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IV

Sehr früh war Claudia bei ihr.

»Schon in vollem Anzug und unterwegs?« fragte Lola. Es sei solch schöner Morgen, sie habe ihr Veilchen bringen wollen – aber Claudia schien besorgt. Endlich, ganz leise, erschloß sie sich. Im Vorbeigehen habe sie Pardis Zimmer weit offen gesehen. Die Schiebfächer seien herausgezogen. Vieles liege am Boden, wie nach einer Abreise. Lola war erstaunt.

»Vielleicht ist er wirklich fort?« fragte Claudia, und ihr Blick bat um Nachsicht.

»Wir stehen uns grade sehr schlecht, er und ich: drum hat er mir wohl nichts gesagt. Solltest du nicht mehr wissen als ich, Claudia?«

Claudia errötete. Allerdings hatte sie den aufräumenden Diener gefragt. Er konnte keine Auskunft geben, – das heißt, ja –. Ihr Mund zuckte. »Er ist fort. Und ich wußte es schon! Mit der Sarrida ist er fort.«

Lola dachte: ›Welch Glück!‹

Claudia sprach starr weiter. Er begleitete die Sarrida und hatte acht Fechter mit, acht Händelsucher wie er selbst, um der Sarrida Erfolg zu erzwingen. Denn die eintönige Ausstellung ihres Fleisches langweilte vom dritten Abend ab.

Befremdet fühlte Lola eine Regung von Eifersucht: oh, nicht auf Pardis Liebe, aber vielleicht auf die acht Fechter, mit denen er seine Geliebte beschützte? Hier ward gehandelt. Man schickte sich nicht in etwas, das bestimmt schien; man verzichtete nicht: man handelte.

»Woran denkst du?« fragte Claudia.

»Daß wir dann nach Monte Turno könnten: du, Arnold, ich. Da du schon unterwegs bist: willst du mit Guidacci sprechen?«

Mittags trafen sich alle bei der Trambahn nach Prato. Der kleine Priester frohlockte; er faßte das schöne Wetter als persönlichen Erfolg auf. »Jetzt werden Sie mein Landhäuschen sehen!« wiederholte er.

Dem groben, schwermütigen Gesicht Pierinas standen die Veilchen. Lola steckte sie ihr an; Arnold hatte welche für Claudia. Alle lachten aufgeregt durcheinander, man wußte nicht warum: weil es in den Frühling hinausging, weil die Frauen bunte Schleier und Blumen trugen, weil man sich abenteuerlich frei fühlte, in der schmutzigen, lärmenden kleinen Dampfbahn durch das weite, sonnig durchwogte Land hin. Es war braun; die Glockentürme mit dem Umriß alter Zeiten, alten seltsamen Menschensinnes, sanken grau darin ein; rosig und weiß überspülten es Obstblüten, und der Himmel öffnete sich immer weiter, immer mächtiger, bereit, einen Hineinstarrenden zu verschlingen.

Lola stand allein auf der Plattform und sah in den Himmel. Arnold trat neben sie. Nach einer Weile zeigte sie ihm die Pappeln, die zurückblieben.

»Wie sie fein und durchblaut sind! Hören Sie's nicht, als ob sie sängen? ... Auf der Großen Insel, bei meinen Großeltern waren welche. Es ist mein Lieblingsbaum.«

Guidacci kam heraus. Sie sprachen beide so herzlich zu ihm, da er sie ganz beglückt ansah.

Es ward heiß. An den Halteplätzen holten Arnold und Guidacci Erfrischungen unter den Zeltdächern der Cafés hervor, aus den schwarzgelben Reihen der Bauern mit kühn zerdrückten Hüten. Die Kutscher burlesker Landwagen spaßten und knallten. Wild schnaubend riß einen die Lokomotive – noch warf ein Mädchen eine Rose nach – aus dem sonnigen kleinen Haufen Leben.

Und man bestaunte in Prato, wie ein Kind, die Kanzel am Dom, mit dem geheimen Wunsch, da hinaufzuklettern, zu spielen. Und man atmete, im Stellwagen, die Luft vom Gebirge, erstieg Hügel, die sich, weinlaubüberzogen, um helle Häuser schmiegten, verlor sich in Laub, Quellenfrische, Duft verjüngter Erde ... Das letzte Stück Weges ging's steil. Guidacci lief es, die Soutane gerafft, zu Fuß hinauf. Wie sie oben abstiegen, sprang aus einer Pforte ein gelbes, mageres Männchen in einer Pumphose, fuchtelnd aus seiner zu weiten Jacke. Man bewunderte den Priester; Claudia tat es nicht ohne Bedenken. Er wollte ihnen seinen Garten zeigen; nein, das Haus; nein, vor allem sollten sie seinen Wein kosten: er wußte selbst nicht; was er am wenigsten erwarten konnte. Und er erklärte, daß er in zwei Jahren, vielleicht in einem, sich hierher zurückziehen, seine Rosen pflegen und seinen Wein keltern wolle. Er sagte es stolz, als vermesse er sich einer Heldentat.

»Das Alleinsein fürchte ich nicht« – und er tat, mit gespreizten Fingern, einen entschlossenen Streich durch die Luft. »Übrigens habe ich hier meinen alten Lehrer. Sie müssen ihn sehen.«

Er führte sie um das Dorf und durch den verwilderten Pfarrgarten in die Sakristei der Kirche. Ein großer, gebückter Greis empfing sie. Das Chorhemd, das er eben ablegen wollte, ließ er auf die Schultern zurückgleiten, lud mit einer weichen Bewegung die Damen in das altersschwarze Wandgestühl und begann sogleich, als habe er sie erwartet, mit ihrer Unterhaltung.

»Hier vernehmen Sie mehr, als in Guidaccis Hause, vom Geräusch unseres Festes.«

Ein Schuß, der Schrei eines Verkäufers drangen über den stillen Garten her.

»Es ist das jährliche Fest unseres Heiligen. Ich will Ihnen seine Geschichte erzählen.«

Er rief hinaus nach der Magd, die süßen Wein brachte. Guidacci verhieß eifersüchtig, sein eigener Vino Santo, den er ihnen vorsetzen werde, sei besser. Oh, der Alte höre nicht!

Der alte Priester erzählte, auf seine Knie gestützt, Sachlichkeit und Ruhe im langen, blutleeren Gesicht, seine Wunderlegende. Claudias Augen, sah Lola, erweiterte leidenschaftliche Sehnsucht. Die kleine Pierina sah mit schwermütigem Spott von einem zum anderen. Guidacci, unfähig, stillzuhalten, sagte zu Lola:

»Wie frisch er ist, nicht? Und er wird achtzig. Aber er hat auch seit fünfzig Jahren dies Dorf nicht verlassen.«

Lola traf die Augen Arnolds. Im Drang, wohlzutun, glücklich zu machen, antwortete sie Guidacci:

»Sie werden denselben Frieden finden: ich glaube es.«

Und sie betrachtete die dunkeln Möbel: wie viele Hände, die nacheinander gelebt und daran hingetastet hatten, mochten diese Ecken abgerundet haben! Die Türfüllung war ausgebuchtet, wie von den hundert Rücken vergangener Priester, die sich plaudernd hineingelehnt hatten. Der Frühlingswind eilte nur wie ein fremder junger Gast durch den alten Raum, unvermischt mit seiner eigenen Luft, dem stillen Greisenatem der Wände, der schwarzen Bilder, der Stoffe, die mit verjährtem Weihrauch gesättigt, auf den Schultern des Achtzigjährigen und in den leisen Schränken ruhten.

›Wir aber dürfen hinaus‹, dachte Lola: ›er und ich! Wie weit und hell es dahinten ist!‹

Schon im Garten, sahen sie drinnen den Alten die kleine Pierina an der Hand halten. Er berührte ihr Ohr und seins.

»Nicht undankbar sein«, sagte er. »Das ist ein Glück. Wir beide hören nichts Böses, und fern davon, uns in uns selbst zu verschließen, wollen wir den Menschen viel Gutes sagen.«

Pierina kam mit betretener Miene heraus. Lola nahm sie zwischen sich und Arnold, und plötzlich fand sie ihr eine Menge zu sagen, fühlte sich bei einer Freundin, die Zeugin ihrer glücklichsten Augenblicke gewesen war und der sie sie dankte, wie Geschenke. Das Mädchen erhellte sich, vergaß zu beobachten, plauderte ... Aber Lola bemerkte Claudias gequältes Gesicht. Sie zog sie fort.

»Oh, wenn ich jenem alten Priester beichten könnte!« sagte Claudia; und Lola:

»Beichte mir!«

Claudia erhob große, schuldige Augen zu ihr.

»Dir möchte ich zu Füßen fallen, Lolina«, sagte sie, leise und wild. »Wie! Ich habe dir deinen Mann genommen: ich zuerst, – und du magst mich noch ansehen, ohne mir ins Gesicht zu schlagen? Du hörst meine Stimme und erwürgst mich nicht? Ich begreife dich nicht, aber ich will dich lieben wie ein Hund!«

»Du hast mir nichts genommen, arme Claudia. Er machte mich nicht glücklich: er zog mich in Schmutz. Daß ich ihn, der mich mit allen betrügt, einst geliebt habe, demütigt mich.«

»Demütigen! Schmutz! Weißt du, daß ich im Straßenkot, zwischen den Rädern aller Familien von Florenz, ihm nachkriechen würde? Er soll mir zurückkehren von der Sarrida; von der letzten Dirne soll er mir zurückkehren! Weniger als das, er soll mich zu ihr rufen, an ihr Bett: hier bin ich! Demütigen? Ich werde um ihn in Schande kommen, ganz tief, und für ihn sterben. Hast du neulich im Palazzo Pozzi die Blicke meines Mannes gesehen? – werde für ihn sterben, und das macht mich stolz. Oh! ich weiß alles voraus; ich habe meine Zukunft da –«

Mit ihrer kleinen behandschuhten Hand schlug sie sich auf die Spitzen vor der Brust, auf den Leib ...

»– und da und da: überall wo Blut fließt! Weißt du das nicht? Dann weißt du wenig von Liebe!«

Sie schüttelte den Kopf, daß an ihrem Hut die Straußenfeder aufflog. Plötzlich lachte sie laut Guidacci entgegen, ergriff Pierina am Arm und lief mit den Geschwistern die Straße hinab. Arnold und Lola stießen zueinander und folgten, langsam und allein.

»Was ist Ihnen?« fragte er. »Sie sehen erschreckt aus.«

»Haben Sie nicht gehört, was sie sagte? ... Lassen wir's! Das ist das eine Schicksal, – und das andere gehört dem Alten in seiner Sakristei. Mit uns aber ist's nun so geworden, daß wir diese schöne Waldstraße dahingehen und uns haben. Du darfst meine Hand nehmen. Stelle dir vor, daß wir nie aufhören, zu wandern. Hat dich schon einmal eine Ebene so verlockt wie die dort, worin wir Pistoja sehen? Vor dem Tor ist ein Garten: immer, wenn ich vorbeifuhr, dachte ich an dich.«

»Bei vielen Dingen dachte ich an dich, – und noch immer glaub ich's nicht, daß ich nun dich selbst sehe. Werden wir uns immer lieben?«

»Wenn du zweifeln kannst, liebst du mich nicht.«

»Ich liebe dich so sehr, daß ich für immer auf dich verzichtet habe. Keine Schwäche soll mich mehr überraschen.«

»Sie war meine Schuld. Ich klage mich an! Als ich gestern zu dir lief, wollte ich mich rächen; ich nahm, was ich nun erfahren hatte, zum Vorwand, mich loszureißen. Aber der Vorwand war schlecht, und die Rache war schlecht. Sie hätte uns beide entwürdigt. Ist unsere Liebe nicht weit fort von allem?«

Sie standen und sahen, die Finger lose verschränkt, ins Tal.

»Ich glaube«, sagte Arnold langsam, »daß deine Mutter sehr gelitten hat.«

Lola wendete ihm ein verklärtes Lächeln zu.

»Oh! Du mußt mich wohl lieben, da du so tief blickst.«

»Sie erscheint mir, wenn ich sie mir zurückrufe, als armes, unwissendes kleines Wesen, gelockert und nicht befreit, ein ratloses, entflogenes Vögelchen.«

»War sie nicht eigentlich achtbar, daß sie erst dann unterlag, als sie es dringlich fand, mich zu verheiraten? Er hätte mich anders nicht genommen: er wollte uns beide ... Liebte sie ihn? Aber um meinetwillen gab sie sich ihm! Um seinet- und um meinetwillen hat sie einem anderen, der es schon hatte, ihr Wort zurückgenommen und ist allein fortgezogen in Langeweile und Gefangenschaft. Denn nun ist sie wieder im Käfig; mein Bruder Paolo hält ihn jetzt so gut verschlossen wie früher Pai. Und sie sieht sich ungenützt altern. Was ich für Verrat hielt, war Opfer!«

»Muß man sich dir nicht opfern? Muß nicht deine Mutter gut sein?«

»Wie viele Augenblicke mit ihr kehren mir nun wieder, wie viele ihrer Worte! Gestern kamen nur die, in denen sie mich haßte. Heute höre ich sie, wenn ihr Kampf sich zum Guten wendete. Ich möchte sie um Verzeihung bitten für meine Kälte! Das Schicksal der anderen kommt mir so oft nicht nahe genug. Ich muß besser werden.«

Arnold wiederholte: »Wir müssen besser werden.«

Sie hörten die andern zurückkommen und sahen sie nicht: geblendet von der Abendsonne, in die sie so tief ihre Blicke geschickt hatten.

Man ging ins Haus. Das kleine Zimmer, wo sie sich zwischen leeren Mauern an den gedeckten Tisch setzten, schien Lola das gastlichste, das sie je aufgenommen hatte. Claudia, Guidacci, Pierina: jedem hörte sie mit Entzücken zu. ›Im Grunde wußte ich's immer‹, dachte sie, ›daß jeder Mensch sein Interessantes und seine Schönheit hat, und daß ich einmal lernen werde, es zu finden. Jetzt kann ich's. Alle Menschen würde ich verstehen und lieben.‹ Dennoch pries sie sich glücklich, grade mit diesen zu sein. Ihr Wohlwollen strahlte ihr aus aller Augen zurück, ihr Glück machte alle fröhlich. Manchmal, rasch den Kopf gewendet, ein neckendes Wort zu Arnold – und in jedem Ja und Nein jubelte es, und sie fühlte es jubeln: ›Ich bin nicht mehr allein!‹ Guidacci hatte neben sie Arnold gesetzt; als er seine Ansichtskarten hervorholte, machte Pierina, daß Arnolds Name zusammenkam mit Lolas, und beim Fortgehen, dem Wagen entgegen, ließ Claudia sie allein.

»Wie ich dich liebe!« sagte Arnold und stützte sie. »Jetzt im Dunkeln zieht sich der ganze Geist zusammen auf den einen Gedanken. Man weiß erst jetzt; man begreift erst jetzt.«

»Wie ich dich liebe!« sagte Lola. »Ich denke mich in eine Stunde des Elends und der Einsamkeit zurück und sehe von dort aus uns beide, jetzt im Dunkeln, und staune.«

 

Am Morgen kam, durch Vermittelung Claudias, ein Brief von ihm.

»Noch lange war ich auf; es regnete; ich ging unter den tropfenden Bäumen meines Gartens und war glücklich, zu atmen. Sonst, wenn ich in Regennächten allein saß, in mich selbst verbannt, ohne Ausweg aus mir, fühlte ich oft die Welt zu Schatten werden und fürchtete mich, wie vor dem Erlöschen einer Flamme, die kein Stoff mehr nährt, vor dem Einschlafen meines vereinsamten Geistes. Wie gut ist's jetzt! Nicht mehr an einem Fleck festzusitzen, wie eine Spinne immer nur im eigenen Netz. Sich hinwegdenken zu dürfen über Räume, an einen Ort, wo man liebt und geliebt wird, also wichtiger ist und höher lebt, als hier am Aufenthalte des Körpers!

… Ich habe noch keiner geglaubt, die mich halten wollte. Ich traute meinem Gesicht nicht zu, es könne geliebt werden, und der Frau nicht, sie durchschaue und verstehe es. Du erst hast das dichterische Auge der höchsten Frauen, die nach dem Bild der Seele, die sie geschaut haben, ein Gesicht erkennen und es lieben können, weil es die Form dieser Seele ist. Ihr seid wenige, – aber welcher Mann vermöchte dies? Wer kann von dem, was seinen Sinnen genehm ist, absehen, einer Seele zuliebe?

… Haben wir uns aber in jedem Augenblick lieb genug gehabt, gestern, in jedem? Sobald ich dich nicht mehr sehe, fallen mir versäumte Minuten aufs Herz, zerstreute, matte. Das Glück müßte fortwährend neu die Augen aufschlagen. Das Leben ist ungewiß, und es vergeht. Dich lieben!«

Lola hatte ihm vieles zu antworten.

»Ich habe selbst als junges Kind nie ganz im Ernst an einen Gott geglaubt und später die Frage nach ihm immer nur für zweiten Ranges gehalten. Ich sah, und ich erlebte in mir, die himmlische Liebe diene allzusehr als Entschuldigung dafür, daß wir uns auf Erden nicht lieb genug haben ... Auch hatte ich nie ein Vaterland. Du und ich: wir sind allein. Das legt uns vielleicht die Bestimmung auf, uns der Menschheit zu erinnern, die über den Vaterländern vergessen wird?

Seit gestern verzehrt es mich, die Güte zu äußern, zu der ich nun gekommen bin. Durch eine Tat, das Opfer seiner selbst alle umarmen zu können! Aber ich weiß keinen Weg zu ihnen; ich schäme mich, ihnen Dankbarkeit aufzuerlegen, mich an sie zu drängen. Was soll ich tun? Meine Alliebe vereinigen auf einen. Dich lieben!

Du wirst es mir nicht vergelten können. So viele Wesen hast du zu lieben, die du schaffst, um die du Sorge trägst, denen du von deiner Seele gibst. Ich bin eifersüchtig. Du darfst nicht müde sein, weißt du, wenn du zu mir kommst!«

Und Arnold: »Du irrst: ich habe geschrieben, um mich leben zu fühlen. Aber lebe ich jetzt nicht durch dich? Ich habe geschrieben, um groß zu werden: aber welche Macht hätte ich nicht von dir! Einem Dichter erschließt Liebe alle Schicksale. Früher trieb starre Herrschsucht die Welt durch meine Visionen. Jetzt ist, was sie in Bewegung setzt, Liebe. Das große Getriebe meiner Gesichte hat einen innigeren Gang. Plötzlich steht alles still: steht und neigt sich vor dir.«

Nach diesen Sätzen öffnete Lola, zum erstenmal seit zwei Jahren, das Klavier, stellte ihre alten Lieder darauf und sang. Saß die Stimme nicht mehr am Fleck? War sie schwächer geworden? Fehlte ihr der frühere Glanz? Lola hörte eins nur sicher: daß ein Klang darin war, der ihm gefallen mußte, weil er ihr von ihm kam; ein Klang, der ihr betäubend aus der Brust quoll, daß sie die Augen schloß; ein Klang, mit dem sie nicht allein bleiben konnte, den sie ihm bringen mußte.

Sie eilte hin; er war nicht zu Hause; aber sie ließ es sich öffnen, setzte sich in seinen Stuhl, schlug sein Buch an der Stelle auf, wo er es verlassen hatte, stützte den Kopf, führte ihr entzücktes Lächeln über die Wände, in den Garten und dachte sich daheim. Dann fand sie das Klavier und sang. Auf einmal kam ihr Kraft. Woher? wenn nicht er hinter ihr stand. Auf diesen Tönen stieg sie über sich hinaus ... Als sie sich wiederfand, hielt sie ihn in den Armen.

»Wie ist es gekommen? Mir war schwindlig; ich muß mich setzen ... Aber du hast geweint?«

»Nie hast du so gesungen. Du bist eine große Künstlerin geworden.«

»Nein; aber ich liebe dich!«

»Weißt du noch deine ehrgeizigen Träume? Jetzt könntest du dich berühmt machen.«

»Nur einer soll mich hören. Wir lieben uns. Was könnte unsere Kunst anders sein als unsere Verklärung.«

»Ich wußte, daß du kommen würdest! Wie lange, lange haben wir uns nicht gesehen!«

»Endlos lange. Warte: einen Tag erst?«

»Und warum?« fragte er. »Warum haben wir gestern versäumt?«

»Versäumt? Findest du? Hatten wir nicht genug Glück für einen Tag? Ich war voll davon; es stieg mir jeden Augenblick blendend in Stirn und Augen. Vielleicht mußte ich allein sein? Du hättest mich getötet.«

Sie schwiegen, hielten sich umschlungen und atmeten kaum. Plötzlich:

»Aber jetzt haben wir uns wieder, haben uns, und die Sonne scheint, und wir können gehen, wohin wir mögen!«

Sie staunten heimlich, daß Pardi nicht zurückkomme; daß keiner von ihnen erkranke; daß der Himmel ihnen das Glück noch lasse.

Jeder allein, fuhren sie bis vor die Stadt, trafen zusammen und erstiegen die alte Straße nach Fiesole.

»Wie leicht sich's steigt! Wie merkwürdig hell der Kopf sich anfühlt! Ich war lange nicht so.«

»Ich habe lange nicht diese Blütenfarbe gesehen. Sah ich sie je? ... Die immergrünen Eichen schieben solche hohen, schimmernden Dächer über unsern Weg; hinter dem Gitter – oh, wie neu es drinnen duftet! – geht der Laubgang so groß gewölbt zu Dornröschens Schloß; Rosen, ja Rosen schlagen um die Halle. Wo sah ich das alles? Vielleicht als Kind? Wenn ich in die Ferne sann?«

»Vielleicht sind wir wieder sehr jung?«

»Nun sieh hinab! Aus dem Dunst der Stadt hebt sich kaum noch die Kuppel. Wir sind darüber und allein.«

Sie richteten sich auf und faßten sich bei den Händen. Welt und Sinne sollten sie nicht hinabziehen; sie gingen hoch durch reine Luft. Stolz lächelten sie sich zu. Ein Vergnügen trug sie, über die Triebe aller erhöht zu sein, ein künstlerhafter Genuß ihrer Keuschheit.

Auf der Terrasse des Hotels Aurora mischten sie sich unter die Fremden, traten, wie jene, in den Dom und besuchten die Ruinen. Unter einem Baum, vor einem Bauernhause, vergaßen sie die Stunde und brachen erst auf, als aus dem erbleichten Blau leise ein erster Stern hervorbebte. Sie fuhren hinab durch Nachtwind, mit Angst in der Kehle, weil dort im Himmel schon die weite Pinie lag, bei der Arnold aussteigen sollte.

»Bald wieder! Morgen: warum nicht morgen!«

Sie verweilten in Landwirtshäusern und Klostergärten. Sie erfanden, wenn es regnete, Verstecke in der Stadt: den Hof eines entlegenen Hauses, eine unbesuchte kleine Kirche. Und sie machten, da es schön ward, den einsamen Weg von Settignano nach Fiesole, mit dem rauhen Profil jenes Schlosses, den Tälern ohne Herden und, auf der Lohe des Sonnenunterganges, dem schwarz verkohlenden Walde. Die Kräuter, in denen sie geruht hatten, dufteten noch aus ihren Händen. Sie sagten sich, es sei schade, daß dieser Duft verfliegen solle; und sie hielten dabei einer des andern Schulter umfaßt, vor der Wendung in die Dorfgasse, in der äußersten Minute ihres Alleinseins. Lola konnte Arnolds Augen nicht loslassen.

»Daß ich mich jeden Abend von dir trennen muß! Du weißt nicht, welche Angst ich davor habe, schon stundenlang vorher, und wie ich mich des Nachts nach dir sehne! Könnten wir immer beisammen sein! Uns nie trennen! Sich trennen ist furchtbar! Du fühlst es nicht wie ich. Oh! Du liebst mich nicht, wie ich dich. Sehnst du dich nach mir?«

Sie gingen ein Stück Weges zurück, damit er es ihr beteuern konnte. Sie überlegten das Wagnis, aufs Land zu fahren, einige Tage sich ganz zu haben, sich keine Minute zu lassen.

»Keine Minute! Ich werde keine verlieren, ich werde nicht schlafen!«

Sie besprachen es täglich, nannten immer neue Winkel im Lande, die sie verbergen konnten, berieten über die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden. Lolas Jungfer mußte wohl an Pardi berichten; er hatte geschrieben und Andeutungen gemacht, als ob er etwas wisse. Vielleicht drohte er aufs Geratewohl? Er verhieß auch längst sein Kommen, und kam nicht. Ende Juni fand sie ihn plötzlich, wie er im Zimmer auf und ab ging. Die Dienstboten hatten sie heimkehren gesehen und geschwiegen; sie erschrak heftig. Er erklärte auffahrend, einmal Ordnung schaffen zu wollen. Eine Frau, die nachts ausgehe, sei nicht auf guten Wegen. Lola erwiderte, noch mit Herzklopfen, sie sei keine dieser Frauen hier; ihre Freiheit, sich zu bewegen, habe sie seit der Heirat nicht aufgegeben. Er hatte plötzlich die Fäuste an den Schläfen; er krümmte sich und fauchte.

»Wenn ich wüßte! Wenn ihr nicht so schlau, so kalt und schlau wäret. Jemand fassen! Ich weiß wohl, wen. Zweifle nicht! Aber du bist eine Fremde: du versteckst die Deinen gut. Immer greift man bei ihr in Luft! Immer ist sie gewappnet!«

Er ließ sie zwei Tage nicht aus den Augen, durchwühlte alles, verhieß ihr den Tod, wenn er je Beweise finde. Und mitten aus wütender Wachsamkeit heraus, war er wieder verschwunden. Die Sarrida gab ihm wohl noch zuviel zu tun; seine eheliche Ehre hatte nur nebenbei und in Eile ein wenig befestigt werden können.

Lola eilte sofort zu Arnold: nun wollten sie reisen! Pardis Dazwischenkunft hatte ihr erst gezeigt, was sie versäumt haben würden. Er hatte sie empört und verwegen gemacht.

»Was kommt, ist alles gleich; aber diese Tage in Abetone wollen wir haben!«

Am Morgen folgte sie Arnold, der in Pracchia übernachtet hatte. Sie stieg aus, bevor er sie sehen konnte, und im Vorbeistreifen flüsterte sie ihm zu:

»Keine Bewegung! Ein Bekannter ist in der Bahn!«

Sie fühlte sich sicher in aller Erregung; erhöht, über alles hinaus, und dennoch dankbar und ihm hingegeben bis zu Tränen. Im kühlen Saal des Gasthauses, hinter ihrem gefärbten Eiswasser, bewegte sie leise den Kopf.

»Daß ich dich wiedersehe!«

Lachend mit feuchten Augen:

»Seit gestern abend nicht! Die ganze Stadt ohne dich!«

In den Korbsesseln der Halle fächelten sich feucht beperlte Frauen, und weißgekleidete junge Leute versahen sie, bei aller Hitze, mit Komplimenten, als entschlüpfte ihnen das Herz. Draußen auf den Bänken lungerten andere, in der weißen Sonne, dem Bahnhof gegenüber, am Fuß des grünen Apennins, den sie unbestiegen ließen.

Lola und Arnold fuhren hinauf. Ihre Straße umschlang weite Täler mit Dörfern, laubversunken, beschrieb den Rand rauschender Mühltäler, ließ Täler zurück, die kahl zu Füßen eines Trümmerschlosses schmachteten. Die leichten Schritte der Esel erstiegen, zum Geschrei derer, die sie trugen, drüben den Schlangenpfad; Staub fegte auf vor grellen Wirtshäusern, und am stumpfen Grün der Waldzinnen brach sich die heiße Himmelsflut. »Dort oben werden wir glücklich sein!« Von der Höhe rieselte manchmal, mitten durch die Mittagsluft, ein dünner, kalter Hauch. Dann schlössen sich Fichtenmauern, hoch, still. Von den Hufen klappte ein Echo nach.

»Im Hotel lassen wir nur unsere Sachen; noch sind wenige Leute hier; nun haben wir den großen Wald: wir wollen ganz bis in die Tiefe ... Oh! die Quelle! Wir wollen uns hinlegen: deinen Kopf in meinen Schoß. Hast du mich lieb? Nun sind wir hier. Heute abend brauchen wir uns nicht zu trennen. Dieser Tag hat kein Ende.

… Ich mag nicht essen: wollen wir weitergehen? Ich habe solche Unruhe; mir ist immer, keine Minute sei so lang, wie sie sein müßte. Bleib stehen, sieh mir in die Augen! Oh! wohin sind wir gelangt? Dies ist der Apennin aus den Geschichten, dies ist das Räubergebirge. Schleicht es nicht durch die Schlucht? Farren und Fichten: ein Drunter und Drüber. So war es hier auch vor tausend Jahren. Laufen wir hinab? Lauf! Oh, du läufst schlecht. Hol mir die rote Blume, willst du? Die einzige kleine rote Blume am Abhang. Nein, du kannst es nicht. Laß! Verzeih, daß ich so dumm gebeten habe!

Kehren wir um? Schon dämmert es ... Da ist eine Bank: erzählst du mir etwas? ... Du quälst dich, glaube ich, recht sehr, um etwas für mich zu finden. Ich höre nicht zu? Ja, diese Unruhe. Ist es die hohe Luft? Dort bei den Obelisken steht es geschrieben, wie hoch wir sind. Denke dir den kleinen Florentiner Tyrannen, der seinen Namen auf die Obelisken gesetzt hat, der in Perücke und gesticktem Frack hier auf dem wilden grünen Rücken gestanden und ihn eingeweiht hat. Da lies! Die Straße führt in die Lombardei. Es dunkelt, und wir gehen nun in die Lombardei. Wie das klingt! Nach ganz alten, merkwürdigen Gefahren und Abenteuern. Und wir haben kein Geld, kein Dach, sind allein auf der Welt und müssen uns durchbetteln. Möchtest du's? Sag! Für mich?«

»Alles möchte ich für dich tragen: ohne dich zu besitzen. Ich liebe dich zu sehr, um dich besitzen zu wollen.«

Lola ließ seinen Arm los; sie senkte die Stirn. Nach einer Weile:

»… Nun ist's Nacht. Wohin nun mit uns?«

»Lausche, Lola! Lausche auf das Wogen der Schatten im Tal und auf das leise, mondleise Geläut der Gipfel, die fern daraus aufschweben! Wir hören's, weil wir uns lieben. Und hebe das Gesicht zum Himmel, zu diesem Becken voll weißem Sternenfeuer, woraus Funken spritzen! Vergehen wir nicht darin, wir, die vom selben Feuer sind? Fühlst du dich nicht aufgelöst? Schwinden dir nicht Sinne und Kraft?«

»Mir ist bange. Wie wird's sein, wenn wir uns nicht mehr lieben?«

»Kannst du dir's denken?«

»Dann müssen wir uns doch trennen? Wir wollen aufrichtig sein, hörst du?«

»Lieben wir uns denn nicht? Du weichst zurück? Besinne dich! Lola!«

»Ist das Liebe? Die geschwisterliche Zusammengehörigkeit, die wir fühlen? Warum liebst du mich? Was willst du? ... Ach nein, ich quäle dich. Komm lieber hier hinab, wo das Wasser rauscht. Da hört man seine Gedanken nicht. Mitten in den Bach: die Steine sind schlüpfrig, wir können stürzen und fortgerissen werden. Sage: würdest du für mich sterben? Ja? Ganz sicher? Ach ja, du würdest dich vielleicht fallen lassen, dich vom Wasser ergreifen lassen. Aber würdest du dich erschießen? Sage auch das! Die Waffen liebst du nicht, wie? ... Oder würdest du ...?«

Sie schüttelte sich; neugierig und böse, überschlichen lauter Bilder seines Sterbens sie. Hilfesuchend, drängte sie sich an ihn.

»Lieber! Ach, verzeih! Ich will keinen Helden. Du brauchst nicht, wenn einmal unser Pferd scheut, den Wagen umzuwerfen, damit ich auf dich falle und gerettet bin. Ich verachte den Helden! Ich verachte den Mann, der an meinen Körper denkt und an das Kind aus meinem Körper. Wir wollen keins. Wir haben beide in der Liebe nicht die Einfachheit derer, die eine Rasse fortzusetzen haben.«

»Lola, ich liebe dich.«

»Mir ist auf einmal das Wort so fremd. Worauf soll ich mich verlassen? Wäre die Welt nicht so weit und treulos. Was heißt's, daß wir uns lieben? Sieh, jenen blauen Berg umkränzen weißliche, und steigen wir hinüber, erwartet uns das Meer. Vorgebirge entschleiern sich, eins ums andre, dem, der wandert; den Küsten folgen Küsten; die Vogelschwärme ziehen, und die Städte liegen versammelt unter Wolken, die sich auflösen, wie die Schwärme sich auflösen werden, wie die Städte sich auflösen werden ... Warum liebst du mich, und nicht eine Fremde, dort hinten?«

»Lola, welch kläglich einsames Lächeln! Du tust mir sehr weh. Deine Augen zucken so voll Angst hin und her, als grüben sie sich, leise und stumm, durch meine hinab. Dringst du endlich bis zu meinem Herzen vor? Öffnet es sich dir? Nein? Du seufzest? Es ist unmöglich? ... Was murmelst du?«

»Ich liebe zu sehr. Wie solltest du so lieben können? Diese Welt, in der ich keine Heimat habe, kennt solche Liebe nicht. Ich verstehe, daß Frauen meinesgleichen sich Christus verlobten. Nur ihm durften sie trauen. Ich, die nicht gläubig ist, sollte ein Bild, eine abwesende Seele lieben ... Sieh, gerade unter uns, mitten im Hasten des Baches, schließen große Steine einen Spiegel ein. Wie still er ist! Das Mondlicht zaudert an seinem Rande. Unsere aneinandergelehnten Gesichter haben in ihm keine Augen mehr: nur Schatten, die verfließen. So war neben dem Schiff, das mich vor langer Zeit herüberfuhr, in den Wellen ein Gesicht: ja, und manchmal schleifte bläulich ein Mantel heraus. Die Gottesmutter, sagten die Matrosen; sie begleite uns. Fast wünschte ich, du wärest nur ein Bild, das im Meer neben mir herzieht.«

Sie stiegen zur Straße zurück, wanderten schweigend weiter. Da hielt Lola an und legte ihm, schweigend, die Arme um den Hals.

»Was ist dir, meine Lola? Weinst du? Lachst du?«

»Alles war nicht wahr. Du hast es doch nicht geglaubt? Wir lieben uns: das ist immer der Schluß.«

»Der Schluß des Schicksals. Denn in der weiten, weiten Welt hat es mich planvoll auf dich zugeführt, Lola. Mein Leben war Vorbereitung auf dich; mit allem, was mein war, hingst du von je zusammen, warst mein Gedanke und mein Werk. Ich denke daran, daß einmal eine Idee in mir sich klärte gemeinsam mit dem Bild einer Wiese. Viele Blumen trug die Wiese; keine von ihnen hatte ich zuvor gesehen; aber ich wußte: diese da, nur diese ist verbunden mit dem, was jetzt mein Hirn gebiert, kommt aus verwandtem Stoff und liebt mich. Lola, deinen Mund?«

Die Straße hatte sich gesenkt, sie stiegen sie wieder hinan. Lola ließ sich von ihm stützen. Sie ließ ihn seinen Mantel auch um sie breiten. Der Mond war fort, und schon strich der Bergwind her. Sie setzten sich jenem Ausschnitt im Gebirge gegenüber, worin ein Schein empordämmerte, und unter dem Mantel, der unbewegt blieb, drängten sie sich fester zusammen.

»Meine Lola.«

»Ja, ganz dein.« Inbrünstig, aber seltsam hoch und süß, wie mit entrücktem Spott:

»Nein: doch nicht ganz.«

Nun sickerte Röte in die tiefsten Wolken. Vogelstimmen versuchten sich. Lola und Arnold streiften ihre in Glück und Gram ermüdeten Hände durch betautes Gras. An den Stämmen des Waldes züngelten die ersten roten Tagesflammen: sie traten ein, betteten sich aufs Moos und sagten einander, die Augen geschlossen, daß sie daheim seien.

Sie erwachten, und wirklich, sie sahen sich daheim im Walde: in seinen Verstecken, vor dem Ungewissen seiner langen Schattenlauben, in seiner grünen Tiefe, zu der hier und da Sonne hereinglitzerte, als flackere sie auf allen Seiten und verbrenne den Wald und die in ihm sich liebten. Hier genossen sie etwas wie Ruhe auf der Flucht, blickten bedächtig ihren seltsamen Gefühlen in die unerforschlichen Augen und hofften fast, zu vergessen und dahinzuschwinden ... Sie traten hinaus, und da hatten die Berge schon sich aufgelöst ins Licht, und beugte schon die Welt sich unter einem blau brennenden Himmel.

»Ein neuer Tag!«

Sie merkten erst jetzt, daß sie eine Nacht beieinander gewesen waren: die erste. Und sie lachten, fielen sich in die Arme und küßten sich Tränen von den Wangen.

»Wir haben uns nicht getrennt, noch lange nicht trennen wir uns, noch lange nicht. Wir genießen doch viel Gutes!«

Sie suchten das Gasthaus auf; und da, allein im Zimmer und indes sie ihr Haar kämmte, mußte Lola denken:

›Wie Pardi ihn jetzt verachten würde!‹

Die ganze Nacht unter seinem Mantel, und er hatte sie nicht genommen. Sie hörte Pardis Auflachen und kämmte, die Zähne zusammengebissen. Der Kopf schmerzte ihr; sie schrak auf; und im Spiegel sah sie sich rot von Scham.

›Wie? Ich habe mich seiner geschämt? Arnolds? Meines Geliebten? Weil ein Mensch von niedrigerer Gattung ihn nicht verstehen würde? Versteht er denn mich? Oh!‹

Nicht schnell genug ließ sich das gutmachen. Hinunter – er wartete am Tisch – und noch ehe sie sich setzte, ihm die Hand geben und unter den Blicken des Saales ihm leise und stolz in die Augen sprechen:

»Mein Geliebter!«

Nach fünf solcher Tage, schon im Wagen, der sie forttrug:

»Ach! Sieh noch einmal das Haus an – und die Obelisken! Werden wir je wieder diese Straße gehen? Zusammen gewiß nicht. Die Straße in der Lombardei. Das ist nun aus. Was wird kommen? Mir ahnt nur Trübes.«

»Warum, Lola? Da wir uns lieben?«

Sie senkte den Kopf. Verstand er denn nicht? ›Wir haben nun doch gesehen, daß unsere Liebe uns nicht wohltut, mitten im Glück nicht wohltut.‹ Aber sie schwieg. Wie er sie drunten in Pracchia zur Bahn brachte, war sie unaufmerksam und reizbar. Endlich, noch aus dem Fenster:

»Lieber, komme mir nicht nach! Fahre nach Deutschland! Es ist besser, wir trennen uns.«

Aber da sie ihn fassungslos erschreckt sah, stieß sie die Tür auf und war bei ihm.

»Nein! nein! Wie könnte ich's ertragen! Du glaubst doch nicht? Ich sagte das, weil ich hier so glücklich war. Nimm meinen Fächer! Und daß du ihn mir morgen zurückbringst! Nicht später als morgen!«

Von ganz fern winkte sie nochmals. Er erwartete es nicht mehr, stand versunken und atmete das Parfüm ihres Fächers. Lola ließ sich auf den Sitz fallen und schloß die Augen. Die schwere Luft des Tunnels ängstete sie. Ihr war's, sie führe dem Verfall entgegen: ihrem und seinem.

Aber sie trafen sich, wie früher, in Vorstädten, bei entlegenen Landwirtshäusern; schlenderten Hand in Hand durch Schafherden, kleine Abendbäche entlang und lasen im Schatten von Klostermauern, vor gewellten Olivenfeldern, in Dichtern. Manchmal überschlug Lola eine Seite und wartete, daß Arnold nach Pardi frage. ›Hat er ihn vergessen? Er nimmt unsere Freiheit hin, als sei sie verdient. Aber wem verdanken wir sie? Wenn Pardi zurückkäme –. Wenn er mich zu sich riefe –.‹ Und etwas Zorniges hob sich auf in ihr gegen diesen Träumer und sein über dem Buch gesammeltes Gesicht.

Der Herbsthimmel hatte sich weich und trübe um die Stadt geschlossen: da kam Pardi.

»Wie wir es nun wieder schwer haben«, klagte Arnold. Nach ihrem unzufriedenen Schweigen sagte Lola:

»Wir wenigstens machen es ihm nicht schwer. Er darf sich trösten, wie er mag, für die Sarrida.«

Arnold merkte nichts.

»Ich bin ihm begegnet; mir klopft, ich gestehe es, immer ein wenig das Herz: als ob ich nahe an einen Raubtierkäfig hinträte. Dennoch sehe ich ihm gern zu, gestatte mir bei seinem Anblick oft auch eine leichte Sehnsucht, – wenn er sich so bewegt und spielen läßt, immer ein Ziel vor Augen, immer gespannt und bereit. Ich erkenne dann in ihm den Mars von der Treppe der Uffizien.«

»Das ist wohl interessant?« – ganz leise; und ausbrechend:

»Aber daß er mein Leben zerstört hat, vergessen Sie! Sie sind kalt! Lassen Sie mich allein!«

»Ich bitte dich!« Er stammelte, und er lief weiter mit durch den Nebel wie ein Hündchen. »Wie magst du auf einmal alles verkennen? Haben wir uns nicht? Sind wir nicht eigentlich besser daran, unser sicherer, als der, der sich mit einem unverstandenen Schicksal herumschlägt? Ich liebe dich nicht weniger, weil ich ihn nicht hassen kann.«

»Doch.«

»Weil ich ihn ansehe wie ein böses Bild.«

»Sagen Sie das ihm! Sie werden erfahren, daß er kein Bild ist. Kann sein, daß er Sie tötet. Er wäre durchaus nicht zu fein und bedenklich, Sie zu töten – und auch mich. Ach! haben Sie denn kein Blut? Ist es denn nicht möglich, Sie zum Äußersten zu treiben? Nie könnten Sie etwas tun, was Sie bei kalter Vernunft nicht billigen würden: etwas Abschließendes, etwas Gewaltsames?«

»Wenn ich es vorauswüßte, würde ich es nicht tun.«

»Sie haben recht. Sie sind immer klar und vernünftig. Wie sollten Sie etwas Dummes tun. Gewalt ist natürlich dumm.«

»Ich bin so sehr dein, daß ich auch etwas tun würde, das mich Ehre und Leben kosten würde und das ich ohne Überzeugung, nur in deinem Namen täte. Ich verachte die Gewalt; ich glaube, daß sie uns schlecht macht und die Dinge nicht bessert. Durch das Tragen einer Waffe fühlte ich mich einst schlechter werden – und lächerlich. Denn alles Schlechte, Rückständige ist lächerlich. Der Gewaltmensch, der Krieger ist eine Karikatur ...«

»Vorhin begeistertest du dich für den Mars.«

Seine Erregung, seine Widersprüche und seine trotzige Übertreibung versöhnten sie. Nun seine Stirn zornig gerunzelt war, zerging zwischen ihren Brauen die Falte. Sie atmete ruhiger, fast glücklich, weil sie ihn hatte reizen können. Nur nicht immer dieses nüchterne Gleichgewicht, diese künstliche Ruhe des Schwachen!

Da haschte sie nach seinem Arm.

»Um Gottes willen, wir müssen ausweichen. Siehst du ihn nicht kommen? Drüben, hinter dem Wagen?«

Aber er stieß hervor:

»Nun geschieht, was geschehen will. Mein Weg geht hier.«

»Du bist kindisch«, und zitternd, die Augengradaus, folgte sie. Der Nebel zog sich noch dichter zusammen; sie kamen vorbei.

Lange nachher:

»Du wünschtest den Zusammenstoß?«

»Ja.«

»Wünschest du ihn noch?«

»Nein.«

»Das ist gut. Wir müssen vernünftig sein.«

»Du findest?« fragte er mit einem langen, bitteren Blick. Sie senkte die Stirn. Ja, was er sagen wollte, war wahr; sie schwächte ihn, wie er sie. Sie glichen sich, konnten einander nicht helfen und schleppten einander nach.

Und zu Hause beweinte sie sich und ihn.

›So redlich er seine Liebe meint: wie lange wird's dauern, und alles ist nur gewesen, damit er ein Werk daraus macht. Er ist nicht, wie ich, dazu geboren, von der Liebe sein Schicksal hinzunehmen: sondern damit er innere Spiele aus ihr gestalte. Er kann nichts im Leben ganz und für immer ernst nehmen. Noch im äußersten Elend der Seele bleibt er ein spielender Knabe. Vielleicht, daß eine Tat, eine große Schuld ihn reifen und ernst machen würde? ... Aber weiß ich, ob ich sie ihm verzeihen würde? ... Keine Hilfe. Ich bin noch immer allein.‹

Was tun? Dies hatte schon wieder an eine Stelle geführt, wo es nicht vorwärts noch zurückging. Wie oft im Leben hatte sie solche Aussichtslosigkeit erlitten! Überdruß machte einem alles zweifelhaft: jede Zukunft, die Liebe selbst. Wozu diente das eine? Warum nicht ebensogut das andere tun? Lola ward krankhaft unentschlossen, versäumte Zusammenkünfte, weil sie das Kleid nicht fand, das zum Wetter paßte, und grübelte gramvoll durch den Tag hin:

›Was ist's: er fühlt diesen Dichter nicht, den ich doch fühle? Dies haben wir also nicht gemein. Was eigentlich haben wir gemein?‹

Rastlos durchforschte sie sich: ›Kann ich ihm nicht entkommen?‹ – ›Nein, denn ich liebe ihn; trotz allem muß ich ihn lieben.‹

›Wollte er mich doch betrügen! Ich würde zu stolz sein, ihn noch zu lieben. Und auch ihm wäre besser, wir wären uns los. Denn auch er fängt an, mich zu hassen.‹

Er sagte ihr jetzt:

»Du hast wenig an mir, ich weiß es. Du bist sinnlich. Wäre auch nicht deine Vergangenheit, ich spüre doch immer deine Verachtung, weil du mir nicht gehörst. Die Verachtung des Weibes für jeden, der sie nicht umwirft und nimmt. Welche Selbstverachtung.«

Seine Härte erleichterte sie; sie haschte demütig nach einem Blick des Grams und des Zorns; sie antwortete zart:

»Ich quäle dich, Lieber.« Und sie verziehen einander.

»Daß wir uns zanken müssen! Als ich dich wiederfand, glaubte ich, nun wäre auf immer Friede. Du Lieber, wir verstehen uns nicht, selbst wir nicht. Noch lieben wir uns; jetzt sollten wir uns trennen. Noch würden wir einander nur Gutes hinterlassen.«

Sie hielten einer des andern beide Handgelenke, und sie sahen sich bleich und bebend in die Gesichter.

»Ich will nicht, daß du noch länger leidest. Ich will, daß du mich liebbehältst. Wir wollen uns trennen.«

Mit Wildheit sagten sie sich, wie glücklich sie einander wissen würden, fern voneinander. Und endlich mußte jeder an des Gefährten Schulter seine Tränen verstecken.

»Ich habe keine Geistesgegenwart«, sagte Arnold, »und mißverstehe dich oft. Nachher, allein, sehe ich eine deiner Gebärden wieder und weiß, was sie, trotz deinen Worten, sagte.«

Lola erwiderte:

»Ich bin ein schwieriger Charakter; ich werde dich sehr unglücklich machen.«

Und er:

»Gleichviel, du brauchst Liebe; und ich will lieber für einen andern leiden, als durch und für mich selbst.«

Seufzend sahen sie auf. Der Sonnenuntergang türmte sich als geröteter Rauch wild über den Hügeln. Sie wandten sich und fanden drüben, in monddurchträumtem Nebel, andere, müde und gütige. Hinter den leisen Lichtern dort war wohl Friede. »Wir werden Frieden haben. Wir müssen ihn finden, denn wir werden voneinander nie loskommen.«

Das Schicksal, das sie verband, hatten sie immer neu zu begreifen, mußten einander durch schlimme Wetter schleppen, vor allen Blicken ihre Liebe bergen und dabei an ihr zweifeln und am Grunde der Glücksstunde schon die Tränen rinnen hören.

Manchmal versuchten sie es, einander auszuweichen. Lola betrat tagelang nicht die Straße. In einer Dämmerstunde vor Weihnacht fand sie ihn neben ihrer Tür.

»Verzeih mir, daß ich mich an dein Haus gelehnt habe. Es ist schon dunkel genug; und ich war so müde. Aber ich wäre bis morgen auf deiner Schwelle geblieben, bis du gekommen wärest. Warum kommst du nicht mehr?«

Sie vergaß alles; sie zog ihn hinter das Tor und faltete die Hände um seinen Hals. Geräusch auf der Treppe scheuchte sie von seiner Brust auf; sie entwichen.

Unter den starken, schwarzen Häuserfesten der hallenden Straße schlichen sie hin, trennten sich, bevor das Gewimmel der Alten Brücke sie über den Fluß trug, und führten jenseits einander durch ein kreuz und quer von Gäßchen, die Plätze zu umschreiben, den Hauptwegen auszuweichen. Sie gingen einsam und mitten auf dem engen Pflaster, das kein Trottoir säumte. Im Licht armer Läden streifte manchmal einer verlangend und traurig das Gesicht des andern. Die Tür einer Kneipe flog auf, und sie hielten den Schirm zwischen sich und jenen Augen ... Unter dem Schwebebogen der Via della Morte:

»Sollen wir nicht ein wenig ausruhen dürfen? Wir sind durchnäßt.« Sie wagten sich in ein dürftiges Café. Die Glastür wankte klirrend; drei Kartenspieler sahen ihnen gespannt entgegen, und sie drückten sich hinter den Pfeiler.

»Wir haben Ruhe, wir sind geborgen. Draußen ist's schlimm für uns.«

Er trocknete ihr Gesicht und Haar – und er erzählte ihr, daß eine andere Frau vor langen Jahrhunderten eben hier durch solche schlimme Nacht, wie sie, gegangen sei: Ginevra degli Amieri, die im Dom auf einer Bahre erwachte, in ihrem Totenhemd zu den Menschen zurückwollte, aber nicht bei Gatte und Eltern Einlaß fand, nur bei ihrem Geliebten.

»Sie hatte sich ihm immer versagt?« wiederholte Lola. »Auch ihnen also fehlte der Mut? Aber nach ihrem Tode war er ihre Zuflucht. Oh, du würdest mich lieben, wenn ich tot wäre.«

Er sagte zitternd, wie sehr er sie liebe, und sie lächelte trübe an ihm vorbei.

»Wir haben das Gute gehabt, das uns bestimmt war. Denke an unsern Frühling, an den Tag in Monte Turno. Mein Gott, daß das Leben einmal so süß und rein war! Wären wir damals gestorben! Wie nun alles sich unheilvoll anfühlt! Ist jemand an der Tür? Ach, mein Herz klopft bei jedem Windstoß.«

Und Arnold, tonlos:

»Es ist wohl wahr, wir haben ein gehetztes Dasein.«

Räderrollen ward lauter; sie unterschieden den Hufschlag zweier Pferde. Der Wagen hielt vor der Tür; Wirt und Kellner sprangen auf der Straße umher. Aus dem Wagen kam undeutlich eine Stimme, man solle dem Kutscher ein Glas Punsch bringen. Er bekam ihn; und draußen – die feuchte Luft strich herein – blieb es still, stockende Minuten still. Lola hatte die Hand auf dem Herzen. Die andere hielt Arnolds Arm gepackt, und Lola beugte sich, hinter dem Pfeiler hervor, langsam und bebend; bis in die Tür.

»Ich kann nicht mehr; ich muß sehen –«

Da riß sie sich zurück; er fand ihre Augen wie Geister blaß und irr – und dann sah auch er: dort stand der Wagen des Hauses Pardi.

Lola hob sich, zagend, vom Sitz; Arnold legte ein Geldstück hin; und ohne einander loszulassen, glitten sie hinaus. Das Fenster des Wagens war verhängt. Der Kutscher schlürfte und sah gradaus. Sie hatten den Wagen umgangen, sie konnten fliehen ... Das Fenster war verhängt? Lola stand und zauderte, halb gewendet. Dann sagte ihrem Genossen ihr krank herbeischleichender Blick, daß sie sich ergebe. Jener dort solle zuschlagen, endlich zuschlagen. Die Neugier des. Opfers war über sie gekommen, die Lust nach dem Opfer. Er sah sie an und erbleichte.

Sie setzte den Fuß an; sie erreichten drüben das Fenster: es stand offen; lautlos neigten ihre beiden Gesichter sich darauf. Und ihre beiden Gesichter empfingen die Atemstöße derer, die dort innen umkrampft lagen, sich wanden und zuckten. Lola bewegte die Wimpern nicht. Ohne Eile richtete sie sich auf; Claudias von Lust gebrochene Augen waren noch immer, ohne zu verstehen, an ihr – und Lola und Arnold gingen ungedämpften Schrittes von dannen, hinaus in Regen, zeitlose Stille und totes Menschengewühl, durch Vorstädte mit elendem Lichtflimmern im Pflaster und endlos weiter auf einer braunen, müden Landstraße ohne Lampe, ohne Stern ... Arnold tastete nach Lolas Arm und stützte ihn. Ihre Schultern sanken im Gehen zueinander. Sie empfingen mit ihren Schlaf en den Regen, stießen fremd an Steine und gaben ihre willenlosen Stimmen der leeren Weite hin, die sie trank.

»Meine arme Geliebte!«

»Mein armer Geliebter!«


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