogativen, wirft mich in Kerker, nimmt mir Eide ab, entläßt mich zum Kriegsdienst unter seine Banden, als wäre ich eine Sache oder selbst Bestandteil dieser widerlichen Masse. . . . All das sollte den Kern meines Wesens vernichten können? O nein! Noch lebt der Kern, und weil er sich liebt, wird er sich gegen die Wut der Zerstörung erhalten. Freilich ob es sich in dieser neuen Welt auf lange lohnt, steht noch dahin. Wer 91 lebt im Ernst dem Glauben, daß die alte wiederkehren könnte! Die Wahl bleibt zwischen dem leeren Raum, in dem das Ich gar bald verschmachtet, und der Canaille, in deren Kot es erstickt.‹ –
Guy schloß die Lider in leisem Schauder. Ihm war, als sähe er dort tief im Hintergrunde der Spiegel die ganze greuliche Nation versammelt, ihre roten Mützen schwenkend, zankend, sich begeisternd, wie gewöhnlich brüllend, und mit ihren Piken ihn umdrängend.
›So ist der leere Raum denn eine Täuschung? Verpestet Volk nicht überall die Luft? Nicht auch in Deutschland hier? Bald werden wir auch hier seine Dünste wittern; denn seine Stärke hat es bewiesen. Gleichviel unter welchem Namen, dem deutschen oder dem französischen, wird es das Werk der Zerstörung vollenden. Die Zeit der Montaigu – Vae Victis! – ist vorüber, hier wie dort.‹
Draußen vor den Fenstern rauschten die Wipfel, zwitscherten die Vögel, plauderten die Kinder.
›Könnt ich wie jener unglückselige Jean Jacques mich an den Brüsten der Natur entschädigen! Eine sentimentale Liaison anknüpfen mit den Bäumen des Waldes, mit den Vöglein und mit Brigitte oder einem anderen verliebten Kind! Nicht möglich! Abgesehen davon, daß auch die Natur von jeher auf seiten des Volkes stand, Sansculotte durch 92 und durch, so verlangt sie überdies Hingabe, eine völlige Unterwerfung – von unsereinem unbedingter als von jedem anderen – ich kann sie nicht leisten, da ich mich bereits ausschließlich dem Vicomte Guy de Montaigu verpflichtet habe. Selbst wenn ich ihn verachten wollte, käme ich nicht los von ihm. Wie schade! es wäre gewiß ein Trost und eine neue Art von Glück, in dieser niedlichen Brigitte so ganz aufzugehen wie Abälard in Héloise, wie Paul in Virginie. Der einzig mögliche Modus, sich mit dem Volke zu vermischen! Sie ist graziös genug, um sie anzubeten, frischer an Teint und Manieren als die Tänzerinnen von der Oper, die mich immer noch als Bébé zu behandeln geruhten. Was hilft's, es will mir nicht gelingen, sie wichtiger zu nehmen als mich selbst!‹
Auf den Guéridons lagen Bücher und Stiche verstreut, die Graf Leven dem Gastfreunde zur Belebung der vielen müßigen Stunden herübergeschickt hatte: Crébillons ›Sofa‹, die Amouren des Chevalier Faublas, Abbildungen zu Sades qualgrinsender ›Justine‹. Guy hatte sie durchblättert, doch bald beiseite geworfen:
›Wozu noch weiter in Schutt und Moder wühlen! Dies alles gilt nicht mehr. Gespenster aus der Zeit vor meinen Tagen, die belustigen wollen, wo sie mich nur erschrecken! Wie rasch sind diese Blätter vergilbt, während ich heranwuchs, aufschoß, 93 eine Treibhauspflanze aus heißem, blutgetränktem Boden! Brutale Tatsachen zertrampelten die zierlichen Einfälle und die koketten Bilder. Fremde Amouren interessieren wenig, wenn man nicht zum Genusse der eigenen kommt. Selbst das Parfüm der wohlgepflegten Grausamkeit ist nun vulgär geworden und stinkt durch alle Gassen. Ein jeder hat gerade zur Genüge mit sich selbst zu tun, acht zu geben, ob der Kopf noch auf den Schultern sitzt, mit sich selber Rats zu pflegen als mit seinem einzigen Freunde. Denn wem anders könnte ich vertrauen als mir allein! Wer anders als ich allein meint es gut mit mir? Ein seltsam wesentliches Ding bin ich mir nachgerad geworden, Gott sei's geklagt. In einem Punkte hat Helvétius recht behalten: Selbstliebe ist als unsere letzte Erkenntnis und Eitelkeit als letzte Tugend übrig geblieben. Nur etwas Courage gehört dazu, nichts andres als ein Fant zu sein. Ja denn, ich gefalle mir! Den strengen Tatsachen und euch, meinen Mitbürgern, zum Trotz gefällt sich der verlorene, geächtete, bettelarme Guy de Montaigu.‹
Und abermals ärgerte ihn das erborgte Staatsgewand, das seinem Erscheinungswerte so viel nahm als es ihm zuzufügen sich vermaß. Er warf es ab und ward den Kindern gleich. Verglich sich mit den Kindern, neugierig, selbstgefällig, und fand sich in der 94 Tat schöner noch als sie, weil er sich doch am nächsten stand, sich am vertrautesten war, so eins mit sich, wie es mit ihm keine der Geliebten im Rausche willenloser Hingebung je hätte werden können. So verfolgte er in allen Spiegeln das Bild seines Körpers, der lässig im Sessel sich streckend die Hand mit den gespreizten Fingern von sich stieß; hunderte von Händen waren es, die in den Spiegeln rhythmisch sich begrüßten; hunderte von Guy de Montaigus sprangen empor und maßen sich lächelnd ohne Scham, schätzten einander Wuchs und Haltung ab, bewunderten den stolzen Nacken, die gewölbte Brust, freuten sich an den schmalen Hüften und den straffen Schenkeln, wünschten einander Glück, daß sie noch lebten, wenn auch, wie billig zugestanden, ohne Zweck. –
Und nun spaziere auf und ab vor deinen Ebenbildern, mein schöner Freund, laß deine Muskeln ein wenig spielen und versenke dich in den Anblick deines schlanken Rückens; wirf dich zu Boden, ruhe auf dem Bauche, die Ellenbogen aufgestützt, in die Hände das lachende Antlitz geschmiegt! Spring wieder auf und spotte deiner selbst, deines kindischen Treibens! Sinne über dies und jenes flüchtig nach, ja nicht zu viel, ja nicht mit Anstrengung! Spinne hier und dort die leichten Fäden deiner unreifen, frühreifen Knabengedanken! Ob du weise denkst, ob töricht, ist so eins, so völlig ohne Belang für dich, wie die müßige Frage 95 nach Ziel und Ende eines Daseins, das deiner tugendhaften Nation zum Ärgernis und zur Schande gereicht, und überdies dem Netz der strengen Tatsachen durch die Maschen fällt.
* * *
Mit dem Brettspiel ›Polnische Dame‹ hatte Guy länger als billig dem guten Grafen die Zeit vertrieben. Dreimal hatte er ihn gewinnen lassen, weil er sah, daß sich der Alte am Gewinnen freute.
»Sie spielen zu achtlos, Vicomte. Sie haben nicht den notwendigen Ernst zum Spiel.«
»Mag sein. Wie ertrüge ich auch alle meine Niederlagen, wenn ich sie zum Überfluß noch ernsthaft nehmen wollte!«
»Sie werden aber nie zu einem Sieg gelangen, wenn Sie zuvor nicht jeden Muskel spannen.«
»O pfui – gespannte Muskeln, Falten auf der Stirn und einen bornierten Glauben an die eigne Übermacht: pfui, pfui! Vor den Erfolg setzten die Götter den Schweiß, nicht wahr? Wohl dem, der so in Schweiß gebadet siegt! Ich bedanke mich dafür. Ich ziehe vor, trocken und sauber zu marschieren, sei es auch mitten hinein in die Niederlage.«
»Was Sie doch für ein entzückender kleiner Faulpelz sind! – Kommen Sie, wir wollen durch den Park hinschlendern, so gemächlich, so faul, wie es Ihnen 96 nur behagt, etwa die Karpfen füttern, mit deren edler Indolenz Sie eine gewisse Verwandtschaft nicht ableugnen können.«
Die Karpfen des Grafen Leven führten das menschenwürdigste Dasein von der Welt. Sie genossen schon ihres Alters wegen hohe Ehren und wurden besser gehalten als die Jagdhunde, weit besser als die Dienerschaft.
Der Senior dieser gravitätischen Gesellschaft, die in ihrem Streckteich würdevoll und gemessen herumstand wie die der Akademiker im Hotel Rambouillet, war ein prachtvoller, mit dickem Moos bedeckter Greis von über hundert Jahren. Sein mächtiges Gewicht und seine Lebenszähigkeit bildeten des Grafen ganzen Stolz.
»Stellen Sie sich vor, Vicomte, er hat noch die Zeiten der Regentschaft erlebt. Die Augen des großen Mazarin haben auf ihm geruht, als er Anno 1658 beim Kurfürsten, der unser Oheim war, hier wohnte.«
»Ei, so erzähle, Alterchen! Tu deinen weisen Patriarchenschnabel auf und erzähle von der gebenedeiten Vergangenheit!« Die weiche, helle Stimme Guy de Montaigus bat den Fisch so flehentlich, als könnte er ihn mit Schmeichelworten doch vielleicht zum Plaudern bringen. »Hat vielleicht gar der junge Sonnenkönig Mazarin begleitet und eigenhändig dich gespeist?« Mit vollen Händen warf ihm Guy die besten Brocken 97 hin, zarte Erbsen und Artischockenböden und süßes englisches Biskuit. Philidor – dies war der Name des Patriarchen – schnappte darnach mit jugendlicher Behendigkeit und verzehrte die erheblichsten Quantitäten mit einem Appetit, um den Graf Leven ihn beneidete. Melancholisch blickte er Philidor nach, als dieser befriedigt davonschwamm.
»Was wird sein Schicksal sein, wenn ich ihn demnächst mit allem Erbe meinen habgierigen Vettern hinterlassen muß? Werden sie gleich mir den Ehrgeiz haben, sein Alter bis aufs zweite Säkulum zu bringen?«
»Vielleicht – wenn die Canaille nicht dazwischen kommt. Versetzen Sie Philidor lieber rasch noch in einen Teich des äußersten Ostens! Denn sie kommt sicher, die Canaille! Morgen schon kann sie hier Park und Schloß verwüsten. Und Philidor zumal zeichnet sich durch Noblesse, durch historisches Alter und Freiheit von Leidenschaften aus, sowie dadurch, daß er in otio cum dignitate, ohne zu arbeiten das Dasein genießt. Die Damen der Halle werden ihn deshalb unverzüglich schlachten und, mit einer geschmacklosen dünnen Brühe angerichtet, dem ersten besten Schmutzfink in den Futternapf werfen.«
»Gott verhüte solchen Frevel! Philidor wird ihnen den Gefallen nicht tun: unter der ersten groben Faust, die ihn zu berühren wagt, wird er vor Ekel den Geist aufgeben.« –
98 Von der Landstraße her die Pappelallee entlang kam ihnen der Chirurgus entgegen geritten. Er stattete heute dem Vicomte seinen letzten Besuch ab und rief ihm schon von weitem Komplimente über sein vorzügliches Aussehen zu. Dann besann er sich auf die Gebote der Schicklichkeit, kletterte vom Roß herab und nahte sich den beiden Herren unter höfischen Verbeugungen.
»Meinen untertänigsten Gruß dem Herrn Grafen und seinem erlauchten Gast! – Votre aspect, Seigneur, est à merveille. Ihr Antlitz stellt sich glanzvoll, rund und rosig schimmernd dar wie das des Phöbus, wenn er verjüngt des Morgens über die Berge steigt. Ohne die Narben nochmals zu inspizieren, halte ich dafür, daß Ihre Gesundheit jetzt solider ist als vor dem bösen accident, ja im ganzen genommen die blühendste, deren ein junger Kavalier nur je sich rühmen kann.«
»So fühle ich es selbst, mein Herr Chirurgus, und das ist wahrhaftig nicht zu verwundern in solch einer göttlichen Weltabgeschiedenheit, wie der Herr Graf sie mich hier genießen läßt. Hält und pflegt er mich doch wie seinen eigenen Sohn. Ihm allein die Ehre! – wohlverstanden neben Ihrer Kunst, mein Herr Chirurgus!«
»Ich wünschte nur,« sagte der Graf, »ich könnte Sie als Sohn mir und meinem Besitz erhalten bis 99 über die Gruft hinaus. Aber das leidige Statut des Lehens ist nun einmal dawider.«
»Und ohne Ihre Gegenwart, wertester Freund, hätte der Aufenthalt sogleich auch allen Charme für mich verloren.«
»Wirklich? Selbst an der Seite Ihrer beiden Kinder, deren Wert Sie doch so freundlich anerkennen?«
»Je nun, die sind ein liebes Spielzeug, füllen aber nicht die Stunden, in denen ich ohne Ihren Geist verzweifeln müßte.«
»Vielleicht weil sich der feinste Duft künstlich gezüchteter Blüten im neuen Klima nur zögernd entwickelt.«
»Mag sein. Noch ist ja meine Zuneigung zu den beiden Liliaceen im Wachsen. Indes der Herr Chirurgus untersagte mir bisher Débauchen in weiterem Umfang. Ich werde ihm sehr schmeicheln müssen, bis er mir endlich auch die äußersten Pforten des Vergnügens freigibt.«
Mit einer scherzhaften Bewegung, als ob er beiseite spränge, erklärte unterwürfig der Chirurg:
»Hiemit, auf Ihren bloßen Wink hin, füg ich mich. Die Pforten sind frei, treten Sie ein, Seigneur! Nur erlauben Sie mir, Ihnen ein kleines Viatikum mitzugeben, dessen vortreffliche Wirkung ich häufig an älteren, aber auch an allzu übermütigen jungen 100 Herren erprobte. Es handelt sich um ein Krafttränklein, aus Osmozon gebraut.«
»Ja, es ist nicht übel, dieses Osmozon,« bestätigte der Graf. »Wenn es mich auch in den letzten Jahren leider oft im Stiche ließ.«
»Immer nur wenn der Herr Graf es wider die Natur benutzen wollten. Gewisse Kräfte kann unsre Arzteskunst nur unterstützen, nicht zurückerobern. – Versuchen Sie es, Seigneur! Es bestehet, kurz gesagt, aus dem Extrakt von Fleisch samt Knochen eines Hahnes, den man lebendig, jedoch gerupft, im Mörser zerstampft und mit einem Zusatz von Ambra, Kandiszucker und schmackhaften Gewürzen über dem Feuer brodeln läßt. Abgeseiht können Sie die Bouillon auf Flaschen füllen. Das genaue Rezept befindet sich in den Händen des gräflichen Küchenchefs.«
»Gut, gut,« rief lachend der Vicomte. »Ich werde des Tranks nur allzu oft bedürfen.« –
Da mit herannahender Mittagszeit die Hitze stieg und der wackre Chirurg sein Pferd unter der Zudringlichkeit der Fliegen am Zügel kaum mehr bändigen konnte, so kehrte man ins Schloß zurück. Zudem stand die beste Stunde des Tages bevor, die des Frühstücks, das in der wohltuenden Kühle der nach Norden gelegenen Bibliothek soeben aufgetragen wurde.
Seit Guy de Montaigu die Gastfreundschaft des 101 Grafen genoß, ließ dieser ihm zu Ehren alle Register einer erlesenen Feinschmeckerei spielen. Er sollte sich überzeugen, daß nicht nur in dem königlichen Paris von ehedem, sondern auch im barbarischen Deutschland verwöhnte Zungen ihre Rechnung fänden. Diese Frühstücke waren mäßig im Umfang, aber unübertrefflich in der Auswahl und raffinierten Zubereitung der Gerichte. So gab es an diesem Festtage endgültiger Genesung nur drei Gänge. Jedoch war die Fondue aus gepfeffertem Rührei mit Chesterkäse, in der Kasserolle gebacken, im Verhältnis der Zutaten aufs exakteste getroffen, die Wachteln in Papilloten wundervoll knusprig, dabei triefend von Saft, mit konzentriertem Dufte, der Sorbett im Waffelturm ein Zusammenklang ambrosischer Essenzen. Als milder Orgelton begleitete das Ganze trockener Madeira gediegenen Alters; ein Glas Champagner schloß die Symphonie.
Hatten anfangs philosophische Witze und paradoxe Betrachtungen über den Wandel des Zeitgeistes die Unterhaltung beherrscht, so folgten beim Nachtisch Belege dafür in Gestalt von prickelnden Histörchen und Anekdoten über die täppischen Ausschweifungen des Pöbels, verglichen mit den letzten Zuckungen eines Adels, die im Tode wie im Orgasmus gleicherweise beherrscht waren von Grazie und Geschmack.
Der Chirurgus, bei den Emigranten von Trier als leiblicher Berater und Austräger der Neuigkeiten 102 gern gesehen, wußte viel Ergötzliches zu berichten von den Bandes joyeuses, die unter dem Protektorate des geistlichen Kurfürsten in alter Glorie wieder auferstanden und die Bürgerschaft in steter Angst um ihre junge Brut erzittern ließen. Mit der Enthüllung delikatester Geheimnisse aus Alkoven und Schlupfwinkeln suchte er den Vicomte hinüberzulocken zu den Seinigen. Der aber winkte schmerzlich lächelnd ab, indem er seine leere Börse um den Finger wickelte.
Das gab nun Anlaß, in grausigen Phantasmagorieen, in Mark und Bein erschütternden Berichten die Schrecknisse ökonomischen Elends heraufzubeschwören, wie hier ein verarmter Marquis, dort ein verschuldeter Herzog zum Betteln und Betrügen, ja sogar zu handwerksmäßiger Arbeit und niederem Beamtendienst sich hatte gezwungen gesehen. So war dem Monseigneur Artois gemeldet worden, daß ein jungen Herr von Borose in Genf von Wasser und Brot sein Leben friste, und ein Flüstern ging, daß hier am Rhein, ganz in der Nähe, ein Großneffe Richelieus sich seine weißen Hände am Weberschiff zerreiße.
»Gottes Donner, seien Sie still, Chirurg,« gebot entsetzt Graf Leven. »Wozu die Verdauung stören mit so gräßlichen Legenden!«
Bleich und gespannt, fröstelnd unter einer nervösen Gänsehaut, hörte Guy de Montaigu den Schauergeschichten zu:
103 »Nein, lassen Sie ihn, Graf! Nur weiter, weiter, Herr Leibchirurg! Ersparen Sie mir nichts von diesen Greueln! – Solange man noch Sorbett und Champagner schlürft, gibt unsres Nächsten Elend einen Hintergrund ab von trefflichem Kontrast. Was reizt den Appetit und fördert die Geschäfte unsres Magens besser als der Anblick dieser Welt voll Leiden! Kommt dereinst die Reihe an mich – Graf, so weihen Sie meinem Angedenken getrost ein Trüffelpüree und den schwersten Burgunderpunsch!«
* * *
Ein erster leichter Morgenwind erhob sich, stieß die geöffneten Fensterflügel des Pavillons weit auseinander, blähte die Vorhänge wie volle Segel und führte den heißen Dunst der Sommernacht mit sich hinaus in den Wald. Dann kehrte er wieder mit frischem Atem, bis das ganze Gemach erfüllt war von reinem, kühlem Äther und harzigem Duft. All die Flämmchen der Kerzen vor den Spiegeln flackerten heller auf, bogen ihre Spitzen in tändelndem Verlangen einander zu, reckten sich und tanzten zu dem Takte, den der Morgenwind ihnen blies.
»Achmed, wo hast du dich verkrochen?« rief Guy, von seinem Lager aus belustigt um sich blickend.
Brigitte ruhte schlummernd auf dem Rücken, die Hände unter dem Nacken gefaltet, den rechten 104 Schenkel mit erhobenem Knie ein wenig angezogen. Achmed aber schien verschwunden, wie vom Winde eben erst hinweggeweht.
Aber nein, dort unten . . . dort im Winkel, auf der Schwelle lag er ja, hingestreckt, niedergeschmettert, das Bild eines verstoßenen, sterbenden Sklaven.
Guy eilte zu ihm:
»Mein Freund, was fehlt dir? Was treibst du da für Unfug?«
Als sei er auf der Flucht ins Weite kraftlos vor der Pforte zusammengebrochen, so strebte Achmed jetzt mit einem letzten Aufzucken der Schwelle zu. Das Gesicht war, als es Guy zärtlich in seine Hände nahm, todestraurig, heiß und feucht von Tränen, in denen es sich gebadet hatte wie das Gesicht eines Ertränkten in einem flachen Teich.
»Sag mir, wer hat dir deinen Platz am harten Boden angewiesen? Ich nicht und auch Brigitte nicht! – Liebling, haben wir dich irgendwie gekränkt? Bei Gott, unsre Absicht ist das nie gewesen!«
Achmed schüttelte betrübt den Kopf, versuchte zu lächeln und wischte sich die Tränen ab.
Fürsorglich nahm ihn Guy auf seine Arme und trug ihn zurück in die Kissen.
»Nun komm, sei gut! Hab mich nur lieb! Ich will dich gerne trösten!«
»Seigneur . . .! Ach, lieber, lieber Herr . . .!«
105 »Ja, Achmed, ja! Sag nur, was ist! Sag, was ich mit dir, was ich für dich alles tun soll!«
»Ganz will ich dem Seigneur gehören!« flüsterte Achmed ihm ins Ohr, ängstlich bemüht, ein erneutes wildes Schluchzen in sein gequältes Herz zurückzudrängen. »Niemandem als dir, Seigneur! Auch der Brigitte nicht!«
»Gut, Achmed, recht so! Wie du willst! – Sieh doch, Brigitte schläft. Niemand ist jetzt auf der Welt als ich und du allein.«
»Ach, für wie lange, Herr? Bis Brigitte erwacht! Und dann . . . was ist Achmed dann für seinen Herrn? Nicht einmal eine schöne Sache, die Seigneur gebraucht, nicht einmal zum Sklaven gut genug!«
»O, Achmed, törichter kleiner Freund – schweig stille, sonst erwacht Brigitte dir zu früh! – Schweig stille, nutze deine Stunde!«
Brigitte wandte sich im Schlaf zur Seite, sprach und lachte leis im Traum:
»Kusch, Achmed! Kusch, du treues Hündchen!« murmelte sie vergnügt und griff mit allen zehn Fingern spielend in die Luft. »Geh – stör – mich nicht . . .! Seigneur – o – o – Seigneur!«
Ein großer schwarzer Nachtfalter kam hereingeflattert, umschwirrte die Kerzen, ließ sich auf Brigittes weißer Brust durstig wie auf einer Blüte nieder, umkreiste Guy und Achmed und verschwand. Vom 106 höchsten Ast der Ulme, deren Blätter zitternde Schatten über den Estrich warfen, ließ eine Drossel den ersten zaghaften Morgenpfiff erklingen, schwieg aber bald, weil ihr noch keine Antwort ward, und die Seufzer, die ihr Lockruf übertönt hatte, schwollen wieder an, begleitet von den tiefen Atemzügen des schlummernden Mädchens.
Nun klopfte Guy zärtlich Achmeds braune Wange, scherzte noch ein wenig, sprach ihm mit Schmeichelworten zu; bald aber wurden seine Liebkosungen zerstreuter, und während die zwei syrischen Flammenaugen ihn umlohten, kehrte Guy mit seinen Gedanken zu sich selbst zurück.
Dies war die letzte gemeinsame Nacht! So sollte es bei ihm beschlossen bleiben, und es galt für eine kurze Zukunft noch einmal im Gemüte zusammenzufassen und befriedigt nachzugenießen, was ihm unter diesem Dache an Freude zuteil geworden war: nach lebenslanger Fahrt durch Pein und Ärgernisse eine wohlige Rast, nicht zu kurz bemessen, fast eine üppige Oase, ausreichend um Kraft zu sammeln für einen würdigen Rückzug zu den Vorfahren, in den exklusivsten Winkel des Tartarus. Ein fremder alter Herr, großherzig und verständnisreich wie wenige, hatte viel für ihn getan – aus Laune . . .? aus Eitelkeit . . .? aus schrullenhafter Liebhaberei . . .? Gleichviel! – Welche Gründe edler Handlungsweise wären 107 wohl lauter genug, um sie mit Emphase als selbstlos und tugendhaft zu preisen! Es möge uns genügen, wenn sie ihr weißes Schleppgewand in gefälligem Faltenwurf tragen. Unsre Dankbarkeit wird überall zur Stelle sein, wo ein Wohltäter unsrer Einbildung die Wege ebnete. – Schade nur, daß man die beiden Kleinen hier enttäuschen mußte! Sie verdienten es ebensowenig wie ihr greiser Herr, wenn sie auch selber mehr auf ihre Rechnung gekommen waren. Gaben sie wirklich so ganz sich hin, wie es den Anschein hatte? Ach, zum Glücke opfert jede Kindheit immer nur die Augenblicke, nie sich selbst. Ihre Neigungen sind in zu raschem Flusse, um lange vor sich hinzustarren, wie das Alter in seinen vertrocknenden Weiher. Sie werden sich mit ein paar hübschen Andenken trösten, Überbleibseln aus dem Familienschatz der Montaigus. Achmed wird, nachdem er stumpf und fett geworden, aus der goldenen Dose schnupfen, die ein Douceur des Königs von England war, und Brigitte wird allabendlich auf den Gassen am überpuderten Finger Rubinen glitzern lassen, die ehedem für fromme Ahnfrauen die Weihe des Heiligen Grabes empfingen. So wandele denn ein jeder Mensch und jedes Ding denjenigen Weg der Schande, der ihm naturgemäß bestimmt ist! –
Brigitte, kaum erwacht, schloß den Seigneur sogleich in ihre Arme. Unerbittlich hütete sie ihren Raub vor Achmed. Sie mochte ihren künftigen 108 Gemahl sehr gern für Mußestunden und als zuschauendes Publikum beim festlichen Triumphzug ihrer Schönheit; jetzt aber hatte er sich an das unterste Ende der Bettstatt zurückzuziehen um dort in Demut zusammengerollt sich mit den Füßen des Seigneur zu begnügen. Doch auch die Füße betete er an und überschüttete sie mit gierigen Küssen, die bei aller Wildheit der Ehrfurcht nicht entbehrten.
Der Morgen stieg nun mit Glanz herauf. Die Vögel vor den Fenstern hielten sich nicht länger; auf der Ulme droben ward jetzt der Drossel ein ganzes Minnelied zur Antwort. Fink und Grasmücke stimmten mit ein, bis ein schmetternder, aufreizender, betäubender Gesang das verschwiegene Lusthäuschen rings umgab, gleich einer Jubelkapelle, die mit Morgenständchen ein bräutliches Paar begrüßt.
Das kleine Mädchen drinnen erwuchs zusehends zum Weibe. Es sprach von Liebe und begehrte an einem Treuschwur sich zu sättigen.
»Kann mein Seigneur noch anderen gehören außer mir?«
»Niemand galt mir vorher mehr als du, und künftig – künftig wird mich nach Liebe wenig mehr gelüsten. Wenig Zeit wird mir für sanfte Triebe und holdes Getändel übrig bleiben.«
Da erfuhren sie denn, Brigitte in seinem Arm, Achmed zu seinen Füßen, daß er heute noch 109 davonziehen und sie zurücklassen werde bei ihrem früheren Herrn. Jammer und Beschwörungen in einer Sturmflut, Tränen in einem Strom von beiden Seiten wollten ihn schier überwältigen. Wie war es möglich, daß er hinausginge in die Fremde, unter seine Feinde, weg aus diesem warmen Nest, dem einzigen Fleck, wo man ihn lieb hatte, wo man ihn höher ehrte als Muhammed und alle Heiligen? War es zu begreifen, daß ein Seigneur so herzensgut, so edel, so gnädig sein konnte, und doch kein Herz im Leibe haben, gar kein bißchen Liebe fühlen, da er doch Liebe so ungeheuer viel erzeigte?
Ja, leider war es wirklich so, wunderlicherweise! Ihm selber klar, wenn auch Kindern schwer zu erklären. Die Klagerufe des Mädchens neben ihm drangen bereits wie aus weiter Ferne zu ihm, rührten ihn, doch erschütterten ihn nicht. Wie Narkissos sah er sich über sein eigenes Bild gebeugt, in sich selbst, in sich allein verliebt, unablässig sich bespiegelnd, indes die sehnsuchtsvolle Nymphe Echo vergebens nach ihm rief und lockte . . . Arme Nymphe, die verblendet ihre Augen auf einen Jüngling warf, der es vorzieht, nach sich selber zu verschmachten und die Vereinigung von seines Wesens Licht und Flamme erst im Erlöschen finden wird!
* * *
110 Als es denn so weit war, daß Guy sich den Degen umschnallte und sein gut herausgefüttertes Pferd im Hofe satteln ließ, spann Graf Leven in aller Hast noch die abenteuerlichsten Pläne, wie sein Freund zurückzuhalten wäre. Er wollte ihn adoptieren, mit ihm nach Rom, ja bis nach Spanien ziehen, wollte zu seinen Gunsten die Vetternschaft um ihr Erbteil betrügen. Guy jedoch blieb eigensinnig bei seinem Fatalismus stehen. Das Ende, das ihm und seiner Familie bestimmt war, gedachte er nicht länger unrühmlich zu verzögern. Da Monseigneur Artois nun endlich dazu gelangte, ein Heer der Emigranten auszurüsten und unter den Fahnen Österreichs gegen die Republik zu führen, so gab es auch für Guy de Montaigu keinen anderen Platz als dort, keine andere Bestimmung mehr, als zu fallen gegen ein Volk, das er verabscheute wie die Pest, und den Boden Frankreichs, das er trotz alledem über alles liebte, mit seinem Blute zu tränken.
Der Schmerz des Grafen steigerte sich zu wahrem Zorn:
»Huh, Vicomte, was haben Sie doch von Ehre und Waffenruhm für obsolete Begriffe!«
»Begriffe kenne ich nicht, lieber Graf, sondern nur noch ein paar verstreute Gefühle. Die mögen wohl obsolet sein wie alle Gefühle, aber sie bleiben mein letztes Vergnügen. Ich möchte sie mir nicht stören 111 lassen. Die Vorstellung, an der Seite meiner Standesgenossen mitten hinein zu reiten unter die verfluchten Haufen, einige Male noch meinen Degen zu gebrauchen und dann massakriert zu werden wie mein Vater, geköpft zu werden wie meine Mutter, ist mir – Gott zum Zeugen! – eine angenehme Vorstellung. Mag alsdann der Pöbel die Welt unter sich aufteilen! Mich geht sie nichts mehr an. Je me fiche de l'avenir! – Sie aber verlangen, daß ich als einer der Überzähligen bettelnd, schwindelnd oder vom Gnadenbrote lebend wie ein ausgedienter Rassehengst, an den Höfen herumhinken soll? Etwa gar mich vorstellen bei meinem Oheim, dem kaiserlichen Konseilpräsidenten, dessen saure Miene, mit der er jetzt schon die Ankunft seines deklassierten Verwandten erwartet, ich deutlich vor mir sehe? – O, nein! – Es war mir das höchste, ja das einzige Glück meines kurzen Lebens, ein paar Monate lang Ihre köstliche Gastfreundschaft zu genießen; aber peinigen würde es mich, aufs Unbestimmte hinaus mich von Ihnen unterstützt zu wissen. Ich habe mein Pferd und meine Waffe; das ist genug, um von dieser Bühne der Greuel und der Albernheiten mit Anstand zu verschwinden!«
»Es sei denn,« wandte Leven ein, »daß Sie den Pöbel zu Paaren treiben, den Dauphin befreien und den Glanz Ihrer Familie erneuern!«
»Dies zu erwarten wäre Wahnsinn, Graf! Dem 112 widersprechen alle Gesetze politischen Fortschritts, die zur ungemessenen Vulgarisierung, zu immer gemeinerem Abstieg drängen. Die Stände, die jetzt an die Reihe kommen, nennen es natürlich Aufstieg. Immerzu! Mögen die Philosophen recht behalten, sie haben die Logik für sich und den schlechten Geschmack. Ich beneide sie und das Volk, ihren schmutzigen Schützling, keineswegs. Mein Stichwort ist gefallen: ich trete ab wie ein geschminkter Held von Corneille und werde dann hinter den Kulissen in Gemütsruhe erwarten, was für eine Rolle der große Schauspieldirektor mir weiterhin bestimmt hat.« –
Guy de Montaigu schwang sich aufs Pferd und schüttelte dem Grafen die Hand. Seelenvoller Abschied ward nicht beliebt. Um einen solchen sicher zu vermeiden, blieben die Kinder im Pavillon eingesperrt, wo sie eng umschlungen am Fenster lehnten und laut schluchzend eines das andere zu trösten versuchte. Guy bemerkte nichts davon. Er trabte frohgemut durch den Wald, nach Trier zur Armee.