Klaus Mann
Mephisto
Klaus Mann

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Die Drohung

Der Intendant war kahlköpfig. Die letzten seidenweichen Strähnen, welche die Natur ihm gelassen hatte, rasierte er sich ab. Seines edel gebildeten Schädels brauchte er sich nicht zu schämen. Mit Würde und Selbstbewußtsein trug er das mephistophelische Haupt, in das der Herr Ministerpräsident sich vergafft hatte. Im fahlen, etwas aufgeschwemmten Gesicht schimmerten die kalten Juwelenaugen so unwiderstehlich wie je. Der empfindliche Leidenszug an den Schläfen rührte zu einem respektvollen Mitleid. Die Wangen begannen ein wenig schlaff zu werden, hingegen hatte das Kinn, mit der markanten Kerbe in der Mitte, seine herrische Schönheit behalten. Vor allem wenn der Intendant es hochreckte, wie dies seine Art war, wirkte es sowohl imponierend als reizend; neigte er indessen das Gesicht, so entstanden Falten am Hals und es stellte sich heraus, daß er eigentlich ein Doppelkinn besaß.

Der Intendant war schön. Nur Personen, die so scharf blickten wie die alte Frau Generalin durch ihre Lorgnette, glaubten feststellen zu dürfen, daß seine Schönheit nicht ganz echt, nicht ganz legitim und mehr eine Leistung des Willens war, als eine Gabe der Natur. »Es verhält sich mit seinem Gesicht so ähnlich wie mit seinen Händen,« behaupteten solche Boshaften und Überkritischen. »Die Hände sind breit und häßlich, aber er weiß sie zu präsentieren, als wären sie spitz und gotisch.«

Der Intendant war sehr würdig. Das Monokel hatte er gegen eine Hornbrille mit breitem Rand vertauscht. Seine Haltung war aufrecht, zusammengenommen, beinah steif. Der Zauber seiner Persönlichkeit ließ das Fett übersehen, das er doch in Wahrheit reichlich ansetzte. Meistens sprach er mit einer leisen, belegten, 336 dabei singenden Stimme, die gebieterische, kokett wehleidige und sinnlich werbende Töne auf diskrete Art miteinander abwechseln ließ und zuweilen, bei festlichen Anlässen, den überraschend aufleuchtenden Metallton hergab.

Jedoch konnte der Intendant auch munter sein. Im Repertoire der Mittel, mit denen er verführte, hatte die typisch rheinische, bei ihm aber übermütig persönlich geprägte Lustigkeit ihren wichtigen Platz. Wie der Intendant zu scherzen verstand, wenn es galt, verdrossene Bühnenarbeiter, widerspenstige Schauspieler oder die schwer zu behandelnden Repräsentanten der Macht für sich zu gewinnen! Er brachte Sonnenschein in ernste Versammlungssäle, er erhellte mit der ihm angeborenen und durch eine lange Routine perfektionierten Schalkhaftigkeit trübe Probenvormittage.

Der Intendant war beliebt. Beinah alle Menschen mochten ihn, rühmten seine Leutseligkeit und waren der Ansicht, er sei ein feiner Kerl. Ihm gegenüber schien sogar die politische Opposition, die nur bei geheimen Zusammenkünften, in sorgfältig verschlossenen Räumen ihre Ansicht äußern konnte, milde gestimmt. Es sei doch ein rechtes Glück – so meinten die, welche mit dem Regime nicht einverstanden waren –, daß auf einem so wichtigen Posten, wie der es war, den Höfgen innehatte, ein deklarierter Nicht-Nationalsozialist sitze. In diesen verschwörerischen Zirkeln wollte man wissen, daß der Chef des Staatstheaters sich, den Ministerien gegenüber, manches leistete und herausnahm. Er hatte Otto Ulrichs an die preußische Bühne gebracht – eine ebenso riskante wie lobenswerte Tat. Seit neuestem hielt er sich sogar einen Privatsekretär, der Jude oder mindestens Halbjude war –: Johannes Lehmann hieß der junge Mensch, er hatte sanfte, goldbraune, etwas ölige Augen und war dem Intendanten ergeben wie ein treuer Hund. Lehmann 337 war zum Protestantismus übergetreten und sehr fromm. Neben germanistischen und theatergeschichtlichen Kollegs hatte er theologische gehört. Für Politik interessierte er sich nicht. »Hendrik Höfgen ist ein großer Mensch,« pflegte er zu sagen und verlieh dieser Meinung in den jüdischen Kreisen, zu denen er durch seine Familie, und in den oppositionell-religiösen, zu denen er durch seine Frömmigkeit Beziehung hatte, eifrig Ausdruck.

Hendrik honorierte den ergebenen Johannes aus eigener Kasse: er ließ es sich etwas kosten, einen Menschen von der Paria-Rasse in seinem Dienste zu haben und, auf solche Weise, den Gegnern des Regimes zu imponieren. Für das Gehalt eines »arischen« Privatsekretärs wäre das Staatstheater aufgekommen; jedoch konnte der Intendant nicht gut die öffentliche Kasse für den Sold eines »Nicht-Ariers« in Anspruch nehmen. Vielleicht hätte ihm der Ministerpräsident sogar diese Laune verziehen. Aber Hendrik legte Wert darauf, das finanzielle Opfer zu bringen. Die zweihundert Mark, die er monatlich zu zahlen hatte und die übrigens in seinem Etat eine minimale, kaum spürbare Rolle spielten, lohnten sich ihm. Denn gerade sie gaben seiner schönen Tat ein besonderes Gewicht und vergrößerten ihre Wirkung. Der Jüngling Johannes Lehmann war ein bedeutender Aktivposten in der Bilanz jener »Rückversicherungen«, die Höfgen sich ohne gar zu große Risiken leisten durfte. Er brauchte sie, ohne sie hätte er seine Situation kaum ertragen, sein Glück wäre zerstört worden durch ein schlechtes Gewissen, das wunderlicherweise nie ganz schweigen wollte, und durch eine Angst vor der Zukunft, die den großen Mann zuweilen bis in seine Träume verfolgte.

Im Theater selbst – dort also, wo er als hohe Amtsperson handelte – erschien es ihm keineswegs ratsam, sich gar zu viel herauszunehmen: der 338 Propagandaminister und seine Presse schauten ihm auf die Finger. Der Intendant mußte froh sein, wenn er das Äußerste an künstlerischer Blamage, wenn er die Aufführung völlig dilettantischer Stücke, das Engagement total unbegabter, nichts-als-blonder Schauspieler verhindern konnte.

Selbstverständlich war das Theater garantiert »judenrein«, von den Bühnenarbeitern, Inspizienten und Portiers bis hinauf zu den Stars. Selbstverständlich durfte die Annahme eines Stückes nicht erwogen werden, wenn die Ahnentafel des Verfassers nicht bis ins vierte und fünfte Glied nachweisbar tadellos war. Stücke, in denen sich eine Gesinnung vermuten ließ, die das Regime als anstößig empfinden konnte, kamen ohnedies nicht in Frage. Es war nicht ganz leicht, unter solchen Umständen ein Repertoire zusammenzustellen; denn auch auf die Klassiker konnte man sich nicht verlassen. In Hamburg hatte es bei einer Aufführung des »Don Carlos« demonstrativen und fast aufrührerischen Beifall gegeben, als Marquis Posa vom König Philipp die »Gedankenfreiheit« forderte; in München war eine Neuinszenierung der »Räuber« solange ausverkauft gewesen, bis die Regierung sie verbot: Schillers Jugendwerk hatte als aktuell-revolutionäres Drama gewirkt und begeistert. Intendant Höfgen wagte sich also weder an den »Carlos« noch an die »Räuber«, obwohl er selber gerne sowohl den Marquis Posa als auch den Franz Moor gespielt haben würde. Fast alle modernen Stücke, die bis zum Januar 1933 in den Spielplan einer anspruchsvollen deutschen Bühne gehört hatten – die frühen, noch kraftvollen Werke Gerhart Hauptmanns, die Dramen Wedekinds, Strindbergs, Georg Kaisers, Sternheims – wurden wegen zersetzend kulturbolschewistischen Geistes scharf und mit Empörung abgelehnt: Intendant Höfgen konnte sich nicht erlauben, eines von ihnen zur Aufführung 339 vorzuschlagen. Die jüngeren Dramatiker von Talent waren beinah ausnahmslos emigriert oder lebten in Deutschland nicht anders denn in der Verbannung. Was sollte Intendant Höfgen spielen lassen in seinen schönen Theatern? Die nationalsozialistischen Dichter – forsche Knaben in schwarzen oder braunen Uniformen – schrieben Dinge, von denen jeder, der etwas vom Theater verstand, sich mit Grausen abwandte. Intendant Höfgen erteilte Aufträge an jene von den militanten Buben, denen er am ehesten einen Funken von Begabung zutraute: an fünf von ihnen ließ er ein paar tausend Mark auszahlen, ehe sie noch mit der Arbeit begonnen hatten, damit er nur endlich ein Stück bekäme. Die Resultate aber fielen jämmerlich aus. Was abgeliefert wurde, waren patriotische Tragödien, die das Machwerk hysterischer Gymnasiasten zu sein schienen. »Es ist wahrhaftig keine Kleinigkeit, in diesem Deutschland auch nur halbwegs vernünftiges Theater zu machen,« äußerte Hendrik im Kreise der Intimen, und stützte sein fahles, überanstrengtes, ein wenig angewidertes Gesicht in die Hände.

Die Situation war sehr schwierig, aber Intendant Höfgen war sehr geschickt. Da es keine modernen Lustspiele gab, entdeckte er alte Possen und hatte starke Erfolge mit ihnen; Monate lang machte er volle Häuser mit einer verstaubten französischen Komödie, über die unsere Großväter sich amüsiert hatten. Er selber spielte die Hauptrolle, zeigte sich dem Publikum in einem wunderbar bestickten Rokokokostüm, sein köstlich geschminktes Gesicht wirkte mit einem schwarzen Schönheitspflästerchen am Kinn derartig pikant, daß alle Weiber im Parkett vor Wonne kicherten, als hätte man sie gekitzelt, seine Gebärden hatten eine Beschwingtheit, seine Konversation eine Verve, die den wacker fabrizierten Großvater-Scherz wirken ließen wie den glanzvollsten modernen Reißer. – Da Schiller, 340 mit seiner ewigen Beschwörung der Freiheit, anrüchig war, bevorzugte der Intendant Shakespeare, den die maßgebende Presse als den großen Germanen, als das völkische Genie par excellence proklamiert hatte. – Lotte Lindenthal, Favoritin eines Halbgottes und repräsentative Menschendarstellerin des neuen Deutschland, konnte es wagen, als Minna von Barnhelm aufzutreten – also in einer Komödie, deren Verfasser für seine Judenfreundlichkeit ebenso unliebsam bekannt war, wie für seine gänzlich unzeitgemäße Liebe zur Vernunft. Weil die Lindenthal mit dem Fliegergeneral buhlte, verzieh man Gotthold Ephraim Lessing seinen »Nathan der Weise«. Auch die »Minna von Barnhelm« machte gute Kasse. Die Einnahmen der Staatlichen Bühnen, die unter der Direktion des Dichters Cäsar von Muck so miserabel gewesen waren, verbesserten sich zusehends, dank der Gewandtheit des neuen Intendanten.

Cäsar von Muck, der im besonderen Auftrag des Führers eine Vortrags- und Propaganda-Tournee durch Europa unternahm, hätte Anlaß gehabt, sich über die Triumphe seines Nachfolgers zu ärgern. Er ärgerte sich in der Tat, zeigte es aber nicht, sondern schrieb Ansichtskarten an seinen »Freund Hendrik« aus Palermo oder aus Kopenhagen. Auf ihnen ward er nicht müde zu betonen, wie schön und herrlich es sei, so in Freiheit durch die Lande zu streifen. »Wir Dichter sind doch alle Vagabunden,« schrieb er aus dem Grand Hôtel in Stockholm. Er hatte reichlich Devisen mitbekommen. In seinen teils lyrisch, teils militant gestimmten Feuilletons, die alle Zeitungen in großer Aufmachung publizieren mußten, war viel von Luxusrestaurants, reservierten Theaterlogen und Empfängen auf Botschaften die Rede. Der Schöpfer der »Tannenberg«-Tragödie entdeckte seine Neigung für die große Welt. Andererseits faßte er seine Lustpartie als erhabene 341 sittliche Sendung auf. Der mondän-poetische Agent der deutschen Diktatur im Ausland liebte es, seine suspekte Tätigkeit als »Seelsorgerberuf« zu bezeichnen und zu betonen, daß er nicht mit Bestechungsgeldern für das Dritte Reich werben wolle, wie etwa sein Chef – der Hinkende – dies tat; vielmehr mit kleinen zarten Liebesliedern. Überall hatte er Abenteuer, die so reizend wie bedeutsam waren. In Oslo, zum Beispiel, erreichte ihn ein Anruf aus der nördlichsten Telephonzelle Europas. Eine besorgte Stimme fragte ihn aus der Polargegend: »Wie ist es in Deutschland?« Da versuchte der seelsorgerische Globetrotter mit aller Andacht ein paar Sätze zu formen, die wie eine Hand voll Märzenbecher, Schneeglöckchen und erste Veilchen in der Dunkelheit drüben erblühen sollten. – Überall war es nett, nur in Paris fühlte der Sänger der Schlacht von den Masurischen Sümpfen sich unbehaglich. Denn dort irritierte ihn ein militaristisch-kriegerischer Geist, der ihm fremd war und den er nicht mochte. »Paris ist gefährlich,« berichtete der Dichter nach Hause, und er dachte mit ernster Rührung an den feierlichen Frieden, der in Potsdam herrscht. – Nur ganz nebenbei, zwischen all den starken Erlebnissen, die seine Reise für ihn mit sich brachte, intrigierte Herr von Muck, brieflich und telephonisch, ein wenig gegen seinen Freund Hendrik Höfgen. Der deutsche Dichter hatte in Paris, durch irgendwelche Spione – Agenten der Geheimen Staatspolizei oder Mitglieder der Deutschen Botschaft – herausbekommen, daß es dort eine Negerin gab, die in unstatthaften und häßlichen Beziehungen zu Höfgen gestanden hatte und auch heute noch von ihm erhalten wurde. Cäsar überwand die ihm angeborene Aversion gegen welsche Unmoral und begab sich in das zweifelhafte Etablissement am Montmartre, wo Prinzessin Tebab als Vögelchen wirkte. Er bestellte Champagner für sich und die schwarze Dame; als diese 342 aber erfuhr, daß er aus Berlin komme und etwas über Hendrik Höfgens erotische Vergangenheit zu wissen wünsche, sprach sie einige verächtliche und derbe Worte, stand auf, streckte ihm das schöne Hinterteil hin, von dem grüner Federnschmuck wallte, und begleitete diese Gebärde auch noch mit einem Geräusch, welches ihre gespitzten Lippen produzierten, und das die fatalsten Assoziationen hervorrufen mußte. Das ganze Lokal amüsierte sich. Der deutsche Barde war auf lächerliche und blamable Art abgefahren. Er machte drohende Stahlaugen, schlug mit der Faust auf den Tisch, äußerte mehrere sächsisch akzentuierte Sätze der Entrüstung und verließ das Lokal. Noch in derselben Nacht unterrichtete er telephonisch den Propagandaminister davon, daß mit dem Liebesleben des neuen Intendanten irgendwie nicht alles in Ordnung sein könne. Ohne Frage: hier waltete ein trübes Geheimnis, und der Liebling des Ministerpräsidenten bot Angriffsflächen. Der Propagandaminister dankte seinem Freunde, dem Dichter, aufs lebhafteste für die interessanten Mitteilungen.

Aber wie schwer war es nun schon geworden, dem ersten Theatermann des Reiches, dem großen Liebling der Mächtigen und des Publikums etwas anzuhaben! Hendrik wurde allgemein geschätzt, er saß fest im Sattel. Auch sein Privatleben machte den günstigsten Eindruck. Auf eine gewisse nervöse und eigenwillig originelle Art hatte der junge Herr Intendant, im Rahmen seiner Häuslichkeit, geradezu etwas Patriarchalisches bekommen.

Hendrik hatte sich seine Eltern und Schwester Josy aus Köln nach Berlin kommen lassen. Mit ihnen bewohnte er eine große, schloßartige Villa im Grunewald. In der Etage am Reichskanzlerplatz, über die der Mietvertrag noch für einige Monate lief, logierte vorläufig Nicoletta. Die Villa mit Park, Tennisplatz, 343 schönen Terrassen und geräumigen Garagen gab dem jungen Intendanten das Relief, den hochherrschaftlichen Hintergrund, den er nun brauchte und wollte. Wie lange war es her, daß er auf leichten Spangenschuhen, mit flatterndem Ledermantel, das Monokel vorm Auge – eine auffallende und beinah komische Erscheinung – durch die Straßen geeilt war? Noch am Reichskanzlerplatz war er Bohemien gewesen, wenn auch Bohemien mit luxuriösem Lebensstil. Im Grunewald aber wurde er Grandseigneur. Geld spielte keine Rolle: wenn es sich um ihre Favoriten handelte, war die Hölle nicht geizig, die Unterwelt zahlte, der Schauspieler Höfgen, der vom Leben nichts beansprucht hatte als ein reines Hemd und eine Flasche Eau de Cologne auf dem Nachttisch, konnte sich Rennpferde, große Dienerschaft und einen ganzen Park von Automobilen leisten. Niemand, oder fast niemand, nahm Anstoß an dem Pomp, den er entfaltete. In allen Illustrierten war das schöne Milieu zu sehen, in dem der junge Herr Intendant sich von anstrengender Arbeit erholte – »Hendrik Höfgen, im Garten seiner Besitzung den berühmten Rassehund Hoppi fütternd«, »Hendrik Höfgen, im Renaissance-Speisezimmer seiner Villa mit seiner Mutter beim Frühstück« –, und die meisten Leute fanden es recht und billig, daß ein Mann, der sich um das Vaterland derartige Verdienste erwarb, auch seinerseits stark verdiente. Übrigens war ja all die Pracht, mit welcher der Intendant sich umgab, klein und bescheiden verglichen mit dem märchenhaften Aufwand, den sein gewaltiger Herr und Freund, der Fliegergeneral, sich vor den Augen der Volksgemeinschaft provokant und prahlerisch gönnte . . .

Die Grunewald-Villa war das Eigentum des jungen Intendanten; er nannte sie »Hendrik-Hall« und hatte sie einem jüdischen Bankdirektor, der nach London übersiedelt war, für eine relativ niedrige Summe 344 abgekauft. In »Hendrik-Hall« war alles höchst fein und gewiß ebenso großartig, wie es im Palais des »Professors« gewesen war. Die Diener trugen schwarze Livreen mit silbernen Borten, nur der kleine Böck durfte ein wenig schlampig umhergehen. Meistens zeigte er sich in einer schmutzigen, blau und weiß gestreiften Jacke; zuweilen in der braunen S.A.-Uniform. Der törichte Bursche mit den wäßrigen Augen und dem harten Haar, das ihm immer noch wie eine Bürste vom Schädel stand, genoß eine besondere und bevorzugte Stellung in Hendrik-Hall. Ihn bewahrte der Schloßherr wie ein drolliges kleines Andenken an vergangene Zeiten. Der kleine Böck war im Grunde eigens dafür engagiert, um sich beständig über die wundersame Verwandlung seines Meisters zu erstaunen und entzücken. Das tat er denn auch, und sagte täglich mindestens einmal: »Nein, wie schön und reich wir geworden sind! Es ist doch nicht zu schildern! Wenn ich daran denke, daß wir uns einmal sieben Mark fünfzig haben pumpen müssen, um abendessen zu können!« Der kleine Böck kicherte ehrfurchtsvoll und gerührt bei der Erinnerung. – »Ein braves Tier,« sagte Höfgen von ihm. »Er ist mir auch in schlechten Zeiten treu gewesen.« – Die betonte Freundlichkeit, mit der er vom kleinen Böck sprach, schien einen geheimen Trotz zu enthalten. Wem galt er, gegen wen richtete er sich? War es nicht Barbara gewesen, die ihm seinen Böck, den ergebenen Knecht, nicht hatte gönnen wollen? In der Hamburger Wohnung war nur ein Fräulein geduldet worden, das ihren zehnjährigen Dienst auf dem Gute der Generalin hinter sich hatte – damit sich nur ja nichts änderte im Leben der gnädigen Frau, der Geheimratstochter. Hendrik, in all seinem Glanz, konnte die kleinsten Niederlagen der Vergangenheit nie vergessen. »Jetzt bin ich Herr im Hause!« sagte er.

Jetzt war er Herr im Hause, über dessen Schwelle 345 beinah nur noch Menschen kamen, die mit Bewunderung und Ehrfurcht auf ihn blickten. Die Familie, die er an seines Daseins festlicher Schönheit teilhaben ließ, bekam auch seine Launen zu spüren. Hendrik veranstaltete zuweilen gemütliche Abende am Kaminfeuer oder reizende Sonntagvormittage im Garten. Häufiger aber geschah es, daß er sein fahles, beleidigtes Gouvernantengesicht zeigte, sich in seine Gemächer verschloß und vorwurfsvoll behauptete, er leide an schwerer Migräne – »weil ich so sehr viel arbeiten muß, um für euch das Geld herbeizuschaffen, ihr Nichtstuer«: dies sagte er nicht, deutete es jedoch drastisch an durch leidendes und gereiztes Wesen. »Kümmert euch nicht um mich!« riet er den Seinen, und nahm es dann nachhaltig übel, wenn man wirklich ein paar Stunden lang nicht nach ihm sah.

Am besten verstand es seine Mutter Bella, mit ihm auszukommen. Sie behandelte ihren »großen Jungen« sehr sanft, aber nicht ohne zärtliche Bestimmtheit. Ihr gegenüber wagte er es selten, sich gar zu viel herauszunehmen. Übrigens hing er wirklich an ihr, und war auch stolz auf seine distinguierte Mama. Sie hatte sich sehr zu ihrem Vorteil verändert und zeigte sich ihrer neuen, anspruchsvollen Situation durchaus gewachsen. Den großen Haushalt ihres berühmten Sohnes verstand sie mit würdevollem Takt und erfahrener Umsicht zu führen. Hätte der eleganten Matrone noch irgendjemand ansehen können, daß sie der Gegenstand übler Klatschereien gewesen war, als sie aus wohltätigen Gründen im Sektzelt ihres Amtes gewaltet hatte? Das lag weit zurück, niemand wußte mehr von den dummen alten Geschichten. Aus Frau Bella war eine dezent zurückhaltende, aber doch nicht zu übersehende Figur der Berliner Gesellschaft geworden. Sie war dem Herrn Ministerpräsidenten vorgestellt und verkehrte in den wichtigsten Häusern. Unter der adretten grauen 346 Dauerwellen-Frisur hatte ihr intelligentes, fröhliches Gesicht, dem das Antlitz ihres berühmten Sohnes so sehr glich, immer noch frische Farben. Frau Bella kleidete sich einfach, aber mit Sorgfalt. Sie bevorzugte dunkelgraue Seide im Winter, perlgraue während der warmen Zeit. Perlgrau war das Kostüm gewesen, das Frau Bella vor Jahren an der schönen Großmutter ihrer Schwiegertochter bewundert hatte. Mutter Höfgen bedauerte es von Herzen, daß die Generalin nicht in der Grunewald-Villa verkehrte. »Ich würde die alte Dame gerne bei uns empfangen,« äußerte sie, »obwohl sie ja etwas jüdisches Blut haben soll. Darüber könnten wir uns hinwegsetzen – findest du nicht auch, Hendrik? Aber sie hat es noch nicht einmal der Mühe wert gefunden, Karten bei uns abzugeben. Sind wir ihr etwa immer noch nicht fein genug? – Viel Geld scheint sie doch auch nicht mehr zu haben,« schloß Frau Bella und schüttelte, halb mitleidig, halb pikiert, den Kopf. »Sie sollte froh sein, wenn eine anständige Familie sich noch ihrer annehmen will.« –

Leider war mit Vater Köbes nicht derselbe Staat wie mit Frau Bella zu machen. Er hatte sich zum Sonderling entwickelt, lief tagaus, tagein in einer alten Hausjacke aus Flanell herum, interessierte sich hauptsächlich für Kursbücher, in denen er Stunden lang blätterte, und für eine kleine Sammlung von Kakteen, die er auf dem Fensterbrett hegte; er rasierte sich zu selten und versteckte sich, wenn Gäste kamen. Sein rheinischer Witz war ihm total abhanden gekommen. Meistens schwieg er und starrte etwas blöde vor sich hin. Er hatte Heimweh nach Köln, obwohl ihm doch dort der Gerichtsvollzieher nicht mehr aus der Wohnung gewichen war und all seine geschäftlichen Unternehmungen ein so übles Ende gefunden hatten. Aber der Kampf, den er mit Leichtsinn und Zähigkeit um seine Existenz hatte führen müssen, war ihm besser bekommen als 347 das Nichtstun am Herde seines arrivierten Sohnes. Hendriks Ruhm und Glanz waren ein Gegenstand der beständigen Verwunderung, fast des Grames für den alten Mann. »Nein, wie konnte das nur passieren!« murmelte er, als hätte ein Unglücksfall sich ereignet. Jeden Morgen betrachtete er sich bestürzt den Stoß von Briefen, der für seinen mächtigen und vielgeliebten Sprößling eingetroffen war. Wenn Johannes Lehmann sich mit Arbeit gar zu überlastet fand, bat er zuweilen Vater Köbes darum, ihm diese oder jene Kleinigkeit abzunehmen. So verbrachte der Alte manchen Vormittag damit, Photographien seines Sohnes zu signieren; denn er konnte Hendriks Handschrift besser nachahmen, als der Sekretär es fertig brachte. Wenn der Intendant besonders sanfter Stimmung war, geschah es wohl, daß er seinen Vater einmal fragte: »Wie geht es dir denn, Papa? Du wirkst oft so niedergeschlagen. Es fehlt dir doch nichts? Du langweilst dich doch nicht in meinem Hause?« – »Nein nein,« brummte Vater Köbes, der etwas rot wurde unter all seinen Stoppeln. »Ich habe doch so viel Freude an meinen Kakteen und an den Hunden.« – Den Hunden durfte nur er zu fressen geben, er ließ keinen Diener an sie heran. Täglich machte er mit den schönen Windspielen einen großen Spaziergang, während Hendrik sich nur mit ihnen photographieren ließ. Die Tiere liebten Vater Köbes, gegen Hendrik aber waren sie scheu, weil dieser im Grunde seinerseits Angst vor ihnen hatte. »Sie sind bissig,« behauptete er; so sehr auch Vater Köbes widersprechen mochte, Hendrik blieb dabei: »Besonders Hoppi ist bissig. Er wird mir sicher plötzlich einmal etwas Scheußliches antun.« –

Schwester Josy hatte ein kokett eingerichtetes Appartement im oberen Stockwerk der Villa. Aber sie war viel auf Reisen und ließ es häufig unbewohnt. Seit ihr Bruder zur Macht gehörte, ließ man Fräulein Höfgen 348 überall am Rundfunk singen. Sie brachte flotte Piecen in rheinischer Mundart, man sah ihr niedliches Gesicht in allen Radiozeitschriften, und sie hatte häufig Gelegenheit, sich zu verloben. Das tat sie denn auch, aber nun durfte natürlich nicht mehr der Erste-Beste um ihre Hand bitten, nur noch standesgemäße Verbindungen kamen in Frage, junge Herren in S.S.-Uniform wurden bevorzugt, ihre dekorativen Figuren belebten Hendrik-Hall. »Den Grafen Donnersberg werde ich wirklich heiraten,« verhieß Josy. Ihr Bruder äußerte Skepsis, Josy mußte weinen, »du bist immer so spöttisch zu mir,« brachte sie hervor. Frau Bella tröstete sie, auch Hendrik mochte es nicht, wenn sie Tränen vergoß, alle versicherten ihr, sie sei so hübsch geworden. Wirklich sah sie jetzt viel attraktiver aus als damals, da Barbara ihre Bekanntschaft auf dem Bahnsteig der süddeutschen Universitätsstadt gemacht hatte. Es lag vielleicht auch daran, daß sie sich jetzt teure Kleider leisten konnte. Den Sattel von Sommersprossen auf dem kecken Näschen hatte sie, durch eine umständliche kosmetische Behandlung, beinahe ganz entfernt. »Dagobert hat damit gedroht, die Verlobung aufzulösen, wenn die Sommersprossen nicht verschwinden,« sagte sie.

Auch der junge Dagobert von Donnersberg hatte seine Launen, nicht nur Hendrik durfte sich welche leisten. Höfgen hatte den Grafen im Hause der Lindenthal kennen gelernt, die sich gerne mit Aristokraten umgab. Dagobert – der ebenso hübsch wie unbemittelt, ebenso dumm wie verwöhnt war – wurde sofort nach Hendrik-Hall eingeladen. Fräulein Josy machte ihm den Vorschlag, mit ihr auszureiten. Hendrik bewegte seine schönen Pferde zu wenig: seine Zeit war kostbar, und übrigens machte ihm das Reiten kein Vergnügen. Er hatte es für Filmaufnahmen mit Mühe erlernt, und er wußte, daß er schlecht im 349 Sattel saß. Die Tiere hielt er sich eigentlich nur, weil sie sich gut auf den Photos der Illustrierten ausnahmen; ganz heimlicher Weise und ohne daß er sich dies selber jemals zugegeben hätte, waren vielleicht auch die Pferde, wie der kleine Böck, eine späte und verzweifelt sinnlose Rache an Barbara, die ihn mit ihren Morgenritten so oft geärgert hatte. Barbara aber war fern, sie wußte nichts von den Pferden, sie kümmerte sich in Paris um die politischen Flüchtlinge und um eine kleine aggressive Revue, für die sie Abonnenten im Balkan und in Südamerika, in Skandinavien und im Fernen Osten warb . . . Fräulein Josy und ihr Dagobert ritten ins Freie. Der junge Graf verliebte sich ein wenig in das muntere Mädchen. Da sie Wert darauf zu legen schien, verlobte er sich sogar mit ihr, hörte aber natürlich trotzdem nicht auf, nach Damen, die mehr Geld für seinen Titel würden zahlen können, Umschau zu halten. Zunächst jedoch hatte er es nicht eilig damit, die kleine Höfgen wieder zu verlassen, und hielt es auch nicht für ratsam, eine Familie zu brüskieren, die den persönlichen Umgang des Ministerpräsidenten genoß. Übrigens fand Dagobert es ganz amüsant in Hendrik-Hall.

Der Intendant versuchte sein Haus im englischen Stil zu halten. Den Whisky und die Marmeladen bezog Frau Bella direkt aus London. Man aß sehr viel Toast, saß mit Vorliebe am offenen Kaminfeuer, spielte Tennis oder Crokett im Garten, und am Sonntag, falls der Hausherr spielfrei war, trafen die Gäste schon zum Lunch ein, um bis in die Nacht hinein zu bleiben. Nach dem Dinner wurde auf der Diele getanzt. Hendrik zog sich den Smoking an und behauptete, sich abends in diesem Kleidungsstück am wohlsten zu fühlen. Auch Josy und Nicoletta machten sich niedlich. Bisweilen hatte die kleine Gesellschaft plötzlich tolle Launen: man fuhr, noch am späten Nachmittag, in 350 drei Automobilen nach Hamburg, um in St. Pauli bummeln zu gehen. »Autos gibt es ja hier genug,« sagte Graf Donnersberg mit einer kleinen Nuance von Bitterkeit: manchmal ärgerte er sich darüber, daß der Komödiant im Gelde schwamm, während er, der Aristokrat, keines hatte. – Der Intendant besaß drei große Wagen und mehrere kleine. Die schönste Maschine – ein riesiger Mercedes mit glitzernd silberner Karrosserie – war ein Geschenk des Herrn Ministerpräsidenten: der dicke Gönner war aufmerksam genug gewesen, das prachtvolle Fahrzeug in den Grunewald bringen zu lassen, als Hendrik sein neues Heim bezog.

Der Intendant gab nicht gerne und nur selten große Gesellschaften; aber er liebte es, zwanglos Gäste in Hendrik-Hall zu versammeln. – Nicoletta gehörte ganz zur Familie. Sie erschien unangemeldet zu den Mahlzeiten, beriet Hendrik in beruflichen Angelegenheiten, und über Weekend kam sie mit einem Handkoffer an. Es war ein ziemlich umfangreiches Gepäckstück – zu umfangreich eigentlich, um nur ein Abendkleid, ein Pyjama und eine Puderquaste zu enthalten. Josy, von Neugier geplagt, schaute heimlich nach, was sonst noch in ihm verborgen sein mochte. Zu ihrem Erstaunen entdeckte sie ein paar hoher Stiefel, angefertigt aus grellrotem, geschmeidigem Lackleder.

Nicoletta war im Begriff, sich von Theophil Marder scheiden zu lassen. »Ich bin wieder Schauspielerin,« schrieb sie ihm. »Dich liebe ich immer, dich werde ich mein Leben lang verehren. Aber es macht mich selig, wieder arbeiten zu dürfen. In unserem neuen Deutschland herrscht ein allgemeiner Auftrieb, ein enthusiastischer Wille zur Arbeit, von dem dir, in deiner Einsamkeit, jede Vorstellung fehlt.« – Eine der ersten Amtshandlungen des Intendanten Höfgen war es gewesen, Nicoletta ans Staatstheater zu engagieren. Sie hatte noch nicht wieder einen Erfolg gehabt, der sich 351 mit ihrem Hamburger Triumph vergleichen ließ. Jedoch wich allmählich die Erstarrung von ihr; Stimme und Bewegungen begannen sich zu lockern und zu beleben. »Paß auf, du lernst das Theaterspielen wieder!« verhieß ihr Hendrik. »Eigentlich hätte man dich ja auf keine Bühne mehr lassen sollen, du Närrin! Was du damals in Hamburg angestellt hast, war gar zu frevelhaft – ich meine jetzt: nicht in Bezug auf den armen Kroge, sondern dir selbst gegenüber.« – Übrigens hätte Nicoletta sich als Aktrice noch so ungeschickt anstellen können, sie wäre in jedem Fall von den Kollegen und von der Presse mit dem gewähltesten Respekt behandelt worden; denn sie galt als die Freundin des Intendanten. Man wußte, daß sie auf den großen Mann Einfluß hatte. Bei repräsentativen Gelegenheiten zeigte sie sich an seiner Seite. Klirrend im Panzer ihrer metallenen Abendtoilette begleitete sie ihn zum Presseball. Was für ein Paar: Hendrik und Nicoletta – beide von einem etwas gräßlichen Liebreiz, zwei gefährliche und schauerlich charmante Gottheiten der Unterwelt. Der Dichter Benjamin Pelz war es, der den Einfall hatte, sie als »Oberon und Titania« zu bezeichnen. »Ihr führt den Tanz, ihr unterirdischen Majestäten!« schwärmte der Lyriker, für den die Diktatur des rassistischen Fascismus eine Art von blutig-phantastischem Sommernachtstraum bedeutete. »Ihr verzaubert uns mit eurem Lächeln und mit euren wundersamen Blicken. Ach, wie gerne vertrauen wir uns euch an! Ihr geleitet uns unter die Erde, in die tiefste Schicht, in die magische Höhle, wo das Blut von den Wänden rauscht, wo die Kämpfenden sich begatten, die Liebenden sich töten, wo Liebe, Tod und Blut in orgiastischer Kommunion sich vermischen . . .« Dieses war das neudeutsche Ballgeflüster in seiner feinsten, anspruchsvollsten Form. Der Dichter Benjamin Pelz beherrschte den Stil. Einst war er ein 352 wenig weltfremd gewesen, nun aber wurde er immer gesellschaftsfähiger und gewandter. Er gewöhnte sich rasch an die große Welt, in deren exklusive Zirkel seine hochmoderne Vorliebe für die tiefsten Schichten, die magische Höhle und das süße Parfum der Verwesung ihm Eintritt verschaffte. Er leitete als Vizepräsident die Geschäfte der Dichterakademie, deren Erster Präsident, Cäsar von Muck, seinem Seelsorgerberuf augenblicklich im Ausland nachging. In Hendrik-Hall war Benjamin ein gern gesehener Gast. Zusammen mit den Herren Müller-Andreä, Doktor Ihrig und Pierre Larue gehörte er zu den regelmäßigen Besuchern der Grunewald-Villa.

Alle Kavaliere machten sich eine Ehre und ein Vergnügen daraus, der distinguierten Frau Bella die Hand zu küssen und dem Fräulein Josy zu versichern, wie reizend sie aussehe. Pierre Larue flirtete ein bißchen mit dem kleinen Böck, was wohlwollend geduldet wurde. Besonders lustige Stunden hatte man, wenn Charakterspieler Joachim mit seiner amüsanten Gattin vorfuhr, sehr viel Bier kommen ließ, sein fleischiges Gesicht in die ausdrucksvollsten Falten legte, und nicht müde ward, zu betonen, daß es – »Kinder, sagt was ihr wollt!« – eben doch nirgends auf der Welt so schön sei wie im Grunewald. Manchmal zog Joachim jemanden in eine Ecke, um ihm zu versichern, daß bei ihm – »Hand aufs Herz!« – »alles in Ordnung sei«. »Vor ein paar Tagen habe ich erst wieder einen einsperren lassen müssen, der das Gegenteil behauptet hatte,« erklärte der Charakterspieler und bekam kleine, tückische Augen.

Manchmal erschien Angelika Siebert, die jetzt einen anderen Namen führte; denn sie hatte ihren Filmregisseur geheiratet. Der junge Gatte war ein schöner Mensch; zu üppigem, kastanienbraunen Haar hatte er tiefblaue, ernste und große Augen. Er, als der einzige in dieser etwas degenerierten Gesellschaft, sah 353 so aus, wie ein einfaches Herz sich den deutschen Helden, den Jünglings-Ritter ohne Furcht und Tadel vorstellen mag. Gerade er aber zeigte, überraschender Weise, oppositionelle Neigungen. Sein kindlich-grüblerischer Sinn war längst nicht mit allem einverstanden, was in Deutschland geschah. Ursprünglich war er begeistert für die Nazis gewesen; umso größer war nun seine Enttäuschtheit. Mit ernsten, dringlichen Fragen wandte er sich an Höfgen, für dessen Talent und künstlerisches Können er eine echte Bewunderung empfand. »Sie haben doch einen gewissen Einfluß auf die höchsten Stellen,« sagte der junge Mann. »Ist es Ihnen denn nicht möglich, manche gar zu krassen Furchtbarkeiten zu verhindern? Es ist Ihre Pflicht, den Herrn Ministerpräsidenten auf die Zustände in den Konzentrationslagern hinzuweisen . . .« Das helle und brave Gesicht des jungen Ritters ohne Furcht und Tadel rötete sich vor Eifer, während er sprach.

Hendrik aber bewegte enerviert den Kopf. »Was wollen Sie, junger Freund?« machte er ungeduldig. »Was verlangen Sie denn von mir? Soll ich den Niagara-Fall mit einem Regenschirm aufhalten? Halten Sie das für ein aussichtsreiches Unternehmen? – Na also!« schloß er keck und in einem Ton, als hätte er nun den anderen definitiv widerlegt und für sich gewonnen. »Na also!« Dabei lächelte er aasig.

Zuweilen beliebte es dem Intendanten, seine Taktik völlig zu ändern. Mit einem zynischen Übermut verzichtete er plötzlich auf alle Beschönigungen und Entschuldigungen; eilte, das Antlitz von einer hellen, nervösen Röte übergossen – die jedoch keine Schamröte war – und geschüttelt von Lachen durchs Zimmer, um immer wieder, halb klagend und halb triumphierend, auszurufen: »Bin ich nicht ein Schurke? Bin ich nicht ein ganz unwahrscheinlicher Schurke?!« Der Freundeskreis amüsierte sich, Josy klatschte sogar in die Hände 354 vor Vergnügen. Nur der junge Ritter ohne Furcht und Tadel bekam ein strenges, abweisendes Gesicht, während Johannes Lehmann, dessen Augen das fette Schimmern von Öl hatten, wehmütig lächelte und Angelika traurig und bestürzt auf ihren Freund schaute, um dessentwillen sie so viel Tränen vergossen hatte.

Natürlich sprach Hendrik weder von der Wucht der Niagarafälle noch von der eigenen unwahrscheinlichen Schurkenhaftigkeit, wenn Gäste da waren, die in gar zu intimen Beziehungen zur Macht standen, oder gar selber einen Teil von ihr bedeuteten. Schon in der Gegenwart des Grafen Donnersberg hütete der Intendant sich vor unvorsichtigen Reden. Die äußerste Vorsicht aber wußte er mit der strahlendsten Heiterkeit zu verbinden, wenn Lotte Lindenthal ihm die Ehre ihres Besuches gab.

Es geschah nicht ganz selten, daß die ährenblonde, mütterliche Frau in Hendrik-Hall für eine Partie Tischtennis oder ein Tänzchen mit dem Hausherrn erschien. Was für ein Fest war dies stets! Mutter Bella ließ auffahren, was die Vorratskammern an Feinstem boten, Nicoletta erging sich in scharf akzentuierten Komplimenten über die veilchenblauen Augen der hohen Frau, Pierre Larue kümmerte sich nicht mehr um den kleinen Böck, und sogar Vater Köbes warf durch die Türritze einen Blick auf die hochbusige Dame, die mit dem silbrigen Gelächter jungmädchenhaften Übermutes die Räume erfüllte.

Wer aber entstieg der riesenhaften Limousine, die nun, mit dem bedrohlichen Geräusch eines Flugzeuges, unter dem Portal von Hendrik-Hall hielt? Vor wem flog die Haustüre auf? Wer lärmte säbelrasselnd im Vorraum? Wer schob seinen enormen Bauch, der über den Säulenbeinen schwankte, seine majestätisch vorgewölbte, vor Orden blitzende Brust in die ehrfurchtsvoll erstarrte Versammlung? Er war es, der Dicke, der 355 mit dem Schwerte am göttlichen Throne die Wacht hält. Er kam, um seine Lotte abzuholen und um seinem Mephisto eben mal guten Abend zu wünschen.

Die Lindenthal flog ihm an den Hals. Frau Bella aber, der beinah übel wurde vor Stolz und Aufregung, brachte hervor – und es klang wie ein Stöhnen –:

»Exzellenz – Herr Ministerpräsident, – darf ich Ihnen irgend etwas kommen lassen? Eine kleine Erfrischung? Vielleicht ein Glas Sekt . . .?«

 

Viele Leute trafen sich in Hendrik-Hall, angezogen durch den Ruhm und die Liebenswürdigkeit des Hausherrn, die soignierte Küche, den Weinkeller, die Tennisplätze, die ausgewählt guten Grammophonplatten, den ganzen imposanten Luxus des Milieus. Mancherlei Personen verbrachten hier die angenehmsten Mittags-, Nachmittags- und Abendstunden: Schauspieler und Generäle, Lyriker und hohe Beamte, Journalisten und exotische Diplomaten, Mätressen und Komödiantinnen. Ein paar Menschen indessen, die in vergangenen Zeiten recht intime Beziehungen zu Hendrik Höfgen gehabt hatten, nahmen nicht teil an diesem heiter-üppigen Treiben. Die Generalin ließ sich nicht sehen in Hendrik-Hall, vergeblich wartete Frau Bella auf ihre Visitenkarte. Die alte Dame hatte ihr Gut verkaufen müssen und lebte in einer kleinen Wohnung nicht weit vom Tiergarten. Mehr und mehr verlor sie den Kontakt zu der Berliner Gesellschaft, in der sie einst eine so brillante Rolle gespielt hatte. »Mir liegt nichts daran, in Häusern zu verkehren, wo ich Begegnungen mit Mördern, Sittlichkeitsverbrechern oder Irrsinnigen ausgesetzt bin,« erklärte sie stolz und ließ klappernd die Lorgnette sinken, durch die sie ihren Gesprächspartner fixiert hatte. Vielleicht vermutete sie, daß man auch in Hendrik-Hall Gefahr laufe, kriminelle 356 oder pathologische Figuren anzutreffen, – ein nicht nur unbegründeter, sondern sogar frevelhafter Verdacht, da er sich auf ein Haus bezog, in dem die Regierungsmitglieder ein- und ausgingen.

Noch jemand, der sich von der Besitzung des Intendanten fernhielt, war Otto Ulrichs. Er wurde nicht eingeladen, und er hätte die Einladung, wenn eine solche an ihn ergangen wäre, wohl kaum akzeptiert. Er war stark beschäftigt, und zwar beschäftigt auf eine Art, welche die Kräfte des Körpers wie die der Seele mit großer Heftigkeit in Anspruch nimmt. Übrigens begann Ulrichs das Bild, das er sich vor vielen Jahren von seinem Kameraden Hendrik gemacht und seitdem mit so viel Treue und Geduld im Herzen bewahrt hatte, allmählich zu revidieren. Ulrichs war ein sehr gutmütiger und sogar weicher Mensch gewesen, bei allem revolutionären Elan. Zu Höfgen hatte er ein großes, unerschütterliches Vertrauen gehabt. »Hendrik gehört zu uns!« hatte er mit seiner warmen, überzeugenden Stimme jedem geantwortet, der Zweifel an der moralischen und politischen Zuverlässigkeit seines Freundes laut werden ließ. Hendrik gehört zu uns! Glaubte dies Otto Ulrichs auch heute noch? – Mit vielen Illusionen hatte er Schluß gemacht, unter anderem auch mit denen, die Hendrik Höfgen betrafen. Er war nicht mehr gutmütig, und er war gar nicht mehr weich. Sein Blick hatte einen drohenden, fast lauernden Ernst bekommen, der ihm früher fremd gewesen war. Seine Augen hatten ihre sympathische Offenheit eingebüßt; was sie dafür nun besaßen, war eine genau abwägende, durchdringende, ruhige und gesammelte Kraft.

Otto Ulrichs hatte jetzt den gespannten, lauschenden Gesichtsausdruck, die zugleich vorsichtigen und kühnen, sprung- und fluchtbereiten Gesten eines Menschen, für den es geraten ist, beständig auf der Hut zu sein. Und auf der Hut mußte er sich wirklich befinden, 357 zu jeder Stunde seines schwierigen und gefährlichen Tages. Denn Otto Ulrichs spielte ein gewagtes Spiel.

Er blieb Mitglied des Staatstheaters: aber nur, um jenen Rat zu befolgen, den Hendrik selber ihm gegeben hatte, – wahrscheinlich ohne ihn seinerseits sehr ernst zu meinen –: er benutzte seine Stellung an dem offiziellen Institut als eine Art von Rückendeckung, die ihn vor einer gar zu genauen Überwachung und Kontrolle durch die Beamten der Gestapo schützte. Wenigstens war dieses seine Hoffnung und Berechnung. Vielleicht täuschte er sich. Vielleicht wurde er von Anfang an beobachtet, und man ließ ihn nur eine Zeitlang gewähren, um ihn später umso sicherer zu packen und ein möglichst umfangreiches belastendes Material bei ihm zu finden. Ulrichs glaubte nicht, daß man ihm schon auf den Spuren sei. Die Mitglieder des Ensembles, die zunächst einen mißtrauischen Bogen um ihn gemacht hatten, begegneten ihm jetzt mit kollegialer Herzlichkeit. Es war ihm gelungen, sie durch sein männlich einfaches, unbefangen heiteres Wesen zu gewinnen. Denn er hatte die Kunst der Verstellung gelernt. Sein fanatisch auf ein Ziel gerichteter, zu jedem Opfer glühend bereiter Wille hatte ihn schlau werden lassen. Er war sogar dazu im Stande, mit der Lindenthal zu scherzen. Er versicherte dem Charakterspieler Joachim, daß er nicht die geringsten Zweifel an seiner Reinrassigkeit hege. Er begrüßte die Bühnenarbeiter demonstrativ mit der vorgeschriebenen Formel: dem »Heil!«, dem der gehaßte Name des Diktators folgte. Wenn der Ministerpräsident in seiner Loge saß, behauptete Ulrichs, daß er Herzklopfen habe aus Erregung darüber, daß er vor dem großen Mann spielen dürfe. Herzklopfen hatte er wirklich, aber von einem Schauder, in dem Triumph und Angst sich vermischten. Denn der Vorhangzieher, mit dem er im Bunde stand, hatte ihm, als er nach seiner Szene die 358 Bühne verließ, etwas zugeraunt, was auf eine illegale Versammlung Bezug hatte. Beinah unter den Augen des furchtbaren Dicken, des allerhöchsten ordengeschmückten Henkers, erkühnte sich dieser kleine Schauspieler, der die Schrecken der Folterkammern und der Lager kannte, seine unterminierende, zersetzende, aufrührerische Arbeit gegen die Macht weiter zu tun.

Die Begegnung mit den Schrecken hatte seine Kräfte nur eine kurze Zeit lang gelähmt. In den ersten Wochen nach seiner Entlassung aus dem Inferno war er in einem Zustand der Erstarrung gewesen. Seine Augen hatten geschaut, was kein Menschenauge sieht, ohne zu erblinden vor übergroßem Jammer: die ganz nackte, ganz entfesselte, mit einer schauerlichen Pedanterie organisierte Niedertracht; die absolute und totale Gemeinheit, die, indem sie Wehrlose martert, sich noch selber feiert, ernst nimmt, glorifiziert als die patriotische Tat, als die moralische Erziehungsleistung an »destruktiven, volksfremden Elementen«, als sittlicher, notwendiger und gerechter Dienst am erwachten Vaterland.

»Man möchte am liebsten gar nichts mehr von den Menschen hören und wissen, wenn man sie erst einmal in diesem Zustand gekannt hat,« sagte Ulrichs. Aber er liebte die Menschen, und seine Gesinnung bestand in dem unerschütterlichen Glauben, daß aus ihnen, irgendwann einmal, doch noch etwas Vernünftiges werden könnte. Er überwand seine gramvolle Apathie. »Wenn man Zeuge dieses Schlimmsten gewesen ist,« sagte er, »dann hat man nur noch die Wahl: sich umzubringen oder leidenschaftlicher als je vorher weiter zu arbeiten.« Er war ein einfacher und tapferer Mensch. Seine Nerven waren stark und erholten sich von dem Chock. Er arbeitete weiter.

Es bereitete ihm keine Schwierigkeit, die Beziehung zu den illegal-oppositionellen Kreisen herzustellen. 359 Unter den Arbeitern und Intellektuellen, deren Haß auf den Fascismus so genau durchdacht und so leidenschaftlich war, daß er sich auch unter den höchst gefährlichen und – wie es schien – fast hoffnungslosen Bedingungen der Stunde bewährte, hatte er viele Freunde. Das Mitglied der Preußischen Staatstheater beteiligte sich an unterirdischen Aktionen gegen das Regime. Ob es um heimliche Zusammenkünfte, ob es um die Herstellung und Verbreitung verbotener Flugblätter, Zeitungen und Broschüren ging, oder um Sabotageakte in den Fabriken, bei den öffentlichen Festlichkeiten der Diktatur, bei Rundfunkübertragungen, Filmvorstellungen: der Schauspieler Otto Ulrichs gehörte zu denen, welche die Vorbereitungen entscheidend beeinflußten und bei den Handlungen ihr Leben riskierten.

Er nahm all diese Demonstrationen des antifascistischen Widerstandes sehr ernst, und er schätzte die psychologische Wirkung, die sie auf eine eingeschüchterte, von Angst gelähmte Öffentlichkeit ausüben mußten, hoch ein. »Wir machen die Regierenden unruhig, und wir zeigen den Millionen, die Feinde der Diktatur geblieben sind, aber sich ihre Gesinnung heute kaum noch einzugestehen wagen, daß der Wille zur Befreiung nicht ausgelöscht ist und sich trotz der Überwachung durch eine Armee von Spitzeln betätigen kann.« So dachte, sprach und schrieb der Schauspieler Ulrichs. Indessen vergaß er nie, daß die kleinen Aktionen nicht das Wichtigste waren und eigentlich nur ein Mittel zum Zweck. Der Zweck, das Ziel, die große Hoffnung blieb: die verstreuten Kräfte des Widerstandes zu vereinigen, die einander widersprechenden Interessen einer sozial und gesinnungsmäßig so vielfach zusammengesetzten Opposition zu sammeln, die Front herzustellen, auszubauen, zu aktivieren –: die Volksfront gegen die Diktatur. »Darauf kommt es an, 360 und nur darauf,« erkannte der Schauspieler Ulrichs.

Deshalb konspirierte er nicht nur mit seinen engeren Partei- und Gesinnungsfreunden. Noch mehr war ihm daran gelegen, die Verbindung mit oppositionellen Katholiken, früheren Sozialdemokraten oder parteilosen Republikanern herzustellen. Der Kommunist begegnete zunächst dem Mißtrauen der bürgerlich-liberalen Kreise. Seiner eifervollen und aufrichtigen Beredsamkeit gelang es meistens, die Bedenken zu überwinden. »Aber ihr seid so wenig wie die Nazis für die Freiheit!« hielten die Demokraten ihm vor. Er antwortete: »Doch! Wir sind für die Befreiung. Über die Ordnung, die nachher aufzurichten wäre, wird man sich einigen.« – »Ihr habt keine Vaterlandsliebe,« sagten ihm patriotische Republikaner. »Ihr kennt nur die Klasse, und die ist international.« – »Wenn wir unser Vaterland nicht liebten,« antwortete Otto Ulrichs, »könnten wir dann die so sehr hassen, die es erniedrigen und verderben? Und würden wir dann täglich unser Leben aufs Spiel setzen, um es zu befreien, unser Vaterland?« –

In den ersten Wochen seines illegalen Dienstes hatte Ulrichs einmal den Versuch gemacht, Hendrik Höfgen ins Vertrauen zu ziehen. Aber der Intendant wurde ängstlich, nervös und gereizt. »Ich will von diesen Dingen nichts wissen,« sagte er hastig. »Ich darf von ihnen nichts wissen – verstehst du mich? Ich mache beide Augen zu, ich sehe nicht, was du treibst. Keinesfalls aber darf ich eingeweiht sein.«

Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß er unbelauscht war, versicherte er dem Freund noch mit gepreßter Stimme, wie schwierig und peinvoll es für ihn sei, sich so andauernd und konsequent verstellen zu müssen. »Aber ich habe mich nun einmal zu dieser Taktik entschlossen, weil ich sie für die richtigste und wirkungsvollste halte,« raunte Hendrik und versuchte 361 es noch einmal mit den Verschwörerblicken, die jedoch von Ulrichs nicht mehr erwidert wurden. »Es ist keine bequeme Taktik, aber ich muß sie durchhalten. Ich befinde mich mitten im Lager des Feindes. Von innen heraus unterhöhle ich seine Macht . . .«

Otto Ulrichs hörte kaum noch hin. Vielleicht geschah es in diesem Augenblick, daß die Illusion von ihm wich und daß er Hendrik Höfgen erkannte.

 

Wie meisterhaft der Intendant sich verstellte! Diese Leistung war in der Tat eines großen Schauspielers würdig. Man hätte ja wahrhaftig glauben können, es wäre Hendrik Höfgen nur um Geld, Macht und Ruhm zu tun, anstatt um die Unterhöhlung des nationalsozialistischen Regimes.

Im breiten Schatten des Ministerpräsidenten fühlte er sich so sicher und geborgen, daß er es sich leisten zu dürfen glaubte, mit der Gefahr zu kokettieren, die Schrecken der Katastrophe schalkhaft zu beschwören. Da er mit einem Theaterdirektor in Wien telephonierte, von dem er sich einen Schauspieler ausleihen wollte, sagte er mit der klagenden, singenden Stimme, die wehleidig die Vokale zerdehnte: »Tja mein Lieber – in ein paar Wochen werde ich vielleicht schon bei Ihnen in Wien auftauchen . . . Ich weiß nicht, ob ich mich hier noch vierzehn Tage halte. Meine Gesundheit – sie verstehen mich recht? – meine Gesundheit ist so schrecklich angegriffen . . .«

In Wahrheit gab es nur zwei Möglichkeiten, die ihn hätten zu Fall bringen können: Wenn der Fliegergeneral ihm die Gnade entzog, oder wenn der Fliegergeneral selber Einbuße erlitt an seiner Macht. Jedoch schien der Dicke, seinem Mephistopheles gegenüber, von einer Treue, die in nationalsozialistischen Kreisen kaum üblich war und deshalb Erstaunen erregte. Auch war der Stern des fetten Riesen noch 362 im Aufstieg begriffen: der Freund der Hinrichtungen und der blonden Sentimentalen gewann immer mehr Titel, immer mehr Schätze, immer mehr Einfluß auf die Führung des Staates.

Solange die Sonne des Dicken über ihm leuchtete, brauchte Höfgen die heimtückischen Attacken des Hinkenden nicht ernst zu nehmen. Der Propagandaminister wagte es nicht, offen vorzugehen gegen den Intendanten. Im Gegenteil legte er Wert darauf, sich bei passenden Anlässen öffentlich mit ihm zu zeigen. Übrigens war er nicht ohne einen gewissen intellektuellen Kontakt mit dem Schauspieler Höfgen. Wenn dieser es verstanden hatte, den Fliegergeneral durch seine diabolische Mondänität, seinen zynisch amüsanten Witz zu faszinieren und für sich zu gewinnen, so konnte er sich doch auch mit dem Propagandachef, dem »alten Doktor« recht gut unterhalten, da sie beide nicht nur dieselbe rheinische Mundart sprachen – wodurch ihre Konversationen den herzlich-intimen Charakter bekamen –, sondern auch die gleiche radikale Terminologie benutzten – und mißbrauchten. Von »revolutionärer Dynamik«, dem »heroischen Lebensgefühl« und einem »blutvollen Irrationalismus« konnte auch der Schauspieler Höfgen schwatzen, wenn es sein mußte. So hatte er manch angeregtes Plauderstündchen mit seinem Todfeind – was natürlich nicht hinderte, daß dieser weiter unerbittlich gegen ihn intrigierte.

Cäsar von Muck, der von seiner genußvollen Auslandtournee heimgekehrt war, tat alles Erdenkbare für die Verbreitung jener Gerüchte über eine gewisse Negerin, an die Hendrik – angeblich – auf eine durchaus krankhafte Art sexuell gebunden war und die in Paris, auf seine Kosten, ein anstoßerregend glanzvolles Leben führe. Mit dieser Dame – so wurde verbreitet – pflegte Höfgen sich heimliche Rendezvous' zu geben: nicht nur, um weiter Rassenschande mit ihr zu treiben, 363 sondern auch weil er sie als Verbindungsperson zu den finstersten und gefährlichsten Zirkeln der Emigration benutzte – zu eben jenen Zirkeln, hieß es weiter, in denen die Frau, von der Hendrik sich nur pro forma hatte scheiden lassen – Barbara Bruckner – eine führende Rolle spielte.

Im Staatstheater sprach man von nichts anderem, als von der schwarzen Buhle des Intendanten; auch auf den wichtigsten Redaktionen und in jenen Kreisen, die den Ton angaben, wußte man sehr wohl Bescheid über die dunkle Dame, die in Paris allen Glanz der großen Babel entfaltete – »sie hält sich drei Affen, einen jungen Löwen, zwei ausgewachsene Panther und ein Dutzend chinesischer Kulis«, wollte man wissen – und die mit dem französischen Generalstab, dem Kreml, den Freimaurern und der jüdischen Hochfinanz gegen den nationalsozialistischen Staat Ränke spann. Die Situation begann für Höfgen peinlich zu werden. Er beschloß, Nicoletta zu heiraten, um den unangenehmen Gerüchten die Spitze abzubrechen. Der Ministerpräsident war sehr zufrieden mit dieser Entscheidung seines schlauen Protegés. Er ließ alle, die den Intendanten weiter zu verdächtigen wagen sollten, streng verwarnen. »Wer gegen meine Freunde ist, der ist gegen mich,« betonte drohend der Dicke. Wer die Existenz einer gewissen Negerin noch einmal erwähnte, hatte damit zu rechnen, es mit der schrecklichen Person des Fliegergenerals und mit seiner Geheimen Polizei zu tun zu kriegen. Im Theater wurde auf dem schwarzen Brett, gleich beim Bühneneingang, ein Anschlag befestigt, auf dem zu lesen stand, daß jeder, der über das Privatleben oder die Vergangenheit des Herrn Intendanten irgendwelche Gerüchte weitertrage oder sich auch nur anhöre, eine staatsfeindliche Handlung begehe. Übrigens zitterten alle vor dem privaten Spionage-Apparat Höfgens. Unmöglich, vor diesem gefährlich schlauen 364 Menschen irgendetwas geheim zu halten, was ihn anging oder interessierte: er erfuhr alles, dank einer kleinen Armee von Spitzeln, die er aushielt. Überall hatte er seine Kreaturen: die Gestapo konnte eifersüchtig sein auf dieses perfekt organisierte System.

Selbst Cäsar von Muck wurde unruhig. Der Schöpfer der »Tannenberg«-Tragödie hielt es sogar für ratsam, eine Visite in Hendrik-Hall zu machen und im herzlichsten Sächsisch eine Stunde mit dem Hausherrn zu verplaudern. Nicoletta gesellte sich zu den beiden Herren, denen Frau Bella selbst einen leckeren und leichten Imbiß serviert hatte, und begann plötzlich, mit einer hohen, tückischen Stimme, von Negern zu sprechen. Herr von Muck verzog keine Miene, als die geschiedene Frau Marder versicherte, daß sowohl Hendrik als auch sie selber geradezu einen Abscheu vor schwarzen Leuten empfänden. »Es wird Hendrik übel, wenn er jemanden von dieser garstigen Rasse nur aus der Ferne sieht,« erklärte sie und fixierte Cäsar unbarmherzig aus blanken, lustigen Augen. »Schon der Geruch dieser Menschen ist ganz unerträglich,« sprach sie herausfordernd. – »Ja ja,« bestätigte Herr von Muck. »Das ist wahr: Neger stinken.« Und plötzlich lachten sie alle Drei – lang und herzlich –: der Intendant, der Dichter und das grelle Mädchen.

Nein, diesem Höfgen war nichts anzuhaben: Herr von Muck begriff es, der Propagandaminister begriff es, und Beide beschlossen, sich aufs freundschaftlichste mit ihm zu stellen, bis endlich, irgendwann einmal, die Gelegenheit käme, ihn zu stürzen und zu erledigen. Für den Augenblick war er unangreifbar.

Der Dicke hatte ihm eine Audienz beim Diktator verschafft; denn selbst bis zu dieser erlauchtesten Person waren die Gerüchte um Prinzessin Tebab gedrungen. Der Gottgesandte hatte sich recht angewidert über den Fall geäußert; von den Schwarzen hielt er in der 365 Tat fast ebensowenig wie von den Juden. »Kann ein Mensch, der mit rassisch minderwertigen Personen Umgang hat, die sittliche Reife besitzen, die ein Intendantenposten verlangt?« erkundigte sich der Führer mißtrauisch bei seiner Umgebung. Nun sollte Hendrik, mittels der Juwelenblicke, der singenden Stimme und des edel-leidenden Anstandes, den weitaus größten Deutschen, der je gelebt hat, für sich gewinnen und von seiner sittlichen Qualifiziertheit überzeugen.

Die halbe Stunde, die der Intendant in Privataudienz bei dem Messias aller Germanen verbringen durfte, schien ihm anstrengend und sogar qualvoll. Die Konversation blieb ein wenig zäh: der Führer interessierte sich nicht sehr fürs Schauspiel, er bevorzugte Wagner-Opern und Ufa-Filme. Von seinen Opern-Inszenierungen, die in der verruchten »System«-Zeit so viel Aufsehen gemacht hatten, wagte Höfgen jedoch nicht zu sprechen, aus Angst, der Führer könnte sich der vernichtenden Urteile entsinnen, die Cäsar von Muck damals über diese zersetzenden und semitisch beeinflußten Experimente gefällt hatte. Hendrik wußte überhaupt nicht recht, wovon er sprechen sollte. Die leibhaftige Gegenwart der Macht verwirrte und ängstigte ihn. Der ungeheure Ruhm des Mannes, der ihm gegenübersaß, schüchterte den Ruhmsüchtigen ein.

Die Macht hatte unter einer unbedeutenden, fliehenden Stirne, in welche die legendäre speckige Haarsträhne fiel, den toten, starren, wie erblindeten Blick. Das Antlitz der Macht war grauweiß, aufgeschwemmt, von einer lockeren, porösen Substanz. Die Macht hatte eine sehr ordinäre Nase – ›eine gemeine Nase‹, wagte Hendrik, in dessen Bewunderung sich Auflehnung und sogar Hohn mischten, zu denken. Der Schauspieler bemerkte, daß die Macht gar keinen Hinterkopf hatte. Unter dem braunen Hemd trat ein weicher Bauch hervor. Sie sprach leise, um ihre ausgeschriene, 366 heisere Stimme zu schonen. Sie gebrauchte schwierige Worte, um dem Schauspieler ihre »Bildung« zu beweisen. »Die Belange unserer nordischen Kultur erfordern den unbedingten Einsatz eines energievollen, rassisch selbstbewußten und zielklaren Individuums,« dozierte die Macht, indem sie ihre süddeutsche Mundart nach Möglichkeit zu unterdrücken und ein feines Hochdeutsch zu sprechen versuchte, das aus ihrem Munde klang, wie aus dem eines eifrigen Volksschülers, der auswendig Gelerntes herleiert.

Hendrik war in Schweiß gebadet, als er nach fünfundzwanzig Minuten das Palais verlassen durfte. Er hatte das Gefühl, in miserabler Form gewesen zu sein und sich alles verdorben zu haben. Noch am selben Abend aber erfuhr er durch den Fliegergeneral, daß der Eindruck, den er bei der Macht hinterlassen hatte, gar kein so schlechter war. Vielmehr hatte den Diktator gerade die Schüchternheit des Intendanten angenehm überrascht. Der Führer liebte es nicht und empfand es als unstatthafte Keckheit, wenn jemand versuchte, in seiner Gegenwart unbefangen oder gar brillant zu sein. Angesichts der Macht hatte man ehrfurchtsvoll zu verstummen. Ein strahlender Hendrik hätte beim Messias aller Germanen wahrscheinlich Ärgernis erregt. Über den Verwirrten und Verängstigten gab der Allgewaltige ein mildes Urteil ab »Ein ganz ein braver Mensch, dieser Herr Höfgen,« sprach die Macht.

Der Ministerpräsident, der für seine Person Titel sammelte, wie andere Menschen Briefmarken oder Schmetterlinge, glaubte, daß auch seine Freunde durch solche Auszeichnungen am meisten zu erfreuen seien. Er machte Höfgen zum »Staatsrat«, er beförderte ihn zum »Senator«. In allen kulturellen Institutionen des Dritten Reiches hatte der Intendant seinen wichtigen Sitz. Mit Cäsar von Muck und einigen uniformierten 367 Herren gehörte er zum Vorstand des »Kultur-Senates«. Der erste »Kameradschaftsabend« dieser Vereinigung fand in Hendrik-Hall statt. Der Propagandaminister war anwesend und grinste über das ganze Gesicht, als Fräulein Josy einen ihrer volkstümlichen Schlager zum besten gab. Kein Geringerer als Cäsar von Muck begleitete die junge Sängerin am Flügel. Die Bewirtung war von betonter Einfachheit. Hendrik hatte seine Mutter Bella gebeten, nur Bier und schlichte Wurstbrote servieren zu lassen. Die uniformierten Herren waren enttäuscht; denn sie hatten viel von dem fabelhaften Luxus gehört, der in der Villa des Intendanten herrschte. Was nutzten ihnen aber die eleganten Lakaien, wenn sie nur Stullen herumreichten, wie es sie auch zu Hause gab? Der ganze Kultursenat wäre in eine gewisse Verdrossenheit verfallen, hätte nicht der Propagandaminister durch seine muntere Art der Stimmung einen erfreulichen Auftrieb gegeben. Nur wußte man leider nicht recht, wovon man reden sollte. Die Kultur war ein Thema, das den meisten der Senatoren gar zu ferne lag. Die Uniformierten waren stolz darauf, daß sie seit ihrer Knabenzeit kein Buch gelesen hatten, und durften sich wohl erlauben, mit diesem Umstand zu renommieren, da ja auch der allgemein hochgeachtete, inzwischen verstorbene und im Beisein des Führers bestattete Herr Generalfeldmarschall und Reichspräsident es getan hatte . . . Als ein bejahrter Romancier, dessen Bücher wegen ihrer grimmigen Langweiligkeit von niemandem in die Hand genommen, aber offiziell sehr hoch geschätzt wurden, den Vorschlag machte, er wolle ein Kapitel aus seiner Trilogie »Ein Volk bricht auf« vorlesen, kam es zu einer kleinen Panik. Mehrere Uniformierte sprangen auf und legten die Fäuste mit einem mechanischen, aber bedrohlichen Griff um ihre Pistolentaschen, das Grinsen des Propagandaministers verzerrte sich, Benjamin Pelz stöhnte 368 auf, als hätte er einen furchtbaren Stoß vor die Brust bekommen, Frau Bella flüchtete in die Küche, Nicoletta ließ ein schrilles und nervöses Lachen hören – und die Situation wäre katastrophal geworden. hätte Höfgen sie nicht mit seiner singenden Schmeichelstimme gerettet. Es würde ganz herrlich und beglückend sein, ein recht langes und breites Kapitel aus der Trilogie »Ein Volk bricht auf« anhören zu dürfen – versicherte Hendrik, das Gesicht vom aasigen Lächeln verklärt –; aber die Stunde sei doch schon ein wenig vorgeschritten, auch gebe es so viel Dringliches, Aktuelles zu besprechen, die Geister seien für den Genuß großer Dichtung nicht konzentriert genug; er, Höfgen, möchte sich erlauben, vorzuschlagen, daß man für diese Vorlesung einen eigenen Abend arrangiere, zu dem dann alle mit der wünschenswerten inneren Sammlung erscheinen könnten. Alle Senatoren atmeten erleichtert auf. Der alte Epiker weinte fast vor Enttäuschung. Herr Müller-Andreä ging dazu über, schmutzige Anekdoten aus jener Zeit zu erzählen, die er mit dem Brustton echter Entrüstung »die Jahre der Korruption« nannte. Es waren einige Perlen aus der einstmals so berühmten Rubrik »Hatten Sie davon eine Ahnung?«. Im weiteren Verlauf des Abends stellte sich heraus, daß der Charakterspieler Joachim sowohl das Bellen der Hunde als auch das Gackern der Hühner sehr drollig nachahmen konnte. Lotte Lindenthal fiel fast vom Stuhl vor Lachen; denn nun kopierte Joachim einen Papagei. Ehe man auseinanderging, machte Baldur von Totenbach, der auch Senator war und zu dieser kulturellen Veranstaltung eigens die Reise von Hamburg nach Berlin unternommen hatte, den Vorschlag, man solle stehend das Horst-Wessel-Lied singen und dem Führer zum hundertsten Mal die Treue geloben. Es wurde allgemein als ein wenig peinlich empfunden, mußte aber natürlich geschehen. 369

Die Presse berichtete ausführlich über diesen zugleich traulichen und geistig ergebnisreichen Kameradschaftsabend der Kultur-Senatoren im Hause des Intendanten. Überhaupt ließen die Zeitungen sich keine Gelegenheit entgehen, das Publikum über die künstlerischen oder patriotischen Taten Hendrik Höfgens zu unterrichten. Man rechnete ihn zu den vornehmsten und aktivsten »Trägern des deutschen Kulturwillens«, und er wurde fast ebenso viel photographiert wie ein Minister. Als die Prominenten der Hauptstadt für die »Winterhilfe« auf den Straßen und in den Lokalen sammelten, gehörte der Intendant zu denen, die fast ebenso viel Zulauf hatten wie die Herren von der Regierung. Aber während diese von schwer bewaffneten Detektiven und Gestapo-Beamten so umringt waren, daß das Volk mit seinen Spenden kaum bis zu ihnen vordringen konnte, durfte Hendrik es wagen, sich ohne jeden Schutz zu bewegen. Freilich hatte er sich eine Zone ausgesucht, wo er kaum fürchten mußte, mit dem gefährlichen Proletariat in Berührung zu kommen: der Intendant sammelte in der Halle des Hotels Adlon. Er ließ es sich auch nicht nehmen, in die Wirtschaftsräume hinabzusteigen, jeder Küchenjunge mußte seinen Groschen in die Büchse werfen, in die Lotte Lindenthal gerade mit zarten Fingern einen Hundertmarkschein gesteckt hatte. Arm in Arm mit dem feisten Küchenchef ließ der Intendant sich photographieren. Die Aufnahme kam auf das Titelblatt der »Berliner Illustrierten«.

Geradezu überschwemmt mit Höfgen-Bildern wurde die Presse, als der Intendant Hochzeit machte. Er führte Nicoletta heim, Müller-Andreä und Benjamin Pelz waren die Trauzeugen, der Ministerpräsident sandte als Hochzeitsgabe ein paar schwarzer Schwäne für einen kleinen Teich, den es im Park von Hendrik-Hall gab. Ein paar schwarzer Schwäne! Die 370 Journalisten gerieten außer sich über so viel Originalität; nur einige sehr alte Menschen – wie, zum Beispiel, die Generalin – erinnerten sich, daß schon früher einmal ein hochgestellter Freund der schönen Künste seinem Protegé das gleiche Angebinde gemacht hatte: nämlich der bayrische König Ludwig II. dem Komponisten Richard Wagner.

Der Diktator selber beglückwünschte telegraphisch das junge Paar; der Propagandaminister schickte einen Korb voll Orchideen, die so giftig aussahen, als sollten die Empfänger mit ihrem Dufte den Tod einatmen; Pierre Larue verfaßte ein langes französisches Gedicht; Theophil Marder depeschierte seinen Fluch; die kleine Angelika, die übrigens gerade ein Kind bekommen hatte, weinte noch einmal, zum letzten Mal um ihre verlorene Liebe; in allen Redaktionen versteckte man das Material, das man über Höfgen und Prinzessin Tebab hatte, in die untersten und geheimsten Schubladen, und Doktor Ihrig diktierte seiner Sekretärin einen Aufsatz, in dem er Nicoletta und Hendrik als ein »im schönsten und tiefsten Sinne des Wortes deutsches Paar«, als »zwei jugendfrische und dabei doch reife, der neuen Gesellschaft mit allen ihren Kräften dienende Menschen von reiner Rasse und aus edelstem Stoff« feierte. Nur eine einzige Zeitung – der man übrigens besonders intime Beziehungen zum Propagandaministerium nachsagte, – wagte es, auf die suspekte Vergangenheit Nicolettas anzuspielen: Man beglückwünschte die junge Frau dazu, daß sie den »Emigranten, Judensprößling und Kulturbolschewisten Theophil Marder« verlassen habe, um nun wieder aktiv am kulturellen Leben der Nation teilzunehmen. Dies war eine bittere Pille, wenngleich fein verzuckert. Theophils Name wirkte wie eine störende Dissonanz in dem schönen Konzert der Gratulationsartikel.

Nicoletta übersiedelte mit Schrankkoffern und 371 Hutschachteln vom Reichskanzlerplatz in den Grunewald. Die Kammerzofe, die ihr beim Auspacken behilflich war, erschrak ein wenig, als die hohen roten Stiefel zum Vorschein kamen; aber die junge gnädige Frau erklärte ihr mit schneidender Deutlichkeit, daß sie solches Schuhwerk für ein Amazonen-Kostüm benötige. »Ich werde sie als Penthesilea tragen!« rief Nicoletta mit einer merkwürdig triumphierenden Stimme. Die Zofe war von diesem exotisch klingenden Namen und von den strahlenden Katzenaugen ihrer Herrin so eingeschüchtert, daß sie sich hütete, noch irgendwelche Fragen zu stellen.

Abends gab es in Hendrik-Hall großen Empfang – wie bescheiden war die kleine Veranstaltung im Hause des Geheimrats bei Hendriks erster Hochzeit gewesen, verglichen mit dieser höchst solennen Festlichkeit! Strahlend von gefährlichem Liebreiz bewegten sich Oberon und Titania durch die Schar ihrer Gäste. Sie hielten sich sehr gerade: er hatte das Kinn hochgereckt, sie raffte mit einer hochmütigen Gebärde die glitzernde, klirrende Schleppe ihrer metallischen Abendtoilette, zu der sie auf den Schultern und im Haar große, phantastische Glasblumen trug. – Nicolettas Antlitz leuchtete von harten, künstlichen Farben; Hendriks Gesicht schien zu phosphoreszieren in seiner grünlichen Blässe. Es war deutlich, daß ihnen Beiden das Lächeln große Mühe und sogar Qual bereitete. Ihre Mienen wirkten maskenhaft. Der starre Blick schien durch die Personen, die sie auf ihrer stolzen Wanderung begrüßten, hindurchzugehen, wie durch Luft. Was aber sahen sie denn hinter all diesen Fräcken, dekorierten Uniformen und kostbaren Roben? Was schauten denn ihre Augen, daß sie so glasig wurden unter halbgesenkten Lidern? Was für Schatten stiegen denn auf und besaßen so traurige Macht, daß um die Lippen Hendriks und Nicolettas das Lächeln 372 erfror und sich zur leidvollen Grimasse verzerrte?

Vielleicht begegneten ihre Augen dem prüfenden Blick Barbaras, die ihre Freundin gewesen war, und die nun, in der Ferne und Fremde – ach, von diesen Beiden getrennt durch Abgründe, über die es keine Brücke mehr gab – ihre ernste und harte Pflicht tat. Vielleicht zeigte sich ihnen das groteske Märtyrer-Antlitz Theophil Marders, der – halb verblendet, halb wissend; gezeichnet von tausend Qualen, mit denen er alle Sünden der Hybris und eines närrisch Ich-besessenen Dünkels büßte – jammervoll und zornig herschaute zu Nicoletta, die ihn und damit ihr trotzig-selbstgewähltes Schicksal verlassen hatte. – Vielleicht aber sahen sie gar nicht das Gesicht irgend eines bestimmten Menschen, sondern, in einer vagen und überwältigenden Zusammenfassung, das Bild ihrer eigenen Jugend, die Summe alles dessen, was aus ihnen hätte werden können und was sie, in frevelhaftem Ehrgeiz, versäumt hatten aus sich zu machen; die lange, schmachvolle Geschichte ihres Verrates – eines Verrates nicht nur an anderen, sondern an sich selbst: an dem edleren, besseren und reineren Teil ihres eigenen Wesens –; die bitterlich blamable und trübe Chronik ihres Verfalls, ihres Abstieges, der sich einer blöden Welt als Aufstieg präsentierte. Ihr Aufstieg – so meinte die blöde Welt – hatte sie gemeinsam bis zu dieser sieghaft-hochzeitlichen Stunde geführt; während es doch diese Stunde gerade war, die ihre gemeinsame Niederlage besiegelte. Nun gehörten sie für immer zueinander, diese beiden Glitzernden, Schimmernden, Lächelnden – so wie zwei Verräter, so wie zwei Verbrecher für immer zueinander gehören. Das Band, das den einen Schuldigen an den anderen bindet, wird nicht Liebe sein, sondern Haß.

 

Während der »Kultur-Senat« trauliche 373 Kameradschaftsabende veranstaltete; während die Großen des Landes in den Hotelhallen für ihre notleidenden Volksgenossen milde Gaben einkassierten, mit denen man die Propaganda des Dritten Reiches im Ausland finanzierte; während Hochzeiten gefeiert, Lieder gesungen und unendlich viele Reden gehalten wurden – ging das Regime der totalen, militant-hochkapitalistischen Diktatur seinen schauerlichen Weg weiter, und am Rande des Weges häuften sich die Leichen.

Die Ausländer, die sich eine Woche in Berlin und einige Tage in der Provinz aufhielten – englische Lords, ungarische Journalisten oder italienische Minister – rühmten die tadellose Sauberkeit und Ordnung, die ihnen auffiel im erniedrigten Lande. Sie fanden, alle Leute zeigten lustige Gesichter, und stellten fest: Der Führer wird geliebt, er ist der Geliebte des ganzen Volkes, eine Opposition gibt es nicht. Inzwischen war die Opposition, sogar im Herzen der Partei selber, so stark und so bedrohlich geworden, daß das fürchterliche Triumvirat – der Führer, der Dicke und der Hinkende – »schlagartig« eingreifen mußte. Der Mann, dem der Diktator seine Privatarmee verdankte, den der Propagandachef noch vorgestern bezaubernd angegrinst und den der Staatschef noch gestern seinen »treuesten Kameraden« genannt hatte – er wurde eines Nachts vom Führer höchstpersönlich aus dem Bett gerissen und ein paar Stunden später erschossen. Ehe der Schuß knallte, gab es zwischen dem Messias aller Germanen und seinem treuesten Kameraden eine Szene, wie sie zwischen hochgestellten Herren kaum je üblich war. Der treueste Kamerad schrie den Messias an: »Du bist der Schuft – der Verräter: du bist es!« Zu solcher Aufrichtigkeit hatte er nun den Mut, da er merkte, daß sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Mit ihm mußten Hunderte von alten Parteimitgliedern sterben, die zu renitent geworden waren. Gleichzeitig brachte man ein 374 paar hundert Kommunisten um und, weil man doch schon beim Töten großen Stils war, ließen der Dicke, der Hinkende und der Führer auch noch alle die beiseite schaffen, gegen die sie persönlich irgendetwas hatten, oder von denen sie, für die Zukunft, irgendetwas befürchteten: Generale, Schriftsteller, alte Ministerpräsidenten außer Dienst – es wurden keine Unterschiede gemacht, manchmal erschoß man auch die Frauen gleich mit, Köpfe müssen rollen, der Führer hatte es immer gesagt, und nun war man so weit. Eine kleine »Säuberungsaktion« – wurde nachher proklamiert; die Lords und die Journalisten fanden, die Energie des Führers sei etwas Wundervolles –: er war ein so sanfter Mensch, liebte die Tiere, rührte kein Fleisch an, aber die treuesten Kameraden konnte er verrecken sehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Das Volk schien den Gottgesandten nach der Blut-Orgie noch heftiger zu lieben als vorher, einsam und verstreut saßen die im Lande, die sich ekelten und entsetzten, »ich muß erleben,« hatte der Doktor Faust einst geklagt, »ich muß erleben – daß man die frechen Mörder lobt.«

Es rollten die Köpfe adliger junger Mädchen, von denen man behauptete, sie hätten etwas ausgeplaudert, was der totale Staat geheimhalten wollte – Köpfe ab, diesmal waren es zwei zarte Damenköpfe. Es rollten die Köpfe von Männern, die kein anderes Verschulden kannten, als daß sie ihre sozialistische Gesinnung nicht hatten abschwören wollen – auch der Messias aber, der sie hinrichten ließ, nannte sich Sozialist. Der Messias behauptete, daß er den Frieden liebe, und ließ die Pazifisten in den Konzentrationslagern martern. Sie wurden getötet, den Angehörigen ging ihre Asche in versiegelter Urne zu, samt der Mitteilung, das Pazifistenschwein habe sich erhängt oder sei auf der Flucht erschossen worden. Die deutsche Jugend lernte das Wort »Pazifist« als einen 375 Schimpfnamen; die deutsche Jugend brauchte nicht mehr Goethe oder Plato zu lesen, sie lernte schießen, Bomben werfen, sie ergötzte sich bei nächtlichen Geländeübungen; wenn der Führer vom Frieden schwatzte, begriff sie, daß er es nur scherzhaft meinte. Diese militärisch organisierte, disziplinierte, gedrillte Jugend kannte nur ein Ziel, hatte nur eine Perspektive: den Revanche-Krieg, den Eroberungskrieg: Elsaß-Lothringen ist deutsch, die Schweiz ist deutsch, Holland ist deutsch, Dänemark ist deutsch, die Tschechoslowakei ist deutsch, die Ukraine ist deutsch, Österreich ist so besonders deutsch, daß eigentlich kaum ein Wort darüber zu verlieren ist, Deutschland muß seine Kolonien wiederhaben. Das ganze Land verwandelt sich in ein Heerlager, die Rüstungsindustrie floriert, es ist die totale Mobilmachung in Permanenz, und das Ausland schaut gebannt auf dies imposante, grauenerregende Schauspiel, wie das Kaninchen auf die Schlange, von der es gleich gefressen sein wird.

Man amüsiert sich auch unter der Diktatur, »Kraft durch Freude« ist die Parole, Volksfeste werden arrangiert, die Saar ist deutsch –: ein Volksfest. Der Dicke heiratet endlich seine Lindenthal und läßt sich Hochzeitsgeschenke im Wert von Millionen machen –: ein Volksfest. Deutschland tritt aus dem Völkerbund aus, Deutschland hat seine »Wehrhoheit« wieder: lauter Volksfeste. Zum Volksfest wird jeder Vertragsbruch, ob es sich um den Vertrag von Versailles oder um den von Locarno handelt, und das obligate »Plebiszit«, das sich anschließt. Lang ausgedehnte Volksfeste sind die Verfolgung der Juden und die öffentliche Anprangerung jener Mädchen, die mit ihnen »Rassenschande« trieben; die Verfolgung der Katholiken, von denen man jetzt erst erfährt, daß sie niemals viel besser als die Juden waren, und gegen die schalkhafter Weise »Devisenprozesse« wegen Bagatellen arrangiert werden, 376 während die nationalen Führer Riesenvermögen ins Ausland verschieben; die Verfolgung der »Reaktion«, unter der man sich nichts Genaues vorstellen kann. Der Marxismus ist ausgerottet, aber immer noch eine Gefahr und Anlaß zu Massenprozessen; die deutsche Kultur ist »judenrein«, dafür aber so öde geworden, daß niemand mehr etwas von ihr wissen will; die Butter wird knapp, aber Kanonen sind wichtiger; zum 1. Mai, der früher der Feiertag des Proletariats gewesen, erzählt heute ein versoffener Doktor – aufgeschwemmte Champagnerleiche – etwas über die Lebensfreude. Wird dies Volk denn nicht müde so zahlreicher und so fragwürdiger festlicher Veranstaltungen? Vielleicht ist es schon müde. Vielleicht stöhnt es schon. Aber der Lärm aus den Megaphonen und Mikrophonen übertönt seinen Jammerlaut.

Das Regime geht weiter seinen schauerlichen Weg. Am Rand des Weges häufen sich die Leichen.

 

Wer sich auflehnte, wußte, was er riskierte. Wer die Wahrheit sagte, mußte mit der Rache der Lügner rechnen. Wer die Wahrheit zu verbreiten suchte und in ihrem Dienste kämpfte, war bedroht mit dem Tode und mit allen jenen Schrecken, die dem Tod in den Kerkern des Dritten Reiches voranzugehen pflegten.

Otto Ulrichs hatte sich sehr weit vorgewagt. Seine politischen Freunde wiesen ihm die schwierigsten und gefährlichsten Aufgaben zu. Man war der Ansicht – oder man hoffte doch, daß seine Stellung am Staatstheater ihn bis zu einem gewissen Grade schützte. Jedenfalls war seine Situation günstiger als die von manchen seiner Kameraden, die unter falschen Namen in Verstecken lebten – immer auf der Flucht vor den Agenten der Gestapo, verfolgt von der Polizei wie Verbrecher: wie Diebsgesindel oder Mörder gehetzt durch dieses Land, das verfallen an die Mörder und an das 377 diebische Gesindel war. – Otto Ulrichs konnte manches wagen, was für seine Freunde den gar zu sicheren Untergang bedeutet hätte. Er wagte zu viel. Eines Morgens wurde er verhaftet.

Damals studierte man im Staatstheater den »Hamlet«, der Intendant selber hatte die Titelrolle. Otto Ulrichs sollte den Hofmann Güldenstern spielen. Als er, ohne daß er sich entschuldigt hätte, nicht zur Probe kam, erschrak Höfgen, der sofort wußte, oder doch ahnte, was geschehen war. Er zog sich vorzeitig von der Probe zurück, das Ensemble arbeitete ohne ihn weiter. Als der Intendant durch Ottos Wirtin erfahren hatte, daß Ulrichs am frühen Morgen von drei Herren in Zivil abgeholt worden war, ließ er sich mit dem Palais des Ministerpräsidenten verbinden. Wirklich bemühte der Dicke sich selbst an den Apparat, wurde aber recht kurz angebunden und zerstreut, als Hendrik ihn fragte, ob er etwas über die Verhaftung Otto Ulrichs' wisse. Der Fliegergeneral erklärte, daß er nicht unterrichtet sei. »Ich bin auch gar nicht zuständig,« sagte er etwas nervös. »Wenn unsere Leute den Kerl einstecken, wird er schon irgend etwas auf dem Kerbholz haben. Ich war ja von Anfang an mißtrauisch gegen den Burschen. Und dieser ›Sturmvogel‹ damals, das war doch wohl eine verdammt üble Kiste.« Als Hendrik dann noch zu fragen wagte, ob man denn gar nichts zur Milderung von Ulrichs' Situation unternehmen könne, wurde der Dicke ungnädig. »Nein nein, mein Lieber – lassen Sie nur besser Ihre Finger von dieser Sache!« ließ sich seine fette und scharfe Stimme vernehmen. »Sie tun klüger daran, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.« Das klang bedrohlich. Auch die Anspielung auf den »Sturmvogel«, wo Höfgen doch selber als »Genosse« aufgetreten war, hatte keinen angenehmen Ton gehabt. Hendrik begriff, daß er den Verlust der allerhöchsten 378 Gnade riskierte, wenn er sich für den Augenblick weiter um das Los seines alten Freundes bekümmerte. ›Ich will ein paar Tage vergehen lassen,‹ beschloß er. ›Wenn ich den Dicken einmal in besserer Laune treffe, werde ich mit aller Vorsicht versuchen, auf die Sache zurückzukommen. Einmal werde ich den Otto schon noch herausbekommen, aus dem Columbiahaus oder aus dem Lager. Aber jetzt ist Schluß! Der Bursche muß mir ins Ausland. Durch seine sinnlose Unvorsichtigkeit, durch seinen antiquierten und kindischen Begriff vom Heroischen wird er mich noch in die schlimmsten Unannehmlichkeiten bringen . . .‹

Als es Hendrik nach zwei Tagen noch immer nicht geglückt war, sich irgendwelche Nachrichten über Ulrichs zu verschaffen, wurde er unruhig. Den Ministerpräsidenten schon wieder telephonisch zu behelligen, wagte er nicht. Nach langem Überlegen entschloß er sich dazu, Lotte anzurufen. Die herzensgute Frau des großen Mannes erklärte zunächst, sie sei froh, einmal wieder Hendriks liebe Stimme zu hören. Er versicherte ihr, etwas hastig, daß es ihm, was ihre Stimme betreffe, genau so ergehe; übrigens habe er diesmal für seinen Anruf auch noch einen besonderen Grund. »Ich mache mir Sorgen um Otto Ulrichs,« sagte Höfgen. – »Wieso denn Sorgen?« rief die Ährenblonde aus ihrem Rokoko-Boudoir zurück. »Er ist doch tot.« Sie war erstaunt darüber und schien es beinahe drollig zu finden, daß Hendrik es noch nicht wußte. – »Er ist tot . . .,« wiederholte Hendrik leise. Zum Erstaunen der Frau Generalin hängte er ein, ohne sich von ihr verabschiedet zu haben.

Hendrik ließ sich sofort zum Ministerpräsidenten fahren. Der Gewaltige empfing ihn in seinem Arbeitszimmer. Er trug ein phantastisches Hausgewand, das an den Manschetten und am Kragen mit Hermelinpelz besetzt war. Zu seinen Füßen ruhte eine ungeheure 379 Dogge. Über dem Schreibtisch blitzte, vor einer schwarzen Draperie, ein breites, schartiges Schwert. Auf einem Marmorsockel stand eine Büste des Führers, die mit blinden Augen zwei Photographien anstarrte: die eine stellte Lotte Lindenthal als Minna von Barnhelm dar, die andere war das Porträt jener skandinavischen Dame, die einstmals den verwundeten Abenteurer im Auto durch Italien gefahren hatte und über deren Urne sich nun ein enormes Grabmal wölbte – schimmernde Kuppel aus Marmor und vergoldetem Stein, mit welcher der Witwer seine Dankbarkeit auszudrücken meinte, während er doch in Wahrheit nur seinem eigenen Dünkel das Denkmal gesetzt hatte.

»Otto Ulrichs ist tot,« sagte Hendrik, der an der Türe stehen geblieben war.

»Gewiß doch,« antwortete der Dicke vom Schreibtisch her. Da er sah, daß eine Blässe wie der Widerschein einer weißen Flamme über Hendriks Gesicht lief, fügte er hinzu: »Es scheint sich um einen Selbstmord zu handeln.« Dieses sprach der Ministerpräsident, ohne zu erröten.

Hendrik taumelte eine Sekunde lang. Mit einer unbeherrschten Gebärde, die gar zu deutlich sein Grauen ausdrückte, griff er sich an die Stirn. Es war vielleicht die erste völlig aufrichtige, durchaus nicht stilisierte Geste, die der Ministerpräsident zu sehen bekam vom Schauspieler Höfgen. Der große Mann war enttäuscht von solchem Mangel an Haltung bei seinem gewandten Liebling. Er erhob sich, richtete sich auf zu seiner ganzen erschreckenden Größe. Mit ihm erhob sich die fürchterliche Dogge und knurrte.

»Ich habe Ihnen schon einmal den guten Rat gegeben,« sagte der Fliegergeneral drohend, »und ich wiederhole ihn jetzt – obwohl ich es nicht gewöhnt bin, irgendetwas zwei Mal auszusprechen –: Lassen Sie Ihre Finger von dieser Sache!« Das war deutlich. 380 Erschauernd empfand Hendrik die Nähe des Abgrundes, an dessen Rand er sich immer bewegte und in dessen Tiefe dieser fette Riese ihn stoßen konnte, wenn ihm die Lust dazu kam. – Der Ministerpräsident stand mit geducktem Kopf; an seinem Stiernacken traten drei wulstige breite Falten hervor. Seine kleinen Augen blitzten, ihre Lider waren entzündet, und auch das Weiße der Augäpfel färbte sich rötlich, als wäre dem ärgerlichen Tyrannen eine Welle von Blut ins Haupt gestiegen, die ihm nun den Blick trübte. »Die Sache ist nicht sauber,« sagte er noch. »Dieser Ulrichs war in dreckige Affären verwickelt, er hatte allen Grund sich umzubringen. Der Intendant meiner Staatstheater sollte sich nicht gar zu sehr für einen notorischen Hochverräter interessieren.«

Das Wort »Hochverräter« hatte der General gebrüllt. Hendrik wurde schwindlig, so dicht vor sich sah er den Abgrund nun. Um nicht zu stürzen, klammerte er sich an die Lehne eines der schweren Renaissance-Sessel. Als er um die Erlaubnis bat, sich zurückziehen zu dürfen, entließ ihn der Ministerpräsident mit einem ungnädigen Kopfnicken. –

Niemand im Theater wagte, über den »Selbstmord« des Kollegen Ulrichs zu sprechen. Auf irgendeine geheimnisvolle und unkontrollierbare Weise erfuhren trotzdem alle, wie er gestorben war. Er war nicht hingerichtet, sondern zu Tode gequält worden. Durch unbarmherzige Foltern hatte man versucht, die Namen seiner Mitarbeiter und Freunde von ihm zu erpressen. Er aber war standhaft geblieben. Wut und Enttäuschung bei der Gestapo waren gewaltig; denn auch in Ulrichs' Wohnung hatte man kein Material gefunden, es gab nichts Geschriebenes, keine Notiz, keinen Zettel mit einer Adresse. Kaum noch in der Hoffnung, etwas aus ihm herauszubekommen, sondern eigentlich nur noch, um ihn für seinen Eigensinn zu züchtigen, 381 hatte man die Martern gesteigert. Vielleicht war den Folterknechten nicht einmal der ausdrückliche Befehl zugegangen, ihn zu töten; das Opfer starb ihnen beim dritten »Verhör« unter den Händen. Da war sein Körper nur noch eine blutige, entstellte Masse und seine Mutter, die irgendwo in der Provinz lebte und vor Jammer wunderlich wurde, als sie von seinem Selbstmord erfuhr – seine arme Mutter hätte das verschwollene, aufgeplatzte, zerrissene, von Eiter, Blut und Kot verschmierte Gesicht nicht wieder erkannt, welches das Menschenantlitz ihres Sohnes gewesen war.

»Geht es dir nahe, Hendrik?« erkundigte sich Nicoletta mit einer merkwürdig kalten und, wie es schien, beinahe höhnischen Neugierde bei ihrem Gatten. »Beschäftigt es dich?«

Hendrik wagte nicht, ihren Blick zu erwidern. »Ich habe Otto so lange gekannt . . .« sagte er leise, als hätte er für etwas um Entschuldigung zu bitten. – »Er hat gewußt, was er riskierte,« erklärte Nicoletta. »Wenn man spielt, muß man darauf gefaßt sein, den Einsatz zu verlieren.«

Hendrik, dem das Gespräch peinlich war, murmelte noch: »Armer Otto!« – um doch irgend etwas zu erwidern.

Sie versetzte schneidend: »Wieso – arm?« Und fügte hinzu: »Er ist für die Sache gestorben, die ihm die richtige schien. Er ist vielleicht zu beneiden.« Nach einer Pause sprach sie träumerisch: »Ich will Marder schreiben und ihm von Ottos Tod erzählen. Marder bewundert Menschen, die ihr Leben für eine idée fixe aufs Spiel setzen. Er liebt die Eigensinnigen. Er wäre selber dazu fähig, aus Eigensinn sein Leben zu opfern. Vielleicht wird er finden, daß dieser Ulrichs eine Persönlichkeit gewesen ist und Disziplin besessen hat.«

Hendrik machte eine ungeduldige Handbewegung. »Otto war gar keine besondere Persönlichkeit,« sagte 382 er. »Er war ein einfacher Mensch – ein einfacher Soldat der großen Sache . . .« Hier verstummte er und über sein fahles Gesicht ging eine flüchtige Röte. Er schämte sich seiner Worte. Er empfand Scham, weil er Worte gebraucht hatte, deren Ernst ihm durch Ottos Tod tiefer bewußt geworden war, als jemals zuvor. Da er das Gewicht und die Würde solcher Worte verstand – jetzt, in diesem einen kurzen Augenblick verstand – spürte er, daß er sie entweihte, wenn er sie über seine Lippen kommen ließ. Er fühlte, daß die ernsten Worte aus seinem Munde klangen wie Hohn. –

An der Beerdigung des Schauspielers Otto Ulrichs, der seinem Leben »freiwillig und aus Furcht vor der gerechten Strafe des Volksgerichts« ein Ende gemacht hatte, durfte niemand teilnehmen. Der Staat hätte den entstellten Leichnam verscharren lassen, wie einen verreckten Hund. Aber die Mutter des Verstorbenen, eine fromme Katholikin, schickte Geld für den Sarg und für einen kleinen Grabstein. In einem Brief, der durch Fett- und Tränenflecke beinah unleserlich gemacht war, bat sie darum, man möge ihrem Kinde ein christliches Begräbnis gönnen. Die Kirche mußte sich weigern: dem Sarg des Selbstmörders darf kein Priester folgen. Die alte Frau, in ihrer armseligen Kammer, betete für den verlorenen Sohn. »Er hat nicht an Dich geglaubt, lieber Gott, und er hat viel gesündigt. Aber er war nicht schlecht. Er ist den falschen Weg gegangen, nicht aus Verstocktheit, sondern weil er ihn für den richtigen hielt. Alle Wege, die man in der guten Absicht geht, müssen bei Dir enden, lieber Gott. Du wirst ihm verzeihen und ihm die ewige Verdammnis erlassen. Denn Du siehst in die Herzen, ewiger Vater, und das Herz meines verirrten Sohnes war rein.«

Übrigens wäre es der alten Frau nicht möglich gewesen, das Geld für Sarg und Grabstein aufzubringen; 383 denn sie besaß nichts, keinen Pfennig und keinen Gegenstand mehr, der noch in Geld umzusetzen war. Sie lebte davon, daß sie zerrissene Wäschestücke ausbesserte, sie mußte oft hungern; nun, da Otto sie nicht mehr unterstützen konnte, würde es noch ärger und schlimmer für sie werden. – Ein Freund des Verstorbenen, der seinen Namen nicht nannte, hatte ihr die Summe für die Begräbniskosten aus Berlin geschickt, mit genauen Anweisungen, an welche Stellen sie das Geld weiterzuleiten habe. »Verzeihen Sie mir, daß ich meinen Namen nicht nenne,« schrieb der Unbekannte. »Sie werden sicherlich die Gründe begreifen und billigen, die mich zur Vorsicht zwingen.«

Die alte Frau begriff gar nichts. Sie weinte ein wenig, wunderte sich, schüttelte den Kopf, betete und schickte das Geld, das sie gerade aus Berlin bekommen hatte, wieder dorthin zurück. ›In den Städten scheinen sie alle närrisch geworden zu sein,‹ dachte sie. ›Warum muß das Geld erst durch halb Deutschland reisen, wenn es doch aus Berlin ist und in Berlin ausgegeben werden soll? Aber sicher ist es ein guter Mensch, der das für meinen Otto getan hat – sicher ein guter und frommer Mensch.‹ Und sie schloß den unbekannten Spender in ihre Gebete ein.

So wurden Grabstein und Sarg des ermordeten Revolutionärs von der hohen Gage bezahlt, die der Herr Intendant vom nationalsozialistischen Staate bezog. Dies war das Letzte und Einzige, was Hendrik Höfgen noch für seinen Freund Otto Ulrichs leisten konnte –: es war die letzte Beleidigung, die er ihm antat. Hendrik aber fühlte sich erleichtert, nachdem das Geld an Mutter Ulrichs abgegangen war. Nun war sein Gewissen doch ein wenig beruhigt, und auf der Seite, wo er in seinem Herzen die »Rückversicherungen« buchte, gab es wieder einen positiven Posten. Die Spannung, in der er sich während der letzten schlimmen Tage 384 befunden hatte, ließ nach. Der Druck wich von ihm. Es gelang ihm, seine ganze Energie auf den Hamlet zu konzentrieren.

Diese Rolle bereitete ihm Schwierigkeiten, auf die er nicht gefaßt gewesen war. Mit welchem Leichtsinn hatte er damals, in Hamburg, den Dänenprinzen improvisiert! Der gute Kroge hatte geschäumt und noch auf der Generalprobe die Vorstellung absagen wollen. »Denn solche Schweinereien dulde ich nicht in meinem Hause!« hatte der alte Vorkämpfer eines geistigen Theaters gebrüllt. Hendrik erinnerte sich daran, und er mußte lächeln.

Nun gab es niemanden mehr, der in seiner Gegenwart und ihn betreffend von »Schweinereien« zu reden wagte. Aber wenn er alleine war und keiner ihn hören konnte, stöhnte Hendrik: »Ich schaffe es nicht!« – Beim Mephisto war er, vom ersten Augenblick an, jeden Tones und jeder Geste sicher gewesen. Der Dänenprinz aber war spröde, er verweigerte sich. Hendrik kämpfte um ihn. »Ich lasse dich nicht!« rief der Schauspieler. Hamlet jedoch antwortete ihm – abgewendet, traurig, spöttisch, unendlich hochmütig –: »Du gleichst dem Geist, den du begreifst – nicht mir!«

Der Komödiant schrie den Prinzen an: »Ich muß dich spielen können! Wenn ich vor dir versage, dann habe ich ganz versagt. Du bist die Feuerprobe, die ich bestehen will. Mein ganzes Leben und alles was ich gesündigt habe – mein großer Verrat und all meine Schande sind allein zu rechtfertigen durch mein Künstlertum. Ein Künstler aber bin ich nur, wenn ich Hamlet bin.« – »Du bist nicht Hamlet,« antwortete ihm der Prinz. »Du besitzest nicht die Vornehmheit, die man sich allein durch das Leiden und durch die Erkenntnis erwirbt. Du hast nicht genug gelitten, und was du erkannt hast, war dir nicht mehr wert, als ein hübscher 385 Titel und eine stattliche Gage. Du bist nicht vornehm; denn du bist ein Affe der Macht und ein Clown zur Zerstreuung der Mörder. Übrigens siehst du auch gar nicht aus wie Hamlet. Schau dir doch einmal deine Hände an – sind das die Hände dessen, den Leid und Erkenntnis adeln? Deine Hände sind plump, du magst sie noch so fein und gotisch halten. Außerdem bist du zu dick. Es tut mir leid, dich darauf hinweisen zu müssen – aber ein Hamlet mit solchen Hüften: oh weh!« Hier lachte der Prinz, hohl und höhnisch, aus der mythischen Ferne seines ewigen Ruhmes.

»Du weißt, daß ich auf der Bühne immer noch sehr schlank aussehen kann!« rief gereizt und beleidigt der Komödiant. »Ich habe mir ein Kostüm entwerfen lassen, in dem mein Todfeind nichts an mir von dicken Hüften bemerken dürfte. Es ist eine Gemeinheit von dir, mich jetzt an sie zu erinnern, wo ich ohnedies so nervös bin! Warum liegt dir denn daran, mich zu kränken? Haßt du mich denn so sehr?«

»Ich hasse dich überhaupt nicht.« Der Prinz hatte ein verächtliches Achselzucken. »Ich habe gar keine Beziehung zu dir. Du bist nicht meinesgleichen. Du hattest die Wahl, mein Lieber: zwischen der Vornehmheit und der Karriere. Nun, du hast dich entschieden. Sei glücklich, aber laß mir meine Ruhe!« Da begann die schmale Figur schon, sich aufzulösen.

»Ich lasse dich nicht!!« keuchte noch einmal der Komödiant und streckte seine beiden Hände, über die der Schatten sich so herabsetzend geäußert hatte, nach dem Prinzen aus; aber sie griffen ins Leere.

»Du bist nicht Hamlet!« versicherte ihm, nun aus weiter Ferne, die fremde, hochmütige Stimme. –

Er war nicht Hamlet, aber er spielte ihn, seine Routine ließ ihn nicht im Stich. »Es wird großartig!« sagten ihm der Regisseur und die Kollegen – sei es aus Instinktlosigkeit, sei es, um dem Intendanten zu 386 schmeicheln. »Seit den Tagen des großen Kainz hat man eine solche Leistung auf keiner deutschen Bühne gesehen!« – Er selbst indessen wußte, daß er den Versen ihren eigentlichen Inhalt, ihr Geheimnis schuldig blieb. Seine Darstellung blieb im Rhetorischen stecken. Da er sich unsicher fühlte und keine wirkliche Vision des Hamlet besaß, experimentierte er. Mit einer nervösen Heftigkeit setzte er Nuancen, kleine Überraschungseffekte nebeneinander, denen der innere Zusammenhang fehlte. Er hatte beschlossen, die männliche, energievolle Komponente des Dänenprinzen zu betonen. »Hamlet ist kein Schwächling,« erklärte er den Kollegen und dem Regisseur; auch den Journalisten gegenüber sprach er sich in diesem Sinn aus. »Er ist nichts weniger als feminin – ganze Schauspielergenerationen haben den Irrtum begangen, ihn als femininen Typus aufzufassen. Seine Melancholie ist kein leerer Spleen, sondern hat greifbare Gründe. Der Prinz tritt vor allem als der Rächer seines Vaters auf. Er ist Renaissance-Mensch – durchaus aristokratisch und nicht ohne Zynismus. Mir liegt vor allem daran, ihm die wehleidigen, larmoyanten Züge zu nehmen, mit denen eine konventionelle Deutung ihn belastet hat.«

Regisseur, Kollegen und Journalisten fanden dies sehr neuartig, kühn und interessant. Benjamin Pelz, mit dem Höfgen lange Unterhaltungen über den Hamlet hatte, war begeistert über Hendriks Konzeption. »Nur so, wie Ihr Genie ihn fühlt und begreift, ist der Dänenprinz für uns Menschen von heute – die wir zynische Tatmenschen sind – überhaupt noch erträglich,« sagte Pelz.

Die Figur, welche Hendrik Höfgen aus dem Hamlet machte, war ein preußischer Leutnant mit neurasthenischen Zügen. Alle Akzente, mit denen er über die Hohlheit seines Spieles hinwegtäuschen wollte, waren maßlos und schrill. Im einen Augenblick stand er 387 stramm, um im nächsten mit großem Lärm in Ohnmacht zu fallen. Statt zu klagen, schrie und tobte er. Sein Lachen gellte, seine Bewegungen zuckten. Die tiefe und geheimnisvolle Melancholie, die er als Mephisto gehabt hatte – ohne sie zu beabsichtigen, ohne sie zu spielen; sondern nach rätselhaftem, ihm selber unbewußten Gesetz –, fehlte seinem Hamlet. Die großen Monologe brachte er in vorbildlich geschicktem Aufbau, aber er »brachte« sie nur. Da er die Klage anstimmte:

»Oh schmölze doch dies allzu feste Fleisch,
Zerging' und löst' in einen Tau sich auf!«

– da fehlten ihr die Musik wie die Härte, die Schönheit wie die Verzweiflung; man spürte nicht, was durchdacht und was durchlitten worden war, ehe diese Worte über diese Lippen kamen; weder Gefühl noch Erkenntnis adelten die Rede: sie blieb kokette Lamentation, schmollend – gefallsüchtige kleine Klage.

Trotzdem hatte die Hamlet-Premiere rauschenden Erfolg. Das neue Berliner Publikum beurteilte die Schauspieler weniger nach der Reinheit und Intensität ihrer künstlerischen Leistung als nach ihren Beziehungen zur Macht. Übrigens war die ganze Inszenierung danach angetan, diesem Parkett von hohen Militärchargen und blutrünstigen Professoren mit ihren nicht minder heroisch gesinnten Damen zu imponieren. Der Regisseur hatte den nordischen Charakter der Shakespeare-Tragödie grob und demonstrativ betont. Die Handlung spielte sich vor klotzigen Dekorationen ab, die wohl als Hintergrund für die Recken des Nibelungenliedes getaugt hätten. Auf der Bühne, die in einer düsteren Dämmerung lag, gab es immer rasselnde Schwerter und viel rauhes Geschrei. Inmitten der rauhen Gesellen bewegte Hendrik sich mit tragischer Geziertheit. Einmal leistete er sich den Scherz, 388 Minuten lang regungslos an einem Tisch zu sitzen und dem erschütterten Publikum nur seine Hände zu zeigen. Das Gesicht blieb im Dunkel; die Hände lagen, kalkig weiß geschminkt und vom Scheinwerfer grell angeleuchtet, auf der schwarzen Tischplatte. Der Intendant stellte seine unschönen Hände aus wie Kostbarkeiten: Dies tat er halb aus Übermut – um zu sehen, wie weit er es treiben konnte –; teils um sich selbst zu quälen: denn er litt heftig unter dieser Exhibition seiner breiten, ordinären Finger.

»Hamlet ist das repräsentative germanische Drama,« hatte Doktor Ihrig in seiner, vom Propagandaministerium inspirierten Vorbesprechung verkündigt. »Der Dänenprinz gehört zu den großen Symbolen des deutschen Menschen. In ihm finden wir einen Teil unseres tiefsten Wesens ausgedrückt. Hölderlin rief über uns aus:

›Denn, ihr Deutschen, auch ihr seid .
Tatenarm und gedankenvoll.‹

Hamlet ist also auch eine Gefahr des deutschen Menschen. Wir haben ihn alle in uns, und wir müssen ihn überwinden. Denn die Stunde verlangt von uns Aktionen, nicht nur Gedanken und die zersetzende Reflexion. Eine Vorsehung, die uns den Führer geschickt hat, verpflichtet uns zur Tat im Interesse der nationalen Gemeinschaft, von der Hamlet, dieser typische Intellektuelle, sich grüblerisch absondert und entfernt.«

Allgemein war man der Ansicht, daß Höfgen den tragischen Konflikt zwischen Tatbereitschaft und Gedankentiefe, der den deutschen Menschen auf so interessante Weise von allen übrigen Lebewesen unterscheidet, in seiner Hamlet-Darstellung selber spürbar werden ließ. Denn er stellte den Prinzen als Draufgänger mit nervösen Störungen vor ein Publikum hin, das sowohl für Draufgängertum, als auch für 389 neurasthenische Anfechtungen volles Verständnis hatte.

Der Intendant, dessen Kostüm in der Tat so geschickt gearbeitet war, daß er in ihm jünglingshaft schmalhüftig wirkte, mußte sich immer wieder zeigen. Neben ihm verneigte sich seine junge Gattin, Nicoletta Höfgen, die eine etwas wunderliche und starre, aber vor allem in den Wahnsinns-Szenen eindrucksvolle Ophelia gewesen war.

Der Ministerpräsident, schimmernd in Purpur, Gold und Silber, und seine Lotte, sanft strahlend in Himmelblau, standen nebeneinander in ihrer Loge und spendeten demonstrativen Applaus. Das war die Versöhnung des Gewaltigen mit seinem Hofnarren: Mephistopheles-Hendrik empfand es dankbar. Schön und bleich in seinem Hamlet-Kostüm verbeugte er sich tief vor dem hohen Paar. ›Lotte ist wieder verliebt in mich,‹ dachte er, während er die rechte Hand mit einer Geste, die von Erschöpftheit zeugte, aber doch schöne Rundung hatte, zum Herzen führte. Sein großer, mit sublimer Sorgfalt dunkelrot nachgeschminkter Mund zeigte ergriffenes Lächeln; unter den runden, schwarzen Bögen der Brauen sandten die Augen verführerische, süße und kalte Lichter; der überanstrengte, leidvoll gespannte Zug an den Schläfen veredelte sein Antlitz und ließ seine ruchlosen Reize rührend wirken. Nun winkte die Frau Fliegergeneralin ihm mit dem Seidentüchlein, das die himmelblaue Farbe ihrer Robe hatte. Der General grinste. ›Ich bin wieder in Gnaden aufgenommen,‹ dachte Hamlet erleichtert.

Er lehnte alle Einladungen ab, entschuldigte sich mit großer Müdigkeit und ließ sich nach Hause fahren. Als er sich in seinem Arbeitszimmer allein befand, merkte er, daß an Schlafen kaum zu denken war. Er war deprimiert und erregt. Der laute Beifall ließ ihn nicht vergessen, daß er versagt hatte. Es war gut und wichtig, daß die Huld des Dicken, um die er schon hatte 390 zittern müssen, wiedererobert war. Aber sogar dieser wesentliche und bedeutsame Erfolg des Abends konnte ihn nicht hinwegtrösten über das Fiasko, das sein höherer Anspruch, sein besserer Ehrgeiz heute erlitten hatten. ›Ich war nicht Hamlet,‹ dachte er gramvoll. ›Die Zeitungen werden mir versichern, daß ich in jedem Zoll der Dänenprinz gewesen bin. Aber sie werden lügen. Ich war falsch, ich war schlecht – so viel Selbstkritik bringe ich doch noch auf, um das zu wissen. Wenn ich mich des hohlen Tons erinnere, mit dem ich 'Sein oder Nichtsein' deklamiert habe, dann zieht sich alles in mir zusammen . . .‹

Er ließ sich in einem Lehnstuhl nieder, der am geöffneten Fenster stand. Das Buch, nach dem er gegriffen hatte, legte er enerviert wieder zur Seite: es waren »Les Fleurs du Mal«, sie erinnerten ihn an Juliette.

Durch das Fenster hatte man den Blick in den dunklen Garten, aus dem Düfte und Feuchtigkeit stiegen. Hendrik fröstelte, er zog sich den seidenen Schlafrock über der Brust zusammen. Was für einen Monat hatte man denn? April oder schon Anfang Mai? Er empfand es plötzlich als bitter traurig, daß er, seit so langer Zeit, das Nahen des Frühlings und seine schöne Verwandlung in den Sommer übersah. ›Dieses verfluchte Theater,‹ dachte er schmerzlich und zornig –, ›es frißt mich auf. Über ihm versäume ich das Leben.‹

Er saß mit geschlossenen Augen, als eine rauhe Stimme ihn anrief: »Holla! Herr Intendant!«

Hendrik fuhr in die Höhe.

Aus dem Garten war ein Kerl zu seinem Fenster hinaufgeklettert –: eine akrobatische Leistung; denn es gab kein Spalier. Seine Gestalt erschien bis zur Brust im Fensterrahmen. Hendrik war furchtbar erschrocken. Er überlegte sich einige Sekunden lang, ob es sich um eine Vision handle, um ein Erzeugnis seiner 391 überreizten Nerven. Aber nein, der Bursche sah nicht aus wie eine Halluzination. Ganz entschieden: der lebte. Er trug eine graue Schirmmütze und eine schmutzige blaue Bluse. Die obere Hälfte seines Gesichtes lag in tiefem Schatten. Die untere Gesichtspartie war bedeckt von einem stoppeligen Bart rötlicher Färbung.

»Was wollen Sie?!« schrie Höfgen; dabei tastete er hinter sich, nach der Klingel, die auf dem Schreibtisch stand.

»Schrei doch nicht so!« sagte der Mann, dessen Stimme nicht ohne eine gewisse rohe Gutmütigkeit war. »Ich tu' dir ja nichts.«

»Was wollen Sie von mir?« wiederholte Hendrik, nun etwas leiser.

»Ich komme nur, um dir Grüße auszurichten,« sagte der Mann im Fenster. »Grüße von Otto.«

Hendriks Gesicht war weiß geworden wie das seidene Tuch, das er um den Hals geschlungen trug. »Ich weiß gar nicht, von welchem Otto Sie sprechen.« Seine Stimme war beinahe tonlos.

Das kurze Gelächter, das ihm vom Fenster her antwortete, hatte einen recht schaurigen Klang »Na, was wollen wir wetten, daß du noch darauf kommst?« fragte der Besucher mit einer drohenden Neckerei. Aber er wurde ganz ernst, als er fortfuhr: »Auf dem letzten Zettel, den ich von Otto bekommen habe, stand ausdrücklich, daß wir dich grüßen sollen. Glaube nur nicht, daß ich zum Vergnügen hergekommen bin. Aber Ottos Wünsche werden von uns respektiert.«

Hendrik konnte nur flüstern: »Ich muß die Polizei anrufen, wenn Sie nicht auf der Stelle verschwinden!«

Daraufhin wurde das Gelächter des Menschen beinahe herzlich. »Du wärest dazu imstande, Genosse!« rief er aufgeräumt. Hendrik öffnete, so unauffällig es sich irgend machen ließ, eine Schublade des Schreibtisches und ließ einen Revolver in seine Tasche gleiten. 392 Er hoffte, der Gast im Fenster würde es nicht bemerken; aber der rief schon – wobei er sich mit einer höchst verächtlichen Gebärde die Mütze aus der Stirne schob: »Das Ding hättest du auch in der Schublade lassen können, Herr Intendant. Hat doch gar keinen Zweck zu knallen – das macht dir nur Unannehmlichkeiten. Wovor hast du denn Angst? Ich hab' dir doch eben gesagt, daß ich dir diesmal nichts tun werde.«

Der Mann war viel jünger, als Hendrik zunächst geglaubt hatte: nun, da der Schatten der Mütze nicht mehr auf seiner Stirne lag, stellte es sich heraus. Er hatte ein schönes, wildes Gesicht mit breiten, slawischen Wangenknochen und merkwürdig hellen, stark grünen Augen. Brauen und Wimpern hatten die rötliche Farbe, welche auch die dicken und harten Bartstoppeln zeigten. Übrigens war auch die Haut seines Gesichtes von einem leuchtenden Ziegelrot, wie man es bei Leuten findet, die den ganzen Tag im Freien arbeiten oder herumliegen und sich von der Sonne anscheinen lassen.

›Er ist vielleicht wahnsinnig,‹ dachte Hendrik, und diese Erwägung, obwohl sie doch die schlimmsten Perspektiven eröffnete, hatte etwas Beruhigendes, beinahe Tröstliches für ihn. ›Ich halte für sehr wohl möglich, daß er wahnsinnig ist. Bei gesundem Verstand würde er mir doch nicht diese tolle Visite machen, die ihn das Leben kosten könnte und die niemandem nützt. Kein Vernünftiger setzt so viel aufs Spiel, nur um mich ein bißchen zu erschrecken. Es ist kaum denkbar, daß wirklich Otto es war, der ihm dazu den Auftrag gegeben hat. Otto neigte keineswegs zu Exzentrizitäten. Er wußte, daß wir unsere Kräfte für ernstere Dinge nötig haben . . .‹

Hendrik war näher an das Fenster herangetreten. Nun sprach er auf den Menschen ein, wie auf einen Kranken – wobei er es aber immerhin für geraten hielt, 393 die Hand am Griff des Revolvers zu lassen, der sich in der Tasche seines Hausgewandes befand. »Machen Sie, daß Sie wegkommen, Mann! Ich rate es Ihnen im Guten! Ein Diener könnte Sie von unten sehen. Es ist jeden Augenblick möglich, daß meine Frau hier ins Zimmer tritt, oder meine Mutter. Sie bringen sich in die ärgste Gefahr, für nichts und wiedernichts! – So verschwinden Sie doch!« rief Hendrik gereizt, da die Figur im Fensterrahmen unbeweglich blieb.

Der Mann, statt auf Höfgens wohlmeinende Vorschläge irgend einzugehen, erwiderte mit einer Stimme, die plötzlich viel tiefer und übrigens völlig ruhig klang:

»Erzähle deinen Freunden von der Regierung, daß Otto mir eine Stunde vor seinem Tod hat sagen lassen: Ich bin fester überzeugt von unserem Sieg als jemals in meinem Leben. – Da war er schon am ganzen Körper zerschlagen und konnte kaum noch reden, denn er hatte den Mund voll Blut.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Hendrik, dessen Atem jetzt sehr hastig und etwas keuchend ging.

»Woher ich das weiß? » Der Besucher hatte wieder das schaurig-aufgeräumte kurze Gelächter. »Von einem S.A.-Mann, der bis zuletzt in seiner Nähe war und der eigentlich zu uns gehört. Er hat sich alles gemerkt, was Otto in seiner letzten Stunde gesagt hat. ›Wir werden siegen!‹ hat er immer wieder gesagt. ›Wenn man so weit ist, wie ich jetzt, irrt man sich nicht mehr,‹ hat er gesagt. ›Wir werden siegen!‹« Der Besucher, beide Arme auf das Fenstersims gestützt, beugte den Oberkörper vor und betrachtete drohend den Hausherrn mit seinen leuchtenden grünen Augen, die vielleicht die Augen eines Wahnsinnigen waren.

Hendrik fuhr zurück, von diesem Blick wie von einer Flamme getroffen, und keuchte: »Warum erzählen Sie mir das alles?!«

»Damit deine hohen Freunde es erfahren!« rief der 394 Mann mit einem bösen, rauhen Jubel in der Stimme. »Damit die großen Schufte es erfahren! Damit der Herr Ministerpräsident es erfährt!«

Hendrik begann die Nerven zu verlieren. Er bekam sonderbar zuckende Gesten: seine Hände flogen zum Gesicht hinauf und sanken wieder hinab, auch seine Lippen zuckten und seine kostbaren Augen verdrehten sich. »Was soll das alles?!« brachte er hervor und hatte ein wenig Schaum vor dem Munde. »Was beabsichtigen Sie denn eigentlich mit diesem theatralischen Scherz?! Wollen Sie mich erpressen? Wollen Sie Geld von mir? Bitte, hier ist welches!« Er griff sinnlos in die seidene Tasche seiner robe de chambre, in der sich nur der Revolver befand, keineswegs Geld. »Oder beabsichtigen Sie nur mich einzuschüchtern? Das wird Ihnen nicht gelingen! Sie meinen wohl, ich zittere vor dem Moment, da ihr an die Herrschaft kommt – denn natürlich werdet ihr einmal herrschen!« Der Intendant redete mit weißen, zuckenden Lippen, während er flatternde Schritte, die beinahe schon Sprünge waren, durchs Zimmer tat. »Aber im Gegenteil!« rief er schrill und blieb mitten im Raum stehen. »Dann werde ich erst recht groß! Meinen Sie vielleicht, ich habe mich für diesen Fall nicht gesichert?! Oho!« triumphierte hysterisch der Intendant. »Ich habe die besten Beziehungen zu euren Kreisen! Die Kommunistische Partei schätzt mich, man ist mir zu Dank verpflichtet!«

Hier war ein Hohngelächter die Antwort. »Das könnte dir wohl so passen,« rief der Schreckliche aus dem Fenster. »Beste Beziehungen zu unseren Kreisen! So bequem, Freundchen – so bequem machen wir es euch doch nicht! Wir haben Unversöhnlichkeit gelernt, Herr Intendant – ich bin eigens hier raufgeklettert, um dich davon zu unterrichten: daß wir die Unversöhnlichkeit gelernt haben. Unser Gedächtnis ist gut – 395 ganz brillant ist unser Gedächtnis, Freundchen! Wir vergessen keinen! Wir wissen, welche wir als Erste aufzuhängen haben!«

Da konnte Hendrik nur noch kreischen: »Scheren Sie sich zum Teufel!! Wenn Sie nicht in fünf Sekunden verschwunden sind, rufe ich doch noch die Polizei – dann werden wir ja sehen, wer von uns Beiden als Erster hängt!«

In seiner zitternden Wut wollte er irgend etwas nach dem Unhold schleudern; fand nichts, was ihm für diesen Zweck geeignet schien, und riß sich die Hornbrille von der Nase. Mit einem krächzenden Aufschrei warf er die Hornbrille in die Richtung des Fensters. Aber das armselige Geschoß traf den Gegner nicht und zerbrach mit einem leisen Klirren an der Wand.

Der fürchterliche Gast war verschwunden. Hendrik eilte ans Fenster, um ihm noch etwas nachzurufen. »Ich bin überhaupt unentbehrlich!« schrie der Intendant in den dunklen Garten. »Das Theater braucht mich, und jedes Regime braucht das Theater! Kein Regime kann ohne mich auskommen!«

Er bekam keine Antwort; von dem rotbärtigen Fassadenkletterer war keine Spur mehr zu sehen. Ihn schien der nächtliche Garten verschluckt zu haben. Der nächtliche Garten rauschte mit seinen schwarzen Bäumen, seinen dunklen Büschen, auf denen die weißen Blüten ein mattes Schimmern hatten. Der Garten schickte seine Düfte und seinen kühlenden Atem. Hendrik wischte sich die feuchte Stirne. Er bückte sich, hob die Brille auf und stellte mit Betrübtheit fest, daß sie zerbrochen sei. Langsam und mit etwas schwankenden Schritten ging er durchs Zimmer, wobei er sich tastend wie ein Blinder an den Möbeln hielt; denn seine Augen waren noch getrübt vom Entsetzen, und übrigens fehlte ihnen die gewohnte Brille.

Während er sich in einen der niedrigen, breiten 396 Fauteuils sinken ließ, spürte er, wie unendlich müde er war. ›Was für ein Abend!‹ dachte er, und empfand tiefes Mitleid mit sich, wenn er bedachte, was er alles ausgestanden hatte. ›Dergleichen wirft ja den Stärksten um.‹ Dabei legte er sein feuchtes Gesicht in die Hände. ›Und ich bin nicht der Stärkste.‹ – Es wäre angenehm gewesen, jetzt ein wenig zu weinen. Aber er wollte nicht Tränen vergießen, die niemand sah. Nach all den Schrecken, die hinter ihm lagen, glaubte er nun Anspruch zu haben auf die tröstliche Nähe eines lieben Menschen.

›Ich habe sie alle verloren,‹ klagte er. ›Barbara, meinen guten Engel; und Prinzessin Tebab, die dunkle Quelle meiner Kraft; und Frau von Herzfeld, die treue Freundin, und sogar die kleine Angelika –: alle habe ich sie eingebüßt.‹ – In seiner großen Wehmut fand er, daß der tote Otto Ulrichs zu beneiden sei. Der brauchte keine Schmerzen mehr zu ertragen; der war erlöst von der Einsamkeit dieses bitteren Lebens. Seine letzten Gedanken aber waren die des Glaubens und einer stolzen Zuversicht gewesen. – War nicht sogar Miklas beneidenswert – Hans Miklas, dieser trotzige kleine Feind? Beneidenswert waren alle, die glauben konnten, und doppelt beneidenswert jene, die im Rausch des Glaubens ihr Leben gegeben hatten . . .

Wie war dieser Abend zu überstehen? Wie war hinwegzukommen über diese Stunde voll tiefer Ratlosigkeit, voll Angst und voll einer Sehnsucht, die ins Leere irrte und der Verzweiflung verwandt schien? – Hendrik meinte, daß er die Einsamkeit kaum noch ein paar Minuten länger würde ertragen können.

Er wußte: oben, in ihrem Boudoir, erwartete ihn seine Frau – Nicoletta. Wahrscheinlich trug sie unter dem leichten Seidengewand die hohen, geschmeidigen Stiefel aus glänzendem roten Leder. Die Peitsche, die auf dem Toilettentisch neben Dosen, Pasten und 397 Flacons lag, war von grüner Farbe. Bei Juliette war die Peitsche rot, die Stiefel aber waren grün gewesen . . .

Hendrik konnte hinauf zu Nicoletta gehen. Sie würde den scharfen Mund schlängeln zu seiner Begrüßung; sie würde möglichst blanke Katzenaugen machen und irgendetwas Scherzhaftes, vorbildlich Akzentuiertes äußern. – Nein, es war nicht das, was Hendrik jetzt wollte – nicht dies, was er eben nun so dringend brauchte.

Er ließ die Hände vom Gesicht gleiten. Sein getrübter Blick suchte sich in der Dämmerung des Zimmers zurecht zu finden. Mit Mühe gelang es ihm, die Bibliothek, die großen gerahmten Photographien, die Teppiche, Bronzen, Vasen und Gemälde zu erkennen. Ja, es sah fein und elegant hier aus. Er hatte es weit gebracht, das konnte niemand bestreiten. Der Intendant, Staatsrat und Senator, eben noch als Hamlet gefeiert, erholt sich im komfortablen Arbeitszimmer seines herrschaftlichen Heimes . . .

Hendrik stöhnte wieder. Da öffnete sich die Tür. Es war Frau Bella, die eintrat. Es war seine Mutter.

»Mir kam es vor, als hätte ich hier Stimmen gehört,« sagte sie. »Hattest du noch Besuch, mein Lieber?«

Er wandte ihr langsam das fahle Gesicht zu. »Nein,« sagte er leise. »Es war niemand hier.«

Sie lächelte: »Wie man sich irren kann!« Dann trat sie näher an ihn heran. Er bemerkte jetzt erst, daß sie sich im Gehen mit einer Handarbeit beschäftigte: es war ein großes wollenes Stück, wahrscheinlich sollte es ein Schal werden oder ein Sweater. »Es tut mir so schrecklich leid, daß ich heute abend nicht im Theater sein konnte,« sagte sie, den Blick auf ihrer Strickerei. »Aber du weißt ja: meine Migräne, ich fühlte mich gar nicht gut. Wie war es denn? Sicher ein großer Erfolg? Erzähl' doch ein bißchen!« 398

Er antwortete mechanisch und starrte sie an aus Augen, die an ihr vorbei zu sehen und sie doch, mit einer sonderbaren zerstreuten Gier, zu verschlingen schienen: »Ja, es war ein Erfolg.«

»Das dachte ich mir,« nickte sie befriedigt. »Aber du siehst angegriffen aus. Fehlt dir irgendetwas? Soll ich dir einen Tee machen?«

Er schüttelte stumm den Kopf.

Sie ließ sich neben ihm, auf der breiten Lehne des Sessels, nieder. »Deine Augen sind so merkwürdig.« Sie betrachtete ihn besorgt. »Wo ist deine Brille?«

»Zerbrochen.« Er versuchte zu lächeln; der Versuch mißlang. Frau Bella berührte mit den Fingerspitzen seinen kahlen Kopf. »Wie dumm!« sagte sie, zu ihm geneigt.

Da begann er zu weinen. Er warf den Oberkörper nach vorne, seine Stirne sank in den Schoß der Mutter, seine Schultern wurden vom Weinkrampf geschüttelt.

Frau Bella war an die nervösen Zustände ihres Sohnes gewöhnt. Trotzdem erschrak sie. Ihr Instinkt begriff, daß dieses Schluchzen andere, tiefere und schlimmere Gründe hatte als die kleinen Zusammenbrüche, die er sich häufig gönnte.

»Aber was ist denn – was ist denn . . .« redete sie. Ihr Gesicht, das dem des Sohnes so glich – aber unschuldiger und zugleich erfahrener schien als das seine – war nahe bei ihm. Sie spürte an ihren Händen die Feuchtigkeit seiner Tränen. Er griff mit einer heftigen Gebärde nach ihrem Hals, als wollte er sich an ihm festklammern. Ihre Dauerwellenfrisur geriet in Unordnung. Sie hörte, wie Hendrik keuchte und stöhnte. Ihr Herz füllte sich bis zum Rande mit Mitleid. Mitleidend verstand sie alles. Sie begriff seine ganze Schuld, sein großes Versagen, und die verzweifelt ungenügende Reue, und warum er hier liegen mußte 399 und schluchzen. »Aber Heinz!« flüsterte sie. »Aber Heinz – so beruhige dich doch! So arg ist es doch nicht! Aber Heinz . . .«

Unter dieser Anrede – unter diesem Namen der jungen Jahre, den sein Ehrgeiz und sein Hochmut weggeworfen hatten, wurde sein Weinen erst noch heftiger; dann aber ließ es nach. Seine Schultern ruhten. Sein Gesicht blieb stille auf Frau Bellas Knien.

Es waren Minuten vergangen, als er sich langsam aufrichtete. In seinen Augenwimpern hingen noch Tränen, und Tränen waren es noch, die seine Wangen befeuchteten, seine sieghaft geschwungenen Lippen, von denen so Viele verführt worden waren, und das edle Kinn, das er stolz zu recken wußte in den Stunden des Triumphes und das jetzt jämmerlich bebte. Während sein erschöpftes, tränennasses Antlitz ein wenig nach hinten sank, rief er, die Arme mit schöner, klagender, hilflos-hilfesuchender Geste gebreitet:

»Was wollen die Menschen von mir? Warum verfolgen sie mich? Weshalb sind sie so hart? Ich bin doch nur ein ganz gewöhnlicher Schauspieler!«


 

Alle Personen dieses Buches stellen Typen dar, nicht Portraits.

K. M.

 


 


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