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Fünftes Kapitel.
Vom Saima zum Ulefluß.

Ich rede deutsch, die andern reden finnisch. – Nurmi, der Held. – Wacklige Landungsstege und allgemeine Heiterkeit. – Willem und Fritze begegnen mir noch einmal. – Nächtlicher Besuch in Varkaus. – Bergbesteigung in zweihundertdreißig Meter Höhe. – Ankunft in dem Städtchen Kajana. – Lönnrot, der Dichter und sein Held Wäinemöinen.


Endlich aber hieß es Abschied nehmen von dem freundlichen Städtchen Nyslott und all seinen Wald- und Wasserfreuden, denn allmählich mußte ich doch meinem nördlichen Ziele näher kommen.

Die nächste Reisestation für mich war die ebenfalls reizend an einem See gelegene Provinzhauptstadt Kuopio.

Man kann zwar von Nyslott aus auch in ein paar Stunden mit der Bahn dorthin gelangen, aber man tut es nicht. Man setzt sich lieber wieder auf so ein wackeres Kleindampferchen und fährt vom hellen Nachmittag durch den sinkenden Abend und den steigenden Morgen an sein Ziel.

Man hat die Wahl zwischen zwei Dampfern. Ich nahm den, der »Leppävirta« heißt. Ich hatte es nicht zu bereuen.

Was für nette kleine Abenteuer erlebte ich nicht in diesen achtzehn Stunden zwischen Nyslott und Kuopio!

Die freundliche Vertreterin des finnischen Touristenvereins in Nyslott hatte mich dem Herrn Kapitän als deutschen Fahrgast im voraus ans Herz gelegt, aber sie hatte mir gleich gesagt, deutsch verstünde der Kapitän nicht, und da ich nicht finnisch spräche, so würde sich unser Verkehr wohl auf liebenswürdige Mienen beiderseits beschränken. Und so geschah es auch.

Als ich an Bord kam, schüttelte er mir sehr kräftig die Hand und sagte dazu: »Minä puhu en saksaa« (ich spreche nicht deutsch).

Darauf ich: »Minä puhu en suomea« (ich spreche nicht finnisch).

Damit war unsere kurze, aber sehr klare Unterhaltung so ziemlich beendigt.

Im Laufe unseres Zusammenseins stellten wir freilich noch einmal gemeinsam fest, daß es »sehr schönes Wetter« sei. Wie das auf finnisch hieß, hatte ich glücklich von den Barometern abgelesen: denn in jenem heißen Sommer des Jahres 1924 stand das Wetterglas immerfort auf »schön und beständig«, und das drückt man finnisch mit den Worten aus: »Kaunis hyvä ilma«, wörtlich zu deutsch: »Sehr schönes Wetter«.

Trotz alledem aber bildete ich mir alsbald ein, hervorragend gut finnisch zu verstehen. Zu Mittag saßen wir nämlich in der kleinen Eßkajüte friedlich beisammen, das Kapitänsehepaar, ich selber und noch sechs andere, nur finnisch redende Fahrgäste.

Plötzlich hörte ich nach einer langen Strecke mir unverständlicher Worte folgende vier Klänge auftauchen: Paris, Olympia, Stadion, Nurmi!

Jetzt wußte ich wovon die Rede war!

Wovon sollten die Finnländer auch in jenem Sommer reden als von dem ersten großen Sportsieg, den ihr Landsmann Nurmi bei den Pariser olympischen Spielen errungen hatte! Alle Zeitungen waren ja davon voll, und bis tief in die Nacht standen noch die jungen Leute beiderlei Geschlechts in den kleinen Städten vor der Druckerei ihres Ortsblattes, wo am Fenster die Depeschen aus Paris angeschlagen wurden! Und immer, wenn Nurmi wieder ein paar Punkte voraus hatte, dann erschollen in der sonst so stillen Sommernacht die vaterländischen Gesänge. Auf ihren Meisterläufer waren die Finnländer mindestens eben so stolz, wie auf die Tatsache, daß sie ein paar Jahre vorher das russische Joch abgeschüttelt hatten.

Also nickte auch ich freundlich und ließ das Wort Nurmi anerkennend über meine Lippen, was mir seitens der Finnländer unbedingt einen höheren Wärmegrad persönlicher Beachtung verschaffte.

Aber selbst wenn ich diese lose Bindung mit den übrigen Fahrgästen nicht gefunden hätte, – das sommersonnige Land, durch das wir fuhren, redete eine Sprache, die dem deutschen Fremdling unmittelbar, ohne Radebrechen oder Dolmetschen, zu Herzen ging.

Wie menschlich-nahe fühlte ich mich all diesen Männern und Frauen, diesen Buben und Mädchen, die da an den kaum mehr zählbaren kleinen Inselchen aus- und einstiegen! Des Hochwassers wegen hatte man die Landungsstege verlängern müssen, und dieser behelfsmäßige Ausbau sah manchmal ganz abenteuerlich und verwegen aus. Viel Gelächter erhob sich immer wieder, wenn auf diesen steilen schwippenden Laufstegen zum Schiff alle Grazie zum Teufel ging. Wie verrückt gewordene Seiltänzer tappten die Einzelnen herüber und hinüber, und ganz abenteuerlich wurde die Sache, wenn in dieser Robinsonschen Inselwelt der aus der Stadt hierher verschleppte Haushalt in Gestalt von Kinderwagen oder Nähmaschinen auftauchte und nun gleichfalls über schwebende Bretter glücklich ans Ufer gelangte!

Wie malerisch war das Bild, wenn die abholenden Kähne herangerudert wurden, meist von sonngebräunten, barfüßigen und strumpflosen jungen Mädchen mit dem landesüblichen weißen Kopftuch!

Als wir wieder einmal in einer stillen Bucht anlegten und ich mir die herangeruderten Boote genauer betrachtete, was erlebte ich da! In einem dieser Boote saßen, emsig mitrudernd, während ein junges Mädchen am Steuer saß, niemand anders, als meine kleinen Helsingforser Freunde, Willem und Fritze, die mundfertigen Berliner!

Man kann sich denken, was das für ein Hallo wurde, als ich ihnen vom Schiff aus zurief und mich zu erkennen gab!

Lange Zeit zur Unterhaltung hatten wir natürlich nicht, aber in aller Eile erfuhr ich doch, daß die beiden kleinen Spreeathener ganz in der Nähe bei einem Bauern untergebracht waren und sich vorkamen »wie der Herrgott in Frankreich«. Was sie da alles erlebten auf der Weide und am Wasser mit vierbeinigem und schwimmendem Getier, das war mal etwas anderes, als der Berliner Asphalt und die Drehorgeln im Hof.

Nur ein Schatten fiel auf dieses unbeschreibliche Glück!

»Denken Sie sich bloß an, Herr Doktor,« meinte Willem zu mir, »zu Ihnen können wir natierlich berlinisch reden, aber bei die Finnländers müssen wa fein hochdeutsch sprechen. Denn die wollen ja deutsch von uns lernen, und die glauben, daß det in Berlin am scheensten gesprochen wird. Vorichtes Jahr war so'n kleener Sachse aus Chemnitz da, da haben all die Finnländers rundherum sächsisch gelernt, und det sollen wir ihnen nu wieder austreiben.«

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Lappenfriedhof in Utsjoki

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Kiessteinfabrikation mit dem Göpel in Utsjoki

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Lappenhütte am Utsjoki

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Ein komfortables Heim (bei Utsjoki)

»Na, ich wünsche euch viel Glück zu eurem Hochdeutsch«, erwiderte ich. »Ganz so leicht wird die Sache wohl nicht werden, aber da ihr ja helle Berliner seid, wird's schließlich zu machen sein.«

Inzwischen schwenkte unser Dampferchen schon wieder ab, und lange noch winkten die beiden Bengels mir nach. Willem aber brüllte noch durch die vorgehaltenen hohlen Hände:

»Uff Wiedersehen, Herr Doktor, an der Spree!«

Nach diesem unerwarteten Zwischenspiel, das mich so unversehens in die deutsche Heimat zurückversetzt hatte, hatte ich Mühe, mich wieder in der Fremde zurecht zu finden.

Aber wie merkwürdig der Zufall doch oft spielt! Noch ein zweites Mal an eben demselben Tage fand ich mich in deutscher Umgebung.

Am späten Abend, der aber nichts anderes war als helle Nacht, legten wir zu einem mehrstündigen Aufenthalt an dem kleinen Industrieort Varkaus an.

Man glaubt zunächst im amerikanischen Wildwest zu sein. Zwischen Wald, Fels und See rauchen Fabrikschlote, und erheben sich stolze Burgen der Industrie, in denen dreischichtig unablässig gearbeitet wird. Es sind dies Papier-, Holzschliff- und andere Fabriken. Und nun ist es das Merkwürdige, daß man in diesem weltfernen Winkel plötzlich auf den Straßen deutsche Laute hört. Hier hat nämlich eine Reihe deutscher Facharbeiter ihr gutes Auskommen gefunden.

Wenn auch ein paar von den jüngeren wieder auf und davon sind, weil sie sich an die Einsamkeit nicht gewöhnen konnten, – die Mehrzahl ist geblieben, sogar finnisch haben sie gelernt, namentlich von der holden Weiblichkeit; ja einige haben bereits einen regelrechten deutsch-finnischen Ehebund geschlossen.

Natürlich gibt's auch einen Verein unter ihnen, und natürlich sind auch schon wieder einige ausgetreten, weil ihnen etwas nicht paßte. Ach, wie deutsch wurde mir da zumute, im fremden Land, als ich auch diese Mär vernahm! ...

*

An einem wolkenlosen Sommermorgen legte unser Dampfer in Kuopio an. Von hier aus sollte ich im Laufe des Tages mit der Eisenbahn weiter nordwärts fahren, nach dem Städtchen Kajana. Aber zwischendurch mußte ich unbedingt etwas unternehmen, was in Finnland zu den Seltenheiten gehört, nämlich eine Bergbesteigung.

Mit den Erwartungen eines Hochtouristen darf man aber an diese finnischen Berge nicht herangehen. Denn der Puijo, der sich bei Kuopio erhebt, bringt es nicht über 230 Meter Höhe, und der Aussichtsturm, der auf seinem Gipfel errichtet ist, macht, wie man zu sagen pflegt, den Kohl auch nicht fetter.

Dafür aber hat man von diesem Aussichtsturm einen Blick, den man nie wieder vergißt. Man sieht Finnland aus der Vogelschau. Wie eine Riesenlandkarte liegen Wald und See gebreitet, in unendlicher Wiederholung, aber auch in unendlichem Wechsel. Das Auge beherrscht vom Puijo aus einen Halbmesser von etwa fünfzig Kilometern, und immer wieder blinken hinter dem meilenweiten Baumdunkel die Silbergrüße des Wassers auf.

Als ich oben auf diesem Turme stand, bedauerte ich es lebhaft, nicht wie mein Freund Johannes auch Flieger zu sein. Er hatte dies sein Heimatland oft genug aus viel größerer Höhe überblickt und den unvergeßlichen Zauber dieses Wald- und Wasserlandes in sich aufgenommen.

Für mich aber galt es jetzt, wiederum bescheiden auf dem Erdboden zu bleiben, eine Zeitlang wieder vom engen Eisenbahnabteil hinauszublicken in die abwechslungsreiche Landschaft, bis ich in Kajana (finnisch: Kajaani) anlangte.

*

Hier bekam ich nach allerlei Redeversuchen auf finnisch, schwedisch, deutsch und englisch endlich noch eine kleine Dachstube, in deren Stille die nahen Stromschnellen mir das Abendlied sangen und den frischen Morgengruß hineinschickten.

Hier war alles überfüllt von einheimischen und fremden Besuchern, denn von hier aus beginnt die Dampferfahrt über einen See zu den Stromschnellen des Uleflusses, dieser berühmtesten Sehenswürdigkeit des nördlichen Finnlands.

Wie viele aber unter den Gästen mögen sich daran erinnert haben, daß einst aus diesem kleinen Städtchen Kajana Großes und Unvergängliches hervorgegangen ist!

Hier lebte um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts der bescheidene Provinzarzt Elias Lönnrot. Er hat in seinen Mußestunden selbst, wie einst die alten finnischen Volkssänger, die Kantele gespielt, und hat seinem Volk, abgelauscht von den Lippen der alten Volkssänger, das herrliche Nationalepos »Kalewala« geschenkt.

Mit einem Gruß des Dankes gehe ich an »Lönnrots Quelle« vorüber! Ja, dieses kleine Kajana war die Wiege einer großen Volksdichtung, die auf immer verschollen und zertrümmert geblieben wäre, hätte nicht von hier aus, aus der stillen Provinzstadt, Elias Lönnrot als emsiger Sammler seine Wanderung zu den karelischen Sängern angetreten und ihnen mit zäher Beharrlichkeit alles entlockt, was, durch viele Geschlechter weitergetragen, an uraltem Sagengut noch in ihnen lebte. Die Zaubermacht des Wortes, die geheimnisvolle Kraft der Stimme spielt in dieser finnischen Nationaldichtung eine überaus große Rolle: diese Zaubermacht muß auch ihm selber, diesem Neuschöpfer der alten Dichtung, eigen gewesen sein.

Und ewig wie die Fluten, die hier in Kajana über die Granitblöcke des Flusses schnellen, ewig wird im Lande Suomi auch das Lied ertönen von den drei brüderlichen Sagenhelden, dem Sänger, dem Schmied und dem Jäger. Der Sänger aber, Wainämöinen, alt und wahrhaft, ist der größte unter ihnen. Er bezaubert Alt und Jung, Lebendes und Totes, so wie es von ihm heißt in einem der Gesänge der Kalewala:

Fing der alte Wäinämöinen
Nun gar kunstreich an zu spielen
Auf dem Spielgerät aus Gräten,
Auf der Kantele aus Fischbein,
Schnell erhoben sich die Finger,
In die Höhe stieg der Daumen.
Da ward wahre Freud' aus Freude,
Aus dem Jubel echter Jubel,
Großes Spiel ward aus dem Spiele
Und zum Lied gedieh das Singen;
Da erklang der Zahn des Hechtes,
Töne gab des Fisches Gräte,
Mächt'ger Sang kam von den Saiten,
Heller Ruf von Rosses Haaren.
Spielt der alte Wäinämöinen,
Nicht gab's zu der Zeit im Walde
Tiere laufend auf vier Füßen,
Tiere herzuhüpfen fähig,
Die nicht kamen zuzuhören,
Sich am Jubel zu erfreuen.
Lustig sprang das muntre Eichhorn,
Kletterte von Ast zu Ast;
Näher kamen Hermeline,
Setzten sich dort an die Zäune,
Auf den Fluren hüpft das Elen,
Luchse teilten selbst die Freude.
Es erwacht der Wolf im Sumpfe,
Auf der Heide steht der Bär auf
Von dem Lager unter Fichten,
In dem tannenreichen Dickicht.
Eilt der Wolf durch weite Strecken,
Läuft der Bär durch lange Heiden,
Setzt sich endlich an dem Zaune,
Läßt sich nieder an der Pforte,
Daß der Zaun zum Stein sich senket,
Auf das Feld die Pforte stürzet;
Steiget dann auf eine Tanne,
Schwingt sich schnell auf eine Fichte,
Um dem Spiele zuzuhören,
Sich am Jubel zu erfreuen.
Tapiolas wacher Alter
Selbst, der Hausherr von Metsola,
Und das ganze Volk Tapios,
Wie die Mädchen, so die Knaben,
Stiegen auf des Berges Spitzen,
Um dem Saitenspiel zu lauschen;
Tapiolas wache Alte
Zog nun an die blauen Strümpfe,
Band sie fest mit roten Bändern,
Setzt sich auf der Birke Biegung,
Auf die Krümmung einer Erle,
Der Kantele zuzuhören,
Und dem Saitenspiel zu lauschen  ...


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