Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Diederich würde, wie in der besten Neuteutonenzeit, das Mittagessen verschlafen haben, aber die Rechnung vom Ratskeller kam, und sie war bedeutend genug, daß er aufstehen und ins Kontor gehen mußte. Ihm war sehr schlecht, und man machte ihm auch noch Unannehmlichkeiten, sogar die Familie. Die Schwestern verlangten ihr monatliches Toilettegeld, und als er erklärte, daß er es jetzt nicht habe, hielten sie ihm den alten Sötbier vor, der es immer gehabt habe. Diesem Versuch einer Auflehnung begegnete Diederich energisch. Mit rauher Katerstimme setzte er den Mädchen auseinander, sie würden sich noch an ganz andere Dinge gewöhnen müssen. Sötbier freilich, der habe immer nur hergegeben und die Fabrik heruntergewirtschaftet. »Wenn ich euch heute euren Anteil auszahlen sollte, würdet ihr euch verflucht wundern, wie wenig es wäre.« Während er dies sagte, empfand er es als durchaus unberechtigt, daß er irgendeinmal sollte gezwungen werden können, die beiden am Geschäft zu beteiligen. ›Man müßte das verhindern können‹, dachte er. Sie dagegen wurden auch noch herausfordernd. »Also wir können die Modistin nicht bezahlen, aber der Herr Doktor trinkt Sekt für hundertfünfzig Mark.« Da ward Diederich furchtbar anzusehen. Seine Briefe erbrach man! Er wurde ausspioniert! Er war nicht der Herr im Hause, sondern ein Kommis, ein Neger, der für die Damen schuftete, damit sie den ganzen Tag faulenzen konnten! Er schrie und stampfte, daß die Gläser klirrten. Frau Heßling flehte wimmernd, die Schwestern widersprachen nur noch aus Angst, aber Diederich war im Zuge. »Was erlaubt ihr euch? Gänse wie ihr? Was wißt ihr, ob die hundertfünfzig Mark nicht eine glänzende Kapitalsanlage sind. Jawohl, Kapitalsanlage! Meint ihr, ich saufe mit den Idioten Sekt, wenn ich nichts von ihnen will? Davon wißt ihr hier in Netzig noch nichts, das ist der neue Kurs, es ist –« Er hatte das Wort. »Großzügig ist es! Großzügig!«
Und er warf die Tür hinter sich zu. Frau Heßling ging ihm vorsichtig nach, und als er im Wohnzimmer ins Sofa gesunken war, nahm sie seine Hand und sagte: »Mein lieber Sohn, ich bin mit dir.« Dabei sah sie ihn an, als wollte sie »aus dem Herzen beten«. Diederich verlangte einen sauren Hering; und dann beklagte er sich zornig, wie schwer es sei, in Netzig den neuen Geist einzuführen. Wenigstens hier im Hause sollte man seine Kraft nicht untergraben! »Ich habe Großes mit euch vor, aber das überlaßt gefälligst meiner besseren Einsicht. Einer muß Herr sein. Unternehmungsgeist und Großzügigkeit gehören freilich dazu. Sötbier ist dabei nicht zu brauchen. Eine Weile lasse ich den Alten noch verschnaufen, dann wird er ausgeschifft.«
Frau Heßling versicherte sanft, ihr lieber Sohn werde schon um seiner Mutter willen immer genau wissen, was er tun müsse – und dann begab Diederich sich ins Kontor und schrieb einen Brief an die Maschinenfabrik Büschli & Cie. in Eschweiler, um bei ihr einen neuen Patent-Doppel-Holländer System Maier zu bestellen. Er ließ den Brief offen daliegen und ging hinaus. Wie er zurückkam, stand Sötbier vor seinem Pult, und es war kein Zweifel, unter seinem grünen Augenschirm weinte er: es tropfte auf den Brief. »Sie müssen ihn noch mal abschreiben lassen«, sagte Diederich kühl. Da begann Sötbier: »Junger Herr, unser alter Holländer ist kein Patent-Holländer, aber er stammt noch aus der ersten Zeit des alten Herrn; mit ihm hat er angefangen, und mit ihm ist er groß geworden ...«
»Na und ich hege meinerseits den Wunsch, mit meinem eigenen Holländer groß zu werden«, sagte Diederich schneidend. Sötbier jammerte.
»Unser alter hat uns noch immer genügt.«
»Mir nicht.«
Sötbier schwur, er sei so leistungsfähig wie die allerneuesten, die nur durch schwindelhafte Reklame emporgetragen würden. Als Diederich hart blieb, öffnete der Alte die Tür und rief hinaus: »Fischer! Kommen Sie mal her!« Diederich ward unruhig. »Was wollen Sie von dem Menschen. Ich verbitte mir, daß er sich einmischt!« Aber Sötbier berief sich auf das Zeugnis des Maschinenmeisters, der in den größten Betrieben gearbeitet habe. »Nun, Fischer, sagen Sie mal dem Herrn Doktor, wie leistungsfähig unser Holländer ist!« Diederich wollte nicht hören, er lief hin und her, überzeugt, der Mensch werde die Gelegenheit ergreifen, ihn zu ärgern. Statt dessen begann Napoleon Fischer mit einer uneingeschränkten Anerkennung von Diederichs Sachverständigkeit, und dann sagte er über den alten Holländer alles Ungünstige, das sich irgend über ihn denken ließ. Wenn man Napoleon Fischer hörte, war er schon nahe daran gewesen, zu kündigen, nur weil ihm der alte Holländer nicht gefiel. Diederich schnaubte: er habe wahrhaftig Glück, daß ihm die wertvolle Kraft des Herrn Fischer nun doch erhalten bleibe; aber der Maschinenmeister erklärte ihm, ohne sich auf seine Ironie einzulassen, nach der Abbildung im Prospekt alle Vorzüge des neuen Patent-Holländers, vor allem seine höchst bequeme Bedienung. »Wenn ich Ihnen nur Arbeit erspare!« schnaubte Diederich. »Sonst wünsch ich mir nichts. Danke, Sie können gehen.«
Als der Maschinenmeister hinaus war, beschäftigten Sötbier und Diederich sich eine lange Weile jeder für sich. Plötzlich fragte Sötbier: »Und womit sollen wir ihn bezahlen?« Diederich war sofort feuerrot; auch er hatte die ganze Zeit an nichts weiter gedacht. »Ach was!« schrie er. »Bezahlen! Erstens mache ich eine lange Lieferungsfrist aus, und dann: wenn ich mir einen so teuren Holländer bestelle, meinen Sie vielleicht, ich weiß nicht wozu? Nein, mein Lieber, dann muß ich wohl bestimmte Aussichten auf baldige Ausdehnung des Geschäftes haben – über die ich mich heute noch nicht äußern will.«
Damit verließ er das Kontor, in strammer Haltung, trotz inneren Zweifeln. Dieser Napoleon Fischer hatte sich beim Hinausgehen nochmals umgesehen, mit einem gewissen Blick, als habe er den Chef gehörig hineingelegt. ›Umdroht von Feinden‹, dachte Diederich und reckte sich noch straffer, ›da sind wir erst recht stark. Ich werde sie schon zerschmettern.‹ Sie sollten erfahren, mit wem sie es zu tun hatten; daher führte er einen Gedanken aus, der ihm schon beim Erwachen gekommen war: er ging zum Doktor Heuteufel. Dieser hielt eben seine Sprechstunde ab und ließ ihn warten. Dann empfing er ihn in seinem Operationszimmer, wo alles, Geruch und Gegenstände, Diederich an frühere, peinliche Besuche erinnerte. Doktor Heuteufel nahm die Zeitung vom Tisch, lachte kurz und sagte: »Nun, Sie kommen wohl her, um zu triumphieren. Gleich zwei Erfolge! Ihre Sekthuldigung ist drin – na und die Depesche des Kaisers an den Posten läßt von Ihrem Standpunkt aus wohl nichts zu wünschen.«
»Welche Depesche?« fragte Diederich. Doktor Heuteufel zeigte sie ihm; Diederich las: ›Für Deinen auf dem Felde der Ehre vor dem inneren Feind bewiesenen Mut spreche Ich Dir Meine kaiserliche Anerkennung aus und ernenne Dich zum Gefreiten.‹ Wie es hier gedruckt stand, machte es ihm den Eindruck vollkommener Echtheit. Er war sogar ergriffen; mit männlicher Zurückhaltung sagte er: »Das ist jedem national Gesinnten aus dem Herzen gesprochen.« Da Heuteufel nur die Achseln zuckte, holte Diederich Atem. »Nicht deswegen bin ich hergekommen, sondern um unsere beiderseitigen Beziehungen festzulegen.« Die seien wohl schon festgelegt, erwiderte Heuteufel. »Nein, durchaus noch nicht.« Diederich versicherte, daß er einen ehrenvollen Frieden wünsche. Er sei bereit, im Sinne eines wohlverstandenen Liberalismus zu wirken, falls man dagegen seine streng nationale und kaisertreue Überzeugung achte. Doktor Heuteufel erklärte dies einfach für Phrasen: da verlor Diederich die Fassung. Dieser Mensch hielt ihn in der Hand; er konnte ihn, mit Hilfe eines Dokumentes, als Feigling hinstellen! Das höhnische Lächeln in seinem gelben Chinesengesicht, diese überlegene Haltung waren eine fortwährende Anspielung. Aber er sprach nicht, er ließ das Schwert weiterschweben über Diederichs Haupt. Der Zustand mußte aufhören! »Ich fordere Sie auf«, sagte Diederich, heiser, vor Erregung, »mir meinen Brief zurückzugeben.« Heuteufel tat erstaunt. »Welchen Brief?« – »Den ich Ihnen wegen des Militärs geschrieben habe, als ich dienen sollte.« Darauf dachte der Arzt nach. »Ach so: weil Sie sich drücken wollten!«
»Ich dachte mir schon, Sie würden meine unvorsichtigen Äußerungen in einem für mich beleidigenden Sinne auslegen. Ich fordere Sie nochmals zur Rückgabe des Briefes auf.« Und Diederich trat drohend vor. Heuteufel wich nicht.
»Lassen Sie mich in Ruh. Ihren Brief hab ich nicht mehr.«
»Ich verlange Ihr Ehrenwort.«
»Das gebe ich nicht auf Befehl.«
»Dann mache ich Sie auf die Folgen Ihrer illoyalen Handlungsweise aufmerksam. Sollten Sie mir mit dem Brief bei irgendeiner Gelegenheit Unannehmlichkeiten verursachen wollen, so liegt Bruch des Amtsgeheimnisses vor. Dann denunziere ich Sie der Ärztekammer, stelle Strafantrag gegen Sie und biete allen meinen Einfluß auf, um Sie unmöglich zu machen!« In höchster Erregung, fast stimmlos: »Sie sehen mich zum Äußersten entschlossen! Zwischen uns gibt es nur noch einen Kampf bis aufs Messer!«
Doktor Heuteufel sah ihn neugierig an, er schüttelte den Kopf, sein Chinesenschnurrbart schaukelte, und er sagte: »Sie sind heiser.«
Diederich fuhr zurück, er stammelte: »Was geht Sie das an.«
»Gar nichts«, sagte Heuteufel. »Es interessiert mich nur von früher her, weil ich Ihnen so was ja immer vorausgesagt habe.«
»Was denn. Wollen Sie sich gefälligst äußern.« Aber das lehnte Heuteufel ab. Diederich blitzte ihn an. »Ich muß Sie energisch auffordern, Ihre ärztliche Pflicht zu tun!«
Er sei nicht sein Arzt, erwiderte Heuteufel. Darauf sank Diederichs herrische Miene zusammen, und er forschte klagend. »Manchmal hab ich ja Schmerzen im Hals. Glauben Sie denn, daß es schlimmer wird? Hab ich was zu befürchten?«
»Ich rate Ihnen, einen Spezialisten zu konsultieren.«
»Sie sind hier doch der einzige! Um Gottes willen, Herr Doktor, Sie versündigen sich, ich habe eine Familie zu erhalten.«
»Dann sollten Sie weniger rauchen, auch weniger trinken. Gestern abend war es zuviel.«
»Ach so.« Diederich richtete sich auf. »Sie gönnen mir den Sekt nicht. Und dann wegen der Huldigungsadresse.«
»Wenn Sie unlautere Motive bei mir vermuten, brauchen Sie mich nicht zu fragen.«
Aber Diederich flehte schon wieder. »Sagen Sie mir wenigstens, ob ich Krebs kriegen kann.«
Heuteufel blieb streng. »Nun, Sie waren schon immer skrofulös und rachitisch. Sie hätten nur dienen sollen, dann wären Sie nicht so aufgeschwemmt.«
Schließlich ließ er sich zu einer Untersuchung herbei und nahm eine Pinselung des Kehlkopfes vor. Diederich erstickte, rollte angstvoll die Augen und umklammerte den Arm des Arztes.
Heuteufel zog den Pinsel heraus. »So komm ich natürlich nicht hin.« Er feixte durch die Nase. »Sie sind noch wie früher.«
Sobald Diederich wieder zu Luft gekommen war, machte er sich fort aus dieser Schreckenskammer. Vor dem Hause, noch mit Tränen in den Augen, stieß er auf den Assessor Jadassohn. »Nanu?« sagte Jadassohn. »Ist Ihnen die Kneiperei nicht bekommen? Und ausgerechnet zu Heuteufel gehen Sie?«
Diederich versicherte, sein Befinden sei glänzend. »Aber aufgeregt hab ich mich über den Menschen! Ich gehe hin, weil ich es als meine Pflicht betrachte, eine befriedigende Erklärung zu verlangen für die gestrigen Äußerungen dieses Herrn Lauer. Mit Lauer selbst zu verhandeln, hat für einen Mann von meiner korrekten Gesinnung natürlich nichts Verlockendes.«
Jadassohn schlug vor, in Klappschs Bierstube einzutreten.
»Ich gehe also hin«, fuhr Diederich drinnen fort, »in der Absicht, die ganze Geschichte mit der Besoffenheit des betreffenden Herrn zu entschuldigen, schlimmstenfalls mit seiner zeitweiligen Geistesumnachtung. Was meinen Sie statt dessen? Frech wird der Heuteufel. Markiert Überlegenheit. Übt zynische Kritik an unserer Huldigungsadresse und, Sie werden es nicht glauben, sogar an dem Telegramm Seiner Majestät!«
»Nun, und?« fragte Jadassohn, dessen Hand sich mit Fräulein Klappsch beschäftigte.
»Für mich gibt es kein Und mehr! Ich bin mit dem Herrn fertig fürs Leben!« rief Diederich, trotz dem schmerzlichen Bewußtsein, daß er am Mittwoch wieder zum Pinseln mußte. Jadassohn versetzte schneidend: »Aber ich nicht.« Und da Diederich ihn ansah: »Es gibt nämlich eine Behörde, die sich die Königliche Staatsanwaltschaft nennt und die für Leute wie diese Herren Lauer und Heuteufel ein nicht zu unterschätzendes Interesse hegt.« Damit ließ er Fräulein Klappsch los und bedeutete ihr, sie möge verschwinden. »Wie meinen Sie das?« fragte Diederich, unheimlich berührt.
»Ich denke Anklage wegen Majestätsbeleidigung zu erheben.«
»Sie?«
»Jawohl, ich. Staatsanwalt Feifer hat Krankheitsurlaub, ich bin dran. Und, wie ich unmittelbar nach dem gestrigen Vorfall vor Zeugen festgestellt habe, war ich bei der Verübung des Delikts nicht anwesend, bin also keineswegs verhindert, in dem Prozeß die Anklagebehörde zu vertreten.«
»Aber wenn niemand die Sache anzeigt!«
Jadassohn lächelte grausam. »Das haben wir, Gott sei Dank, nicht nötig ... Übrigens erinnere ich Sie daran, daß Sie selbst gestern abend sich uns als Zeugen anboten.« »Davon weiß ich nichts«, sagte Diederich schnell.
Jadassohn klopfte ihm auf die Schulter. »Sie werden sich an alles wieder erinnern, hoffe ich, wenn Sie unter Ihrem Eid stehen.«
Da entrüstete Diederich sich. Er ward so laut, daß Klappsch diskret in das Zimmer spähte.
»Herr Assessor, ich muß mich sehr wundern, daß Sie private Äußerungen meinerseits – Sie haben offenbar die Absicht, mit Hilfe eines politischen Prozesses schneller Staatsanwalt zu werden. Aber ich möchte wissen, was mich Ihre Karriere angeht.«
»Na, und mich die Ihre?« fragte Jadassohn.
»So. Dann sind wir Gegner?«
»Ich hoffe, es wird sich vermeiden lassen.« Und Jadassohn setzte ihm auseinander, daß er keinen Grund habe, den Prozeß zu fürchten. Sämtliche Zeugen der Vorgänge im Ratskeller würden dasselbe aussagen müssen wie er selbst: auch Lauers Freunde. Diederich werde sich keineswegs zu weit vorwagen ... Das habe er leider schon getan, erwiderte Diederich, denn schließlich sei er es, der mit Lauer den Krach gehabt habe. Aber Jadassohn beruhigte ihn. »Wer fragt danach. Es handelt sich darum, ob die inkriminierten Worte von seiten des Herrn Lauer gefallen sind. Sie machen, wie die anderen Herren, einfach Ihre Aussage, wenn Sie wollen, mit Vorsicht.«
»Mit großer Vorsicht!« versicherte Diederich. Und angesichts von Jadassohns teuflischer Miene: »Wie komme ich dazu, einen anständigen Menschen wie Lauer ins Gefängnis zu bringen? Jawohl, einen anständigen Menschen! Denn eine politische Gesinnung ist in meinen Augen keine Schande!«
»Besonders nicht bei dem Schwiegersohn des alten Buck, den Sie vorläufig noch brauchen«, schloß Jadassohn – und Diederich ließ den Kopf sinken. Dieser jüdische Streber beutete ihn schamlos aus, und er konnte nichts machen! Da sollte man noch an Freundschaft glauben. Er sagte sich wieder einmal, daß alle gerissener und brutaler im Leben vorgingen als er selbst. Die große Aufgabe war: wie ward man energisch. Er setzte sich stramm hin und blitzte. Mehr unternahm er lieber nicht; bei einem Herrn von der Staatsanwaltschaft konnte man nie wissen ... Übrigens lenkte Jadassohn zu etwas anderem über.
»Wissen Sie schon, daß in der Regierung und bei uns im Gericht ganz sonderbare Gerüchte umgehen – über das Telegramm Seiner Majestät an den Regimentskommandeur? Der Oberst soll nämlich behaupten, er habe gar kein Telegramm bekommen.«
Diederich behielt, trotz innerem Erbeben, eine feste Stimme. »Aber es hat doch in der Zeitung gestanden!« Jadassohn grinste zweideutig. »Da steht gar zu viel.« Er ließ sich von Klappsch, der seine Glatze wieder in die Tür schob, die »Netziger Zeitung« bringen. »Sehen Sie, in der Nummer hier steht überhaupt nichts, was nicht auf Seine Majestät Bezug hat. Der Leitartikel beschäftigt sich mit dem Allerhöchsten Bekenntnis zum geoffenbarten Glauben. Dann kommt das Telegramm an den Obersten, dann das Lokale, mit der Heldentat des Postens, und das Vermischte, mit drei Anekdoten über die kaiserliche Familie.«
»Es sind recht rührende Geschichten«, bemerkte Klappsch und verdrehte die Augen.
»Zweifellos!« beteuerte Jadassohn, und Diederich: »Sogar so ein freisinniges Hetzblatt muß die Bedeutung Seiner Majestät anerkennen!«
»Aber bei dem löblichen Eifer wäre es schließlich möglich, daß die Redaktion die Allerhöchste Depesche eine Nummer zu früh gebracht hat – noch vor ihrer Absendung.« – »Ausgeschlossen!« entschied Diederich. »Der Stil Seiner Majestät ist unverkennbar.« Auch Klappsch wollte ihn erkennen. Jadassohn gab zu: »Nun ja ... Weil man nie wissen kann, darum dementieren wir auch nicht. Wenn der Oberst nichts bekommen hat, die ›Netziger Zeitung‹ könnte es ja direkt aus Berlin haben. Wulckow hat sich den Redakteur Nothgroschen kommen lassen, aber der Kerl verweigert die Aussage. Der Präsident hat gespuckt, er ist selbst zu uns gekommen wegen des Zeugniszwangsverfahrens gegen Nothgroschen. Schließlich haben wir davon abgesehen und warten lieber das Dementi aus Berlin ab – weil man eben nicht wissen kann.«
Da Klappsch in die Küche gerufen ward, setzte Jadassohn noch hinzu: »Komisch, wie? Allen kommt die Geschichte verdächtig vor, aber niemand will vorgehen, weil in diesem Fall – in diesem ganz besonderen Fall –«, sagte Jadassohn mit perfider Betonung, und seine ganze Miene, sogar die Ohren sahen perfid aus, »grade das Unwahrscheinliche am meisten Aussicht hat, Ereignis zu werden.«
Diederich war starr: nie hätte ihm so schwarzer Verrat geträumt. Jadassohn bemerkte sein Entsetzen und verwirrte sich, er fing an zu zappeln. »Nu, der Mann hat seine Schwächen – Ihnen gesagt.« Diederich versetzte, fremd und drohend: »Gestern abend schienen Sie davon noch nichts zu wissen.« Jadassohn entschuldigte sich: der Sekt mache natürlich unkritisch. Ob Herr Doktor Heßling denn die Begeisterung der übrigen Herren so ernst genommen habe. Einen größeren Nörgler als den Major Kunze gebe es überhaupt nicht ... Diederich zog sich mit seinem Stuhl zurück, ihm ward kalt, als finde er sich plötzlich in einer Verbrecherhöhle. Mit äußerster Energie sagte er: »Auf die nationale Gesinnung der übrigen Herren hoffe ich mich ebenso verlassen zu können wie auf meine eigene, an der zu zweifeln ich mir auf das allerbestimmteste verbitten müßte.«
Jadassohn hatte seine schneidige Stimme zurück. »Soll das etwa einen Zweifel in bezug auf meine Person involvieren, so weise ich ihn mit gebührender Entrüstung zurück.« Krähend, so daß Klappsch in die Tür spähte: »Ich bin der Königliche Assessor Doktor Jadassohn und stehe auf Wunsch zur Verfügung.«
Darauf mußte Diederich wohl murmeln, daß er es so nicht gemeint habe. Dann aber zahlte er. Die Verabschiedung war kühl.
Auf dem Heimweg schnaufte Diederich. Hätte er sich nicht entgegenkommender verhalten sollen mit Jadassohn? Für den Fall, daß Nothgroschen redete? Jadassohn hatte ihn freilich nötig, in dem Prozeß gegen Lauer! Auf alle Fälle war es gut, daß Diederich jetzt Bescheid wußte über den wahren Charakter dieses Herrn! ›Seine Ohren sind mir gleich verdächtig vorgekommen! Wirklich national empfinden kann man eben doch nicht mit solchen Ohren.‹
Zu Hause nahm er sogleich den »Berliner-Lokal-Anzeiger« vor. Da waren schon die Kaiseranekdoten für die »Netziger Zeitung« von morgen. Vielleicht kamen sie auch erst übermorgen, für alle war dort nicht Platz. Aber er suchte weiter; seine Hände zitterten ... Da! Er mußte sich setzen. »Ist dir was, mein Sohn?« fragte Frau Heßling. Diederich starrte die Buchstaben an, wie ein Märchen, das Wahrheit ward. Da stand es, unter anderen unbezweifelten Dingen, in dem einzigen Blatt, das Seine Majestät selbst las! Innerlich, in so tiefer Seele, daß er es selbst kaum hörte, murmelte Diederich: »Mein Telegramm.« Das bange Glück sprengte ihn fast. Konnte es sein? Hatte er richtig vorausempfunden, was der Kaiser sagen würde? Sein Ohr reichte in diese Ferne? Sein Gehirn arbeitete gemeinsam mit –? Die unerhörtesten mystischen Beziehungen überwältigten ihn ... Aber das Dementi konnte noch kommen, er konnte zurückgeschleudert werden in sein Nichts! Diederich verbrachte eine angstvolle Nacht, und am Morgen stürzte er sich auf den »Lokal-Anzeiger«. Die Anekdoten. Die Denkmalsenthüllung. Die Rede. »Aus Netzig«. Da stand von den Ehrungen, die dem Gefreiten Emil Pacholke zuteil geworden waren für seinen vor dem inneren Feind bewiesenen Mut. Alle Offiziere, der Oberst an der Spitze, hatten ihm die Hand gedrückt. Er hatte Geldgeschenke bekommen. »Bekanntlich hat der Kaiser den braven Soldaten schon gestern telegrafisch zum Gefreiten befördert.« Da stand es! Kein Dementi: eine Bestätigung! Er machte Diederichs Worte zu den seinen, und er führte die Handlung aus, die Diederich ihm untergelegt hatte! ... Diederich breitete das Zeitungsblatt weit aus; er sah sich darin wie in einem Spiegel, und um seine Schultern lag Hermelin.
Diesen Sieg und Diederichs schwindelnde Erhöhung, leider durfte kein Wort sie verraten, aber sein Wesen genügte, die Straffheit in Haltung und Sprache, das Herrscherauge. Familie und Werkstatt verstummten um ihn her. Sötbier selbst mußte zugeben, daß ein forscherer Zug in den Betrieb gekommen sei. Und Napoleon Fischer schlich, je aufrechter und heller Diederich dastand, desto affenähnlicher vorbei, die Arme nach vorn hängend, mit schiefem Blick und den fletschenden Zähnen in seinem dünnen schwarzen Bart: als der Geist des gebändigten Umsturzes ... Dies war der Moment, gegen Guste Daimchen vorzugehen. Diederich machte Besuch.
Frau Oberinspektor Daimchen empfing ihn zuerst allein, auf ihrem alten Plüschsofa, aber in einem braunen Seidenkleid mit lauter Schleifen, und die Hände breitete sie, rot und gequollen wie die einer Waschfrau, vor sich hin auf ihren Bauch, so daß der Gast die neuen Ringe immer vor Augen hatte. Aus Verlegenheit gestand er seine Bewunderung, worauf Frau Daimchen sich bereitwillig darüber ausließ, daß sie und ihre Guste es nun Gott sei Dank zu allem hätten. Sie wüßten nur noch nicht, ob sie sich altdeutsch oder Louis käs einrichten sollten. Diederich riet lebhaft zu altdeutsch; er habe es in Berlin in den feinsten Häusern gesehen. Aber Frau Daimchen war mißtrauisch. »Wer weiß, ob Sie so feine Leute wie uns schon besucht haben. Lassen Sie man, ich kenne das, wenn man so tun muß, als ob man was hat, und hat nichts.« Hierauf schwieg Diederich ratlos, und Frau Daimchen trommelte sich mit Genugtuung auf den Bauch. Zum Glück trat Guste ein, heftig rauschend. Diederich schwang sich elastisch aus seinem Fauteuil, sagte schnarrend: »Gnädigstes Fräulein!« und unternahm einen Handkuß. Guste lachte. »Reißen Sie sich nur kein Bein aus!« Aber sie tröstete ihn gleich wieder. »Man sieht sofort, was ein feiner Mann ist. Der Herr Leutnant von Brietzen macht es auch so.«
»Ja, ja«, sagte Frau Daimchen, »bei uns verkehren alle Herren Offiziere. Gestern sag ich noch zu Guste: Guste, sag ich, auf jede Sitzgelegenheit können wir eine Freiherrnkrone sticken lassen, denn überall hat sich schon einer draufgesetzt.«
Guste verzog den Mund. »Aber was die Familien betrifft und sonst überhaupt, ist Netzig doch reichlich spießig. Ich glaube, wir ziehen nach Berlin.« Damit war Frau Daimchen nicht einverstanden. »Man soll den Leuten den Gefallen nicht tun«, meinte sie. »Die alte Harnisch ist erst heute, wie sie mein Seidenkleid gesehen hat, fast zerplatzt.«
»So ist Mutter nun mal«, sagte Guste. »Wenn sie renommieren kann, ist alles gut. Aber ich denke doch auch an meinen Verlobten. Wissen Sie, daß Wolfgang sein Staatsexamen gemacht hat? Was soll er hier in Netzig. In Berlin kann er mit unserem vielen Geld was werden.« Diederich bestätigte: »Er wollte ja schon immer Minister oder so was werden.« Leis höhnisch setzte er hinzu: »Das soll ja ganz leicht sein.«
Guste nahm sofort eine feindliche Haltung ein. »Der Sohn vom alten Herrn Buck ist eben nicht jeder«, sagte sie spitz. Aber Diederich setzte, weltmännisch überlegen, auseinander, daß es heute auf Dinge ankomme, die der Einfluß des alten Buck nicht verleihen könne: Persönlichkeit, großzügigen Unternehmungsgeist und vor allem eine stramm nationale Gesinnung. Das junge Mädchen unterbrach ihn nicht mehr, sie sah sogar mit Respekt auf seine kühnen Schnurrbartspitzen. Aber das Bewußtsein, Eindruck zu machen, riß ihn zu weit fort. »Von alledem habe ich bei Herrn Wolfgang Buck noch nichts bemerkt«, sagte er. »Der philosophiert und nörgelt, und im übrigen soll er sich ziemlich viel amüsieren ... Na«, schloß er, »seine Mutter war ja auch eine Schauspielerin.« Und er sah fort, obwohl er fühlte, daß Gustes drohender Blick ihn suchte.
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte sie.
Er tat überrascht. »Ich, gar nichts. Ich meinte, wie reiche junge Leute in Berlin nun mal leben. Bucks sind doch eine vornehme Familie.«
»Das wollen wir hoffen«, sagte Guste schroff. Frau Daimchen, die gegähnt hatte, erinnerte an die Schneiderin, Guste sah Diederich erwartungsvoll an, ihm blieb nichts übrig, als aufzustehen und seine Verbeugungen zu machen. Den Handkuß unternahm er nicht mehr, mit Rücksicht auf die gespannte Stimmung. Aber im Vorzimmer holte Guste ihn ein. »Wollen Sie es mir jetzt vielleicht sagen«, fragte sie, »was Sie gemeint haben mit der Schauspielerin?«
Er öffnete den Mund, schnappte und schloß ihn wieder, stark errötet. Um ein Haar hätte er verraten, was seine Schwestern ihm über Wolfgang Buck erzählt hatten. Er sagte mit mitleidiger Stimme: »Fräulein Guste, weil wir doch so alte Bekannte sind – Ich wollte nur sagen, der Buck ist nichts für Sie. Er ist sozusagen erblich belastet von seiner Mutter her. Der Alte war doch auch zum Tode verurteilt. Und was ist denn sonst an den Bucks noch dran? Glauben Sie mir, man soll in keine Familie heiraten, mit der es bergab geht. Das ist Sünde gegen sich selbst«, setzte er noch hinzu. Aber Guste hatte die Hände in die Hüften gestemmt.
»Bergab? Und mit Ihnen geht es wohl bergauf? Weil Sie sich im Ratskeller betrinken und dann den Leuten Krach machen? Die ganze Stadt spricht von Ihnen, und Sie möchten einer hochfeinen Familie was anhängen. Bergab! Wer mein Geld kriegt, mit dem geht es überhaupt nicht bergab. Sie sind bloß neidisch, meinen Sie, ich weiß das nicht?« und sie sah ihn an, die Augen voll Tränen der Wut. Ihm war sehr beklommen; er hätte Lust gehabt, sich auf die Knie zu werfen, ihr die dicken kleinen Finger zu küssen und dann die Tränen aus den Augen – aber ging denn das? Inzwischen zog sie alle rosigen Fettpolster ihres Gesichtes herunter zu einem Ausdruck der Verachtung, machte kehrt und schlug die Tür zu. Diederich stand mit angstklopfendem Herzen noch eine Weile da, dann trollte er sich, im Gefühl seiner Kleinheit.
Er bedachte, daß für ihn hier nichts zu machen gewesen sei; die Sache gehe ihn nichts an, Guste sei mit all ihrem Geld doch immer nur eine fette Gans – und das beruhigte ihn. Wie dann eines Abends Jadassohn ihm mitteilte, was er in Magdeburg beim Gericht erfahren habe, da triumphierte Diederich. Fünfzigtausend Mark, das war alles! Und deswegen ein Auftreten wie die Gräfinnen? Ein Mädchen von dermaßen schwindelhaftem Gebaren paßte freilich besser zu den verkommenen Bucks als zu einem kernigen und treugesinnten Mann wie Diederich! Da war Käthchen Zillich vorzuziehen. Äußerlich Guste ähnlich und mit fast ebenso starken Reizen geschmückt, empfahl sie sich außerdem durch Gemüt und ein entgegenkommendes Wesen. Er kam öfter zum Kaffee und machte ihr eifrig den Hof. Sie warnte ihn vor Jadassohn, was Diederich als nur zu berechtigt anerkennen mußte. Auch sprach sie mit äußerster Mißbilligung von Frau Lauer, die mit Landgerichtsrat Fritzsche – Was Lauers Prozeß betraf, war Käthchen Zillich die einzige, die ganz auf Diederichs Seite stand.
Denn diese Sache nahm für Diederich ein drohendes Gesicht an. Jadassohn hatte erreicht, daß die Staatsanwaltschaft durch einen Ermittelungsrichter die Zeugen jenes nächtlichen Vorfalls vernehmen ließ; und so zurückhaltend Diederich sich vor dem Richter geäußert hatte, die andern machten ihn verantwortlich für ihre Verlegenheiten. Die Herren Cohn und Fritzsche wichen ihm aus; der Bruder des Herrn Buck, ein so höflicher Mann, vermied seinen Gruß; Heuteufel pinselte ihn grausam, lehnte aber jedes Privatgespräch ab. An dem Tage, da es bekannt ward, daß das Gericht dem Fabrikbesitzer Lauer die Anklageschrift zugestellt habe, fand Diederich seinen Tisch im Ratskeller leer. Professor Kühnchen zog sich eben den Mantel an, Diederich konnte ihn noch am Kragen packen. Aber Kühnchen hatte es eilig, er mußte im freisinnigen Wählerverein gegen die neue Militärvorlage reden. Er entwischte; und Diederich dachte enttäuscht jener sieghaften Nacht, als draußen das Blut des inneren Feindes, hier aber Sekt geflossen war und als unter den Nationalgesinnten Kühnchen der kriegslustigste gewesen war. Jetzt sprach er gegen die Vermehrung unseres ruhmreichen Heeres! ... Diederich sah, einsam und verlassen, in seinen Dämmerschoppen; da erschien Major Kunze.
»Nanu, Herr Major«, sagte Diederich mit erzwungener Munterkeit, »von Ihnen hört man gar nichts mehr.«
»Von Ihnen um so mehr.« Der Major knurrte, blieb in Hut und Mantel stehen und sah sich um, wie in einer Schneewüste. »Kein-Mensch da!«
»Wenn ich Sie zu einem Glas Wein einladen darf –«, wagte Diederich zu sagen, aber er kam übel an. »Danke, Ihr Sekt liegt mir noch im Magen.« Der Major bestellte Bier und saß da, stumm und mit einem Gesicht zum Fürchten.
Um nur das schreckliche Schweigen zu beenden, sagte Diederich drauflos: »Nun, und der Kriegerverein, Herr Major? Ich habe immer geglaubt, ich würde einmal etwas hören über meine Aufnahme.«
Der Major sah ihn lange nur an, als wollte er ihn fressen. »Ach so. Sie haben geglaubt. Sie haben wohl auch geglaubt, es würde mir eine Ehre sein, wenn Sie mich in Ihre Skandalaffäre hineinziehen?«
»Meine?« stotterte Diederich. Der Major donnerte. »Jawohl, Herr! Ihre! Dem Herrn Fabrikbesitzer Lauer ist mal ein Wort zuviel ausgerutscht, das kann vorkommen, sogar bei alten Soldaten, die sich für ihren König haben zu Krüppeln schießen lassen. Sie aber haben den Herrn Lauer raffinierterweise zu seinen unbedachten Äußerungen verleitet. Das bin ich bereit, vor dem Untersuchungsrichter zu bekunden. Den Lauer kenne ich: der war in Frankreich mit und ist in unserm Kriegerverein. Sie, Herr, wer sind Sie? Weiß ich, ob Sie überhaupt gedient haben? Her mit Ihren Papieren!«
Diederich griff in die Brusttasche. Er würde strammgestanden haben, wenn der Major es befohlen hätte. Der Major hielt sich den Militärpaß weit von den Augen fort. Plötzlich warf er ihn hin, er feixte grimmig. »Na also. Landsturm mit der Waffe. Hab ich es nicht gesagt? Plattfüße wahrscheinlich.« Diederich war bleich, bebte bei jedem Wort des Majors und hielt beschwörend die Hand vor sich hin. »Herr Major, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich gedient habe. Infolge eines Unglücksfalles, der mir nur zur Ehre gereicht, mußte ich nach drei Monaten austreten ...«
»Solche Unglücksfälle kennen wir ... Zahlen!«
»Sonst wäre ich ganz dabeigeblieben«, sagte Diederich noch, mit fliegender Stimme. »Ich war mit Leib und Seele Soldat, fragen Sie meine Vorgesetzten.«
»Nabend.« Der Major hatte schon den Mantel an. »Ich will Ihnen bloß noch sagen, Herr: Wer nicht gedient hat, den gehen die Majestätsbeleidigungen andrer Leute den Teufel an. Majestät legt keinen Wert auf nicht gediente Herrschaften ... Grützmacher«, sagte er zum Wirt, »Sie sollten sich Ihr Publikum genauer ansehen. Wegen eines Gastes, der mal zuviel da ist, ist nun der Herr Lauer beinahe verhaftet worden, und ich muß mit meinem steifen Bein zu Gericht als Belastungszeuge und es mit allen Leuten verderben. Der Harmonieball ist schon abgesagt, ich bin beschäftigungslos, und wenn ich hier zu Ihnen komme« – er warf wieder einen Blick wie über Schneewüsten –, »ist kein Mensch da. Außer, natürlich, der Denunziant!« schrie er noch auf der Treppe.
»Mein Ehrenwort, Herr Major –«, Diederich lief hinterher, »ich habe keine Anzeige erstattet, das Ganze ist ein Mißverständnis«. Der Major war schon draußen, Diederich rief ihm nach: »Wenigstens bitte ich um Ihre Diskretion!«
Er trocknete die Stirn. »Herr Grützmacher, Sie müssen doch einsehen –«, sagte er, mit Tränen in der Stimme. Da er Wein bestellte, sah der Wirt alles ein.
Diederich trank und schüttelte wehmütig den Kopf. Diese Fehlschläge begriff er nicht. Seine Absichten waren rein gewesen, nur die Tücke seiner Feinde verdunkelte sie ... Da erschien der Landgerichtsrat Doktor Fritzsche, sah sich zögernd um – und als er Diederich wirklich ganz allein fand, kam er zu ihm. »Herr Doktor Heßling«, sagte er und gab ihm die Hand, »Sie sehen ja aus, als ob Ihnen die Ernte verhagelt ist.« In einem großen Betrieb, murmelte Diederich, gebe es freilich immer Ärger. Aber da er die mitfühlende Miene des andern sah, erweichte er sich vollends. »Ihnen kann ich es sagen, Herr Landgerichtsrat, die Sache mit dem Herrn Lauer ist mir verdammt unangenehm.«
»Ihm noch mehr«, sagte Fritzsche, nicht ohne Strenge. »Wenn bei ihm nicht jeder Fluchtverdacht ausgeschlossen wäre, hätten wir ihn gleich heute verhaften lassen müssen.« Er sah Diederich erbleichen und fügte hinzu: »Was sogar uns Richtern peinlich gewesen wäre. Schließlich ist man Mensch und lebt unter Menschen. Aber natürlich –« Er befestigte seinen Klemmer und machte sein trockenes Gesicht. »Das Gesetz muß befolgt werden. Wenn Lauer an dem betreffenden Abend – ich selbst hatte das Lokal ja schon verlassen – tatsächlich die unerhörten Majestätsbeleidigungen geäußert hat, die von der Anklage behauptet werden und für die Sie als Hauptzeuge aufgestellt sind –«
»Ich?« Diederich fuhr verzweifelt auf. »Ich habe nichts gehört! Kein Wort!«
»Dagegen spricht Ihre Aussage vor dem Ermittelungsrichter.«
Diederich verwirrte sich. »Im ersten Moment weiß man doch nicht, was man sagen soll. Aber wenn ich mir den fraglichen Vorgang jetzt rekonstruiere, dann scheint es mir doch; daß wir alle ziemlich stark angeheitert waren. Ich besonders.«
»Sie besonders«, wiederholte Fritzsche.
»Ja, und da habe ich wohl anzügliche Fragen an Herrn Lauer gestellt. Was er mir darauf geantwortet hat, das könnte ich jetzt nicht mehr beschwören. Das Ganze war doch überhaupt nur ein Scherz.«
»Ach so: ein Scherz.« Fritzsche atmete auf. »Ja, aber was hindert Sie denn, das einfach dem Richter zu sagen?« Er erhob den Finger. »Ohne daß ich natürlich im geringsten Ihre Aussage beeinflussen möchte.«
Diederich erhob die Stimme. »Dem Jadassohn vergeß ich den Streich nicht!« Und er berichtete die Machenschaften dieses Herrn, der sich während der Szene vorsätzlich entfernt habe, um nicht als Zeuge in Betracht zu kommen; der dann sofort Material für die Anklage gesammelt, den halb unzurechnungsfähigen Zustand der Anwesenden mißbraucht und sie von vornherein festgelegt habe mit ihren Aussagen. »Herr Lauer und ich, wir halten einander für Ehrenmänner. Wie untersteht sich so ein Jude, uns zu verhetzen!«
Fritzsche erklärte ernst, daß hier nicht Jadassohns Persönlichkeit in Betracht komme, sondern nur das Vorgehen der Staatsanwaltschaft. Freilich war zuzugeben, daß Jadassohn vielleicht zum Übereifer neigte. Mit gedämpfter Stimme setzte er hinzu: »Sehen Sie, das ist eben der Grund, weshalb wir mit den jüdischen Herren nicht gern zusammen arbeiten. Solch ein Herr legt sich nicht die Frage vor, welchen Eindruck es auf das Volk machen muß, wenn ein gebildeter Mann, ein Arbeitgeber, wegen Majestätsbeleidigung verurteilt wird. Sachliche Bedenken verschmäht sein Radikalismus.«
»Sein jüdischer Radikalismus«, ergänzte Diederich.
»Er stellt unbedenklich sich selbst in den Vordergrund womit ich keineswegs leugnen will, daß er auch ein amtliches und nationales Interesse wahrzunehmen glaubt.«
»Wieso denn?« rief Diederich. »Ein gemeiner Streber, der mit unsern heiligsten Gütern spekuliert!«
»Wenn man sich scharf ausdrücken will –« Fritzsche lächelte befriedigt. Er rückte näher. »Nehmen wir einmal an, ich wäre Untersuchungsrichter: es gibt Fälle, in denen man gewissermaßen Grund hätte, sein Amt niederzulegen.«
»Sie sind mit dem Lauerschen Hause eng befreundet«, sagte Diederich und nickte bedeutsam. Fritzsche machte sein weltmännisches Gesicht. »Aber Sie begreifen, damit würde ich gewisse Gerüchte ausdrücklich bestätigen.«
»Das geht nicht«, sagte Diederich. »Es wäre gegen den Komment.«
»Mir bleibt nichts übrig, als meine Pflicht zu tun, ruhig und sachlich.«
»Sachlich sein heißt deutsch sein«, sagte Diederich.
»Besonders, da ich annehmen darf, daß die Herren Zeugen mir meine Aufgabe nicht unnötig erschweren werden.«
Diederich legte die Hand auf die Brust. »Herr Landgerichtsrat, man kann sich hinreißen lassen, wo es um eine große Sache geht. Ich bin eine impulsive Natur. Aber ich bleibe mir bewußt, daß ich für alles meinem Gott Rechenschaft schulde.« Er schlug die Augen nieder. Mit männlicher Stimme: »Auch ich bin der Reue zugänglich.« Dies schien Fritzsche zu genügen, denn er zahlte. Die Herren schüttelten einander ernst und verständnisvoll die Hände.
Schon am Tage darauf ward Diederich vor den Untersuchungsrichter geladen und stand vor Fritzsche. ›Gott sei Dank‹, dachte er und machte mit treuherziger Sachlichkeit seine Aussagen. Auch Fritzsches einzige Sorge schien die Wahrheit zu sein. Die öffentliche Meinung freilich blieb bei ihrer Parteilichkeit für den Angeklagten. Von der sozialdemokratischen »Volksstimme« nicht zu reden; sie verstieg sich bis zu höhnischen Auslassungen über Diederichs Privatleben, hinter denen wohl sicher Napoleon Fischer zu suchen war. Aber auch die sonst so ruhige »Netziger Zeitung« gab gerade jetzt eine Ansprache des Herrn Lauer an seine Arbeiter wieder, worin der Fabrikbesitzer darlegte, daß er den Gewinn seines Unternehmens redlich mit allen denen teile, die daran mitgearbeitet hatten, ein Viertel den Beamten, ein Viertel den Arbeitern. In acht Jahren hatten sie außer ihren Löhnen und Gehältern die Summe von hundertdreißigtausend Mark unter sich zu verteilen gehabt. Dies machte auf weite Kreise den günstigsten Eindruck. Diederich begegnete mißbilligenden Gesichtern. Sogar der Redakteur Nothgroschen, den er zur Rede stellte, erlaubte sich ein anzügliches Lächeln und sagte etwas von sozialen Fortschritten, die man mit nationalen Phrasen nicht aufhalte. Besonders peinlich waren die geschäftlichen Folgen. Bestellungen, auf die Diederich rechnen durfte, blieben aus. Der Warenhausbesitzer Cohn teilte ihm ausdrücklich mit, daß er für seine Weihnachtskataloge die Papierfabrik Gausenfeld bevorzuge, weil er mit Rücksicht auf seine Kunden sich politische Zurückhaltung auferlegen müsse. Diederich erschien jetzt ganz früh im Büro, um solche Briefe abzufangen, aber Sötbier war immer noch früher da, und das vorwurfsvolle Schweigen des alten Prokuristen erhöhte seine Wut. »Ich schmeiß den ganzen Krempel hin!« schrie er. »Sie und die Leute sollen dann sehen, wo sie bleiben. Ich mit meinem Doktor hab morgen einen Direktorposten von vierzigtausend Mark!« – »Ich opfere mich für euch!« schrie er die Arbeiter an, wenn sie gegen das Reglement Bier tranken. »Ich zahle drauf, nur um keinen zu entlassen.«
Gegen Weihnacht mußte er dennoch einem Drittel der Leute aufsagen; Sötbier rechnete ihm vor, daß die Zahlungsfristen zu Beginn des Jahres sonst nicht eingehalten werden könnten, »da wir nun mal zweitausend Mark als Anzahlung für den neuen Holländer aufnehmen mußten«; und er blieb dabei, obwohl Diederich nach dem Tintenfaß griff. In den Mienen der Übriggebliebenen las er Mißtrauen und Geringschätzung. Sooft mehrere zusammenstanden, glaubte er das Wort »Denunziant« zu hören. Napoleon Fischers knotige, schwarz behaarte Hände hingen weniger tief über dem Boden, und es sah aus, als bekäme er sogar Farbe.
Am letzten Adventsonntag – das Landgericht hatte soeben die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen – predigte in der Marienkirche Pastor Zillich über den Text: »Liebet eure Feinde«. Diederich erschrak beim ersten Wort. Bald fühlte er, wie auch die Gemeinde unruhig ward. »Die Rache ist mein, spricht der Herr«; Pastor Zillich rief es sichtlich nach dem Heßlingschen Stuhl hinüber. Emmi und Magda versanken ganz darin, Frau Heßling schluchzte. Diederich beantwortete drohend die Blicke, die ihn suchten. »Wer aber spricht Rache, der ist des Gerichts!« Da wandte sich alles um, und Diederich knickte zusammen.
Zu Hause machten die Schwestern ihm eine Szene. Man behandelte sie schlecht in den Gesellschaften. Nie mehr ward der junge Oberlehrer Helferich neben Emmi gesetzt, er kümmerte sich nur noch um Meta Harnisch, und sie wußte wohl, warum. »Weil du ihm zu alt bist«, sagte Diederich. »Nein, sondern weil du uns unbeliebt machst!« – »Die fünf Töchter vom Bruder des Herrn Buck grüßen uns schon nicht mehr!« rief Magda. Und Diederich: »Ich werd ihnen fünf Ohrfeigen herunterhauen!« – »Das laß gefälligst! An dem einen Prozeß haben wir genug.« Da verlor er die Geduld. »Ihr? Was gehn euch meine politischen Kämpfe an?«
»Alte Jungfern werden wir noch, wegen deiner politischen Kämpfe!«
»Das braucht ihr nicht erst zu werden. Ihr liegt mir hier unnütz im Hause umher, ich rackere mich ab für euch, und ihr wollt auch noch nörgeln und mir meine heiligsten Aufgaben verekeln? Dann schüttelt gefälligst den Staub von euren Pantoffeln! Meinetwegen könnt ihr Kindermädchen werden!« Und er schlug die Tür zu, trotz Frau Heßlings gerungenen Händen.
So kamen denn traurige Weihnachten heran. Die Geschwister sprachen nicht miteinander; Frau Heßling verließ das verschlossene Zimmer, wo sie den Baum schmückte, nie anders als mit verweinten Augen. Und am Heiligen Abend, wie sie ihre Kinder hineinführte, sang sie ganz allein, mit zitternder Stimme »Stille Nacht«. »Dies schenkt Diedel seinen lieben Schwestern!« sagte sie und machte ein bittendes Gesicht, damit er sie nicht Lügen strafe. Emmi und Magda dankten ihm verlegen, er besah ebenso verlegen die Gaben, die angeblich von ihnen kamen. Es tat ihm leid, daß er die gewohnte Christbaumfeier der Arbeiter, trotz Sötbiers dringendem Rat, abgelehnt hatte, um die unbotmäßige Gesellschaft zu strafen. Sonst hätte er jetzt mit den Leuten zusammensitzen können. Hier in der Familie war es eine künstliche Sache, eine Aufwärmung alter, verbrauchter Stimmung. Echt wäre sie erst geworden durch eine, die nicht dabei war: Guste ... Der Kriegerverein war ihm verschlossen, und im Ratskeller würde er niemand gefunden haben, wenigstens keinen Freund. Diederich erschien sich vernachlässigt, unverstanden und verfolgt. Wie fern lagen die harmlosen Zeiten der Neuteutonia, als man in langen, von Wohlwollen beseelten Reihen sang und Bier trank. Heute, im rauhen Leben, brachten keine wackeren Kommilitonen mehr einander ehrliche Schmisse bei, sondern lauter verräterische Konkurrenten wollten sich gegenseitig an den Hals. ›Ich passe nicht in diese harte Zeit‹, dachte Diederich, aß Marzipan von seinem Teller und träumte in die Lichter des Weihnachtsbaumes. ›Ich bin doch gewiß ein guter Mensch. Warum ziehen sie mich in so häßliche Dinge hinein wie dieser Prozeß, und schaden mir dadurch auch geschäftlich, so daß ich, ach lieber Gott!, den Holländer, den ich bestellt habe, nicht werde bezahlen können.‹ Dabei schnitt es ihm kalt durch den Leib, Tränen traten ihm in die Augen, und damit die Mutter, die immer ängstlich nach seiner sorgenvollen Miene schielte, sie nicht sähe, stahl er sich in das dunkle Nebenzimmer. Er stützte die Arme auf das Klavier und schluchzte in die Hände. Draußen stritten Emmi und Magda um ein Paar Handschuhe, und die Mutter wagte nicht zu entscheiden, wem sie beschert worden waren. Diederich schluchzte. Alles war fehlgeschlagen, in Politik, Geschäft und Liebe. ›Was hab ich denn noch?‹ Er öffnete das Klavier. Ihn fröstelte, er war so unheimlich allein, daß er Angst hatte, ein Geräusch zu machen. Die Töne kamen von selbst, seine Hände wußten es kaum. Aus Volksliedern, Beethoven und dem Kommersbuch klang es durcheinander in der Dämmerung, die sich traulich davon erwärmte, so daß einem wohlig dumpf im Kopf ward. Einmal meinte er, daß eine Hand ihm über den Scheitel streife. War es nur ein Traum? Nein, denn auf dem Klavier stand plötzlich ein volles Bierglas. Die gute Mutter! Schubert, weiche Biederkeit, Gemüt der Heimat ... Es ward still, und er wußte es nicht – bis die Wanduhr schlug: eine Stunde war vergangen! »Das war meine Weihnacht«, sagte Diederich und ging hinaus zu den andern. Er fühlte sich getröstet und gekräftigt. Da die Schwestern noch immer wegen der Handschuhe maulten, erklärte er sie für gemütlos und steckte die Handschuhe ein, um sie für sich umzutauschen.
Die ganze Festzeit ward verdüstert durch die Sorge wegen des Holländers. Sechstausend Mark für einen neuen Patent-Doppel-Holländer System Maier! Das Geld war nicht da und, wie die Dinge lagen, nicht zu beschaffen. Es war ein unbegreifliches Verhängnis, ein schäbiger Widerstand von Menschen und Dingen, der Diederich erbitterte. Wenn sein alter Buchhalter Sötbier nicht dabei war, schlug er mit dem Pultdeckel und schleuderte Briefordner in die Ecken. Für den neuen Herrn, der die Zügel des Betriebes in seine feste Hand genommen hatte, mußten doch ohne weiteres neue Unternehmungen eintreten, die Erfolge warteten auf ihn, die Ereignisse hatten sich seiner Persönlichkeit anzupassen! ... Nach dem Zorn kam der Kleinmut, Diederich traf Vorkehrungen für den Fall einer Katastrophe. Er war sanft mit Sötbier: vielleicht konnte der Alte noch einmal helfen. Auch demütigte er sich vor Pastor Zillich und bat ihn, den Leuten zu sagen, daß er mit der Predigt, von der alle sprachen, nicht auf ihn gezielt habe. Der Pastor versprach es auch, mit sichtlicher Reue, unter dem strafenden Blick seiner Gattin, die sein Versprechen bekräftigte. Dann ließen die Eltern Käthchen mit Diederich allein, und er war ihnen in seiner Niedergeschlagenheit so dankbar, daß er sich fast erklärt hätte. Käthchens Jawort, das auf ihren lieben, dicken Lippen wartete, wäre doch ein Erfolg gewesen, es hätte ihm Bundesgenossen gebracht gegen die feindliche Welt. Aber der unbezahlbare Holländert! Er würde ein Viertel der Mitgift verschlungen haben ... Diederich seufzte, er müsse nun wieder ins Geschäft; und Käthchen kniff die Lippen zusammen, ohne daß das Jawort zur Verwendung gelangt war.
Ein Entschluß mußte gefaßt werden, denn die Ankunft des Holländers stand bevor. Diederich sagte zu Sötbier: »Ich rate den Leuten nur, ihn auf Tag und Stunde zu liefern, sonst geb ich ihn ohne Gnade zurück.« Aber Sötbier erinnerte an das Gewohnheitsrecht, das den Fabriken einige Tage Spielraum lasse. Trotz Diederichs Heftigkeit blieb er dabei. Übrigens traf die Maschine pünktlich ein. Sie war noch nicht ausgepackt, und schon wetterte Diederich. »Er ist zu groß! Die Leute haben mir garantiert, daß er kleiner sein soll als das alte System. Wozu kaufe ich ihn denn, wenn ich nicht mal Raum sparen soll!« Und er ging, sobald der Holländer aufgestellt war, mit dem Metermaß um ihn herum. »Er ist zu groß! Ich laß mich nicht beschwindeln! Bezeugen Sie mir, Sötbier, daß er zu groß ist!« Aber Sötbier klärte mit unbeirrbarer Rechtlichkeit den Fehler in Diederichs Messungen auf. Schnaufend zog Diederich sich zurück, um einen neuen Angriffsplan zu ersinnen. Er rief Napoleon Fischer herbei. »Wo ist denn der Monteur? Haben uns die Leute keinen Monteur mitgeschickt?« Und dann entrüstete er sich. »Ich habe ihn doch bestellt!« log er. »Die Leute scheinen ihr Geschäft zu verstehen. Ich werde mich nicht wundern, wenn ich für den Kerl täglich zwölf Mark bezahlen muß, und er glänzt durch Abwesenheit. Wer stellt mir das Unglücksding da nun auf?«
Der Maschinenmeister behauptete, er verstehe sich darauf. Diederich bewies ihm plötzlich großes Wohlwollen. »Sie können sich denken: Ihnen zahl ich lieber die Überstunden, als daß ich mein Geld für den fremden Menschen hinauswerfe. Schließlich sind Sie ein alter Mitarbeiter.« Napoleon Fischer zog die Brauen hinauf, sagte aber nichts. Diederich berührte seine Schulter. »Sehen Sie mal, lieber Freund«, sagte er halblaut, »ich bin von dem Holländer nämlich enttäuscht. Auf den Bildern im Prospekt sah er anders aus. Die Messerwalze sollte doch viel breiter sein, wo bleibt da die größere Leistungsfähigkeit, die die Leute uns versprochen haben. Was meinen Sie? Halten Sie den Zug für gut? Ich fürchte, der Stoff bleibt liegen.« Napoleon Fischer sah Diederich an, prüfend, aber schon mit Verständnis. Man müsse es ausprobieren, meinte er zögernd. Diederich vermied seinen Blick, er tat, als untersuchte er die Maschine. Dabei sagte er aufmunternd: »Also schön. Sie stellen das Ding auf, ich zahle Ihnen die Überstunden mit fünfundzwanzig Prozent Aufschlag, und dann tragen Sie in Gottes Namen gleich Stoff ein. Wir werden die Bescherung ja sehen.«
»Es wird wohl 'ne nette Bescherung sein«, sagte der Maschinenmeister mit sichtlichem Entgegenkommen. Diederich griff, ehe er es selbst wußte, nach seinem Arm, Napoleon Fischer war ein Freund, ein Retter! »Kommen Sie mal mit, mein Lieber« – seine Stimme war bewegt. Er führte Napoleon Fischer in das Wohnhaus, Frau Heßling mußte ihm ein Glas Wein einschenken, und Diederich drückte ihm, ohne hinzusehen, fünfzig Mark in die Hand. »Ich verlaß mich auf Sie, Fischer«, sagte er. »Wenn ich Sie nicht hätte, würde die Fabrik mich womöglich hineinlegen. Zweitausend Mark hab ich den Leuten schon in den Rachen geworfen.«
»Die müssen sie wieder hergeben«, sagte der Maschinenmeister gefällig. Diederich fragte dringend: »Das meinen Sie doch auch?«
Und schon tags darauf, nach der Mittagspause, die er zu Versuchen mit dem Holländer benutzt hatte, teilte Napoleon Fischer seinem Arbeitgeber mit, daß die neue Erwerbung nichts tauge. Der Stoff blieb liegen, man mußte mit dem Rührscheit nachhelfen, wie bei jedem Holländer ältester Konstruktion. »Also der offenbare Schwindel!« rief Diederich. Auch brauchte der Holländer mehr als zwanzig Pferdestärken. »Das ist vertragswidrig! Müssen wir uns das gefallen lassen, Fischer?«
»Das müssen wir uns nicht gefallen lassen«, entschied der Maschinenmeister und strich mit seiner knotigen Hand über sein schwarzbehaartes Kinn. Diederich sah ihn zum erstenmal fest an: »Dann können Sie mir also bezeugen, daß der Holländer die bei Bestellung vereinbarten Bedingungen nicht erfüllt?«
In Napoleon Fischers schütterem Bart erschien ein dünnes Lächeln. »Kann ich«, sagte er. Diederich sah das Lächeln. Um so strammer machte er kehrt. »Na, dann sollen die Leute mich kennenlernen!« Sogleich schrieb er einen energisch gehaltenen Brief an Büschli & Cie. in Eschweiler. Die Antwort kam umgehend. Man begreife seine Beanstandungen nicht, der neue Patent-Holländer System Maier sei schon von mehreren Papierfabriken, deren Verzeichnis beiliege, aufgestellt und erprobt worden. Von einer Zurücknahme und gar von einer Rückerstattung der angezahlten zweitausend Mark könne daher nicht die Rede sein, vielmehr sei der Rest der vertragsmäßigen Kaufsumme sofort zu erlegen. Diederich schrieb darauf noch entschiedener als das erstemal und drohte mit einer Klage. Büschli & Cie. versuchten nun, ihn zu beschwichtigen, sie empfahlen eine nochmalige Probe. »Sie haben Angst«, sagte Napoleon Fischer, dem Diederich das Schreiben zeigte, und er fletschte die Zähne. »Eine Klage können sie nicht brauchen, denn ihr Holländer ist noch nicht genügend eingeführt.«
»Stimmt«, sagte Diederich. »Wir haben die Kerls in der Hand!« Und mit erbitterter Siegesgewißheit lehnte er jeden Vergleich und die angebotene Preisermäßigung schroff ab. Als dann mehrere Tage lang nichts weiter erfolgte, ward er freilich unruhig. Vielleicht warteten sie nun doch seine Klage ab? Vielleicht strengten sie selbst eine an! Unsicher suchte sein Blick, oftmals am Tage, Napoleon Fischer, der ihn von unten erwiderte. Sie sprachen nicht mehr miteinander. Wie aber Diederich eines Vormittags um elf Uhr beim zweiten Frühstück saß, brachte das Mädchen eine Karte: »Friedrich Kienast, Prokurist der Firma Büschli & Cie., Eschweiler«; und indes Diederich sie noch hin und her wendete, trat der Besucher schon ein. An der Tür blieb er stehen. »Pardon«, sagte er, »es muß ein Irrtum sein. Man hat mich hier ins Haus gewiesen, aber ich komme nämlich geschäftlich.«
Diederich hatte sich besonnen. »Ich kann es mir denken, aber das macht nichts, bitte, treten Sie doch näher. Doktor Heßling mein Name. Hier ist meine Mutter und meine Schwestern Emmi und Magda.«
Der Herr trat näher und verbeugte sich vor den Damen. »Friedrich Kienast«, murmelte, er. Er war groß, blondbärtig und trug einen braunen wolligen Jackettanzug. Alle drei Damen lächelten hingebend. »Darf ich für den Herrn ein Gedeck auflegen?« fragte Frau Heßling. Und Diederich: »Natürlich. Herr Kienast frühstückt doch mit uns?«
»Ich sage nicht nein«, erklärte der Vertreter von Büschli & Cie., und er rieb sich die Hände. Magda legte ihm Bücklinge vor, die er schon lobte, während er den ersten Bissen noch auf der Gabel hatte.
Diederich fragte ihn harmlos lachend: »Nüchtern machen Sie wohl auch nicht gern Geschäfte?« Herr Kienast lachte auch. »Bei den Geschäften bin ich immer nüchtern.« Diederich schmunzelte. »Na, dann werden wir uns wohl einigen.« – »Kommt darauf an, wie« – und Kienasts schelmisch herausfordernde Worte begleitete ein Blick an Magda.
Sie errötete.
Diederich schenkte dem Gast Bier ein. »Sie haben wohl sonst noch was vor in Netzig?« Worauf Kienast zurückhaltend: »Man kann nie wissen.«
Versuchsweise sagte Diederich: »Bei Klüsing in Gausenfeld werden Sie nichts machen, er hat 'ne flaue Zeit.« Und da der andere schwieg, dachte Diederich: ›Sie haben ihn bloß wegen des Holländers hergeschickt, sie können keinen Prozeß brauchen!‹ Da bemerkte er, daß Magda und der Vertreter von Büschli & Cie. gleichzeitig tranken und über die Gläser hinweg einander in die Augen sahen. Emmi und Frau Heßling saßen starr dabei. Diederich beugte sich schnaufend über seinen Teller – plötzlich aber fing er an, das Familienleben zu preisen. »Sie haben Glück, mein lieber Herr Kienast, denn das zweite Frühstück ist ausgerechnet unsere schönste Stunde am Tage. Wenn man so mitten aus der Arbeit hier heraufkommt, dann merkt man doch wieder mal, daß man sozusagen auch Mensch ist. Na, und das braucht man.«
Kienast bestätigte, daß man es brauche. Frau Heßlings Frage, ob er schon verheiratet sei, verneinte er und sah dabei auf Magdas Scheitel, denn sie hatte den Kopf gesenkt.
Diederich stand auf und schlug die Hacken zusammen. »Herr Kienast«, sagte er schnarrend, »ich stehe zu Ihrer Verfügung.«
»Eine Zigarre nimmt Herr Kienast noch«, bat Magda. Kienast ließ sie sich von ihr anzünden und hoffte, die Damen nochmals begrüßen zu können – wobei er Magda verheißungsvoll anlächelte. Aber im Hof änderte auch er vollständig den Ton. »Na ja, das sind auch noch alte, enge Lokalitäten«, bemerkte er kalt und wegwerfend. »Sie sollten mal unsere Anlagen sehen.«
»In einem Nest wie Eschweiler«, erwiderte Diederich, genau so verächtlich, »da ist es kein Kunststück. Reißen Sie mal hier den Häuserblock nieder!« Und dann rief er im schärfsten Befehlston nach dem Maschinenmeister, damit er den neuen Holländer in Betrieb setze. Da Napoleon Fischer nicht sofort kam, stürmte Diederich hin. »Sie sitzen wohl auf Ihren Ohren, Herr?« Aber sobald er ihm gegenüberstand, verstummte sein Geschrei; mit leiser, fliegender Stimme, die Augen angestrengt aufgerissen, sagte er: »Fischer, ich hab es mir überlegt, ich bin mit Ihnen zufrieden, vom Ersten ab erhöhe ich Ihr Gehalt auf hundertachtzig Mark.« Darauf nickte Napoleon Fischer kurz und verständnisvoll, und sie trennten sich. Sogleich begann Diederich wieder zu schreien. Die Leute hatten geraucht! Sie behaupteten, es sei nur seine eigene Zigarre, die er rieche. Zu dem Vertreter von Büschli & Cie. sagte er: »Übrigens bin ich versichert, aber Zucht muß sein. Tadelloser Betrieb, wie?«
»Veraltetes Aggregat«, entgegnete Herr Kienast, mit einem lieblosen Blick auf die Maschinen. Diederich versetzte höhnisch: »Weiß ich, mein Bester. Aber so gut wie Ihr Holländer allemal.« Trotz Kienasts Protest fuhr er fort, die Leistungsfähigkeit der einheimischen Industrie herabzusetzen. Mit seiner neuen Einrichtung warte er bis zu seiner Reise nach England. Er gehe großzügig vor. Seit er selbst an der Spitze des Betriebes stehe, sei das Geschäft mächtig im Aufschwung. »Und es ist immer noch ausdehnungsfähig.« Er erfand. »Jetzt hab ich Verträge mit zwanzig Kreisblättern. Die Berliner Warenhäuser machen mich überhaupt wahnsinnig ...« Kienast unterbrach schneidend: »Dann haben Sie wohl grade alles abgeliefert, denn ich sehe nirgends fertige Ware.«
Diederich empörte sich. »Herr! Soll ich Ihnen was sagen? Erst gestern hab ich an sämtliche kleinen Kunden ein Rundschreiben geschickt: bis zur Vollendung meines Neubaus könne ich nichts mehr liefern.«
Der Maschinenmeister holte die Herren. Der neue Patent-Holländer war halb gefüllt, aber die Stoffbewegung blieb noch sehr schwach, der Arbeiter half mit dem Rührscheit nach. Diederich hielt die Uhr in der Hand. »Na also. Sie behaupten, in Ihrem Holländer braucht der Stoff für einen Umgang zwanzig bis dreißig Sekunden: ich zähle schon fünfzig ... Maschinenmeister, den Stoff ablassen ... Was ist denn los, das dauert ja ewig!«
Kienast hatte sich über die Schale gebeugt. Er richtete sich auf, er lächelte gewitzigt. »Ja, wenn die Ventile verstopft sind ...« Und mit einem scharfen Blick in die Augen Diederichs, die nicht standhielten: »Was sonst noch mit dem Holländer angestellt ist, kann ich in der Eile nicht sehen.« Diederich fuhr empor, plötzlich sehr rot. »Wollen Sie mir vielleicht insinuieren, daß ich mit meinem Maschinenmeister –?«
»Ich habe nichts gesagt«, stellte Kienast fest.
»Das müßte ich mir auch energisch verbitten.« Diederich blitzte. Auf Kienast schien es keinen Eindruck zu machen, er behielt seine kalten Augen und das abgefeimte Grinsen in seinem am Kinn auseinandergebürsteten Bart. Wenn er sich rasiert und den Schnurrbart bis zu den Augenwinkeln hinaufgebunden haben würde, er hätte Ähnlichkeit mit Diederich bekommen! Er war eine Macht! Um so drohender trat Diederich auf. »Mein Maschinenmeister ist Sozialdemokrat: daß er mir einen Gefallen tun soll, ist lachhaft. Übrigens mache ich, als Reserveoffizier, Sie auf die Folgen Ihrer Äußerung aufmerksam!«
Kienast trat in den Hof hinaus. »Lassen Sie das nur, Herr Doktor«, sagte er kühl. »In Geschäften bin ich nüchtern, das hab ich ihnen schon beim Frühstück gesagt. Jetzt brauch ich Ihnen nur noch zu wiederholen, daß wir den Holländer in tadellosem Zustand geliefert haben und an Rücknahme nicht denken.« – Das werde man sehen, erklärte Diederich. Einen Prozeß hielten Büschli & Cie. wohl für besonders wirksam, zur Einführung ihres neuen Artikels? »Ich werde Ihnen in den Fachblättern noch eine besondere Empfehlung mitgeben!« Darauf Kienast: Auf Erpressungsversuche gehe er nicht ein. Und Diederich: Einen satisfaktionsunfähigen Knoten werfe man einfach hinaus. – Da erschien drüben im Haustor Magda.
Sie hatte ihr Pelzjackett von Weihnacht an, und sie lächelte rosig. »Die Herren sind noch immer nicht fertig?« fragte sie schalkhaft. »Das Wetter ist doch so schön, man muß ein bißchen hinaus vor dem Mittagessen. Apropos«, sagte sie geläufig, »Mama läßt fragen, ob Herr Kienast zum Abendessen kommt.« Da Kienast erklärte, er müsse leider danken, lächelte sie dringlicher. »Und mir würden Sie es auch abschlagen?« Kienast lachte bitter. »Ich würde nicht nein sagen, Fräulein. Aber weiß ich denn, ob Ihr Herr Bruder –?« Diederich schnaufte, Magda sah ihn flehend an. »Herr Kienast«, brachte er hervor. »Es wird mich freuen. Vielleicht, daß wir uns auch noch verständigen.« Er hoffe es, sagte Kienast, worauf er sich weltmännisch erbot, das Fräulein ein Stück zu begleiten. »Wenn mein Bruder nichts dagegen hat«, sagte sie züchtig und ironisch. Diederich erlaubte auch dies noch – und dann sah er ihr erstaunt nach, wie sie mit dem Prokuristen von Büschli & Cie. abzog. Was die auf einmal alles konnte!
Wie er zum Mittagessen kam, hörte er drinnen im Wohnzimmer die Schwestern mit scharfen Stimmen sprechen. Emmi warf Magda vor, sie benehme sich schamlos. »So macht man es denn doch nicht.« – »Nein!« rief Magda. »Ich werde dich um Erlaubnis bitten.« – »Das würde gar nichts schaden. Überhaupt bin ich an der Reihe!« – »Hast du sonst noch Sorgen?« – Und Magda schlug ein Hohngelächter an. Da Diederich eintrat, verstummte sie sofort. Diederich rollte unzufrieden die Augen; aber Frau Heßling hätte nicht nötig gehabt, hinter ihren Töchtern die Hände zu ringen: in den Weiberstreit einzugreifen, war unter seiner Würde.
Beim Essen ward von dem Gast gesprochen. Frau Heßling rühmte den soliden Eindruck, den er mache. Emmi erklärte: wenn so ein Kommis nicht einmal solide sein sollte. Mit einer Dame reden könne er überhaupt nicht. Magda behauptete entrüstet das Gegenteil. Und da alle auf Diederichs Entscheidung warteten, entschloß er sich. Komment scheine der Herr freilich nicht viel zu haben. Akademische Bildung sei eben nicht zu ersetzen. »Aber als tüchtigen Geschäftsmann hab ich ihn kennengelernt.« Emmi hielt sich nicht mehr.
»Wenn Magda den Menschen heiraten will, ich erkläre, daß ich nicht mit euch verkehre. Das Kompott hat er mit dem Messer gegessen!«
»Sie lügt!« Magda brach in Schluchzen aus. Diederich empfand Mitleid; er herrschte Emmi an: »Heirate du bitte einen regierenden Herzog, und dann laß uns in Ruh.«
Da legte Emmi Messer und Gabel hin und ging hinaus. Am Abend vor Geschäftsschluß erschien Herr Kienast im Büro. Er trug einen Gehrock, und sein Wesen war eher gesellschaftlich als geschäftlich. Beide hielten, in stillem Einverständnis, das Gespräch hin, bis der alte Sötbier seine Sachen zusammenpackte. Als er sich, mit einem mißtrauischen Blick, zurückgezogen hatte, sagte Diederich: »Den Alten habe ich auf den Aussterbeetat gesetzt. Die wichtigeren Sachen mache ich allein.«
»Na, und haben Sie sich die unsere überlegt?« fragte Kienast.
»Und Sie?« erwiderte Diederich. Kienast zwinkerte vertraulich.
»Meine Vollmacht reicht eigentlich nicht so weit, aber ich nehme es auf meine Kappe. Geben Sie den Holländer in Gottes Namen zurück. Ein Defekt wird sich doch wohl finden.«
Diederich begriff. Er versprach: »Sie werden ihn finden.«
Kienast sagte sachlich: »Für unser Entgegenkommen verpflichten Sie sich, alle Ihre Maschinen vorkommendenfalls nur bei uns zu bestellen. Einen Moment!« bat er, da Diederich auffuhr. »Und außerdem ersetzen Sie unsere Unkosten und meine Reise mit fünfhundert Mark, die wir von Ihrer Anzahlung abziehen.«
»Aber hören Sie mal, das ist Wucher!« Diederichs Gerechtigkeitssinn empörte sich laut. Auch Kienast erhob schon wieder die Stimme: »Herr Doktor! ...« Diederich faßte sich gewaltsam, er legte dem Prokuristen die Hand auf die Schulter. »Gehen wir jetzt nur hinauf, die Damen warten.« – »Wir haben uns soweit ganz gut verstanden«, meinte Kienast besänftigt. »Die kleine Differenz wird sich auch noch aufklären«, verhieß Diederich.
Droben roch es festlich. Frau Heßling glänzte mit ihrem schwarzen Atlaskleid. Durch Magdas Spitzenbluse schimmerte mehr hindurch, als sie sonst im Familienkreis zum besten gab. Nur Emmis Anzug und Miene waren grau und alltäglich. Magda wies dem Gast seinen Platz an und ließ sich zu seiner Rechten nieder; und als man eben erst saß und sich noch räusperte, sagte sie schon, mit fieberhaft belebten Augen: »Jetzt sind die Herren aber mit den dummen Geschäften fertig.« Diederich bestätigte, sie seien glänzend miteinander fertig geworden. Büschli & Cie. seien kulante Leute.
»Bei unserem Riesenbetrieb«, erklärte der Prokurist. »Zwölfhundert Arbeiter und Beamte, eine ganze Stadt mit einem eigenen Hotel für die Kunden.« Er lud Diederich ein. »Kommen Sie nur, bei uns leben Sie vornehm und umsonst.« Und da Magda neben ihm an seinen Lippen hing, rühmte er seine Stellung, seine Machtbefugnisse, die Villa, die er zur Hälfte bewohnte. »Wenn ich mich verheirate, kriege ich auch die andere Hälfte.«
Diederich lachte dröhnend. »Dann wäre es wohl das einfachste, Sie heiraten. Na prost!«
Magda schlug die Augen nieder, und Herr Kienast ging zu etwas anderem über. Ob Diederich auch wisse, warum er ihm so leicht entgegengekommen sei? »Ihnen, Herr Doktor, hab ich nämlich gleich angesehen, daß mit Ihnen später noch große Sachen zu machen sein werden – wenn es hier jetzt auch noch etwas kleine Verhältnisse sind«, setzte er nachsichtig hinzu. Diederich wollte seine Großzügigkeit und die Ausdehnungsfähigkeit seines Unternehmens beteuern, aber Kienast ließ sich seinen Gedankengang nicht abschneiden. Menschenkenntnis sei nämlich seine Spezialität. Einen Geschäftsfreund müsse man vor allem auch in seinem Heim aufsuchen. »Wenn da alles so wohl bestellt ist wie hier –«
Grade ward die duftende Gans aufgetragen, nach der Frau Heßling schon mehrmals heimlich ausgeblickt hatte. Schnell gab sie sich eine Miene, als sei die Gans eine höchst gewöhnliche Erscheinung. Herr Kienast machte trotzdem eine anerkennende Pause. Frau Heßling fragte sich, ob sein Blick wirklich auf der Gans oder, hinter ihrem süßen Qualm, auf Magdas durchbrochener Bluse ruhe. Jetzt riß er sich los und ergriff sein Glas. »Und darum: Auf die Familie Heßling, auf die verehrte mütterliche Hausfrau und ihre blühenden Töchter!« Magda wölbte die Brust, um das Blühen anschaulicher zu machen, und um so flacher sah Emmi aus. Auch stieß Herr Kienast zuerst mit Magda an.
Diederich erwiderte seinen Toast. »Wir sind eine deutsche Familie. Wen wir in unser Haus aufgenommen haben, den nehmen wir auch in unsere Herzen auf.« Er hatte Tränen in den Augen, indes Magda wieder einmal errötete. »Und wenn es auch nur ein bescheidenes Haus ist, die Herzen sind treu.« Er ließ den Gast hochleben, der seinerseits versicherte, er sei immer für Bescheidenheit gewesen, »besonders in Familien, wo junge Mädchen sind«.
Frau Heßling griff ein. »Nicht wahr? Woher soll denn sonst ein junger Mann den Mut nehmen –? Meine Töchter schneidern alles selbst.« Dies war für Herrn Kienast das Stichwort, sich über Magdas Bluse zu beugen behufs eingehender Würdigung.
Zum Nachtisch schälte sie ihm eine Apfelsine und nippte ihm zu Ehren vom Tokaier. Wie man dann ins Wohnzimmer ging, blieb Diederich, die Arme um seine beiden Schwestern geschlungen, in der Tür stehen. »Ja, ja, Herr Kienast«, sagte er mit tiefer Stimme. »Das ist der Familienfriede, den sehen Sie sich nur an, Herr Kienast!« Magda schmiegte sich, ganz Hingebung, an seine Schulter. Da Emmi von ihm fortstrebte, bekam sie rückwärts einen Stoß. »So geht es immer bei uns zu«, fuhr Diederich fort. »Ich arbeite den ganzen Tag für die Meinen, und der Abend vereint uns dann hier beim Lampenschimmer. Um die Leute da draußen und den Klüngel unserer sogenannten Gesellschaft bekümmern wir uns so wenig wie möglich, wir haben an uns selbst genug.«
Hier gelang es Emmi, sich loszumachen; man hörte sie draußen eine Tür zuschlagen. Ein um so zärtlicheres Bild boten Diederich und Magda, wie sie sich am mild beglänzten Tisch niederließen. Herr Kienast sah nachdenklich den Punsch kommen, den Frau Heßling in mächtiger Bowle still lächelnd hereintrug. Indes Magda dem Gast das Glas füllte, setzte Diederich auseinander, daß er dank dieser Beschränkung auf die stille Häuslichkeit imstande sein werde, seine Schwestern einmal gut zu verheiraten. »Denn der Aufschwung des Geschäftes kommt den Mädchen zugut, die Fabrik gehört ihnen mit, ganz abgesehen von der baren Mitgift; na, und wenn dann einer meiner künftigen Schwäger auch noch sein Kapital in den Betrieb stecken will -«
Aber Magda, die Herrn Kienasts Miene besorgt werden sah, lenkte ab. Sie fragte ihn nach seiner eigenen Familie und ob er denn ganz allein sei. Da bekam er gerührte Augen und rückte näher. Diederich saß dabei, trank und drehte die Daumen. Mehrmals versuchte er noch teilzunehmen an dem Gespräch der beiden, die sich ganz allein zu fühlen schienen. »Na, dann haben Sie also glücklich Ihren Einjährigen gemacht«, sagte er gönnerhaft und wunderte sich dabei über die Zeichen, die Frau Heßling hinter dem Rücken der andern ihm gab. Erst als sie sich aus der Tür schlich, begriff er, nahm sein Punschglas und ging in das dunkle Nebenzimmer zum Klavier. Er tastete ein wenig darauf umher, geriet unversehens in die Burschenlieder und sang dröhnend mit: »Sie wissen den Teufel, was Freiheit heißt.« Als er fertig war, horchte er hinüber; es war drinnen aber so still, als sei man eingeschlafen; und obwohl er sich gern wieder etwas aus der Bowle geschöpft hätte, stimmte er doch aus Pflichtgefühl von neuem an: »Im tiefen Keller sitz ich hier.«
Da, mitten im Vers, fiel ein Stuhl um, und ein lauter Schall folgte, dessen Herkunft nicht zu verkennen war. Mit einem Sprung war Diederich im Wohnzimmer. »Nanu«, sagte er, kräftig und bieder, »Sie scheinen ja ernste Absichten zu haben.« Das Paar löste sich voneinander. »Ich sage nicht nein«, erklärte Herr Kienast. Diederich war plötzlich heftig bewegt. Aug in Auge schüttelte er Kienast die Hand, und mit der andern zog er Magda herbei. »Das ist aber eine Überraschung! Herr Kienast, machen Sie mein Schwesterchen glücklich. An mir sollt ihr allzeit einen guten Bruder haben, so wie ich es bisher gewesen bin, das darf ich wohl sagen.«
Und die Augen wischend, rief er hinaus: »Mutter! Es ist was passiert.« Frau Heßling stand gleich hinter der Tür, nur konnte sie, vor übergroßer Bewegung, nicht sofort ihre Beine gebrauchen. Auf Diederich gestützt, wankte sie herein, fiel Herrn Kienast um den Hals und löste sich dort in Tränen auf. Diederich klopfte inzwischen an Emmis Zimmer, das verschlossen war. »Emmi, komm heraus, es ist was los!« Sie riß endlich die Tür auf, zornrot im Gesicht. »Wozu störst du mich im Schlaf. Ich kann mir schon denken, was los ist. Macht eure Unanständigkeiten allein!« Und sie würde wieder zugeschlagen haben, hätte nicht Diederich den Fuß in den Spalt gesetzt. Streng bedeutete er ihr, für ihr gemütloses Verhalten verdiene sie, daß sie selbst nie mehr einen Mann bekomme. Er erlaubte ihr nicht einmal, sich anzuziehen, sondern zerrte sie mit, wie sie war, in ihrer Matinee, mit aufgelösten Haaren. Im Flur entwand sie sich ihm. »Du machst uns lächerlich«, zischte sie – und noch vor ihm erschien sie bei den Verlobten, den Kopf sehr hoch, mit spöttisch musterndem Blick. »Mußte das so spät in der Nacht sein?« fragte sie. »Nun, dem Glücklichen schlägt keine Stunde.« Kienast sah sie an: sie war größer als Magda, ihr Gesicht, das jetzt Farbe hatte, sah voller aus in dem offenen Haar, das lang und stark war. Kienast behielt ihre Hand länger als nötig; sie entzog sie ihm, da wandte er sich von ihr zu Magda, mit sichtlichem Zweifel. Emmi ließ auf ihre Schwester ein Lächeln des Triumphes fallen, machte kehrt und verschwand, hoch aufgerichtet – indes Magda angstvoll nach Kienasts Arm griff. Aber Diederich kam, in der Hand ein gefülltes Punschglas, und verlangte, mit seinem neuen Schwager Bruderschaft zu trinken.
Am Morgen holte er ihn aus dem Hotel zum Frühschoppen ab. »Bis Mittag bezähme gefälligst deine Sehnsucht nach dem Weiblichen. Jetzt müssen wir mal ein Wort unter Männern reden.« In Klappschs Bierstube setzte er ihm die Lage auseinander: Fünfunddreißigtausend bar am Tage der Hochzeit – die Belege waren jeden Augenblick zu sehen – und, gemeinsam mit Emmi, ein Viertel der Fabrik. – »Also nur ein Achtel«, stellte Kienast fest; worauf Diederich: »Soll ich mich vielleicht umsonst für euch abrackern?« Ein unzufriedenes Schweigen entstand.
Diederich stellte die Stimmung wieder her. »Prost Friedrich!« – »Prost Diederich!« sagte Kienast. Dann schien Diederich etwas einzufallen. »Du hast es ja in der Hand, deinen Anteil am Geschäft zu erhöhen, wenn du Geld einlegst. Wie sieht es denn mit deinen Ersparnissen aus? Bei deinem großartigen Gehalt!« Kienast erklärte, im Prinzip sage er nicht nein. Aber noch laufe sein Vertrag mit Büschli & Cie. Auch habe er in diesem Jahr eine beträchtliche Gehaltserhöhung zu erwarten, da wäre es ein Verbrechen gegen sich selbst, jetzt zu kündigen. »Und wenn ich euch mein Geld gebe, muß ich selbst ins Geschäft eintreten. Bei allem Vertrauen, das ich dir entgegenbringe, lieber Diederich –«
Diederich sah es ein. Kienast schlug seinerseits etwas vor. »Wenn du einfach die Mitgift auf fünfzigtausend festsetztest! Magda würde dann auf ihren Anteil am Geschäft verzichten.« Dies stieß wieder auf Diederichs unbedingten Widerspruch. »Es wäre gegen den letzten Willen meines seligen Vaters, der ist mir heilig. Und so großzügig, wie ich arbeite, kann in einigen Jahren Magdas Anteil das Zehnfache betragen von dem, was du jetzt verlangst. Nie werde ich mich dazu hergeben, meine arme Schwester so zu schädigen.« Hierauf feixte der Schwager ein wenig. Diederichs Familiensinn ehre ihn, aber mit Großzügigkeit allein sei es nicht getan. Und Diederich, merklich gereizt: er sei gottlob für seine Geschäftsführung außer Gott nur sich selbst verantwortlich. »Fünfunddreißigtausend bar und ein Achtel des Reingewinnes, mehr ist nicht zu holen.« Kienast trommelte auf den Tisch. »Ich weiß noch nicht, ob ich deine Schwester dafür übernehmen kann«, erklärte er. »Mein letztes Wort behalte ich mir noch vor.« Diederich zuckte die Achseln, und sie tranken ihr Bier aus. Kienast kam mit zum Essen; Diederich hatte schon gefürchtet, er werde sich drücken. Glücklicherweise war Magda noch verführerischer hergerichtet als gestern – ›wie wenn sie gewußt hätte, es geht ums Ganze‹, dachte Diederich, der sie bewunderte. Bei der Mehlspeise hatte sie Kienast wieder so sehr erwärmt, daß er die Hochzeit in vier Wochen wünschte. »Dein letztes Wort?« fragte Diederich neckisch. Als Antwort zog Kienast die Ringe aus der Tasche.
Nach Tisch ging Frau Heßling auf den Fußspitzen aus dem Zimmer, wo die Verlobten saßen, und auch Diederich wollte sich zurückziehen, aber sie holten ihn zum Spazierengehen. »Wohin geht es denn, und wo sind Mutter und Emmi?« Emmi hatte sich geweigert, mitzukommen, und darum blieb auch Frau Heßling zu Hause. »Weil es sonst schlecht aussehen würde, weißt du«, sagte Magda. Diederich stimmte ihrer Einsicht zu. Er wischte ihr sogar den Staub fort, der beim Eintritt in die Fabrik an ihrem Pelzjackett hängengeblieben war. Er behandelte Magda mit Achtung, denn sie hatte Erfolg gehabt.
Man ging gegen das Rathaus zu. Es schadete nichts, nicht wahr, wenn die Leute einen sahen. Der erste freilich, dem man gleich in der Meisestraße begegnete, war nur Napoleon Fischer. Er fletschte die Zähne vor dem Brautpaar und nickte Diederich zu, mit einem Blick, der sagte, er wisse Bescheid. Diederich war dunkelrot; er würde den Menschen angehalten und ihm auf offener Straße einen Krach gemacht haben: aber konnte er? ›Es war ein schwerer Fehler, daß ich mich mit dem hinterhältigen Proleten auf Vertraulichkeiten eingelassen habe! Es wäre auch ohne ihn gegangen! Jetzt schleicht er um das Haus, damit ich daran denke, daß er mich in der Hand hat. Ich werde noch Erpressungen erleben.‹ Aber zwischen ihm und dem Maschinenmeister war gottlob alles unter vier Augen vor sich gegangen. Was Napoleon Fischer über ihn behaupten konnte, war Verleumdung. Diederich ließ ihn dann einfach einsperren. Dennoch haßte er ihn für seine Mitwisserschaft, daß ihm bei zwanzig Grad Kälte heiß und feucht ward. Er sah sich um. Fiel denn kein Ziegelstein auf Napoleon Fischer?
In der Gerichtsstraße fand Magda, daß der Gang sich lohne, denn bei Landgerichtsrat Harnisch standen hinter einer Scheibe Meta Harnisch und Inge Tietz, und Magda wußte bestimmt, daß sie bei Kienasts Anblick sehr beunruhigte Gesichter gemacht hatten. Auf der Kaiser-Wilhelm-Straße war heute leider wenig los; höchstens, daß Major Kunze und Doktor Heuteufel, die in die »Harmonie« gingen, von ferne neugierige Gesichter machten. An der Ecke der Schweinichenstraße aber trat etwas ein, das Diederich nicht vorausgesehen hatte: gleich vor ihnen ging Frau Daimchen mit Guste. Magda beschleunigte sofort den Schritt und plauderte lebhafter. Richtig drehte Guste sich um, und Magda konnte sagen: »Frau Oberinspektor, hier stelle ich Ihnen meinen Bräutigam, Herrn Kienast, vor.« Der Bräutigam ward gemustert und schien zu entsprechen, denn Guste, mit der Diederich zwei Schritte zurückblieb, fragte nicht ohne Achtung: »Wo haben Sie ihn denn hergenommen?« Diederich scherzte: »Ja, so nah wie Sie findet nicht jede den ihren. Aber dafür solider.« – »Fangen Sie schon wieder an?« rief Guste, aber ohne Feindlichkeit. Sie streifte sogar Diederichs Blick und seufzte dabei leicht. »Meiner ist ja immer Gott weiß wo. Man kommt sich vor wie die reine Witwe.« Gedankenvoll sah sie Magda nach, die an Kienasts Arm hing. Diederich gab zu bedenken: »Wer tot ist, kann es auch bleiben. Es gibt noch genug Lebendige.« Dabei drängte er Guste bis an die Häuserwand und sah ihr werbend ins Gesicht; und wirklich, ihr liebes, dickes Gesicht ward einen Augenblick lang gewährend.
Leider war Schweinichenstraße 77 schon erreicht, und man nahm Abschied. Da hinter dem Sachsentor alles aus war, kehrten die Geschwister mit Herrn Kienast wieder um. Magda, die auf dem Arm ihres Verlobten ruhte, sagte ermunternd zu Diederich: »Nun, was meinst du?« – worauf er rot ward und schnaufte. »Was ist da zu meinen«, brachte er hervor, und Magda lachte.
In der leeren, stark dämmernden Straße kam ihnen jemand entgegen. »Ist das nicht –?« fragte Diederich, ohne Überzeugung. Aber die Figur näherte sich: dick, offenbar noch jung, mit einem großen, weichen Hut, sonst elegant, und die Füße setzte er einwärts. »Wahrhaftig, Wolfgang Buck!« Er dachte enttäuscht: ›Und Guste stellt sich, als wäre er am Ende der Welt. Das Lügen muß ich ihr austreiben!‹
»Da sind Sie ja« – der junge Buck schüttelte Diederich die Hand. »Das freut mich.« – »Mich auch«, erwiderte Diederich, trotz der Enttäuschung mit Guste, und er machte seinen Schwager mit seinem Schulfreund bekannt. Buck stattete seine Glückwünsche ab, dann trat er mit Diederich hinter die beiden andern. »Sie wollten gewiß zu Ihrer Braut?« bemerkte Diederich. »Sie ist zu Hause, wir haben sie hinbegleitet.« – »So?« machte Buck und zuckte die Achseln. »Nun, ich finde sie immer noch«, sagte er phlegmatisch. »Vorläufig bin ich froh, daß ich Ihnen mal wieder begegnet bin. Unser Gespräch in Berlin, unser einziges, nicht wahr – es war so anregend.«
Auch Diederich fand dies jetzt – obwohl es ihn damals nur geärgert hatte. Er war ganz belebt durch das Wiedersehen. »Ja, meinen Gegenbesuch bin ich Ihnen schuldig geblieben. Sie wissen wohl, wieviel einem in Berlin immer dazwischenkommt. Hier freilich hat man Zeit. Öde, wie? Zu denken, daß man hier sein Leben verbringen soll« – und Diederich zeigte die kahle Häuserreihe hinauf. Wolfgang Buck schnupperte mit seiner weich gebogenen Nase in die Luft, auf seinen fleischigen Lippen schien er sie zu kosten, und er machte tiefsinnende Augen. »Ein Leben in Netzig«, sagte er ganz langsam. »Nun ja, es kommt darauf hinaus. Unsereiner ist nicht in der Lage, bloß für seine Sensationen zu leben. Übrigens gibt es auch hier welche.« Er lächelte verdächtig. »Der Wachtposten hat bis sehr hoch hinauf Sensation gemacht.«
»Ach so –« Diederich streckte den Bauch vor. »Sie wollen schon wieder nörgeln. Ich stelle fest, daß ich in der Sache durchaus auf seiten Seiner Majestät stehe.«
Buck winkte ab. »Lassen Sie nur. Ich kenne ihn.«
»Ich noch besser«, behauptete Diederich. »Wer ihm, wie ich, ganz allein und Aug in Auge gegenübergestanden hat, im Tiergarten vorigen Februar, nach dem großen Krawall, und dies Auge blitzen gesehen hat, dies Fritzenauge, sag ich Ihnen: der vertraut auf unsere Zukunft.«
»Auf unsere Zukunft – weil ein Auge geblitzt hat.« Bucks Mund und Wangen sanken schwer melancholisch herab. Diederich stieß Luft durch die Nase. »Ich weiß schon, Sie glauben in unserer Zeit an keine Persönlichkeit. Sonst wären Sie ja Lassalle oder Bismarck geworden.«
»Schließlich könnte ich es mir leisten. Gewiß. Geradeso gut wie – er. Wenn auch weniger begünstigt von den äußeren Umständen.«
Sein Ton ward lebhafter und überzeugter. »Worauf es für jeden persönlich ankommt, ist nicht, daß wir in der Welt wirklich viel verändern, sondern daß wir uns ein Lebensgefühl schaffen, als täten wir es. Dazu ist nur Talent nötig, und das hat er.«
Diederich war beunruhigt, er sah sich um. »Wir sind hier zwar unter uns, die Herrschaften dort vor uns haben Wichtigeres zu besprechen, aber ich weiß doch nicht –«
»Daß Sie immer glauben, ich habe was gegen ihn. Er ist mir wahrhaftig nicht unsympathischer, als ich mir selbst bin. Ich hätte an seiner Stelle den Gefreiten Lück und unseren Netziger Wachtposten genau so ernst genommen. Wäre das noch eine Macht, die nicht bedroht wäre? Erst wenn es einen Umsturz gibt, fühlt man sich. Was würde aus ihm, wenn er sich sagen müßte, daß die Sozialdemokratie gar nicht ihn meint, sondern höchstens eine etwas praktischere Verteilung dessen, was verdient wird.«
»Nicht wahr? Das würde Sie empören. Und ihn auch. Neben den Ereignissen hergehen, die Entwicklung nicht beherrschen, sondern in ihr mit einbegriffen sein: ist das zu ertragen? ... Im Innern unbeschränkt! – und dabei außerstande, auch nur Haß zu erregen anders als durch Worte und Gesten. Denn woran halten sich die Nörgler? Was ist Ernstliches geschehen? Auch der Fall Lück ist nur wieder eine Geste. Sinkt die Hand, ist alles wie zuvor: aber Darsteller und Publikum haben eine Sensation gehabt. Und nur darauf, mein lieber Heßling, kommt es uns allen heute an. Er selbst, den wir meinen, wäre am erstauntesten, glauben Sie es mir, wenn der Krieg, den er immerfort an die Wand malt, oder die Revolution, die er sich hundertmal vorgespielt hat, einmal wirklich ausbräche.«
»Darauf werden Sie nicht lange zu warten brauchen!« rief Diederich. »Und dann sollen Sie sehen, daß alle national Gesinnten treu und fest zu ihrem Kaiser stehen!«
»Gewiß.« Buck zuckte immer häufiger die Achseln. »Das ist die übliche Wendung, wie er selbst sie vorgeschrieben hat. Worte laßt ihr euch von ihm vorschreiben, und die Gesinnung war nie so gut geregelt, wie sie es jetzt wird. Aber Taten? Unsere Zeit, bester Zeitgenosse, ist nicht tatbereit. Um seine Erlebensfähigkeit zu üben, muß man vor allem leben, und die Tat ist so lebensgefährlich.«
Diederich richtete sich auf. »Wollen Sie den Vorwurf der Feigheit vielleicht in Verbindung bringen mit –?«
»Ich habe kein moralisches Urteil ausgesprochen. Ich habe eine Tatsache der inneren Zeitgeschichte erwähnt, die uns alle angeht. Übrigens sind wir zu entschuldigen. Für den auf der Bühne Agierenden ist alle Aktion erledigt, denn er hat sie durchgefühlt. Was will die Wirklichkeit noch von ihm? Sie wissen wohl nicht, wen die Geschichte als den repräsentativen Typus dieser Zeit nennen wird?«
»Den Kaiser!« sagte Diederich.
»Nein«, sagte Buck. »Den Schauspieler.«
Da schlug Diederich ein Gelächter an, daß dort vorn das Brautpaar auseinanderfuhr und sich umwandte. Aber man war auf dem Theaterplatz, es wehte eisig hinüber; sie gingen weiter.
»Na ja«, brachte Diederich hervor, »ich hätte mir gleich sagen können, wie Sie auf das verrückte Zeug gekommen sind. Sie haben doch mit dem Theater zu tun.« Er klopfte Buck auf die Schulter. »Sind Sie am Ende schon selbst dabei?«
Buck bekam unruhige Augen; der Hand, die ihn klopfte, entzog er sich mit einer Wendung, die Diederich unkameradschaftlich fand. »Ich? Ach nein«, sagte Buck; und nachdem beide bis zur Gerichtsstraße unzufrieden geschwiegen hatten: »Ach so. Sie wissen noch nicht, warum ich in Netzig bin.«
»Wahrscheinlich Ihrer Braut wegen.«
»Das wohl auch. Vor allem aber habe ich die Verteidigung meines Schwagers Lauer übernommen.«
»Sie sind –? Im Prozeß Lauer –?« Es nahm Diederich den Atem, er blieb stehen.
»Nun ja«, sagte Buck und zuckte die Achseln. »Wundert Sie das? Seit kurzem bin ich beim Landgericht Netzig als Rechtsanwalt zugelassen. Hat mein Vater Ihnen nicht davon gesprochen?«
»Ich sehe Ihren Herrn Vater nur selten ... Ich gehe wenig aus. Meine Berufspflichten ... Diese Verlobung ...« Diederich verlor sich in Gestammel. »Dann müssen Sie ja schon oft – Wohnen Sie vielleicht schon ganz hier?«
»Nur vorläufig – glaube ich.«
Diederich raffte sich zusammen. »Ich muß sagen: ich habe Sie schon öfter nicht ganz verstanden – aber so wenig doch noch nie wie jetzt, wo Sie mit mir durch halb Netzig gehen.«
Buck blinzelte ihn an. »Obwohl ich in der Verhandlung morgen Verteidiger bin und Sie der Hauptbelastungszeuge? Das ist doch nur Zufall. Die Rollen könnten auch umgekehrt verteilt sein.«
»Bitte sehr!« Diederich entrüstete sich. »Jeder steht auf seinem Platz. Wenn Sie vor Ihrem Beruf keine Achtung haben –«
»Achtung? Was heißt das? Ich freue mich auf die Verteidigung, das leugne ich nicht. Ich werde loslegen, man soll etwas erleben. Ihnen, Herr Doktor, werde ich unangenehme Dinge zu sagen haben; Sie werden mir hoffentlich nichts übelnehmen, es gehört zu meiner Wirkung.«
Diederich bekam Furcht. »Erlauben Sie, Herr Rechtsanwalt, kennen Sie denn meine Aussage? Sie ist für Lauer durchaus nicht ungünstig.«
»Das lassen Sie meine Sorge sein.« Bucks Miene ward beängstigend ironisch.
Und damit war man in der Meisestraße. ›Der Prozeß!‹ dachte Diederich schnaufend. In den Aufregungen der letzten Tage hatte er ihn vergessen, jetzt war es, als sollte man sich von heute auf morgen beide Beine abschneiden lassen. Guste, die falsche Kanaille, hatte ihm also absichtlich nichts gesagt von ihrem Verlobten; im letzten Augenblick sollte er den Schrecken bekommen! ... Diederich verabschiedete sich von Buck, bevor sie beim Haus waren. Daß nur Kienast nichts merkte! Buck schlug vor, noch irgendwohin zu gehen. »Es zieht Sie wohl nicht besonders zu Ihrer Braut?« fragte Diederich. – »Augenblicklich hab ich mehr Lust auf einen Kognak.« – Diederich lachte höhnisch. »Darauf scheinen Sie immer Lust zu haben.« Damit nur Kienast nichts erfahre, kehrte er nochmals mit Buck um. »Sehen Sie«, begann Buck unvermutet, »meine Braut: die gehört auch zu meinen Fragen an das Schicksal.« Und da Diederich »Wieso?« fragte: »Wenn ich nämlich wirklich ein Netziger Rechtsanwalt bin, dann ist Guste Daimchen bei mir vollkommen an ihrem Platz. Aber weiß ich das? Für – andere Fälle, die in meiner Existenz eintreten könnten, habe ich nun drüben in Berlin noch eine zweite Verbindung ...«
»Ich habe gehört: eine Schauspielerin.« Diederich errötete für Buck, der das so zynisch eingestand. »Das heißt«, stammelte er, »ich will nichts gesagt haben.«
»Also Sie wissen«, schloß Buck. »Jetzt ist die Sache die, daß ich vorläufig dort hänge und mich um Guste nicht so viel bekümmern kann, wie ich müßte. Möchten Sie sich da nicht des guten Mädchens ein wenig annehmen?« fragte er harmlos und gelassen.
»Ich soll –«
»Sozusagen den Kochtopf hier und da ein bißchen umrühren, worin ich Wurst und Kohl am Feuer zu stehen habe – indes ich selbst noch draußen beschäftigt bin. Wir haben doch Sympathie füreinander.«
»Danke«, sagte Diederich kühl. »So weit reicht meine Sympathie allerdings nicht. Beauftragen Sie sonst jemand. Ich denke denn doch etwas ernster über das Leben.« Und er ließ Buck stehen.
Außer der Unmoral des Menschen empörte ihn seine würdelose Vertraulichkeit, nachdem sie noch soeben in Anschauung und Praxis sich wieder einmal als Gegner erwiesen hatten. Unleidlich, so einer, aus dem man nicht klug ward! ›Was hat er morgen gegen mich vor?‹
Daheim machte er sich Luft. »Ein Mensch wie eine Qualle! Und von einem geistigen Dünkel! Gott behüte unser Haus vor solcher alles zerfressenden Überzeugungslosigkeit; sie ist in einer Familie das sichere Zeichen des Niedergangs!« Er vergewisserte sich, daß Kienast wirklich noch am Abend reisen mußte. »Etwas Aufregendes wird Magda dir nicht zu schreiben haben«, sagte er unvermittelt und lachte. »Meinetwegen mag in der Stadt Mord und Brand sein, ich bleibe in meinem Kontor und bei meiner Familie.«
Kaum aber war Kienast fort, stellte er sich vor Frau Heßling hin. »Nun? Wo ist die Vorladung, die für mich gekommen ist auf morgen zu Gericht?« Sie mußte zugeben, daß sie den bedrohlichen Brief unterschlagen habe. »Er sollte dir die Feststimmung nicht verderben, mein lieber Sohn.« Aber Diederich ließ keine Beschönigung gelten. »Ach was: lieber Sohn. Aus Liebe zu mir wird wohl das Essen immer schlechter, außer wenn fremde Leute da sind; und das Haushaltungsgeld geht für euren Firlefanz drauf. Meint ihr, ich fall euch auf den Schwindel rein, daß Magda ihre Spitzenbluse selbst gemacht haben soll? Das könnt ihr dem Esel erzählen?« Magda erhob Einspruch gegen die Beleidigung ihres Verlobten, aber es half ihr nicht. »Schweig lieber still! Dein Pelzjackett ist auch halb gestohlen. Ihr steckt mit dem Dienstmädchen zusammen. Wenn ich sie nach Rotwein schicke, bringt sie billigeren, und den Rest behaltet ihr ...«
Die drei Frauen entsetzten sich, worauf Diederich noch lauter schrie. Emmi behauptete, er sei bloß darum so wild, weil er sich morgen vor der ganzen Stadt blamieren solle. Da konnte Diederich nur noch einen Teller auf den Boden schleudern. Magda stand auf, ging zur Tür und rief zurück: »Ich brauche dich gottlob nicht mehr!« Sofort war Diederich hinterdrein. »Gib bitte acht, was du redest! Wenn du endlich einen Mann kriegst, verdankst du es allein mir und den Opfern, die ich bringe. Dein Bräutigam hat um deine Mitgift geschachert, daß es schon nicht mehr schön war. Du bist überhaupt bloß Zugabe!«
Hier fühlte er eine heftige Ohrfeige, und bevor er zu Atem kam, war Magda in ihrem Zimmer und hatte abgesperrt. Diederich rieb sich, jäh verstummt, die Wange. Dann entrüstete er sich wohl noch; aber eine Art von Genugtuung überwog. Die Krisis war vorüber.
In der Nacht hatte er sich fest vorgenommen, mit einiger Verspätung bei Gericht einzutreffen und durch sein ganzes Auftreten zu zeigen, wie wenig die Geschichte ihn angehe. Aber es hielt ihn nicht; als er das Verhandlungszimmer, das ihm bezeichnet war, betrat, war man dort noch bei einer ganz andern Sache. Jadassohn, der in seiner schwarzen Robe einen ungemein drohenden Anblick bot, war eben damit beschäftigt, für einen kaum erwachsenen Menschen aus dem Volk zwei Jahre Arbeitshaus zu verlangen. Das Gericht gewährte ihm freilich nur eins, aber der jugendliche Verurteilte brach in ein solches Geheul aus, daß es Diederich, angstvoll, wie er selbst gestimmt war, vor Mitleid übel ward. Er begab sich hinaus und betrat eine Toilette, obwohl an der Tür stand: »Nur für den Herrn Vorsitzenden!« Gleich nach ihm erschien auch Jadassohn. Wie er Diederich sah, wollte er sich wieder zurückziehen, aber Diederich fragte sofort, was das denn sei, ein Arbeitshaus, und was so ein Zuhälter dort tue. Jadassohn erklärte: »Wenn wir uns darum auch noch kümmern müßten!« und war schon draußen. Diederichs Inneres zog sich noch mehr zusammen unter dem Gefühl eines schaudererregenden Abgrundes, wie er sich auftat zwischen Jadassohn, der hier die Macht vertrat, und ihm selbst, der sich zu nahe ihrem Räderwerk gewagt hatte. Es war aus frommer Absicht geschehen, in übergroßer Verehrung der Macht: gleichviel, jetzt hieß es sich besonnen verhalten, damit sie einen nicht ergriff und zermalmte; sich ducken und ganz klein machen, bis man ihr vielleicht doch noch entrann. Wer erst wieder dem Privatleben gehörte! Diederich versprach sich, fortan ganz seinem geringen, aber wohlverstandenen Vorteil zu leben.
Draußen im Korridor standen jetzt Leute: ein minder gutes Publikum und auch das beste. Die fünf Töchter Buck, herausgeputzt, als sei der Prozeß ihres Schwagers Lauer die größte Ehre für die Familie, schnatterten in einer Gruppe mit Käthchen Zillich, ihrer Mutter und der Frau Bürgermeister Scheffelweis. Die Schwiegermutter dagegen ließ den Bürgermeister nicht los, und aus den Blicken, die sie nach dem Bruder des Herrn Buck und seinen Freunden Cohn und Heuteufel schleuderte, war zu ersehen, daß sie ihn gegen die Sache der Bucks einnahm. Der Major Kunze, in Uniform, stand mit finsterer Miene dabei und enthielt sich jeder Äußerung. Gerade erschien auch Pastor Zillich mit Professor Kühnchen; aber beim Anblick der zahlreichen Gesellschaft blieben sie hinter einem Pfeiler. Der Redakteur Nothgroschen seinerseits ging grau und unbeachtet von den einen zu den andern. Vergebens suchte Diederich jemand, an den er sich hätte halten können. Jetzt bereute er, daß er es den Seinen verboten hatte, herzukommen. Er blieb im Dunkeln, hinter der Biegung des Korridors, und streckte nur vorsichtig den Kopf heraus. Plötzlich zog er ihn zurück: Guste Daimchen mit ihrer Mutter! Sie ward sofort von den Töchtern Buck umringt, als eine kostbare Verstärkung ihrer Partei. Gleichzeitig ging dahinten eine Tür, und Wolfgang Buck trat auf, in Barett und Robe, und darunter Lackschuhe, die er sehr einwärts setzte. Er lächelte festlich, wie bei einem Empfang, gab allen die Hand, und seiner Braut küßte er sie. Es werde sehr schön werden, verhieß er; der Staatsanwalt sei gut disponiert, er selbst auch. Dann begab er sich zu den von ihm geladenen Zeugen, um mit ihnen zu flüstern. In diesem Augenblick verstummte man, denn in der Mündung der Treppe erschien der Angeklagte, Herr Lauer, und neben ihm seine Frau. Die Bürgermeisterin fiel ihr um den Hals: Wie sie tapfer sei! »Was ist dabei?« erwiderte sie, mit tiefer, klangreicher Stimme. »Wir haben uns nichts vorzuwerfen, wie, Karl?« Lauer sagte: »Gewiß nicht, Judith.« Gerade jetzt aber ging der Landgerichtsrat Fritzsche vorbei. Ein Schweigen entstand; wie er und die Tochter des alten Buck sich begrüßten, blinzelte man einander zu, und die Schwiegermutter des Bürgermeisters machte eine Bemerkung, halblaut, aber sie war ihr von den Augen zu lesen.
Diederich auf seinem schattigen Posten war von Wolfgang Buck entdeckt worden. Buck zog ihn hervor und führte ihn zu seiner Schwester. »Liebe Judith, ich weiß nicht, ob du schon unseren werten Feind kennst, den Herrn Doktor Heßling. Heute wird er uns vernichten.« Aber Frau Lauer lachte nicht, sie erwiderte auch Diederichs Gruß nicht, sie sah ihn nur an mit rücksichtsloser Neugier. Es war schwer, diesen dunklen Blick auszuhalten, und ward noch schwerer, weil sie so schön war. Diederich fühlte, wie das Blut ihm ins Gesicht trat, seine Augen irrten ab, er stammelte: »Der Herr Rechtsanwalt scherzt wohl. In der Sache muß ein Irrtum vorliegen ...« Da zogen in dem weißen Gesicht die Brauen sich zusammen, die Mundwinkel sanken ausdrucksvoll herab, und Judith Lauer wandte Diederich den Rücken.
Ein Gerichtsdiener zeigte sich; Wolfgang Buck ging, seinen Schwager Lauer zur Seite, in das Verhandlungszimmer; und da die Tür nicht eben freigebig geöffnet ward, stießen alle einander in Hast hindurch, das minder gute Publikum ward von dem besten überwältigt. Die Unterröcke der fünf Schwestern Buck rauschten heftig bei dem Kampf. Diederich gelangte als letzter hinein und mußte sich auf der Zeugenbank neben den Major Kunze setzen, der sofort ein Stück wegrückte. Landgerichtsdirektor Sprezius, anzusehen wie ein alter wurmiger Geier, erklärte von dort oben die Sitzung für eröffnet und rief die Zeugen auf, um ihnen den Ernst des Eides in Erinnerung zu bringen wobei Diederich sofort ein Gesicht bekam wie ehemals in der Religionsstunde. Landgerichtsrat Harnisch ordnete Akten und sah sich im Publikum nach seiner Tochter um. Mehr beachtet ward der alte Landgerichtsrat Kühlemann, der das Krankenzimmer verlassen und seinen Platz zur Linken des Vorsitzenden eingenommen hatte. Man fand ihn schlecht aussehen, die Schwiegermutter des Bürgermeisters wollte wissen, er werde sein Reichstagsmandat niederlegen – und wohin ging das viele Geld, wenn er starb? Bei den Zeugen drückte Pastor Zillich die Hoffnung aus, der Alte werde seine Millionen für einen Kirchenbau bestimmen; aber Professor Kühnchen bezweifelte es, mit durchdringender Flüsterstimme. »Der gibt auch nach 'm Tode nischt her, der hat immer gedacht, man muß das Seine zusammennähm und womöglich den andern ihrs auch ...« Da entließ der Vorsitzende die Zeugen aus dem Sitzungssaal.
Sie fanden sich, da kein Zeugenzimmer vorhanden war, im Korridor wieder zusammen. Die Herren Heuteufel, Cohn und Buck junior nahmen eine Fensternische ein; Diederich, unter dem wütenden Blick des Majors, dachte peinvoll: ›Jetzt wird der Angeklagte vernommen. Wüßte ich, was er sagt. Ich möchte ihn ebenso gern entlasten wie ihr!‹ Vergebens versuchte er gegenüber Pastor Zillich seine milde Gesinnung zu beteuern: er habe immer gesagt, die Sache sei aufgebauscht worden. Zillich wandte sich verlegen weg, und Kühnchen pfiff, davonlaufend, durch die Zähne: »Na warte nur, mein Schibbchen, dir wer'n mer das Handwerk legen.« Stumm lastete die allgemeine Mißbilligung auf Diederich. Endlich erschien der Gerichtsdiener. »Herr Doktor Heßling!«
Diederich riß sich zusammen, um nur in kommentmäßiger Haltung an den Zuschauern vorbeizukommen. Er sah krampfhaft geradeaus; der Blick der Frau Lauer lag jetzt auf ihm! Er schnaufte, und er schwankte ein wenig. Links neben dem Beisitzer, der seine Nägel betrachtete, stand drohend aufgerichtet Jadassohn. Das Licht des Fensters hinter ihm schien durch seine abstehenden Ohren, die blutig leuchteten, und seine Miene heischte von Diederich eine so leichenhafte Gefügigkeit, daß Diederichs Blick die Flucht ergriff. Rechts, vor dem Angeklagten und etwas tiefer, fand er Wolfgang Buck sitzen, nachlässig, mit den Fäusten auf den fetten Schenkeln, von denen die Robe zurückfiel, und so gescheit und aufmunternd anzusehen, als vertrete er den Geist des Lichts. Landgerichtsdirektor Sprezius sprach Diederich die Eidesformel vor, immer nur zwei Worte zur Zeit und mit Herablassung. Diederich schwor folgsam; dann sollte er den Hergang der Dinge an jenem Abend im Ratskeller berichten. Er begann: »Wir waren eine angeregte Gesellschaft, drüben am Tisch saßen auch Herren ...«
Da er schon steckenblieb, ward im Publikum gelacht. Sprezius fuhr auf, er hackte mit dem Geierschnabel zu und drohte, er werde den Saal räumen lassen. »Sonst wissen Sie nichts?« fragte er unwirsch. Diederich gab zu bedenken, infolge geschäftlicher und anderer Aufregungen hätten sich ihm die Vorgänge inzwischen etwas verwirrt. »Dann werde ich Ihnen zur Auffrischung des Gedächtnisses Ihre Aussage vor dem Untersuchungsrichter vorlesen« – und der Vorsitzende ließ sich das Protokoll reichen. Daraus erfuhr Diederich zu seiner peinlichen Verwunderung, er habe vor dem Untersuchungsrichter Landgerichtsrat Fritzsche die bestimmte Angabe gemacht, daß von seiten des Angeklagten eine schwere Beleidigung Seiner Majestät des Kaisers gefallen sei. Was er darüber zu äußern habe. »Es kann wohl sein«, stammelte er; »aber es waren viele Herren da. Ob es nun gerade der Angeklagte war, der das gesagt hat ...« Sprezius beugte sich über den Richtertisch. »Denken Sie nach, Sie stehen hier unter Ihrem Eid. Andere Zeugen werden bekunden, daß Sie ganz allein auf den Angeklagten zugetreten sind und das betreffende Gespräch mit ihm geführt haben.« – »War ich das?« fragte Diederich, rot übergossen. Da lachte unaufhaltsam der ganze Saal; Jadassohn sogar verzog das Gesicht zu einem verachtungsvollen Feixen. Sprezius hatte schon den Mund geöffnet, um loszufahren: aber Wolfgang Buck stand auf. Sein weiches Gesicht ward mit einem sichtbaren Ruck energisch, und er fragte Diederich: »Sie waren an dem Abend wohl stark angetrunken?« Sofort fielen Staatsanwalt und Vorsitzender über ihn her. »Ich beantrage, die Frage nicht zuzulassen!« rief Jadassohn schrill. »Herr Verteidiger«, krächzte Sprezius, »Sie haben nur mir die Frage vorzulegen; ob ich sie dann an den Zeugen richte, ist meine Sache!« Aber die beiden, Diederich sah es staunend, hatten einen entschlossenen Gegner gefunden. Wolfgang Buck stand da, mit klangvoller Rednerstimme beanstandete er das Verhalten des Vorsitzenden, das die Rechte der Verteidigung verletze, und beantragte Gerichtsbeschluß darüber, ob ihm gemäß der Strafprozeßordnung das direkte Fragerecht an den Zeugen zustehe. Sprezius hackte vergeblich zu, es blieb ihm nichts übrig, als mit den vier Richtern rückwärts im Beratungszimmer zu verschwinden. Buck sah sich triumphierend um; seine Cousinen bewegten die Hände wie zum Applaus; aber auch sein Vater war inzwischen eingetreten, und man sah, wie der alte Buck seinem Sohn ein Zeichen der Mißbilligung gab. Der Angeklagte seinerseits, zornige Erregung im apoplektischen Gesicht, schüttelte seinem Verteidiger die Hand. Diederich, der allen Blicken ausgesetzt war, gab sich Haltung und hielt Umschau. Aber ach, Guste Daimchen wich ihm aus! Nur der alte Buck winkte wohlwollend: Diederichs Aussage hatte ihm gefallen. Er bemühte sich sogar aus der engen Tribüne heraus, um Diederich seine weiche, weiße Hand zu geben. »Ich danke Ihnen, lieber Freund«, sagte er: »Sie haben die Sache so behandelt, wie sie es verdient.« Und Diederich in seiner Verlassenheit bekam feuchte Augen angesichts der Güte des großen Mannes. Erst nachdem Herr Buck sich wieder auf seinen Platz begeben hatte, fiel es Diederich ein, daß er ihm hier ja die Geschäfte besorgte! Und auch sein Sohn Wolfgang war durchaus nicht so schlapp, wie Diederich gedacht hatte. Die politischen Gespräche hatte er augenscheinlich nur geführt, um sie hier gegen ihn auszunutzen. Treue, wahre deutsche Treue, die gab es in der Welt nicht, auf niemand konnte man sich verlassen. ›Soll ich mich hier noch lange von allen Seiten anöden lassen?‹
Zum Glück kehrte der Gerichtshof zurück. Der alte Kühlemann wechselte mit dem alten Buck einen bedauernden Blick, und Sprezius verlas, mit merklicher Selbstbeherrschung, den Beschluß. Ob der Verteidiger das Recht der direkten Fragestellung habe, blieb unentschieden, denn die Frage selbst: War der Zeuge damals betrunken gewesen? ward als nicht zur Sache gehörig abgelehnt. Darauf fragte der Vorsitzende, ob der Herr Staatsanwalt noch eine Frage an den Zeugen zu richten habe. »Vorläufig nicht«, sagte Jadassohn, mit Geringschätzung, »aber ich beantrage, den Zeugen noch nicht zu entlassen.« Und Diederich durfte sich setzen. Jadassohn erhob die Stimme. »Außerdem beantrage ich die sofortige Vorladung des Untersuchungsrichters Doktor Fritzsche, der darüber aussagen soll, wie die Gesinnung des Zeugen Heßling gegen den Angeklagten früher war.« Diederich erschrak – im Zuschauerraum aber wandte man sich nach Judith Lauer um: sogar die beiden Assessoren am Richtertisch sahen hin ... Jadassohn bekam bewilligt, was er wollte.
Dann wurde Pastor Zillich herbeigeholt, vereidigt und sollte seinerseits über die kritische Nacht berichten. Er erklärte, die Eindrücke hätten sich damals überstürzt und sein christliches Gewissen schwer bedrängt, denn just an jenem Abend sei in den Straßen von Netzig Blut geflossen, wenn auch zu einem patriotischen Zweck. »Das gehört nicht hierher!« entschied Sprezius – und eben jetzt betrat den Saal der Regierungspräsident Herr von Wulckow, im Jagdanzug, mit großen, kotigen Stiefeln. Alles sah sich um, der Vorsitzende machte auf seinem Sitz eine Verbeugung, und Pastor Zillich zitterte. Vorsitzender und Staatsanwalt drangen abwechselnd auf ihn ein, Jadassohn sagte sogar, mit einem Ausdruck von entsetzlicher Hinterhältigkeit: »Herr Pastor, Sie als Geistlichen brauche ich auf die Heiligkeit des Eides, den Sie geleistet haben, nicht besonders aufmerksam zu machen.« Da knickte Zillich ein und gab zu, daß er die dem Angeklagten vorgeworfene Äußerung allerdings gehört habe. Der Angeklagte sprang auf und schlug mit der Faust auf die Bank. »Ich habe den Namen des Kaisers gar nicht genannt! Ich habe mich gehütet!« Sein Verteidiger beruhigte ihn mit einem Wink und sagte: »Wir werden den Beweis erbringen, daß nur die provokatorische Absicht des Zeugen Doktor Heßling den Angeklagten zu seinen hier falsch wiedergegebenen Äußerungen veranlaßt hat.« Vorläufig bitte er den Herrn Vorsitzenden, den Zeugen Zillich darüber zu befragen, ob er nicht eine Predigt gehalten habe, die ausdrücklich gegen die Hetzereien des Zeugen Heßling gerichtet gewesen sei. Pastor Zillich stammelte, er habe nur im allgemeinen zum Frieden geraten und damit seiner Pflicht als Vertreter der Religion genügt. Jetzt wollte Buck etwas anderes wissen. »Hat nicht der Zeuge Zillich neuerdings ein Interesse daran, sich mit dem Hauptbelastungszeugen Doktor Heßling gut zu stellen, weil nämlich seine Tochter –« Schon fuhr Jadassohn dazwischen: er protestiere gegen die Stellung der Frage. Sprezius rügte sie als unzulässig, und auf der Tribüne entstand ein mißbilligendes Gemurmel weiblicher Stimmen. Der Regierungspräsident beugte sich über die Bank zum alten Buck und sagte deutlich: »Ihr Sohn macht ja nette Zicken!«
Inzwischen war der Zeuge Kühnchen aufgerufen. Der kleine Greis stürmte in den Saal, seine Brillengläser funkelten; schon vor der Tür schrie er seine Personalien herüber, und die Eidesformel sagte er geläufig her, ohne sie sich vorsprechen zu lassen. Dann aber war er zu keiner anderen Aussage zu bewegen, als daß an jenem Abend die Wogen der nationalen Begeisterung hochgegangen seien. Zuerst die glorreiche Tat des Postens! Dann der herrliche Brief Seiner Majestät, mit dem Bekenntnis zum positiven Christentum! »Wie der Krach war mit dem Angeklagten? Ja, meine Herren Richter, davon weeß 'ch Sie nischt. Da hab 'ch grade ä bißchen geschlummert.« – »Aber nachher ist doch von der Sache geredet worden!« verlangte der Vorsitzende. »Ich nicht!« rief Kühnchen. »Ich hab eegal von unsern glorreichen Taten im Jahre siebzig geredt. Die Franktiröhrs! hab 'ch gesagt, das war Sie eene Bande! Mein steifer Finger, da hat mich ä Franktiröhr draufgebissen, bloß weil ich ihm mit meim Säbel ä kleenes bißchen die Kehle abschneiden wollte! So eene Gemeinheit von dem Kerl!« Und Kühnchen wollte den Finger am Richtertisch umherzeigen. »Abtreten!« krächzte Sprezius; und er drohte wieder einmal mit der Räumung des Saals. Major Kunze trat auf: steif, wie auf Rädern, und den Eid leistete er in einem Ton, als stieße er gegen Sprezius schwere Beleidigungen aus. Darauf erklärte er kurzweg, daß er mit dem ganzen Geserres nichts zu tun habe; er sei erst später in den Ratskeller gekommen. »Ich kann nur sagen, das Verhalten des Herrn Doktor Heßling riecht mir nach Denunziantentum.«
Aber seit einer Weile roch es im Saal nach etwas anderem. Niemand wußte, woher es kam, auf der Tribüne mißtraute man einander und rückte, das Taschentuch am Munde, diskret vom Nachbar ab. Der Vorsitzende schnupperte in die Luft, und der alte Kühlemann, dessen Kinn schon längst auf seiner Brust lag, rührte sich im Schlaf.
Wie Sprezius ihm vorhielt, die Herren, die ihm damals die Vorgänge berichtet hätten, seien doch nationale Männer gewesen, erwiderte der Major nur, das sei ihm gleich, den Herrn Doktor Heßling habe er gar nicht gekannt. Da aber trat Jadassohn vor; seine Ohren funkelten; mit einer Stimme wie ein Messer sagte er: »Herr Zeuge, ich richte an Sie die Frage, ob Sie den Angeklagten nicht vielleicht um so besser kennen. Wollen Sie sich darüber äußern, ob er Ihnen nicht noch vor acht Tagen hundert Mark geliehen hat.« Vor Schrecken ward es ganz still im Saal, und alles starrte auf den Major in Uniform, der dastand und an seiner Antwort stammelte. Jadassohns Kühnheit machte Eindruck. Unverweilt nutzte er seinen Erfolg aus und erreichte von Kunze, daß er zugab, die Entrüstung der Nationalgesinnten über Lauers Äußerungen sei echt gewesen, auch seine eigene. Zweifellos habe der Angeklagte Seine Majestät gemeint. – Hier hielt Wolfgang Buck sich nicht mehr. »Da der Herr Vorsitzende unnötig findet, es zu rügen, wenn der Herr Staatsanwalt seine eigenen Zeugen beleidigt, kann es auch uns gleich sein.« Sofort hackte Sprezius nach ihm. »Herr Verteidiger! Das ist meine Sache, was ich rüge und was nicht!« – »Eben das stelle ich fest«, fuhr Buck unbeirrt fort. »Zur Sache selbst behaupten wir nach wie vor und werden durch Zeugen beweisen, daß der Angeklagte den Kaiser gar nicht gemeint hat.« – »Ich habe mich gehütet!« rief der Angeklagte dazwischen. Buck fuhr fort: »Sollte dies dennoch als wahr unterstellt werden, so beantrage ich, den Herausgeber des Gothaischen Almanachs darüber als Sachverständigen zu vernehmen, welche deutschen Fürsten jüdisches Blut haben.« Damit setzte er sich wieder, befriedigt von dem Rauschen der Sensation, das durch den Saal ging. Ein dröhnender Baß sagte; »Unerhört!« Sprezius wollte schon loshacken, sah aber noch rechtzeitig, wer es gewesen war: Wulckow! Sogar Kühlemann war davon erwacht. Der Gerichtshof steckte die Köpfe zusammen, dann verkündete der Vorsitzende, der Antrag des Verteidigers werde abgelehnt, da ein Wahrheitsbeweis nicht zulässig sei. Kundgebung der Mißachtung genüge zum Tatbestand des Delikts. Buck war geschlagen; seine feisten Wangen senkten sich, in kindlicher Traurigkeit. Es ward gekichert, die Schwiegermutter des Bürgermeisters lachte ungeniert. Diederich auf seiner Zeugenbank war ihr dankbar. Er fühlte, angstvoll lauschend, wie die öffentliche Meinung einlenkte und ganz leise denen näherkam, die geschickter waren und die Macht hatten. Er tauschte einen Blick mit Jadassohn.
Der Redakteur Nothgroschen war dran. Grau und unauffällig war er plötzlich da und funktionierte glatt, wie ein Aussagebeamter. Jeder, der ihn kannte, wunderte sich: so sicher hatte er ihn nie gesehen. Er wußte alles, belastete den Angeklagten auf das schwerste und redete fließend, als sage er einen Leitartikel her; höchstens, daß zwischen den Absätzen der Vorsitzende ihm das Stichwort gab, mit Anerkennung, wie einem Musterschüler. Buck, der sich erholt hatte, hielt ihm die Stellungnahme der »Netziger Zeitung« für Lauer vor. Darauf erwiderte der Redakteur: »Wir sind ein liberales, also unparteiisches Blatt. Wir geben die Stimmung wieder. Da aber jetzt und hier die Stimmung dem Angeklagten ungünstig ist –« Er mußte sich draußen im Korridor darüber informiert haben! Buck nahm eine ironische Stimme an. »Ich stelle fest, daß der Zeuge eine etwas sonderbare Auffassung seiner Eidespflicht bekundet.« Aber Nothgroschen war nicht einzuschüchtern. »Ich bin Journalist«, erklärte er, und er setzte hinzu: »Ich bitte den Herrn Vorsitzenden, mich vor Beleidigungen des Verteidigers zu schützen.« Sprezius ließ sich nicht bitten; und er entließ den Redakteur in Gnaden.
Es schlug zwölf; Jadassohn machte den Vorsitzenden aufmerksam, daß der Untersuchungsrichter Doktor Fritzsche sich zur Verfügung des Gerichts halte. Er ward aufgerufen – und kaum daß er sich in der Tür zeigte, gingen alle Augen hin und her zwischen ihm und Judith Lauer. Sie war noch bleicher geworden, der schwarze Blick, der ihn zum Richtertisch begleitete, vergrößerte sich noch, er bekam etwas stumm Eindringliches; aber Fritzsche vermied ihn. Auch ihn fand man schlecht aussehen, sein Schritt dagegen bekundete Entschlossenheit. Diederich stellte fest, daß er von seinen zwei Gesichtern für diese Gelegenheit das trockene gewählt hatte.
Welche Eindrücke er während der Voruntersuchung von dem Zeugen Heßling gewonnen habe? Der Zeuge hatte seine Aussage durchaus freiwillig und selbständig gemacht, in Form einer durch das frische Erlebnis noch bewegten Auseinandersetzung. Die Zuverlässigkeit des Zeugen, die Fritzsche an der Hand seiner ferneren Ermittlungen hatte nachprüfen können, stand außer allem Zweifel. Daß der Zeuge heute kein deutliches Erinnerungsbild mehr hatte, war nur durch die Erregung des Augenblicks zu erklären ... Und der Angeklagte? – Hier hörte man den Saal aufhorchen. Fritzsche schluckte hinunter. Auch der Angeklagte hatte persönlich einen eher günstigen Eindruck auf ihn gemacht, trotz der vielen belastenden Momente.
»Halten Sie, bei widerstreitenden Zeugenaussagen, den Angeklagten des ihm zur Last gelegten Delikts fähig?« fragte Sprezius.
Fritzsche erwiderte: »Der Angeklagte ist ein gebildeter Mann; ausdrücklich beleidigende Worte zu gebrauchen, wird er sich gehütet haben.«
»Das sagt der Angeklagte selbst«, bemerkte der Vorsitzende streng. Fritzsche sprach schneller. Der Angeklagte war durch seine bürgerliche Wirksamkeit gewöhnt, Autorität mit fortschrittlichen Neigungen zu verbinden. Er hielt sich offenbar für einsichtsvoller und zur Kritik berechtigter als die meisten andern Menschen Es war also denkbar, daß er in gereiztem Zustand – und durch die Erschießung des Arbeiters von seiten des Wachtpostens hatte er sich gereizt gefühlt – seinen politischen Anschauungen einen Ausdruck gab, der, ob äußerlich vielleicht auch einwandfrei, die beleidigende Absicht hindurchschimmern ließ.
Hier sah man den Vorsitzenden und den Staatsanwalt aufatmen. Die Landgerichtsräte Harnisch und Kühlemann warfen Blicke auf das Publikum, durch das eine lebhafte Bewegung ging. Der Assessor links besah auch jetzt noch seine Nägel; der rechts aber, ein junger Mann mit nachdenklichem Gesicht, beobachtete den Angeklagten, den er gleich vor sich hatte. Die Hände des Angeklagten waren krampfig um die Brüstung seiner Bank gespannt, und die Augen, hervortretende braune Augen, richtete er auf seine Frau. Sie aber sah unverwandt auf Fritzsche, halbgeöffneten Mundes, wie abwesend, mit einem Ausdruck von Leiden, Scham und Schwäche. Die Schwiegermutter des Bürgermeisters äußerte deutlich: »Und zwei Kinder hat sie zu Hause.« Plötzlich schien Lauer das Geflüster um ihn her zu bemerken, alle diese Blicke, die wegsahen, wenn er sie streifte. Er sank zusammen, sein stark gerötetes Gesicht entleerte sich so jäh vom Blut, daß der junge Assessor erschreckt auf seinem Stuhl rückte.
Diederich, dem es immer wohler ward, war wahrscheinlich der einzige, der dem Dialog zwischen dem Vorsitzenden und dem Untersuchungsrichter noch folgte. Dieser Fritzsche! Niemandem, auch Diederich selbst nicht, war die Sache aus guten Gründen anfangs peinlicher gewesen. Hatte er nicht auf Diederich als Zeugen eine nahezu pflichtwidrige Einwirkung geübt? Und das protokollierte Ergebnis von Diederichs Aussage war nun dennoch schwer belastend, und Fritzsches eigenes Zeugnis erst recht. Er war nicht weniger rücksichtslos vorgegangen als Jadassohn. Seine engen und besonderen Beziehungen zum Hause Lauer hatten keineswegs vermocht, ihn der Aufgabe zu entfremden, die ihm oblag, dem Schutze der Macht. Nichts Menschliches hielt stand vor der Macht. Welche Lehre für Diederich! ... Auch Wolfgang Buck empfing sie, auf seine Art. Von unten betrachtete er Fritzsche, mit einer Miene, als müßte er sich erbrechen.
Wie der Untersuchungsrichter mit Drehungen des Körpers, die nicht unbefangen wirkten, auf den Ausgang zusteuerte, ward lauter geflüstert. Die Schwiegermutter des Bürgermeisters sagte, mit dem Lorgnon nach der Frau des Angeklagten zielend: »Eine nette Gesellschaft!« Man widersprach ihr nicht; man hatte angefangen, die Lauers ihrem Schicksal zu überlassen. Guste Daimchen biß sich auf die Lippe, Käthchen Zillich schickte einen raschen Senkblick zu Diederich. Doktor Scheffelweis beugte sich hinüber zu dem Haupt der Familie Buck, drückte ihm die Hand und sagte süß: »Ich hoffe, lieber Freund und Gönner, alles wird noch gut.«
Der Vorsitzende befahl dem Gerichtsdiener: »Lassen Sie mal den Zeugen Cohn rein!« Die Reihe war an den Entlastungszeugen! Der Vorsitzende schnupperte in die Luft. »Hier riecht es aber schlecht«, bemerkte er. »Krecke, machen Sie hinten ein Fenster auf!« Und er suchte mit den Augen unter dem minder guten Publikum, das dort oben enggedrängt saß. Dagegen war auf den unteren Bänken freier Raum, und der freieste um den Regierungspräsidenten von Wulckow in seiner verschwitzten Jagdjoppe ... Das geöffnete Fenster, durch das es eisig hereinblies, bewirkte Murren unter den auswärtigen Journalisten, die dort hinten verstaut saßen. Aber Sprezius richtete nur den Schnabel gegen sie: da duckten sie sich in ihre Rockkragen.
Jadassohn sah siegesgewiß dem Zeugen entgegen. Sprezius ließ ihn eine Weile reden, dann räusperte Jadassohn sich; er hielt einen Akt in der Hand. »Zeuge Cohn«, begann er, »Sie sind Inhaber des unter Ihrem Namen bestehenden Warenhauses seit 1889?« Und unvermittelt: »Geben Sie zu, daß gleich damals einer Ihrer Lieferanten, ein gewisser Lehmann, sich in Ihren Lokalitäten durch Erschießen das Leben genommen hat?« Und mit dämonischer Befriedigung blickte er auf Cohn, denn die Wirkung seiner Worte war außerordentlich: Cohn begann zu zappeln und nach Luft zu schnappen. »Die alte Verleumdung!« kreischte er. »Er hat es doch gar nicht meinetwegen getan! Er war unglücklich verheiratet! Mit der Geschichte haben die Leute mich schon einmal kaputt gemacht, und nun fängt der Mann wieder an!« Auch der Verteidiger protestierte. Sprezius hackte auf Cohn zu. Der Herr Staatsanwalt sei kein Mann! Und wegen des Ausdrucks Verleumdung nehme das Gericht den Zeugen in eine Ordnungsstrafe von fünfzig Mark. Damit war Cohn erledigt. Der Bruder des Herrn Buck ward vernommen. Ihn fragte Jadassohn geradeheraus: »Zeuge Buck, Sie haben ein notorisch schlechtgehendes Geschäft, wovon leben Sie?« Hier entstand ein solches Gemurmel, daß Sprezius schnell eingriff: »Herr Staatsanwalt, gehört das wirklich zur Sache?« Aber Jadassohn war allem gewachsen. »Herr Vorsitzender, die Anklagebehörde hat ein Interesse, den Nachweis zu erbringen, daß der Zeuge sich in wirtschaftlicher Abhängigkeit von seinen Verwandten, besonders aber von seinem Schwager, dem Angeklagten, befindet. Die Glaubwürdigkeit des Zeugen ist danach zu bemessen.« Der lange, elegante Herr Buck stand mit gesenktem Kopf da. »Das genügt«, erklärte Jadassohn; und Sprezius entließ diesen Zeugen. Seine fünf Töchter rückten unter den Blicken der Menge auf ihren Bänken zusammen wie eine Lämmerherde im Unwetter. Das minder gute Publikum der oberen Reihen lachte feindselig. Sprezius bat wohlwollend um Ruhe und ließ sich den Zeugen Heuteufel kommen.
Wie nun Heuteufel die Hand zum Schwur hob, schleuderte Jadassohn ihm die seine mit einem dramatischen Wurf entgegen.
»Ich möchte zunächst an den Zeugen die Frage richten, ob er zugibt, die das Delikt der Majestätsbeleidigung darstellenden Äußerungen des Angeklagten durch seine Zustimmung begünstigt und noch verschärft zu haben.« Heuteufel erwiderte: »Ich gebe gar nichts zu« – worauf Jadassohn ihm seine Aussage im Vorverhör entgegenhielt. Mit erhobener Stimme: »Ich beantrage Gerichtsbeschluß darüber, daß die Beeidigung dieses Zeugen unterbleiben soll, weil er der Teilnahme am Delikt verdächtig ist.« Noch schneidender: »Die Gesinnung des Zeugen darf als gerichtsnotorisch gelten. Der Zeuge gehört zu den von Seiner Majestät dem Kaiser mit Recht so genannten vaterlandslosen Gesellen. Überdies befleißigt er sich in regelmäßigen Versammlungen, die er als Sonntagsfeiern für freie Menschen bezeichnet, der Verbreitung des krassesten Atheismus, wodurch seine Tendenzen gegenüber einem christlichen Monarchen ohne weiteres charakterisiert sind.« Und Jadassohns Ohren strahlten Feuer aus, wie ein ganzes Glaubensbekenntnis. Wolfgang Buck stand auf, lächelte skeptisch und meinte, die religiösen Überzeugungen des Herrn Staatsanwalts seien offenbar von mönchischer Strenge, es könne ihm nicht zugemutet werden, daß er einen Nichtchristen für glaubwürdig halte. Das Gericht aber werde wohl anderer Meinung sein und den Antrag des Staatsanwalts ablehnen. Da wuchs Jadassohn furchtbar empor. Wegen der Verhöhnung seiner Person beantragte er gegen den Verteidiger eine Ordnungsstrafe von hundert Mark! Der Gerichtshof zog sich zur Beratung zurück. Sofort brach im Saal ein aufgeregtes Durcheinander von Meinungen aus. Doktor Heuteufel schob die Hände in die Taschen und maß mit langen Blicken Jadassohn, der, dem Schutze des Gerichts entzogen, von Panik ergriffen ward und gegen die Wand wich. Diederich war es, der ihm zu Hilfe kam, denn er hatte dem Herrn Staatsanwalt leise eine wichtige Mitteilung zu machen ... Schon kehrten die Richter zurück. Die Beeidigung des Zeugen Heuteufel ward vorerst ausgesetzt. Der Verteidiger war wegen Verhöhnung des Herrn Staatsanwalts in eine Ordnungsstrafe von achtzig Mark genommen.
In das weitere Verhör Heuteufels griff der Verteidiger ein, der vom Zeugen wissen wollte, wie er, als intimer Bekannter des Angeklagten, sein Familienleben beurteile. Heuteufel machte eine Bewegung, durch den Saal rauschte es: man hatte verstanden. Aber ob Sprezius die Frage zuließ? Er hatte schon den Mund geöffnet, um sie abzulehnen, begriff aber noch rechtzeitig, daß man einer Sensation nicht ausweichen dürfe – worauf Heuteufel den mustergültigen Zuständen im Hause Lauer hohes Lob spendete. Jadassohn trank die Worte des Zeugen, bebend vor Ungeduld. Endlich konnte er, mit namenlosem Triumph in der Stimme, seine Frage stellen. »Will der Zeuge sich auch darüber äußern, welcher Art die Weiber sind, aus deren Bekanntschaft er persönlich die Kenntnis des Familienlebens schöpft, und ob er nicht in einem gewissen Hause verkehrt, das im Volksmund Klein-Berlin heißt?« Und noch im Sprechen vergewisserte er sich, daß die Damen im Publikum, und gleich ihnen die Richter, tief verletzte Gesichter bekamen. Der Hauptentlastungszeuge war vernichtet! Heuteufel versuchte noch zu antworten: »Der Herr Staatsanwalt wird es wissen. Wir sind uns dort wohl begegnet.« Aber das diente nur dazu, daß Sprezius ihm eine Ordnungsstrafe von fünfzig Mark auferlegen konnte. »Der Zeuge hat im Saal zu bleiben«, entschied der Vorsitzende schließlich. »Das Gericht braucht ihn noch zur weiteren Aufklärung des Tatbestandes.« Heuteufel äußerte: »Ich meinerseits bin aufgeklärt über den Betrieb hier und würde es vorziehen, das Lokal zu verlassen.« Sofort wurden aus den fünfzig Mark hundert.
Wolfgang Buck sah sich unruhig um. Seine Lippen schienen die Stimmung im Saal zu schmecken, sie verzogen sich, als äußerte sich die Stimmung in diesem merkwürdigen Geruch, der, seit das Fenster geschlossen war, sich wieder gelagert hatte. Buck sah die Sympathien, die ihn hereinbegleitet hatten, zersprengt und abgestumpft, seine Kampfmittel unnütz verbraucht; und das Gähnen der vom Hunger in die Länge gezogenen Gesichter, die Ungeduld der Richter, die nach der Uhr schielten, verhieß ihm nichts Gutes. Er sprang auf; retten, was zu retten war! Und er machte seine Stimme energisch, um die Vorladung weiterer Zeugen für die Nachmittagssitzung zu beantragen. »Da der Herr Staatsanwalt es zum System erhebt, die Glaubwürdigkeit unserer Zeugen zu bezweifeln, sind wir bereit, den guten Leumund des Angeklagten zu beweisen durch die Aussagen der ersten Männer von Netzig. Kein Geringerer als Herr Bürgermeister Doktor Scheffelweis wird dem Gericht die bürgerlichen Verdienste des Angeklagten bezeugen. Der Herr Regierungspräsident von Wulckow wird nicht umhinkönnen, ihm seine staatsfreundliche und kaisertreue Gesinnung zu bestätigen.«
»Nanu«, sagte da hinten aus dem freien Raum der dröhnende Baß. Buck strengte seine Stimme an.
»Für die sozialen Tugenden des Angeklagten aber werden seine sämtlichen Arbeiter eintreten.«
Und Buck setzte sich, hörbar keuchend. Jadassohn bemerkte kalt: »Der Herr Verteidiger beantragt eine Volksabstimmung.« Die Richter berieten flüsternd; und Sprezius verkündete: das Gericht gebe nur dem Antrage des Verteidigers statt, der sich auf die Vernehmung des Bürgermeisters Doktor Scheffelweis beziehe. Da der Bürgermeister im Saal war, wurde er sogleich aufgerufen.
Er arbeitete sich aus seiner Bank heraus. Frau und Schwiegermutter hielten ihn von beiden Seiten fest und gaben ihm hastig Forderungen mit, die einander widersprechen mußten, denn der Bürgermeister langte sichtlich verstört am Richtertisch an. Welche Gesinnung der Angeklagte in der bürgerlichen Öffentlichkeit betätigte? Doktor Scheffelweis wußte Gutes darüber zu bekunden. So hatte der Angeklagte sich in den städtischen Kollegien eingesetzt für die Wiederherstellung des altberühmten Pfaffenhauses, wo die Haare aufbewahrt wurden, die bekanntlich Doktor Martin Luther dem Teufel aus dem Schwanz gerissen hatte. Freilich, auch den Saalbau der Freien Gemeinde hatte er unterstützt und dadurch unleugbar viel Anstoß erregt. Im Geschäftsleben sodann genoß der Angeklagte die allgemeine Achtung; die sozialen Reformen, die er in seiner Fabrik eingeführt hatte, wurden vielfach bewundert – wenn freilich auch dagegen eingewendet ward, daß sie die Ansprüche der Arbeiter ins Ungemessene steigerten und so den Umsturz vielleicht doch zu befördern geeignet waren. »Würde der Herr Zeuge«, fragte der Verteidiger, »den Angeklagten des ihm zur Last gelegten Delikts für fähig halten?« – »Einerseits«, erwiderte Scheffelweis, »gewiß nicht.« – »Aber andererseits?« fragte der Staatsanwalt. Der Zeuge erwiderte: »Andererseits gewiß.«
Nach dieser Antwort durfte der Bürgermeister sich zurückziehen; seine zwei Damen empfingen ihn, eine so unzufrieden wie die andere; und der Vorsitzende schickte sich an, die Sitzung aufzuheben, da räusperte Jadassohn sich. Er beantragte, nochmals den Zeugen Doktor Heßling zu vernehmen, der seine Aussage zu ergänzen wünsche. Sprezius klappte mißgelaunt mit den Lidern, das Publikum, das soeben aus den Bänken herausrutschte, murrte laut – aber Diederich war schon vorgetreten, festen Schrittes, und hatte schon mit klarer Stimme zu sprechen begonnen. Nach reiflicher Überlegung sei er zu der Einsicht gelangt, daß er seine im Vorverhör gemachte Aussage vollinhaltlich aufrechterhalten könne; und er wiederholte sie, aber verschärft und erweitert. Er fing mit der Erschießung des Arbeiters an und gab die kritischen Bemerkungen der Herren Lauer und Heuteufel wieder. Die Zuhörer, die das Fortgehen vergessen hatten, verfolgten die Schlacht der Gesinnungen über die blutbetropfte Kaiser-Wilhelm-Straße bis in den Ratskeller, sahen die feindlichen Reihen sich bis zum Entscheidungskampf ordnen, Diederich wie mit geschwungenem Degen unter den gotischen Kronleuchter vorrücken und den Angeklagten herausfordern auf Leben und Tod.
»Denn, meine Herren Richter, ich leugne es nicht länger, ich habe ihn herausgefordert! Wird er das Wort sprechen, an dem ich ihn packen kann? Er sprach es, und, meine Herren Richter, ich habe ihn gepackt und habe damit nur meine Pflicht erfüllt und würde sie auch heute wieder erfüllen, mögen mir daraus in gesellschaftlicher und geschäftlicher Beziehung selbst noch mehr Nachteile erwachsen, als ich in der letzten Zeit zu ertragen gehabt habe! Der uneigennützige Idealismus, meine Herren Richter, ist ein Vorrecht des Deutschen, er wird ihn unentwegt betätigen, mag ihm angesichts der Menge der Feinde gelegentlich auch der Mut sinken. Als ich vorhin mit meiner Aussage noch zögerte, war es nicht nur, wie der Herr Untersuchungsrichter mir gütigst zubilligte, eine Verwirrung des Gedächtnisses: es war, ich gestehe es, ein vielleicht begreifliches Zurückweichen vor der Schwere des Kampfes, den ich auf mich nehmen sollte. Aber ich nehme ihn auf mich, denn kein Geringerer als Seine Majestät unser erhabener Kaiser verlangt es von mir ...« Diederich sprach fließend weiter, mit einem Schwung in den Sätzen, der einem den Atem nahm. Jadassohn fand, daß der Zeuge anfange, die Wirkungen seines Plädoyers vorwegzunehmen, und blickte unruhig auf den Vorsitzenden. Sprezius aber dachte offenbar nicht daran, Diederich zu unterbrechen. Mit unbewegtem Geierschnabel und ohne die Lider zu klappen, sah er auf Diederichs eiserne Miene, worin es drohend blitzte. Der alte Kühlemann sogar ließ die Lippe hängen und hörte zu. Wolfgang Buck aber: vorgebeugt auf seinem Stuhl, spähte er zu Diederich hinauf, gespannt, sachkundig und die Augen voll eines feindlichen Entzückens. Das war eine Volksrede! Ein Auftritt von bombensicherer Wirkung! Ein Schlager! »Mögen unsere Bürger«, rief Diederich, »endlich aus dem Schlummer erwachen, in dem sie sich so lange gewiegt haben, und nicht bloß dem Staat und seinen Organen die Bekämpfung der umwälzenden Elemente überlassen, sondern selbst mit Hand anlegen! Das ist Befehl Seiner Majestät, und, meine Herren Richter, da sollte ich zögern? Der Umsturz« erhebt das Haupt, eine Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen, wagt es, die geheiligte Person des Monarchen in den Staub zu ziehen ...«
Im minder guten Publikum lachte jemand. Sprezius hackte zu und drohte, den Lacher in Strafe zu nehmen. Jadassohn seufzte. Jetzt war es Sprezius freilich nicht mehr möglich, den Zeugen zu unterbrechen.
In Netzig hatte der kaiserliche Kampfruf bisher leider nur zu wenig Widerhall gefunden! Hier verschloß man Augen und Ohren vor der Gefahr, man verharrte in den veralteten Anschauungen einer spießbürgerlichen Demokratie und Humanität, die den vaterlandslosen Feinden der göttlichen Weltordnung den Weg ebneten. Eine forsche nationale Gesinnung, einen großzügigen Imperialismus begriff man hier noch nicht. »Die Aufgabe der modern gesinnten Männer ist es, auch Netzig dem neuen Geist zu erobern, im Sinne unseres herrlichen jungen Kaisers, der jeden Treugesinnten, er sei edel oder unfrei, zum Handlanger seines erhabenen Wollens bestellt hat!« Und Diederich schloß: »Daher, meine Herren Richter, war ich berechtigt, dem Angeklagten, als er nörgeln wollte, mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Ich habe ohne persönlichen Groll gehandelt, um der Sache willen. Sachlich sein heißt deutsch sein! Und ich meinerseits« – er blitzte zu Lauer hinüber – »bekenne mich zu meinen Handlungen, denn sie sind der Ausfluß eines tadellosen Lebenswandels, der auch im eigenen Hause auf Ehre hält und weder Lüge noch Sittenlosigkeit kennt!«
Große Bewegung im Saal. Diederich, hingerissen von der edlen Gesinnung, die er ausdrückte, berauscht durch seine Wirkung, fuhr fort, den Angeklagten anzublitzen. Da aber wich er zurück: Der Angeklagte, zitternd und wankend, stemmte sich am Geländer seiner Bank empor; er hatte rollende, blutunterlaufene Augen, und sein Kiefer bewegte sich, als habe ihn der Schlag gerührt. »Oh!« machten weibliche Stimmen, voll erwartungsvollen Schauderns. Aber der Angeklagte hatte nur Zeit, einige rauhe Laute gegen Diederich auszustoßen: sein Verteidiger hatte ihn am Arm erfaßt und redete auf ihn ein. Inzwischen verkündete der Vorsitzende, daß der Herr Staatsanwalt sein Plädoyer um vier Uhr beginnen werde, und verschwand, samt den Beisitzern. Diederich, halb betäubt, sah sich auf einmal bestürmt von Kühnchen, Zillich, Nothgroschen, die ihn beglückwünschten. Fremde Leute schüttelten ihm die Hand: die Verurteilung sei todsicher, der Lauer dürfe einpacken. Der Major Kunze erinnerte den erfolgreichen Diederich daran, daß zwischen ihnen niemals eine Meinungsverschiedenheit entstanden sei. Auf dem Korridor kam ganz nahe an Diederich, den gerade eine Menge Damen umgaben, der alte Buck vorüber. Er zog sich seine schwarzen Handschuhe an und sah dabei dem jungen Mann ins Gesicht: ohne die Verbeugung zu erwidern, die Diederich wider Willen machte, ihm immer ins Gesicht, mit einem Blick, prüfend und traurig, so traurig, daß auch Diederich, mitten aus seinem Triumph heraus, ihm traurig nachsah.
Plötzlich merkte er, daß die fünf Töchter Buck sich nicht entblödeten, ihm Komplimente zu machen. Sie flatterten, rauschten und fragten, warum er denn zu der spannenden Verhandlung nicht auch seine Schwestern mitgebracht habe. Da maß er diese fünf herausgeputzten Gänse, eine nach der andern, von oben bis unten und erklärte ihnen, streng und abweisend, es gebe Dinge, die denn doch ernster seien als eine Theatervorstellung. Erstaunt ließen sie ihn stehen. Der Korridor leerte sich; zuletzt erschien noch Guste Daimchen. Sie machte eine Bewegung auf Diederich zu. Aber Wolfgang Buck holte sie ein, lächelnd, als sei nichts geschehen; und mit ihm waren der Angeklagte und seine Frau. Schnell sandte Guste zu Diederich einen Blick hin, der sein Zartgefühl anrief. Er drückte sich hinter einen Pfeiler und ließ, indes ihm das Herz klopfte, die Geschlagenen vorüber.
Wie er gehen wollte, trat aus dem Amtszimmer der Regierungspräsident, Herr von Wulckow. Diederich stellte sich, den Hut in der Hand, am Wege auf, schlug im richtigen Augenblick die Hacken zusammen, und wirklich, Wulckow blieb stehen. »Na also!« sagte er aus der Tiefe seines Bartes und klopfte Diederich auf die Schulter. »Sie haben das Rennen gemacht. Sehr brauchbare Gesinnung. Wir sprechen uns noch.« Und er ging weiter auf seinen kotigen Stiefeln, schwenkte den Bauch in der verschwitzten Jagdhose und hinterließ, durchdringend wie je, diesen Geruch gewalttätiger Männlichkeit, der bei allem, was geschah, im Gerichtssaal gelagert hatte.
Beim Ausgang drunten hielt sich noch immer der Bürgermeister auf, mit Frau und Schwiegermutter, die von beiden Seiten auf ihn eindrangen und deren Forderungen er, bleich und hoffnungslos, in Einklang zu bringen suchte.
Zu Hause wußten sie schon alles. Sie hatten, alle drei, im Vestibül auf das Ende der Verhandlung gewartet und sich von Meta Harnisch erzählen lassen, was vorging. Frau Heßling umarmte ihren Sohn unter stummen Tränen. Die Schwestern standen etwas betreten dabei, denn noch gestern hatten sie nur Geringschätzung gehabt für Diederichs Rolle im Prozeß, die sich nun als so glänzend erwies. Aber Diederich, in der schönen Vergeßlichkeit des Siegers, ließ Wein zum Essen auftragen, und er erklärte ihnen, der heutige Tag sichere für alle Zeit ihre gesellschaftliche Stellung in Netzig. »Die fünf Damen Buck werden sich hüten, auf der Straße wegzusehen. Sie können froh sein, wenn ihr sie zurückgrüßt!« Die Verurteilung des Lauer war, so versicherte Diederich, nur mehr eine Formalität. Sie war entschieden, und mit ihr auch Diederichs unaufhaltsamer Aufstieg! »Freilich« – und er nickte in sein Glas –, »trotz voller Pflichterfüllung hätte es schiefgehen können, und dann, meine Lieben, das wollen wir uns nur gestehen, dann wäre ich wahrscheinlich aufgeflogen und Magdas Heirat mit!« Da Magda erbleichte, klopfte er ihr den Arm. »Jetzt sind wir fein heraus.« Und das Glas erhoben, mit männlicher Festigkeit: »Welch eine Wendung durch Gottes Fügung!« Er ordnete an, daß beide sich schön machten und mitkämen. Frau Heßling bat um Nachsicht, sie fürchtete zu sehr die Aufregung. Diesmal konnte Diederich warten, die Schwestern durften sich anziehen, so lange sie mochten. Als sie eintrafen, waren schon alle im Saal, aber es waren nicht dieselben. Sämtliche Bucks fehlten, und mit ihnen Guste Daimchen, Heuteufel, Cohn, die ganze Loge, der freisinnige Wahlverein. Sie gaben sich besiegt! Die Stadt wußte es, man drängte sich herbei, ihre Niederlage zu erleben: das minder gute Publikum war vorgerückt bis in die vorderen Bänke. Wer von dem einstigen Klüngel sich noch hier fand, Kühnchen und Kunze trugen Sorge, daß jeder auf ihren Gesichtern die gute Gesinnung lese. Auch einige verdächtige Gestalten freilich saßen dazwischen: junge Leute mit müden, aber ausdrucksvollen Mienen, samt mehreren auffallenden Mädchen, die unheimlich schöne Farben im Gesicht hatten; und alle tauschten Grüße mit Wolfgang Buck. Das Stadttheater! Buck hatte sich nicht entblödet, sie zu seinem Plädoyer einzuladen!
Der Angeklagte wandte hastig den Kopf, sooft jemand eintrat. Er wartete auf seine Frau! ›Wenn er meint, daß sie noch kommt!‹ dachte Diederich. Aber da kam sie: noch bleicher als heute früh, begrüßte ihren Gatten mit einem Blick, der flehend war; setzte sich still an das Ende einer Bank und richtete die Augen gradaus nach dem Richtertisch, stumm und stolz, wie ins Schicksal ... Der Gerichtshof hatte den Saal betreten. Der Vorsitzende eröffnete die Sitzung und erteilte das Wort dem Herrn Staatsanwalt.
Jadassohn begann sofort mit äußerster Heftigkeit; nach einigen Sätzen fand er schon keine Steigerung mehr und wirkte matt; die Mitglieder des Stadttheaters lächelten einander geringschätzig zu. Jadassohn bemerkte es, er fing an, die Arme zu schwenken, daß die Robe flog; seine Stimme überschlug sich, und die Ohren loderten. Die geschminkten Mädchen fielen auf die Brüstung ihrer Bank, so ausgelassen kicherten sie. »Merkt denn Sprezius nichts?« fragte die Schwiegermutter des Bürgermeisters. Aber das Gesicht schlief; Diederich in seinem Herzen frohlockte; er hatte seine Rache an Jadassohn! Jadassohn konnte nichts vorbringen, als womit er selbst schon das Rennen gemacht hatte! Es war gemacht, daß wußte Wulckow, und auch Sprezius wußte es, darum schlief er, mit offenen Augen. Jadassohn selbst fühlte es am besten; er nahm sich immer unsicherer aus, je geräuschvoller er ward. Als er schließlich zwei Jahre Gefängnis beantragte, gaben alle, die er gelangweilt hatte, ihm unrecht: wie es schien, auch die Richter. Der alte Kühlemann schrak auf, mit einem Schnarcher. Sprezius klappte mehrmals die Lider, um sich zu ermuntern, und dann sagte er: »Der Herr Verteidiger hat das Wort.«
Wolfgang Buck erhob sich langsam. Seine sonderbaren Freunde auf der Tribüne murmelten beifällig, was Buck, trotz Sprezius' geschärftem Schnabel, in Ruhe abwartete. Dann erklärte er leichthin, als werde er mit allem in zwei Minuten fertig werden, daß die Beweisaufnahme ein dem Angeklagten durchaus günstiges Bild ergeben habe. Der Herr Staatsanwalt vertrete mit Unrecht die Anschauung, daß die Aussage von Zeugen, die erst infolge drohender Eingriffe in ihre eigene Existenz schlecht ausgesagt hätten, irgendeinen Wert habe. Vielmehr, sie habe den Wert, daß sie auf geradezu glänzende Weise die Unschuld des Angeklagten belege, da so viele als wahrheitsliebend bekannte Männer nur durch eine Erpressung – Weiter kam er natürlich nicht. Als der Vorsitzende sich beruhigt hatte, fuhr Buck gelassen fort. Wolle man aber als erwiesen annehmen, daß der Angeklagte die ihm zur Last gelegte Äußerung wirklich getan habe, so entfalle hier doch der Begriff der Strafbarkeit; denn der Zeuge Doktor Heßling habe offen eingestanden, daß er den Angeklagten mit Absicht und Vorbedacht provoziert habe. Es frage sich vielmehr, ob nicht eben der Zeuge Heßling, durch seine provokatorische Absicht, der eigentliche geistige Urheber einer strafbaren Handlung sei, die er mit der unwillkürlichen Hilfe eines andern und unter bewußter Ausnutzung seiner Erregung vollführt habe. Der Verteidiger empfahl dem Herrn Staatsanwalt die nähere Beschäftigung mit dem Zeugen Heßling. Hier wandten viele sich nach Diederich um, und ihm ward schwül. Aber die wegwerfende Miene des Vorsitzenden ermutigte ihn wieder.
Buck machte sein Organ milde und warm. Nein, er wolle nicht das Unglück des Zeugen Heßling, den er als das Opfer eines weit Höheren betrachte. »Warum häufen sich in diesen Zeiten die Anklagen wegen Majestätsbeleidigung? Man wird sagen: infolge solcher Vorgänge wie die Erschießung des Arbeiters. Ich erwidere: nein; sondern dank den Reden, die diese Vorgänge begleiten.« Sprezius rückte den Kopf, wetzte schon den Schnabel, zog sich aber noch zurück. Buck ließ sich nicht stören; er machte sein Organ männlich und stark.
»Drohungen und überspannte Ansprüche auf der einen Seite zeitigen Zurückweisungen auf der andern. Der Grundsatz: Wer nicht für mich ist, ist wider mich, zieht eine grelle Grenze zwischen Byzantinern und Majestätsbeleidigern.«
Da hackte Sprezius zu. »Herr Verteidiger, ich kann nicht dulden, daß Sie an Worten des Kaisers hier Kritik üben. Wenn Sie damit fortfahren, wird das Gericht Sie in Ordnungsstrafe nehmen.«
»Ich füge mich der Anordnung des Herrn Vorsitzenden«, sagte Buck, und die Worte wurden in seinem Munde immer runder und gewichtiger. »Ich werde also nicht vom Fürsten sprechen, sondern vom Untertan, den er sich formt; nicht von Wilhelm II., sondern vom Zeugen Heßling. Sie haben ihn gesehen! Ein Durchschnittsmensch mit gewöhnlichem Verstand, abhängig von Umgebung und Gelegenheit, mutlos, solange hier die Dinge schlecht für ihn standen, und von großem Selbstbewußtsein, sobald sie sich gewendet hatten.«
Diederich auf seinem Platz schnaufte. Warum schützte Sprezius ihn nicht? Es wäre seine Pflicht gewesen! Einen nationalgesinnten Mann ließ er in öffentlicher Sitzung verächtlich machen – von wem? Vom Verteidiger, dem berufsmäßigen Vertreter der subversiven Tendenzen! Da war etwas faul im Staat! ... Es begann in ihm zu kochen, wenn er Buck ansah. Das war der Feind, der Antipode; da gab es nur eins: zerschmettern! Diese beleidigende Menschlichkeit in Bucks dickem Profil! Man fühlte seine herablassende Liebe zu den Worten, die er bildete, um Diederich zu kennzeichnen!
»Wie er«, sagte Buck, »waren zu jeder Zeit viele Tausende, die ihr Geschäft versahen und eine politische Meinung hatten. Was hinzukommt und ihn zu einem neuen Typus macht, ist einzig die Geste: das Prahlerische des Auftretens, die Kampfstimmung einer vorgeblichen Persönlichkeit, das Wirkenwollen um jeden Preis, wäre er auch von anderen zu bezahlen. Die Andersdenkenden sollen Feinde der Nation heißen, und wären sie zwei Drittel der Nation. Klasseninteressen, mag sein, aber umgelogen durch Romantik. Eine romantische Prostration vor einem Herrn, der seinem Untertan von seiner Macht das Nötige leihen soll, um die noch Kleineren niederzuhalten. Und da es in Wirklichkeit und Gesetz weder den Herrn noch den Untertan gibt, erhält das öffentliche Leben einen Anstrich schlechten Komödiantentums. Die Gesinnung trägt Kostüm, Reden fallen, wie von Kreuzrittern, indes man Blech erzeugt oder Papier; und das Pappschwert wird gezogen für einen Begriff wie den der Majestät, den doch kein Mensch mehr, außer in Märchenbüchern, ernsthaft erlebt. Majestät ...«, wiederholte Buck, das Wort durchschmeckend, und einige Hörer schmeckten es mit. Die Leute vom Theater, denen es offenbar mehr auf die Worte als auf den Sinn ankam, legten die Hand an die Ohren und murmelten beifällig. Den andern sprach Buck zu gewählt, und daß er an keinen Dialekt anklang, befremdete. Aber Sprezius war im Sessel emporgestiegen, er kreischte beutegierig: »Herr Verteidiger, zum letzten Male fordere ich Sie auf, die Person des Monarchen nicht in die Debatte zu ziehen.« Durch das Publikum lief eine Bewegung. Wie Buck den Mund wieder öffnete, versuchte jemand zu klatschen, Sprezius hackte noch rechtzeitig zu. Es war eins der auffallenden Mädchen gewesen.
»Erst der Herr Vorsitzende«, sagte Buck, »hat die Person des Monarchen genannt. Aber, da sie nun genannt ist, darf ich, ohne Verlegenheit für das Gericht, feststellen, daß diese Person durch die Vollständigkeit, mit der sie im heute gegebenen Moment die Tendenzen des Landes ausdrückt und darstellt, etwas fast Verehrungswürdiges bekommt. Ich will den Kaiser – und der Herr Vorsitzende wird es nicht auf sich nehmen, mich zu unterbrechen – einen großen Künstler nennen. Kann ich mehr tun? Wir alle kennen nichts Höheres ... Eben darum sollte es nicht erlaubt sein, daß jeder mittelmäßige Zeitgenosse ihm nachäfft. Im Glanz des Thrones mag einer seine zweifellos einzige Persönlichkeit spielen lassen, mag reden, ohne daß wir mehr von ihm erwarten als Reden, mag blitzen, blenden, den Haß imaginärer Rebellen herausfordern und den Beifall eines Parterres, das seine bürgerliche Wirklichkeit darüber nicht vergißt ...«
Diederich erbebte; und alle hatten die Münder offen und gespannte Augen, als bewegte Buck sich auf einem Seil zwischen zwei Türmen. Ob er stürzte? Sprezius hielt den Schnabel gezückt. Aber kein Zug von Ironie zeichnete die Miene des Verteidigers: es schwang sich etwas darin auf, wie eine erbitterte Begeisterung. Plötzlich ließ er die Mundwinkel fallen, grau schien es um ihn her zu werden.
»Aber ein Netziger Papierfabrikant?« fragte er. Er war nicht gestürzt, er hatte wieder Boden unter den Füßen! Nun sah alles sich nach Diederich um, und man lächelte sogar. Auch Emmi und Magda lächelten. Buck hatte seine Wirkung, und Diederich mußte sich leider sagen, daß ihr gestriges Gespräch auf der Straße hierfür die Generalprobe gewesen sei. Er duckte sich unter dem offenen Hohn des Redners.
»Die Papierfabrikanten neigen heute dazu, sich eine Rolle anzumaßen, für die sie nicht fabriziert sind. Zischen wir sie aus! Sie haben kein Talent! Das ästhetische Niveau unseres öffentlichen Lebens, das vom Auftreten Wilhelms II. eine so ruhmreiche Erhöhung erfahren hat, kann durch Kräfte wie den Zeugen Heßling nur verlieren ... Und mit dem Ästhetischen, meine Herren Richter, sinkt oder steigt das Moralische. Erlogene Ideale ziehen unlautere Sitten nach sich, dem politischen Schwindel folgt der bürgerliche.«
Buck hatte sein Organ streng gemacht. Zum ersten Male erhob er es nun bis zum Pathos.
»Denn, meine Herren Richter, ich beschränke mich nicht auf die mechanistische Doktrin, die der Partei des sogenannten Umsturzes so teuer ist. Mehr Veränderung als alle Wirtschaftsgesetze erzeugt in der Welt das Beispiel eines großen Mannes. Und wehe, wenn es ein falsch verstandenes Beispiel war! Dann kann es geschehen, daß über das Land sich ein neuer Typus verbreitet, der in Härte und Unterdrückung nicht den traurigen Durchgang zu menschlicheren Zuständen sieht, sondern den Sinn des Lebens selbst. Schwach und friedfertig von Natur, übt er sich, eisern zu scheinen, weil in seiner Vorstellung Bismarck es war. Und mit unberechtigter Berufung auf einen noch Höheren wird er lärmend und unsolide. Kein Zweifel: die Siege seiner Eitelkeit werden geschäftlichen Zwecken dienen. Zuerst bringt die Komödie seiner Gesinnung einen Majestätsbeleidiger ins Gefängnis. Später findet sich, was daran zu verdienen ist. Meine Herren Richter!«
Buck breitete die Arme aus, als solle seine Toga die Welt umfassen, er trug die gesammelte Miene eines Führers. Und er legte los, mit allem, was er hatte.
»Sie sind souverän; und Ihre Souveränität ist die erste und stärkste. In Ihrer Hand ist das Schicksal des einzelnen. Sie können ihn in das Leben schicken oder ihn sittlich töten – was kein Fürst kann. Die Norm aber der Individuen, die Sie gutheißen oder verwerfen, bildet ein Geschlecht. Und so haben Sie Macht über unsere Zukunft. Bei Ihnen liegt die unermeßliche Verantwortung, ob künftig Männer wie der Angeklagte die Gefängnisse füllen und Wesen wie der Zeuge Heßling der herrschende Teil der Nation sein sollen. Entscheiden Sie sich zwischen den beiden! Entscheiden Sie sich zwischen Streberei und mutiger Arbeit, zwischen Komödie und Wahrheit! Zwischen einem, der, um selbst emporzukommen, Opfer verlangt, und dem andern, der Opfer darbringt, damit Menschen es besser haben! Der Angeklagte hat getan, was erst wenige vermochten: er hat sich seines Herrentums begeben, hat denen, die unter ihm standen, gleiches Recht zugebilligt, Behagen und Hoffnungsfreude. Und jemand, der in seinem Nächsten so sehr sich selbst achtet, sollte fähig sein, von der Person des Kaisers mit Nichtachtung zu sprechen?«
Die Hörer atmeten. Mit neuen Gefühlen blickte man auf den Angeklagten, der die Stirn in die Hand stützte, auf seine Frau, die starr vor sich hinsah. Mehrere schluchzten. Der Vorsitzende sogar hatte eine betretene Miene. Seine Lider klappten nicht mehr; mit runden Augen saß er da, als hätte Buck ihn eingefangen. Der alte Kühlemann nickte achtungsvoll, und an Jadassohn zeigten sich unwillkürliche Zuckungen.
Aber Buck mißbrauchte seinen Erfolg, er ließ sich berauschen. »Das Erwachen des Bürgers!« rief er. aus. »Die wahrhaft nationale Gesinnung! Die stille Tat eines Lauer tut mehr dafür als hundert hallende Monologe selbst eines gekrönten Künstlers!«
Sofort klappte Sprezius wieder; und man sah ihm an, er hatte sich besonnen, wie die Dinge eigentlich lagen, und versprach sich, nicht zum zweiten Male auf den Leim zu gehen. Jadassohn feixte; und im Saal fühlten die meisten, der Verteidiger habe verspielt. Unter allgemeiner Unruhe ließ der Vorsitzende ihn das Lob des Angeklagten beenden.
Als Buck sich dann setzte, wollten die Schauspieler klatschen; aber Sprezius hackte nicht einmal mehr zu, er warf nur einen gelangweilten Blick hin und fragte, ob der Herr Staatsanwalt zu replizieren wünsche. Jadassohn verneinte geringschätzig, und der Gerichtshof zog sich rasch zurück. »Das Urteil wird bald gefunden sein«, sagte Diederich mit Achselzucken – obwohl ihm von Bucks Rede noch arg beklommen war. »Gott sei Dank!« sagte die Schwiegermutter des Bürgermeisters. »Man sollte nicht glauben, daß vor fünf Minuten die Leute noch obenauf waren.« Sie wies auf Lauer, der sich das Gesicht trocknete, und auf Buck, den wahrhaftig die Schauspieler beglückwünschten.
Schon kehrten die Richter zurück, und Sprezius verkündete das Urteil: sechs Monate Gefängnis – was allen die natürlichste Lösung schien. Dazu war noch auf Verlust der vom Angeklagten bekleideten öffentlichen Ämter erkannt worden.
Der Vorsitzende begründete das Urteil damit, daß eine beleidigende Absicht zum Tatbestande des Delikts nicht erforderlich sei. Daher tue auch die Frage, ob eine Provokation stattgefunden habe, nichts zur Sache. Im Gegenteil: daß der Angeklagte es gewagt habe, vor national gesinnten Zeugen so zu sprechen, falle erschwerend ins Gewicht. Die Behauptung des Angeklagten, daß er nicht den Kaiser gemeint habe, sei vom Gericht für hinfällig befunden. »Den Hörern der Rede mußte sich – namentlich bei ihrer Parteistellung und der ihnen bekannten antimonarchischen Richtung des Angeklagten – die Ansicht aufdrängen, daß seine Äußerung sich gegen den Kaiser richte. Wenn der Angeklagte vorgibt, daß er sich wohl gehütet habe, eine Majestätsbeleidigung zu begehen, so hat er eben nicht die Beleidigung selbst, sondern nur ihre strafrechtlichen Folgen vermeiden wollen.«
Dies leuchtete allen ein, man fand es von Lauer begreiflich, aber hinterlistig. Der Verurteilte ward sofort verhaftet; als man auch dies noch miterlebt hatte, zerstreute man sich, unter Bemerkungen, die ihm nicht günstig waren. Nun war es wohl aus mit Lauer, denn was sollte in dem halben Jahr, das er absitzen mußte, aus seinem Geschäft werden! Infolge des Urteils war er auch nicht mehr Stadtverordneter. Er konnte künftig weder nützen noch schaden! Dem Buckschen Klüngel, der so dick tat, war der Denkzettel zu gönnen. Man sah sich nach der Frau des Sträflings um; aber sie war verschwunden. »Nicht einmal die Hand hat sie ihm gegeben! Nette Verhältnisse!«
Aber in den Tagen, die folgten, geschahen Dinge, die zu noch herberen Urteilen nötigten. Judith Lauer hatte sofort ihre Koffer gepackt und war nach dem Süden gereist. Nach dem Süden! – indes ihr leiblicher Mann dort oben in der Vogtei saß, mit einer Wache unter seinem Gitterfenster. Und – ein auffallendes Zusammentreffen! – Landgerichtsrat Fritzsche nahm plötzlich Urlaub. Eine Karte von ihm aus Genua gelangte an Doktor Heuteufel, der sie umherzeigte: wahrscheinlich, um sein eigenes Benehmen in Vergessenheit zu bringen. Es wäre kaum noch nötig gewesen, die Lauerschen Dienstboten und die armen verlassenen Kinder auszuforschen: man wußte Bescheid! Der Skandal war so groß, daß die »Netziger Zeitung« eingriff, mit einer an die oberen Zehntausend gerichteten Warnung, nicht den umstürzlerischen Tendenzen durch Zügellosigkeit entgegenzukommen. In einem zweiten Artikel legte Nothgroschen dar, daß man unrecht tue, Reformen, wie die in Lauers Betrieb eingeführten, besonders zu rühmen. Denn was hatten die Arbeiter von der Beteiligung? Im Durchschnitt, nach Lauers eigenen Auf Stellungen, noch nicht achtzig Mark im Jahr. Das konnte man ihnen auch in Form eines Weihnachtsgeschenkes zuwenden! Aber freilich, dann war es keine Demonstration mehr gegen die bestehende Gesellschaftsordnung. Dann hatte auch die vom Gericht festgestellte antimonarchische Gesinnung des Fabrikherrn nichts dabei zu gewinnen! Und wenn Herr Lauer auf den Dank der Arbeiter gezählt hatte, konnte er sich jetzt eines Besseren belehren: vorausgesetzt, so fügte Nothgroschen hinzu, daß er im Gefängnis das sozialdemokratische Blatt zu lesen bekam. Denn das warf ihm vor, daß er durch seine leichtsinnige Majestätsbeleidigung mehrere hundert Arbeiterfamilien in ihrer Existenz gefährdet habe.
Die »Netziger Zeitung« trug der veränderten Lage noch in anderer, sehr bezeichnender Weise Rechnung. Ihr Direktor Tietz wandte sich an das Heßlingsche Werk, wegen eines Teils der Papierlieferung. Die Auflage sei gestiegen und Gausenfeld zur Zeit überlastet. Diederich sagte sich sofort, daß dahinter der alte Klüsing selbst stecke. Er war beteiligt an der Zeitung, ohne ihn geschah dort nichts. Wenn er etwas aus der Hand ließ, fürchtete er offenbar, sonst noch mehr zu verlieren. Die Kreisblätter! Die Lieferungen für die Regierung! Angst vor Wulckow, das war es. Daß Diederich durch seine Zeugenaussagen den Präsidenten auf sich aufmerksam gemacht hatte, mußte der Alte wohl erfahren haben – obwohl er kaum mehr in die Stadt kam. Die alte Papierspinne dort hinten in ihrem Netz, das über die Provinz und noch weiter gespannt war, witterte Gefahr und ward unruhig. »Er möchte mich abspeisen mit der ›Netziger Zeitung‹! Aber so billig tun wir's nicht. In dieser harten Zeit! Hat er 'ne Ahnung von meiner Großzügigkeit. Wenn ich erst Wulckow hinter mir habe: – ich beerbe ihn einfach!« sagte Diederich laut, mit einem Schlag auf das Schreibpult, so daß Sötbier emporschrak. »Hüten Sie sich vor Aufregungen!« höhnte Diederich. »In Ihren Jahren, Sötbier! Ich gebe zu, früher haben Sie manches geleistet für die Firma. Aber die Geschichte mit dem Holländer war schlimm; da haben Sie mich entmutigt, und jetzt hätte ich ihn nötig für die ›Netziger Zeitung‹. Sie sollten sich ausruhen, es gelingt nichts mehr.«
Zu den Folgen, die der Prozeß für Diederich hatte, gehörte auch ein Brief des Majors Kunze. Dieser wünschte ein bedauerliches Mißverständnis aufzuklären und teilte mit, daß der Aufnahme des hochverdienten Herrn Doktors in den Kriegerverein nichts mehr im Wege stehe. Diederich, gerührt durch seinen Triumph, hätte am liebsten gleich die beiden Hände des alten Soldaten ergriffen. Glücklicherweise erkundigte er sich und erfuhr, daß der Brief auf Herrn von Wulckow selbst zurückzuführen war! Der Regierungspräsident hatte den Kriegerverein mit seinem Besuch beehrt und sich gewundert, den Doktor Heßling nicht dort zu finden. Da ward Diederich es inne, was für eine Macht er war. Er handelte demgemäß. Er antwortete auf die private Eröffnung des Majors durch ein offizielles Schreiben an den Verein und forderte den persönlichen Besuch von zwei Mitgliedern des Vorstandes, der Herren Major Kunze und Professor Kühnchen. Sie kamen auch; Diederich empfing sie, zwischen Geschäftsbesuchen, die er absichtlich auf diese Stunde gelegt hatte, in seinem Büro und diktierte ihnen die Adresse, von deren Überreichung er die Annahme ihres ehrenvollen Antrags abhängig machte. Darin ließ er sich bestätigen, daß er, mit glänzender Unerschrockenheit allen Verleumdungen trotzend, seine treudeutsche und kaisertreue Gesinnung bewährt habe. Durch sein Eingreifen sei es gelungen, den vaterlandslosen Elementen Netzigs eine empfindliche Schlappe beizubringen. Aus einem unter den größten persönlichen Opfern geführten Kampf sei Diederich als lauterer, echt deutscher Charakter hervorgegangen.
Bei der Feier seiner Aufnahme verlas Kunze die Adresse, und Diederich, Tränen in der Stimme, bekannte sich unwürdig, so viel Lob entgegenzunehmen. Wenn in Netzig die nationale Sache Fortschritte mache, so sei dies, nächst Gott, einem Höheren zu danken, dessen erhabene Weisungen er seinerseits in freudigem Gehorsam ausführe ... Alle, auch Kunze und Kühnchen, waren bewegt. Es war ein großer Abend. Diederich stiftete einen Pokal – und er hielt eine Rede, worin er die Schwierigkeiten berührte, denen die neue Militärvorlage im Reichstage begegnete. »Einzig unser scharfes Schwert«, rief Diederich aus, »sichert unsere Stellung in der Welt, und es scharf zu erhalten, ist der Beruf Seiner Majestät des Kaisers! Wenn der Kaiser ruft, wird es herausfliegen aus der Scheide! Die Gesellschaft im Reichstag, die da was dreinreden will, mag sich hüten, daß es sie nicht zuerst trifft. Mit Seiner Majestät ist nicht zu spaßen, meine Herren, das kann ich Ihnen nur sagen.« Diederich blitzte, und er nickte schwerwiegend, als wüßte er manches. Im selben Augenblick kam ihm wirklich ein Einfall. »Neulich auf dem Brandenburgischen Provinziallandtag hat der Kaiser dem Reichstag den Standpunkt klargemacht. Er hat gesagt: Wenn die Kerls mir meine Soldaten nicht bewilligen, räum ich die ganze Bude aus!« – Das Wort erregte Begeisterung; und als Diederich allen, die ihm zutranken, nachgekommen war, hätte er nicht mehr sagen können, ob es von ihm selbst war oder nicht doch vom Kaiser. Schauer der Macht strömten aus dem Wort auf ihn ein, als wäre es echt gewesen ... Tags darauf stand es in der »Netziger Zeitung« und schon am Abend im »Lokal-Anzeiger«. Schlechtgesinnte Blätter verlangten Dementi, aber es blieb aus.