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Er wurde früh genug geboren, um als Kind die Revolution echoartig mitzuerleben. Die Berichte der Ereignisse, die damals die Generationen auseinanderrissen, drangen von Paris nach Grenoble, wo heute sein Denkmal steht. Das Wohnhaus der Familie Beyle lag niedrig und hell am Ende einer Weinlaube. Er liebte seine Schwester, haßte seinen Vater und behauptete später, im zartesten Alter habe er erotische Eindrücke von seiner Mutter empfangen. Seine Beziehungen zu seinen Eltern werden beiläufig die gewesen sein, von denen 1920 so viele junge Leute großes Aufheben machten. Er selbst hat sie in seinen Geheimbüchern aufgezeichnet; seine Romane tragen schwerlich die Spur davon.
Er war nicht in dem Maße Analytiker, um sich nur einfach der Selbstzergliederung zu widmen. Keiner seiner Charaktere ist einfach er selbst, ausgenommen vielleicht der Held eines kürzlich wiederaufgefundenen Romans, den er angefangen und bald abgebrochen hatte. Er nahm sich selbst zum Ausgang, setzte hinzu und zog ab; besonders zog er ab. Er verschob die Lebenslage, fragte: wie würde man handeln, wenn man erst 1805 geboren wäre? In jedem Fall sah er das Geschöpf handeln, wie er auch sich nur handelnd kannte. Er hatte seine Theorie des Glücks; aber das schlimmste Unglück, nicht handeln zu können, hat er kaum in Betracht gezogen. Den Helden seines ersten Romans hat er sich impotent gedacht, sagt es indessen nirgends im Buch. Warum nicht? Es muß ein verschwiegenes Opfer an das Unglück gewesen sein. Dann folgten nur noch Gestalten von äußerster Lebenskraft.
Die Energie, sein wichtigster Gegenstand und seine ewige Forderung, kann modern und leichtverständlich aufgefaßt werden. Vielleicht war er nur, was auch heute wieder alle sind? Ein Sohn der gelockerten Gesellschaft und des Krieges, respektlos und entschlossen, durchzudringen, mit Gewalt und abenteuerlich oder dank den bürgerlichen Mitteln. Als junger Mensch versuchte er von dem verhaßten Vater das Kapital zu erlangen, um mit Kolonialwaren zu handeln – und dies gewiß nicht im kleinen. Schnell und ohne Vorurteile reich zu werden, war damals sein Entschluß. Als er vorher mit siebzehn Jahren durchgegangen war zur Armée d'Italie, tat er das andere, was ein jugendlicher Drang nach Erfolg in jenem Zeitpunkt tun konnte. Es war unter dem General Bonaparte. Nach seinen Abwegen als Kaufmann, Verfasser eines komischen Stückes und Liebhaber der jungen Schauspielerin, für die er unbedingt reich werden wollte, trat er endgültig in den Dienst des Kaisers.
Dies waren, bis Napoleon stürzte, für Stendhal, einen seiner Soldaten, die Jahre des nach außen gerichteten Lebens und einer solchen Fülle von Handlung, daß ihm in den folgenden Jahrzehnten schien, er handelte immer noch. Denn ihm strömte von dorther fortwährend Kraft zu. Die Energie, die er verlangte, er hatte sie gesehen; von ihrem Strom bewegt, hatte er gelebt. Sein übriges Leben arbeitete weiter mit der damals erworbenen Freudigkeit. Wollte sie in den trüber werdenden Tagen versagen, sofort rührte sich das Pflichtgefühl dessen, der siegreich und glücklich gewesen war und es bleiben mußte. Nicht anders bestand zur gleichen Zeit sein verbannter und kranker Kaiser darauf, so genannt zu werden bis zuletzt vor der Welt, die seine unvergängliche Spur trug.
Henri Beyle war Intendant in Braunschweig und preßte aus dem Land etwas mehr heraus, als er mußte, nur, um Napoleon zu gefallen. Als Moskau brannte, nahm er aus dem Hause, das er bewohnte, allein einen Band Voltaire mit. Er bedauerte, daß die Ausgabe unvollständig wurde, aber ohnedies verbrannte die ganze Bibliothek. Am gleichen Tage sagte ihm der Kaiser: »Sie sind ein tapferer Mann, Sie haben sich rasiert.« Das sind seine großen Erinnerungen. Am Tage von Wagram hatte die Hand Napoleons einen Augenblick lang seine Brust berührt. Daran erinnerte er den Gefangenen auf Sankt Helena, als er ihm seine Geschichte der italienischen Malerei widmete: »Der Grenadier, den Sie am Knopf faßten.« Er setzt sich im Rang herab, denn nur von diesem einen unter allen Menschen scheint der Abstand ihm unermeßlich.
Als er Napoleon diente, hat er nichts geschrieben. Die Sicherheit, zu handeln, ersetzt vollauf jene andere Illusion, die das Schreiben ist. Auch beschreibt niemand, besonders nicht mit Kraft und letzter Hingabe, einen Zustand seines Lebens, der ihm völlig genehm ist; der richtig Verwendete muß über sich nicht nachdenken. Die Welt, unter der er nicht leidet, reizt ihn nicht zur Gegenwehr. Worte und Sätze sind unter anderem auch Gegenwehr, ein ganz und gar glückliches Zeitalter hätte keine Literatur. Seine Welt damals kreiste um den größten Mann, der seit vielen Jahrhunderten erschienen war. Sie kreisen lassen, ihn bewundern und schweigen! Später, nach den Ereignissen, hat er Napoleon seinen Despotismus vorgeworfen, ihn aber auch dann noch entschuldigt mit seinem Genie.
Hier sind die Punkte, in denen der junge Stendhal zu vergleichen wäre mit seinen Altersgenossen einhundertzwanzig Jahre später. Er hat den Haß auf die Alten gepflegt. Es kam ihm nicht darauf an, wie man reich wird. Er nahm die Zeit und ihre Bedingungen sachlich. Geld verdienen und Krieg führen, erkannte er als das natürliche Gesetz der Revolution in ihrer imperialistischen Hälfte. Er hatte das Bedürfnis, sich in heftiger Bewegung zu erhalten und einem selbstgewählten Führer widerstandslos zu gehorchen. Es sieht aus, als wären dies Ähnlichkeiten genug. Der Unterschied dagegen liegt vor allem in der Produktivität – des Zeitalters, seines Helden und Stendhals, in dem sie noch schlief. Der Unterschied liegt auch in einer anderen Ideologie, der des 18. Jahrhunderts. Aber gerade auf Grund dieser schöpferischen Ideologie war Napoleon imstande, das Gesicht der Nachwelt zu formen, und Stendhal konnte solche Romane hinterlassen, daß bis an den letzten Schluß des bürgerlichen Zeitalters die wechselnden Geschlechter sich darin wiedererkennen werden.
Dies Zeitalter war sogleich ganz da und führte im Abriß unverzüglich alles vor, was es dann in hundertfünfzig Jahren weitschweifig wiederholt hat. Dem Führer, der seiner geistigen Herkunft das innere Recht verdankte, Kaiser zu sein, traten alsbald gegenüber die Spekulanten. Sie verdienten an seinen Ruhmestaten, er haßte sie, kam aber niemals los von ihnen, sie faßten ihn im Grunde als ihr Vollzugsorgan auf. Der Revolution war vom Kapital die faszistische Wendung gegeben – schon damals; und in jedem späteren Zeitpunkt, sooft das Kapital den Aufschub der demokratischen Verwirklichungen brauchte, was zeigte sich wieder? Die Affen Napoleons. Die tiefste und edelste aller Ideologien erstreckt sich über dies Zeitalter, seine Helden sind in die Glorie unseres Menschentums getaucht, wie keine vorher. Zuletzt aber ist alles, was ihren Himmel rötet, doch nur wieder das Feuer der Schlachten. Sie waren Betrogene. Napoleon selbst ist dahingegangen im Irrtum über die von ihm veränderte Welt. Er glaubte ihr die Freiheit zu hinterlassen, und sie verfiel der Geldherrschaft.
Stendhal hätte entschieden, daß weniger die Freiheit zählt, die damals in den Vereinigten Staaten von Amerika ihre Stätte noch hatte und die er dort nicht anziehend fand. Was ihn ergriff, war der Kämpfer und Befreier, und Treue hielt er nur den Eigenschaften einer Seele. Sein Kaiser war ihm selbst verwandt durch die leichte Erregbarkeit des geistigen Menschen, durch Worte wie dieses: »Die literarische Bildung verdeutlicht den Ehrbegriff und beschämt die Niedrigen.« Sein unerreichbares Vorbild hingegen blieb Napoleon durch die Festigkeit seiner Entschlußkraft, diesen »Zwei-Uhr-nachts-Mut«, den niemand hat. Er hielt sich für seinen Untertan auf Grund moralischer Hoheiten, niemals durch Erfolg und Macht. Napoleon war es, der ihn gelehrt hatte, das Handeln mit dem Denken und Fühlen als dieselbe Größe anzusehen; denn er achtete Corneille gleich einem Fürsten und sein eigenes Gesetzbuch für höher als seine vierzig Siege. Dies hat auch Stendhal berechtigt, als die Tage des stark bewegten äußeren Lebens vorbei waren, das innere für nicht geringer zu nehmen.
Während sein Herr auf Sankt Helena zu Ende ging, schrieb und liebte Stendhal in Italien. Das bourbonische Frankreich hatte für den Offizier des Kaisers keine Verwendung, und im österreichischen Mailand wurde er nur als unauffälliger Privatmann geduldet. Er widmete sich der Kunst und den Frauen – alles mit der unbegrenzten, zielsicheren Hingabe dessen, der seine Aufgabe erfüllt, wie vorher, als er dem Kaiser diente. Auch die Bilder, auch die Geliebten sind Gelegenheiten, sich zu bewähren. Die Seele fragt nicht, ob Europa erobert wird oder dies Herz. Ihre Sache ist nur, auf der Höhe zu bleiben. Es kommt einzig darauf an, der glückliche Sieger zu sein wie je. Auch hier gelingt es, ihm zufolge, durch Willenskraft. Nach seiner Meinung geht man jeden Morgen neu auf die Jagd nach dem Glück, und ohne Beute nach Hause zu kommen, ist unrühmlich. Er hat etwas gefunden, das viel später ganz andere Menschen wiederentdeckten: die Pflicht, glücklich zu sein.
Bei Frauen glücklich sein, hieß nicht, von ihnen viele besitzen; es bedeutete, für sie zu empfinden und durch sie zu erleben. Er konnte ihr Held nicht werden, ohne einnehmende Gestalt, wie er ihnen vorkommen mußte, und mit Gesichtszügen, die merkwürdigerweise gleichzeitig zu gewöhnlich und zu geistreich waren. Die meisten, die er liebte, haben gemerkt, daß sie ihn zum besten halten konnten, und machten Gebrauch davon. Indes das Scala-Theater die angebetete Oper von Cimarosa spielte und davon allein sein Puls schon freudiger schlug, besuchte er in ihren Logen schöne Damen, die sowohl einen Gatten wie einen Cicisbeo hatten, sprach ihnen von Liebe und ließ sich in ihr Vertrauen ziehen. Es war das unter Metternich erlaubte Gespräch, die im Hause verteilten Vigilanten hätten es hören dürfen. Es war auch eine ihm nicht verbotene Leidenschaft. Welcher anderen, als der Liebe um des Liebens willen konnte ein auf Halbsold gesetzter Offizier nachgehen.
Endlos von Liebe sprechen, ihr nah und näher kommen in der Berührung der Blicke und der Vorstellungen, Wissen sammeln, das aus lauter Genüssen besteht, und alles, was die Neugier des Blutes hervorzaubert an Illusionen, nachher zu Erkenntnissen umschmelzen: das war es wohl, so sah sein Mailänder Glück aus. Sein Buch über die Liebe, ihr Gesetzbuch, dessen Paragraphen er nachschrieb, wenn solch ein Abend vorbei war, aus Ehrgeiz ist es nicht entstanden – sondern weil ein müßiger Mensch, von den Frauen entzückt und auch sie endlich entzückend durch die Macht seiner Schwärmerei, sich die geringe Mühe nimmt, seine glücklichsten Stunden aufzuzeichnen. Das gibt seinem Buch »De l'Amour« das Leichte und auch jenen Zug von Unvergänglichkeit.
Im Zeitlichen ist es achtzehntes Jahrhundert, das hier durch das ganze erste Drittel des neunzehnten, mit ihm verarbeitet, am Leben erhalten wird. Nur bei Stendhal bewahrte es sich frisch. Sein Verstand war geschult an den materialistischen Denkern, die damals außer Geltung kamen, und er blieb seinem Lehrer Destutt de Tracy getreu in allem, was der Verstand folgert. Die Erkenntnisse seiner Philosophen wurden für ihn erst recht zeitgemäß, nun die wiedererrichtete Herrschaft des Königtums und der Kirche dem Urteil nichts entgegensetzte, außer verachteten Tatsachen. Stendhal sah die längst gefundenen Wahrheiten mit Gewalt niedergehalten, er war daher überzeugt, daß sie nur aus Feigheit verleugnet wurden. Er glaubte, niemals habe es in der Welt ein solches Maß von Heuchelei gegeben wie 1820. Er wollte nicht anerkennen, was dennoch wirklich vorkommt, da auch wir es heute wieder feststellen müssen. Es ereignet sich tatsächlich, daß man der Wahrheiten, ohne sie widerlegt zu haben, überdrüssig wird. Sie sind den Interessen unbequem, und sie ermüden die durch schwere Schickungen geschwächten Köpfe. Überdies stehen sie den Leidenschaften des Tages im Wege; nur wenig sophistische Nachhilfe ist nötig, damit eine ganze Jugend sie allen Ernstes aus dem Auge verliert. Die Wahrheiten des vorigen Geschlechtes sind eine Weile scheintot. Da sie aber noch längst nicht alle ihre Kraft an das wirkliche Leben abgegeben haben, werden sie unfehlbar aus diesem Schlaf wieder erwachen.
Stendhal vertraute auf die Zukunft der Wahrheiten, obwohl er seine Zeitgenossen für ausgemachte Heuchler hielt. Er trennte sich von ihnen und bemerkte kaum, daß er nicht als denkendes Wesen, wohl aber als fühlendes, durchaus von ihrer Art war. Er empfand wie ein Romantiker, der Verstand hingegen überprüfte die Regungen, und der Stil, in dem er sich zu schreiben bemühte, war der nüchterne und starke des Code Napoléon. Er war einfach vollständiger als die anderen, die ganz beschränkt auf das Gefühl und seinen sinnlichen Ausdruck blieben. Sie machten die Zeitrichtung mit; der junge Victor Hugo schrieb den Bourbonen schöne Gelegenheitsverse, der junge Musset gab an der Krankheit des Jahrhunderts natürlich Voltaire schuld, denn heute würde er Anatole France beschuldigen. Sie sollten sich noch wandeln, der Geist Stendhals hatte schon sein endgültiges Gepräge, ihm war nicht mehr beizukommen.
Durch das Gefühl hängen wir unvermeidlicher als durch unsere Ideen mit dem gegebenen Zeitabschnitt zusammen. Der Stendhal der Mailänder Jahre schwärmte für Cimarosa und Mozart, Correggio und Canova ganz wie für seine Freundin mit einem unverkennbaren Aufschwung vom Boden, ja, im Schweben schwärmte er, die Augen erhoben, und er hatte trotz der zuchtvollen Sprache nicht mehr seine eigene Stimme, die Göttlichen tönten aus ihm. Keine andere Epoche kannte jemals einen untersetzten Mann, früheren Verwaltungsbeamten mit gewöhnlichem, aber geistreichem Gesicht, der fühlen konnte bis zur Schwelgerei und doch geheimnisvoll zart. Wenn er eine Frau ernstlich zu lieben begann, verschloß er sich sofort und zeigte Kälte. Mit derselben Zurückhaltung spricht er von den anderen Gegenständen seiner Seele, und es scheint, als gäbe es zwischen ihm und Correggio immer noch mehr, als wir erfahren dürfen. Dies war nichts Geringeres als sein Zug nach Dauer, nach Unsterblichkeit, derselbe Antrieb, der die ganze Romantik erst bewegt hat. Dem Denkenden ist er verboten, um so eher erlaubt ihn sich der Fühlende. Wir sterben und nur die Schönheit nicht. Aber es ist ein Geheimnis zwischen ihr und wenigen.
So sein Empfinden. Seine Theorie hat nichts damit zu tun, denn er definiert die Schönheit als ein Versprechen von Glück – noch nicht einmal als ein greifbares Glück und überhaupt als keine Tatsache, viel weniger als eine unvergängliche. Unsere sterblichen Organismen sind es, die sie aneinander weitergeben. Correggio überliefert sie Stendhal, Millionen anderer erfahren nicht das erste Wort dieser hervorragenden Methode, glücklich zu sein. Es hätte keinen Zweck, sie der Menge vermitteln zu wollen. Wenn Stendhal sich an andere wandte, betraf es vor allem den Kreis, der in den Mailänder Salons verkehrte, miteingerechnet die Gäste aus ganz Europa. Er bestätigte durch seine ersten Bücher die vorher in Person geführten Unterhaltungen. Darüber hinaus gab es in Paris und London zweifellos noch einige andere »Dilettanten« im italienischen Sinn; für Stendhal bedeutete das Wort allerdings nicht nur »Kunstliebhaber«, es hieß auch »Mitglied der geistig vornehmsten Gesellschaft, Reiteroffizier Napoleons, daher Aristokrat«. Der Name »de Stendhal« entstand so. Jenen »Dilettanten« bot er über die Kunst, die Liebe und über das zeitgenössische Italien zu lesen an, was nur aufgeklärte, feinfühlende Weltleute schätzen konnten. Den Rest der Welt bildeten mißgeborene Heuchler. Nicht Stendhal selbst, aber einer seiner Freunde in Turin behauptete, daß seinesgleichen den Gesichtern gewohnheitsmäßig ausweiche, auf der Straße sehe man an den Leuten hinauf bis zur Brust. Erst wenn ein Orden darauf war, ging man bis zum Gesicht.
Ist der Orden ein Gleichnis, dann hat Stendhal wenigstens damals nur für Personen mit Auszeichnungen geschrieben. Zum Beispiel meinte er seine außerordentlichen Promenades dans Rome vor allem als Führer für Reisende von Distinktion. Das Buch war aber die nie wieder gesehene Mischung von Kenntnis des Altertums und der mitlebenden Gesellschaft, es war sachlich, anekdotisch und noch geistvoller als einst die italienische Reise des Präsidenten de Brosses. Es setzte das achtzehnte Jahrhundert länger fort, als nötig gewesen wäre, – aber damit lag es nun so, daß die geistig verarmten Zeitgenossen das natürliche Wachstum der Demokratie unterbrochen hatten und sich selbst als Urteilende zum größten Teil ausschalteten. Was blieb dem Schriftsteller, der sich nicht entehren will, übrig? Die Freimaurerei der Intellektuellen wird immer wieder dort aufkommen, wo es gelungen ist, die Masse nach der falschen Seite zu ziehen. Der geistige Adel hat überall seine guten Gründe, die für die übrigen zu bedauern sind.
Der geistige Adel, Typ Stendhal, verbindet Empfindsamkeit mit Zynismus. Die geistige Nacktheit gleicht hier die Zartheiten der Seele aus. Übrigens ist sie das natürliche Vorrecht dessen, der von vornherein nur zu Gleichen spricht. Ein und derselbe Zynismus ist die Haltung großer Gewähltheit und einer besonders ausgesprochenen Männlichkeit, während er doch oft gewöhnlich aussieht. Er ist die Haltung dessen, der den selten gewordenen Mut, der Wahrheit gerade ins Gesicht zu sehen, täglich beweist, und daher allenfalls vernachlässigt auftreten darf wie ein Soldat im Kriege. Er ist eine Haltung. Mit den fortschreitenden Jahren wird er ein Mittel zur Selbstbehauptung. Als Stendhal dazu überging, Romane zu schreiben, veränderte er deshalb doch weder seine Ansprüche an den Leser noch seine Tonstärke, und die unmittelbarsten, lebendigsten Darstellungen einer Gesellschaft, die damals nur einer so verstand, drangen zu seiner Zeit kaum weiter als seine aufgezeichneten Mailänder Konversationen. Dafür sind sie aber bis zu uns gelangt, nicht anders, als hätte einer unserer Zeitgenossen eine Rückreise in das Jahr 1830 gemacht und brächte uns diese Romane mit. Er selbst hat gewußt, daß es so kommen werde, – wenigstens hat er es behauptet; aber gibt es eine Selbstgewißheit ohne Unterlaß, wenn niemand sie ihm bestätigte? Doch. Balzac schrieb ihm im Ton der hohen Kameradschaft – wie dem anderen, der auch noch in Betracht kommt. Das machte vieles gut.
Es war gleichwohl schwer, nach gewöhnlichem Maßstab war es ein schweres Leben, nur daß die tiefinnere Heiterkeit des vollständigen, daher neidlosen Menschen es dennoch beschwingte. »Leichtigkeit« hielt er aus eigenem Recht für die höchste Stufe des Könnens. Er schrieb auch nicht mühsamer als man liest, wenigstens glaubte er es. »Da ich nichts zu lesen habe, schreibe ich. Es ist dasselbe Vergnügen, aber heftiger.« In einem Zuge schrieb er viele Seiten, die Feder kam kaum nach. Er verwendete Abkürzungen, machte Worte unkenntlich, vermied Namen und gab sich selbst immer andere. Denn er fürchtete die politische Polizei auch noch unter dem Bürgerkönigtum, das doch ihn selbst zum politischen Beamten gemacht hatte. Sogleich nach dem Sieg der Liberalen hatte er sich gemeldet und war zum Konsul ernannt worden, zuerst in Triest. Da Metternich ihn nicht bestätigte, kam er nach Civitavecchia und blieb dort. In Paris war er nur auf Urlaub, und auch die Muße, um die französische Provinz zu beobachten, ersparte er von seinen Ferien. Die unmittelbarsten, lebendigsten Darstellungen der führenden Gesellschaft jener Tage, niedergelegt wurden sie in einer weit entfernten Kleinstadt. Seine Romane gelangten nicht einmal alle sofort an die Öffentlichkeit, mehrere blieben unfertig liegen, sie verschwanden später für lange in der Bibliothek seiner Heimatstadt Grenoble.
Unter seinen Fenstern glänzte oder stürmte das Meer. Über seinen Tisch hatte er Merksprüche an die Wand geschrieben, als hätte er von allem, was ihn leitete, noch jemals etwas aus dem Auge verlieren können. Seine gewöhnlichen Beziehungen waren geschäftlicher Art. Manchmal erregte ihn die Politik. Er vergaß dann ganz, daß er die Polizei fürchtete. Gehörte es im Grunde nicht nur zu seiner Haltung, wenn er annahm, man müsse auf ihn ein geheimes Auge haben? Die Juliregierung hatte einmal in der auswärtigen Politik einen Schritt getan, den der Soldat Napoleons entwürdigend fand, da versammelte er seine Untergebenen und dankte vor ihnen als Franzose ab. Dann ließ er seine Erklärung ohne weitere Folgen. Im Gegenteil beanspruchte er, daß ihm künftig bei seiner Pensionierung auch seine Dienstjahre unter dem Kaiser mit angerechnet würden. Übrigens hätte er auf sein Amt und auf die Einsamkeit jederzeit verzichtet; ihm fehlte der Verleger, der ihm statt dessen eine genügende Jahresrente aussetzte. Er war schwach nur in den Dingen, wo starke Männer es sein können. Natürlich fand ihn das nahende Alter traurig vor. Er wünschte sich noch, versetzt zu werden; er gestand: »Ich habe so viel Sonne gesehen.«
In der Jugend entscheidet man sich – ob volle Sonne oder gedämpfte Beleuchtung, Anstand oder Zynismus, Stil oder Realität. Es ist immerhin ein Willensakt, oder man macht es doch dazu, da die überwiegenden Neigungen vorsätzlich allein gepflegt werden. Dann wird daraus Haltung, Selbstbehauptung und endlich die Persönlichkeit, die nie anders denkbar war. Ist sie nicht doch in ihren Teilen auswechselbar? Stil hieß zu seiner Zeit Romantik, seine Empfindungsart wenigstens aber war romantisch. Andererseits hat das Haupt der romantischen Schule, Victor Hugo, bevor er in die Verbannung ging, gewisse Berichte verfaßt von einer Kraft der Klarheit und Einfachheit, die Stendhal nicht übertroffen hätte, und dies in denselben Jahren, als Stendhal seine Romane schrieb. Victor Hugo stand damals fest im wirklichen Leben, er war Mitglied des Oberhauses, der Code Napoléon lag ihm so nahe zur Hand, wie jenem anderen, der darin las, bevor er schrieb. Stendhal wollte die direkte Wirkung der Wirklichkeit – einer verschärften, nur ihm so deutlichen Wirklichkeit, aber doch der Wirklichkeit selbst. Victor Hugo hatte sich für eine indirekte Methode entschieden, dennoch gibt es Fälle, in denen sie ihre Rollen tauschten. Sie drückten eine Strecke ihrer Laufbahn dieselben Ereignisse und Vorgänge aus, und jede Epoche schreitet im Grunde als Einheit dahin.
Die Zeitgenossen kamen Victor Hugo entgegen; er brauchte sich nicht, wie Stendhal, in den Vorbemerkungen seiner Romane dagegen zu verteidigen, daß man ihn mit seinem verbrecherischen Helden verwechselte. Denn wenn bei Victor Hugo der Verbrecher das Opfer der Gesellschaft war, bei Stendhal übernahm er die Verantwortung selbst und bereute nicht. Vor allem ist Stendhal als unsozial empfunden worden, das ist der entscheidende Grund des Mißtrauens und des Mißerfolges. Gerade dies läßt sich wieder verstehen in Zeiten, die, wie heute, den Hang zur Gemeinschaft im Geistigen falsch anwenden. Es bedeutet nichts für einen Schriftsteller, Gemeinsinn haben; aber alles kommt für ihn und die Gesellschaft darauf an, ob man ihn später noch liest. Dann hat dieses vereinzelte Individuum, stärker als alle Gemeinschaftsbildungen seiner Tage – verbunden hat es Geschlechter, die sonst einander nicht kennen würden. Wie ganze Seiten seiner mitlebenden Gesellschaft für uns im undurchdringlichen Dunkel lägen ohne ihn, ebensogut führen manche seiner Gestalten schon unser Leben, sie wissen, wer wir sind.
Er hat mit der Nachwelt ein gutes Geschäft gemacht, aber auch kein besseres als die andere Richtung. Victor Hugo behält uns so viele Überraschungen vor wie er. Stendhal ist, wie er es verdiente, von einem materialistischen Denker, Taine, zehn Jahre nach dem Tode das erstemal wiederentdeckt worden. Das Jahr 1880, von dem er es erwartet hatte, brachte ihm wirklich die große Mode, nur daß es nicht seine erste war und nicht die letzte blieb. Er hatte mit einiger Absicht, aber hauptsächlich unfreiwillig dafür gesorgt, daß immer noch etwas aufzufinden, zu erfahren und zu erraten sich lohnte. Die Handschriften in Grenoble konnten mit ihren Abkürzungen und Entstellungen verschieden gelesen werden – und erst sein Leben! Er hat es für sich allein geschrieben, höchstens mit einem Achselzucken in Richtung der Nachwelt, wie wenn wir sprechen, und im Zimmer ist wohl jemand, aber er schläft noch. Da läßt sich alles sagen, alle Widersprüche, Grellheiten, Nacktheiten, – und wer, so ganz allein, selbst im Verzagen und noch im Ersterben seine Selbstachtung wahrt, der war stolz.
Er hat von allen das stolzeste Leben geführt. Er lebte aber auch noch nicht um des Gewerbes willen; er hält sich noch kurz vor dem Übergang von der alten, nur gesellschaftlichen Literatur zu der seither aufgekommenen, in der ein Schriftsteller seine Leser nicht mehr kennt. Weder gesellschaftlich zu sehr noch durch ein großes Publikum gebunden, mußte er nichts nachlassen, sich nicht verkaufen und niemand schonen, auch seine Person nicht. Folglich konnte die Kritik ihn weder reizen noch niederdrücken, wenn sie überhaupt Kenntnis von ihm nahm. Er schrieb für eine englische Zeitschrift und wohnte in Italien. Wer meistens allein ist, beachtet die kaum, die über ihn weggehn, aber er stellt fest, wann er recht bekommt, besonders durch die Fehler der anderen.
Dafür aber hat er selten die Beglückung gekannt, daß Geister ihn verstanden, seine wenigen Freunde blieben immer dieselben. Ihm geschah es nicht, daß Kenner seine Neuheit fühlten, daß ein Kreis sich öffnete für ihn und ihn grüßte, noch weniger, daß seine Mitwelt sich erlebte in ihm. Was er machte, war von der Zeit nicht erwartet worden, sie blieb dafür taub. Niemals oder nur in endlosen Abständen wurde ihm seine Berufung bestätigt, er tat alles unverlangt und unbedankt. Aber er behielt den Mut, es zu beenden und an den Schluß jedes Buches die Worte »Für die wenigen Glücklichen« auf englisch hinzusetzen. Er war stärker als jeder vor oder nach ihm, denn er bezog in seinen Auftrag auch noch mit ein die Verpflichtung, glücklich zu sein. Er ließ inneres Mißlingen, wenn er denn von etwas Ähnlichem wußte, nicht merken. Mit fast sechzig Jahren, während des Urlaubs, der sein letzter war, betrat er den Pariser Boulevard, die Zigarre im Munde, noch immer Dandy unter allen den anderen, die doch auch nur gewohnt waren, sich Haltung zu geben, – und glücklich, wie er von je mit Nachdruck hatte sein wollen, traf ihn zuletzt das Glück, mitten im Leben der Straße tot umzufallen.
Der Epoche 1815 bis 1830 fehlte durchaus, was die vorige zu viel gehabt hatte, Energie. Stendhal setzte für seine Person das Napoleonische Zeitalter fort, er dachte nicht daran, zu heucheln und sich den wiedererschienenen Mächten der Vergangenheit zu unterwerfen. Nachdem er ein mit Energie geladenes Leben hatte führen dürfen, übertrug er sie den ganzen Rest seines Daseins in Bücher, besonders in ein Buch, Le Rouge et le Noir.
Dies ist die Geschichte einer großen, aber unterdrückten Kraft. Die ganze Autorität einer Ordnung, in der sie weder Raum noch Recht hat, kann doch nicht verhindern, daß diese Kraft lebt und wirkt. Sie lebt illegitim und wirkt wie ein Sprengstoff. Julien Sorel, einer der Begabtesten des Geschlechtes, mußte Priester werden, wenn auch ohne an die Religion zu glauben, denn ein Bürgerlicher konnte nur so auf hohe Stellen gelangen. Er mußte der Sekretär eines Ministers sein und haßte das herrschende System. Er hatte ein aussichtsloses, aber stürmisches Liebesverhältnis mit der Tochter des Ministers. Sozial genommen war er für sie ein Domestik. Er liebte, in anderem Stil, aber auch mit seiner vollen Natur, die sanfte Frau eines Industriellen in der Provinz. Für diesen war er ein Bettler. Er begehrte alles, was über ihm stand, und seine Leidenschaft war jedesmal vermischt mit Haß. Er war feurig, mußte verschlagen sein, haßte sein Geschick und darum alle anderen. Er kämpfte in der allein zulässigen Form, er wühlte. Verzweifelt wühlend, hatte er die Selbstachtung schon verloren, als er endlich auch mordete. Es war eine Art freiwilligen Todes, in den er die sanfte Rênal nur mitnahm. Dann endete er unter dem Fallbeil.
Gerichtet ist in diesem Roman die Ordnung, die es dahin kommen ließ. Einer der Begabtesten mußte sein ganzes junges Erdenleben unter Heucheln verbringen – mit dem Erfolg, daß er zuletzt mordet. Es ist die furchtbarste Anklage, die gegen ein Zeitalter jemals erhoben werden durfte. So viel Kraft, ein leidenschaftlicher Wille, dem auch Großes erreichbar gewesen wäre, und alles mußte nutzlos hingeopfert und gewalttätig abgefeuert werden. Der Mißbrauch und die sture Verachtung der menschlichen Kraft durch herrschende Mächte, hier wird sie in Friedenszeiten gezeigt. Seitdem hat man erfahren, wie dasselbe in Kriegsjahren aussieht. Es ist dasselbe. Mit Julien wird nicht besser verfahren als mit der zerfetzten Kriegsjugend, deren Glieder durch die Luft flogen. Wir sind in Krieg und Frieden oft mißbraucht worden.
Nur fünfzehn Jahre früher zur Welt gekommen, wäre Julien ein Offizier Napoleons gewesen, und nichts, kein Königreich noch die stolzeste Frau war ihm unerreichbar. Der unermeßliche Abgrund zwischen ihm und der vorigen Reihe junger Männer, das ist das Trostlose. Der Zufall entscheidet, ob du dem Abschnitt angehörst, für den du dich geboren weißt. Julien Sorel, ein aus dem Volk Hervorgegangener, ist nicht der einzige; der Tochter seines Ministers, dem Fräulein de La Mole, erging es ebenso. Sie fühlte sich unvergleichlich näher ihren Vorfahren aus dem 16. Jahrhundert als einer kraftlosen Gegenwart. Gerade ihre Selbsteinschätzung führte sie, trotz allem ihren Stolz, dem Domestiken zu. Julien hätte einer der Sieger von 1810 sein können, sie eine Königsgeliebte dreihundert Jahre vorher. Dies ist natürlich Romantik.
Es geht hervor aus dem Empfinden Stendhals, das romantisch war. Solche Dinge sind weder unmittelbar gesehen, noch vernünftig erdacht. Wie sollte es anders sein, der Sinn einer darzustellenden Epoche wird immer mit dem Gefühl erfaßt, unsere Träume, unsere Ängste erkennen ihn allein. Äußerlich mag alles wahr gewesen sein. Ein junger Ehrgeiziger von geringer Herkunft hat wirklich so gelebt, im Priesterseminar ging es so zu, im Palais de La Mole, in der Rênalschen Sägemühle. Ein realistischer Roman von lückenloser Anschaulichkeit, keine langen Vorbereitungen, wie oft bei Balzac: sofort die Handlung, ohne Umschweife die Szene und die Gestalt. Zugrunde indessen liegt ein Empfinden, das ahnungsvoll, vielleicht auch dem, den es heimsucht, nicht ganz bekannt ist. Die Sprache wird jeden Augenblick klar und nüchtern erhalten. Sie wird absichtsvoll so erhalten – als Sprache eines starken Mannes, der, wie Stendhal, der Epoche überlegen war, und eines Knaben Julien, der ein starker Mann hätte werden sollen. Unterhalb der nüchternen Sätze bebt aber nicht nur die Kraft, auch das Leid und auch die Verbundenheit aller, die an ihrer Kraft gelitten haben, aller Sehnsüchtigen von 1500, 1820, 1930. Das Empfinden in Le Rouge et le Noir? Es ist die Mystik der europäischen Zivilisation.
Nicht nur die Anbetung der Kraft in Gestalt Napoleons, des Helden, den Julien nicht kennen darf: auch die Anbetung der Frau vollzieht sich hier wie in allen europäischen Höhepunkten, und Fräulein de La Mole mit ihrer Unerbittlichkeit ist eine Göttin, gleich der sanften Rênal. Übrigens sind beide völlig glaubwürdige Gestalten, gesichert in ihrem Umkreis und keineswegs als Charaktere übersteigert in der Art des großen Balzac, keine Duchesse de Langeais, keine Cousine Bette. Was sie unvergänglich macht wie diese anderen beiden, es kann nur das Gefühl sein, die Anbetung, die sie von Julien erfahren, samt der Anbetung ihres Dichters. Stendhal hat außerordentlich männliche Bücher geschrieben, seine Frauen werden daher überschwenglich geliebt. Sie erscheinen nicht mehr wie Einzelwesen in so viel Glanz des Gefühls; Rasse und Geschichte der Frau dieses Erdteils werden in ihnen mitgeliebt samt der Kunst, die sie verherrlicht hat. Mehrere der Frauen steigen, in voller Lebendigkeit, aus den Rahmen alter Bildnisse herab. Fräulein de La Mole sieht einer Judith ähnlich, die blonde Rênal ist von Correggio gemalt.
Sie setzen fort, was unseren europäischen Ruhm macht, jene Frauen, diese Männer, auch Julien. Denn er hat gekämpft – in unreiner Art notgedrungen, und auf persönlichen Erfolg kam es zuletzt mehr an als auf den Sieg einer großen Sache. Er hat tapfer gekämpft und ist unterlegen, vor allem sittlich. So geht es fast allen hier bei uns, das kennen wir, gerade deshalb ist der Lebenskämpfer Julien seither in so vielen Gestalten späterer Romane und Stücke aufgetreten. Seine Nachkommen erscheinen nur ohne Napoleon, kein so mächtiger Schatten erhebt sich hinter ihnen, und niemand denkt mehr daran, was in Augenblicken, die den Kraftverbrauch wirklich wert waren, aus ihnen hätte werden können. Stendhal wußte es, da er unter Napoleon gedient hatte.
Dies ergibt ein für alle Male den Abstand zwischen ihm und Julien. Er hat Julien nicht geschaffen, um sich zu befreien oder um sich zu rächen, – eher schon, um auf der Höhe zu bleiben, und damit chronikartig aufbewahrt werde, welch ein armes, geopfertes Geschlecht dem seinen, so glücklichen gefolgt war. Julien durfte den Namen seines Helden nicht laut werden lassen, aber damit nicht genug: er war auch nicht imstande, Napoleon in großer Art und vollständig zu lieben. Er war ehrgeizig, ein Kämpfer und wollte Erfolge sehen, das war alles, was Julien vermochte, aber für Stendhal war es wenig. Auch er selbst kannte wohl die sittliche Verfassung des Emporkömmlings, mit eingerechnet den Snobismus. Dennoch lag alles anders. Vom Kaiser liebte Stendhal nicht den Erfolg, sondern die Sendung. Ihm war Napoleon nicht so sehr Sieger als Befreier. Stendhal war früher geboren als Julien. Die Revolution, eine lebendige Tatsache seiner Kindheit, hatte sein Herz für immer erhoben, und dem Kaiser hatte er leibhaft ins Gesicht gesehen.
Julien ist niedriger als Stendhal, erniedrigt durch seine falsche Geburt um zwei Jahrzehnte zu spät. Was ist es mit uns, und welche Zufälle bestimmen, ob wir ein vornehmes Leben führen und ein großes Buch schreiben! Stendhal heuchelte, ganz wie Julien, – aber welch ein Unterschied, er trieb Spaß, er spielte eine Rolle, wenn er in seinen Briefen die verfänglichen Worte für die Polizei unkenntlich machte. Denn wer war er, und wer dies Gewürm. Für Julien stand es ernst, er fürchtete wirklich das Gewürm. Stendhal erlaubte sich wohl auch, Snob zu sein; aber er hatte es nicht notwendig wie Julien. Nicht umsonst zog er Männer und Frauen von Rang den anderen vor, denn er erwartete von ihnen eher, daß sie sich, im Gespräch und in der Liebe, wirklich würden adeln lassen von ihm und seiner Phantasie. Der unglückliche Julien suchte bei denen, die er nur haßte, sein Fortkommen, und was er fand, war Bitterkeit.
Stendhal zog seine eigene Überlegenheit ab, damit gewann er Julien. Er nahm sich selbst das Erlebnis des Sieges, die Bereitschaft, immer wieder zu siegen. Er vergaß um Juliens willen die eigene äußere Genügsamkeit und seine Kraft, der große Herr zu sein im Geist und in Gestalten. Dann blieb übrig das nackte Geschöpf des minderwertigen Zeitalters, hin- und hergerissen von seinen Ansprüchen und den Gegebenheiten, und über seinen elenden Weg fällt schon der Schatten der Guillotine. Sein Autor mußte sich verkleinern, sich ungünstiger ins Leben stellen, dann aber dieses zweite Ich umfassen und ihm Dauer verleihen mit der ganzen überlegenen Kraft seines ersten, wirklichen Ichs.
Gleichwohl ist noch nicht richtig, was Michelangelo sagte: »Ich hätte nichts Gutes gemacht, wenn ich nicht aus dem Hause der Grafen von Canossa wäre.« Das ließe sich, sogar wenn es geistig gemeint wäre, entbehren, und jedenfalls genügt es noch nicht. Es ist nicht genug zu wissen, daß gerade ich verschont bin von der üblichen Verkümmerung der Menschen und unzugänglich bleibe der Knechtung des Geistes, die sie nun gewohnt sind. Ich muß zu fragen fähig sein, was ich geworden wäre mit ihrem Gehirn und ihrer Schwäche. Ich muß unter Drohungen stehen, als könnte auch ich mich endlich aufgeben. Anzunehmen ist, daß Stendhal ihre Furcht den anderen nachgefühlt hat. Jedenfalls bewußt war ihm das Verhängnis seiner Zeit, und daß sein Wille, der aus stärkerem Blut stammte, die Lebenden heute nur gestalten konnte – und ihnen verständlich werden erst viel später.
Bewegte sich Stendhal in Gedanken, die seinen Zeitgenossen durchaus unfaßbar waren? Er war im Gegenteil die Einfachheit selbst. Sie ließen ihn ungelesen, aber es lag nicht daran, daß er schwierig, verwickelt oder verstiegen schrieb. Alle Lieblinge seiner Zeit taten es eher als er selbst. Er mißfiel, weil er in Le Rouge et le Noir einen ganz klaren Tatbestand aufnahm: dort Schwäche, hier Stärke, und die unzeitgemäße Kraft unterliegt dem vereinigten Unvermögen. Das will man nicht. Das nackte und nüchterne Wissen über die gerade sich Auslebenden wird überall nach stiller Übereinkunft unterdrückt. Es kann sich wohl einmal durchsetzen – aber dann eher mit den nihilistischen Verführungen einer Skepsis, die nicht die Sache Stendhals sein konnte. Er ließ keinen Zweifel darüber, daß für ihn der Wert des Lebens und einer Generation in ihrer Energie ausgedrückt seien. Man antwortete darauf mit dem Vorwurf der Unsittlichkeit. Er mußte seinem Buch eine Verwahrung voransetzen. Aber schon war das künstliche Mißverständnis erzeugt. Der natürlichste Kopf, der überhaupt schrieb, war schon unter die Sonderbaren versetzt. Er war allen zu einfach.
Zeitromane, die Denkwürdigkeiten einer Epoche, können immer nur angefaßt werden mit einer Einfachheit, die gerade das Seltene ist. Man muß eine gerade Straße entdecken. Stendhal sagte ausdrücklich: »Ein Roman ist ein Spiegel auf einer Landstraße.« Die unausweichlichen Wirklichkeiten, das öffentlichste vom Sichtbaren, gerade das erfaßte sein Spiegel. Das geht doch alle an, die zu Markt fahren! Jeder sieht doch hinein! Sie bemerkten aber keinen Spiegel. Er seinerseits hat niemals recht gewußt, wohin sie eigentlich fuhren. Er dachte, sie müßten ein Ziel haben. Seine tiefe Ahnungslosigkeit war, daß ihm der Sinn für das Unvernünftige abging. Denn wer weiß, welchen unzusammenhängenden Unsinn sie trieben, wenn sie an seinem Spiegel vorbei waren? Aber sie haben nicht verhindern können, daß sie durch ihren Chronisten einen Zusammenhang bekamen, von dem sie selbst nichts wußten. Zufällig verstehen wir, hundert Jahre darauf, unseresgleichen und uns selbst wie er.
In dem Roman La Chartreuse de Parme bewegen sich heitere, gut veranlagte Menschen – bewegen sich abenteuerlich und stark, was für ihr Glück fast schon ausreicht. Es weht aber auch eine leichtere Luft als in den sonst bekannten Zonen des Erlebens, wo zwar Bewegung herrscht, aber das Atmen nicht so leicht wird. Sie haben keine Verhinderungen, glücklich zu sein, in sich selbst. Das Durchkommen wird ihnen nur schwer gemacht von Zoll, Polizei und ähnlichen Nebensachen, die aber auch wieder herrliche Überraschungen mit sich bringen. Das Unvorhergesehene, das Stendhal göttlich nannte, gehört zu einem vollständigen Leben. Ereignisse dürfen darin so wenig fehlen wie Wille, Gefühl, die Probleme der Seele, und das Ganze muß spannen. So das Leben selbst, und so der Roman, an denen Stendhals gemessen. Alle seine Romane sind vollständiges Leben, aber nur die Chartreuse ist überdies ein Märchen.
Fabrice flüchtet aus dem Gefängnis nicht weniger großartig als einstmals Benvenuto Cellini aus der Engelsburg. Wir verstehen das Märchen, – auch für Stendhal war es eins. Der Staat Parma lag in Wirklichkeit nicht außerhalb der Welt jener Tage, die noch soeben in dem anderen Roman ein Feld hoffnungsloser Kämpfe gewesen war. Gleichviel, diesmal schuf er sich aus eigener Machtvollkommenheit wohlgeratene Wesen, so viele sein Herz begehrte. Da waren der offenste, klarste junge Mensch, die kühnste und zarteste Heldin, ein Minister voll Würde und Wohlwollen, und eine Herzogin, verspätetes achtzehntes Jahrhundert, Anmut und Vernunft in einem. Diese alle sind geboren für die Gefahr, da nur die Nähe von Gefahren das richtige Gefühl des Lebens vermittelt. Alle haben auch Geist genug, um endlich glücklich zu werden. Die Energie, mit denen sie erfüllt sind wie Julien, hier ist sie eine Gabe, auf der kein Fluch liegt.
Wie äußert sich die Stendhalsche Energie in Lucien Leuven, dem dritten der großen Romane? Zuerst in der Auffassung der Gesellschaft, denn er schreckt vor nichts zurück, er ist über Le Rouge et le Noir hinweg wie über ein verlassenes Zeitalter. Louis Philippe regiert jetzt, und hier herrschen die neuen, bürgerlichen Sitten, die Laster, die Interessen eines inzwischen zur Macht gelangten Standes – alles aber sogleich mit der äußersten Rücksichtslosigkeit. Die Korruption wird losgelassen, ein Salon frei vorgeführt, es wickeln sich ab ein Streik und seine gewaltsame Unterdrückung sowie verfälschte Wahlen – alles aber in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts. Kein anderer hat es gewagt. Wir hätten es auch bei keinem für richtig erkannt. Wir sagen: Das sind doch erst wir? Wer gewahrt es mit diesen nüchternen, gewohnten Augen? Vielmehr, nein, der Salon in Lucien Leuven sieht geziertere Bewegungen als die unseren, er vernimmt die Sprache der Liebe von einst. Wir erschrecken dennoch, weil die Figuren so nicht seit damals erhalten sein können; unser eigenes Wissen ist in ihnen versteckt und verjüngt sie. Sie müssen heute und unter unseren Augen gemacht worden sein.
Das ist doch unsere Mache! In dieser Art wäre früher schon angedeutet und abgekürzt? Direkte Bewegung gezeigt und indirekte Bedeutung hineingelegt? Aber ineinander gearbeitet mit den technischen, welche seelischen Neuheiten! Alles in der Geschichte eines Gefühls ist auf die Tat gestellt. Heucheln, schieben, überwältigen, sich in der Gewalt haben und in Monologen sich zum Kampf wappnen, so lebt eine noch junge und rohe Schicht ihre Gefühle aus. Andere Schriftsteller zeigten damals dieselben Leute weltschmerzlich, denn so gefiel sich die Bande, das wollte sie sehen. Sehr merkwürdig unterbricht ein Gewaltstreich die unendliche Liebe Luciens. Er glaubt die blumengleiche Chasteler entbinden zu sehen, es war aber nur ein grober Betrug. Woher rührt so etwas? Stendhal hätte es auffinden können in den alten Manuskripten, die er in Rom auf der Straße kaufte. Seine Energie, die erstens der zeitgenössischen Wirklichkeit ohne Weichmütigkeit begegnet, wie sie es verdient, überdies holte sie sich Bestätigung aus alten Quellen. Das Fräulein de La Mole war eine Judith gewesen, und in einen schon rein bürgerlichen Roman mischt sich eine Anekdote von Boccaccio – wie zugehörig, Betrug zum Betrug.
Derselbe Roman zeigt, was aus dem alten Leuven wird, – das klingt herüber aus einer unberührten Welt der Seelen. Jemand hat verfolgt und nachgezeichnet, wie der alte Leuven, ein Bankier vor hundert Jahren, um seines Sohnes willen einen neuen Anlauf im Leben nahm, bis er nicht mehr der erfahrene Spötter, sondern wieder ein kindliches Herz war. Wenn dieser große Vorgang nicht so einfach gebracht wäre! Bei Balzac hätte die Geschichte des alten Leuven den Aufschwung genommen in das übergesellschaftlich Tragische, nach Art dieses einzigen Tragikers seit Shakespeare. Stendhal bleibt am Boden, der alte Leuven ist nur ein Bürger, der seinen Sohn liebt und dabei allerdings in das Reich der Seelen gerät; aber es sieht aus wie sein Kontor.
Ein Marschall tritt auf im Leuven. Der Marschall stiehlt, und seine gewöhnliche Begrüßung heißt: honneur! Der soziale Freigeist Stendhal konnte sich in aller Kürze nicht deutlicher äußern. Der Salon, der Marschall, der Streik mit dem Offizier, der sich schämt, weil er schießen lassen muß – dazu die Liebe als Ideal, aber der Schwindel als umgebende Atmosphäre und eine Regierung von Gaunern: wo konnte ein solcher Roman die nächsten vierzig Jahre zubringen? Unvollendet, in Grenoble. Der Verfasser ist ein sozialer Freigeist nicht ohne sachliche Kenntnisse; denn Stendhal, der alte Beamte, hätte schließlich auch Wahlleiter sein können, anstatt daß er in das Wespennest stach und die Technik der Wahlen glatt niederschrieb. Hinzu kam seine Freigeistigkeit im Sittlichen, es war zu viel. Seine letzte Gestalt, im Roman des Todesjahres, Lamiel – sie ist die intellektuelle Frau, die beim Verbrechen endet, und wie fern bleibt sie den mittelmäßigen Emanzipierten ihrer Zeit! Sie hat warten müssen, bis die Franziska Wedekinds erschien, erst in ihr erkannte sie sich wieder. Alle Gestalten Stendhals und er selbst haben warten müssen. Eines Tages schüttelten sie den Staub ab und sahen uns an wie die unseren.