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IX

Nach der furchtbaren Auseinandersetzung mit ihrem bisherigen Geliebten hatte Doras Zustand anfänglich eine nicht gefahrlose Wendung genommen. Der Angriff auf die Widerstandsfähigkeit ihrer Nerven war derart gewesen, daß eine ursprünglich gesundere, an Ruhe und Ausgeglichenheit gewöhnte Natur ihm zweifellos unterlegen wäre. Die ihre, welche an seelischen Erschütterungen reich erfahren war, überstand auch noch diese. Indes erholte sie sich langsam. Etwa zwei Wochen lang kam sie wenig zur Besinnung. Als ihr matter Geist sich wieder zu sammeln begann, geschah es mit der gewöhnlichen, tiefen Gleichgültigkeit des Rekonvaleszenten für alles andere als für sein animalisches Befinden. Beim ersten Aufstehen zauderte sie wohl kurz, das Zimmer zu verlassen, mehr aus Widerwillen, irgend jemand außer ihrer Pflegerin zu begegnen, als in ausdrücklicher Erinnerung an das ihrer Krankheit Voraufgegangene. Aber sogleich fiel sie in die natürliche Neigung, alles gehen zu lassen, zurück. Warum irgend etwas bedenken, und auf wen Rücksicht nehmen? Sie hatte erfahren, daß Wellkamp mit seiner Frau wenige Tage nach der Katastrophe abgereist sei. Ihres eigenen Gatten gedachte sie kaum, er bedeutete in diesem Augenblick nichts mehr in ihrem Leben. So seltsam hatte die namenlose Angst vor Wellkamps Drohung, sie an den Mann zu verraten, sich jetzt in die äußerste Nichtachtung der vollendeten Tatsache verwandelt.

Auch beachtete sie es nicht weiter, als sie während ihrer Mahlzeit im Speisezimmer allein blieb. Herr von Grubeck hatte sich entschuldigen lassen. Er fand es zurzeit unmöglich, Dora zu sehen und mit ihr ohne den Rückhalt, den er bisher in seiner Tochter gehabt, zusammen zu bleiben. Er zögerte noch, als habe er einen Entschluß zu fassen, und gestand sich nicht, daß dieser Entschluß im stillen bereits feststehe. Der plötzliche Aufschwung seines Willens war durch Annas Dazwischenkunft zwecklos geworden, er ließ den alten Herrn noch kraftloser zurück. An eine Scheidung seiner Ehe, die ihm während jener Unterredung mit seinem Schwiegersohne als durchaus selbstverständlich vorgestanden, wagte er sich nicht mehr zu erinnern, so wohl fühlte er, daß er sie für alle Zeit vermieden zu sehen wünschte. Sie hätte den Verzicht auf alle Bequemlichkeiten erfordert, die ihm wie die Luft des Lebens selbst erschienen und die das Vermögen seiner Gattin ihm verschaffte. Lieber als Entbehrung ertrug er auch ferner die täglichen geheimen Demütigungen, welche ihm seine Verhältnisse als unvermeidliche Begleitung der Bequemlichkeiten auferlegten. Einen Augenblick hatte er sein Haupt hoch erhoben aus dem trägen Strom, in dem sein Leben forttrieb; nun ging er von neuem über ihn hin. Je länger Grubeck indes unschlüssig blieb, wie er von jetzt an seine Stellung aufzufassen, in welcher Weise er Dora zu begegnen habe, desto mehr gefiel er sich in seiner Neutralität und wich um so sorgfältiger jedem Zusammensein mit seiner Gattin aus. Ein flüchtiger Gruß und eine Frage nach ihrem Befinden gelegentlich zufälliger Begegnungen machten ihren ganzen Verkehr aus. Im übrigen vermied der Major seine Wohnung, die ihm nicht nur durch die Schwierigkeiten des Zusammenlebens mit seiner Gattin verleidet wurde. Sobald mit Annas Fortgang die Aufsicht und Sorgfalt verschwunden, war natürlicherweise die Bedienung nachlässiger geworden. Doras Indolenz ließ die Räume selbst bald unwohnlich werden. In dem Zimmer ihres Vaters war Anna gewohnt gewesen, persönlich Ordnung zu halten; nur so konnte die Unordnung des alten Herrn ausgeglichen werden, und jetzt fand sich hierfür keine Hand. Die langen Nachmittage, die der Major sonst hier auf seine künstlerischen Lieblingsbeschäftigungen verwandt hatte, brachte er nun meist außer Hause zu. Er, der seit seiner Verheiratung kaum noch Verbindungen unterhalten, knüpfte jetzt die Beziehungen zu verschiedenen am Platze lebenden ehemaligen Kameraden wieder an. In einen Klub eingeführt, gewöhnte er sich bald, hier auch seine Mahlzeiten einzunehmen. Bloß um Bemerkungen der Bekannten zu vermeiden, speiste er von Zeit zu Zeit zu Hause, dann jedoch zu anderer Stunde als seine Gattin.

Die gänzliche Einsamkeit, in der sie so gelassen war, mußte für Dora verhängnisvoll werden; sie bewirkte, daß ihre noch immer wie niedergeschmetterten und betäubten Gedanken, sobald sie sich sammelten und klärten, genau an dem Punkte ihre Arbeit wieder aufnehmen konnten, wo sie sie liegen gelassen; nichts durchkreuzte sie oder änderte ihre Richtung. Zwar war es fürs erste nicht so weit, und die junge Frau tat selbst unbewußt alles mögliche, um das Erwachen zu verzögern. Das wiederholte Anraten des Arztes, sich in freier Luft zu bewegen, lehnte sie jedesmal entschieden ab. Nicht einmal zu einer Ausfahrt war sie zu bewegen. Sie blieb vor ihrem Kamin sitzen, in welchem trotz des herrlichsten Frühlingswetters das gewohnte Feuer brannte, und wenn sie ihre ausgestreckte Hand betrachtete, sah sie die Flamme hindurchscheinen. Unterdessen mühte sich hinter ihrer wachsbleichen Stirn ein Gehirn, das zu wenig Blutnahrung erhielt, an der langsamen und beschwerlichen Arbeit des Erinnerns ab. Viele Wochen war der Erfolg nur eine gegenstandslose Unruhe; sie stand dann ohne Absicht auf und mit kurzen, unsicheren Schritten, als suchte sie etwas, ging sie durch das Zimmer hin und wieder. Die dumpfe Stille um sie her und in ihrem Innern begann sie zu quälen. Schon regte sich wieder der ihr so natürliche Trieb, sich und andere mit den Irrungen und Launen ihres Gefühls leiden zu machen, dieses Bedürfnis nach Aufregungen, deren gleichwohl ihre kaum genesende Natur noch unfähig war. Mit der Bewegung und mit der vermehrten Anstrengung ihres Geistes schien indes ihre Kraft zu wachsen. Ihr Schritt wurde hastiger, während sie von Zimmer zu Zimmer ging, hier und da stehen bleibend, um irgend etwas gedankenlos zu berühren, eine beliebige Kleinigkeit in ihren flüchtigen, leis zitternden Fingern zu zerbrechen. Einmal verirrte sie sich, ohne zu wissen warum, in das Zimmer ihres Gatten, in welchem sie anfänglich fremd und gleichgültig umhersah. Dann glitten ihre Hände mechanisch über die Haufen von bestaubten Papieren, die den Schreibtisch bedeckten, Skizzenblätter, Briefe, Rechnungen. Sie berührte sie vielleicht zum ersten Male, und niemals hatte sie absichtlich einen Blick hineingetan. Der Stolz, den jeder sich den Bedürfnissen seiner Natur entsprechend bildet, war in ihr derart, daß er sie stets von allem zurückgehalten hatte, was an Spionieren erinnerte. Freilich war ihr dies durch die Gleichgültigkeit, welche sie allen Angelegenheiten ihres Gatten entgegenbrachte, erleichtert worden. Auch jetzt dachte sie nicht an den Inhalt dessen, was sie sah. Sie ward erst aufmerksam durch die Schrift Annas. Im ersten Augenblick beachtete sie nichts als das große starke Papier, von einer Art, wie nur Männer es zu benutzen pflegen. Dann riß sie das Blatt mit einer heftigen Bewegung an sich und floh damit wie mit einer heimlichen Beute, halb von einer unbestimmten Ahnung, halb von Scham getrieben. Einmal wieder auf ihrem Platze, bekam sie Wangen ungesunder Röte, nicht nur durch die Hitze des Feuers, dem sie sie, in die Hand gestützt, ganz nahe gebracht hatte. Die Lektüre des Briefes, über dessen feste, gleichmäßige Züge ihr Blick, ohne ein einziges Mal anzuhalten, hinjagte, ergriff sie wie ein wehrloses Opfer. So mag jemand, der seiner zerstörenden Leidenschaft eine kurze Weile entrissen war, das Glas, dessen er sich zum ersten Male wieder bemächtigt, auf einen Zug leeren. Mit solcher krampfhaften Wollust durchtränkte Dora sich endlich wieder mit ihrem so lange entbehrten Leiden.

Anna schrieb:

»Mein lieber Vater!

Es ist entschieden, daß wir zurückkehren; in etwa acht Tagen hoffen wir Dich wiederzusehen. Es würde mich zu traurig machen, Dich länger in der Einsamkeit zu wissen, in der Du jetzt leben mußt. Du sollst sehen, wie ich Dir Dein Zimmer wieder heimisch machen werde, und dann kommst Du so oft, wie es angeht, zu uns heraus. Mit der Villa in der Schillerstraße, die Du uns vorschlägst, sind wir ganz einverstanden. Ich erinnere mich ihrer sehr genau, nachdem ich sie einmal, während sie zum Verkauf stand, zufällig besichtigt habe. Die Zimmer sind geräumig und luftig und erhalten volles Licht durch hohe Scheiben; das ist, wie Du weißt, meine besondere Liebhaberei. Am meisten reizt mich aber der große abgestufte Garten, der bis zum Fluß hinabsteigt. Wir bleiben so, wenn wir den herrlichen Genfer See verlassen, dennoch so viel wie möglich in der freien Natur. Es wird ein sehr schöner Sommer werden. Ich habe nur ein Bedenken, nämlich was den Kauf des Grundstückes betrifft. Wenn es anders nicht möglich sein sollte, schließe den Vertrag auf jeden Fall; lieber wäre uns eine nach wenig Jahren zu erneuernde Miete. Wir wären unvorsichtig, uns auf allzu lange Zeit zu binden, da wir die Unruhe meines lieben Erich kennen, der nun einmal keine seßhafte Natur ist. Ich sehe wohl ein, daß, wie er sagt, die häufige Ortsveränderung etwas wie ein Betäubungsmittel ist, an das man sich auf die Dauer gewöhnt wie an ein anderes. Bei unseren heutigen, leichten und bequemen Reiseverbindungen ist es vielleicht wirklich das hauptsächliche Narkotikum vieler und zumal solcher Existenzen geworden, die der regelmäßigen, fesselnden Arbeit entbunden sind. Ich nehme es ohne Widerspruch für ihn an, ist es doch so viel unschuldiger als manches andere, vor dem es ihn bewahren kann.

Du wunderst Dich, wie ich ihn zu verstehen und in seine Bedürfnisse einzudringen trachte. Früher habe ich es nur zu wenig getan, und ich bin mir dessen bewußt, was ich damit zu dem leider Geschehenen beigetragen habe. Doch hoffe ich jetzt, so viel wie irgend möglich, nachzuholen. In der sehr angenehmen Gesellschaft, der wir in unserer kleinen Pension angehören, finde ich meinen Mann recht in seinem Element. Während der Unterhaltungen allabendlich in dem hübschen, altmodischen Gartensaal, der auf den See hinausblickt, habe ich oft Gelegenheit, die Reichhaltigkeit seines Wissens zu bewundern und noch mehr die Leichtigkeit, mit der er es verwendet. Bei Angehörigen verschiedener Nationalitäten und Lebenskreise versetzt er sich ohne Schwierigkeit in das Interessengebiet eines jeden, um dessen Gesichtspunkt zu dem seinen zu machen. Neben ihm komme ich mir mit der Einseitigkeit meiner Auffassung und mit meinem mehr systematischen Wissen oft recht schwerfällig vor. Wenn ich bei solchen Gelegenheiten ein wenig stolz auf ihn bin, so komme ich ihm doch erst ganz nahe in den Zwiegesprächen während unserer täglichen Spazierfahrten auf dem See. Wenn er mir die Geschichte und den Hergang seines geistigen Lebens erzählt, bin ich fast erschrocken, wie viele Überzeugungen er nach und nach erworben und später wieder zu glauben verlernt hat. Es macht mich wehmütig, zu merken, daß er Wahrheit und Irrtum kaum noch als Gegensätze betrachtet und sich damit bescheidet, alles gelten zu lassen. Zugleich aber belehrt mich dies über mich selbst, die ich mich, wie Dir nicht verborgen sein kann, für ungläubig gehalten habe. Und doch habe ich seit meiner Kindheit meinen Glauben höchstens gewechselt. In ihm erkenne ich erst, was eine wahrhaft ungläubige Natur ist.

Dies alles wird Dir herzlich unbedeutend erscheinen, aber ganz sicher würdest Du unsere Stimmung teilen, wenn wir so in den weißen Sonnendunst hineinrudern, der über den See gebreitet ist, während auf den Rudern, die langsam und wie schmeichelnd über das glatte Wasser zurückschleifen, die Tropfen im Lichte funkeln. Ich weiß nicht, ob es die Luft ist oder die gleitende Bewegung des Kahnes, aber alles ist wie mit stiller Innigkeit durchtränkt, aus der ohne unser Zutun auch das, was wir uns sagen, herauszufließen scheint. Es ist wohl vor allem der See, der etwas Beschwichtigendes, zuweilen selbst Feierliches in sich trägt. Man sucht ihn, auf welchem Punkte der Landschaft man sich auch befinde, wie mit der Seele, so mit den Blicken, und wenn wir ihn abends nicht mehr sehen, regeln sich vorm Einschlafen unbemerkt unsere Atemzüge nach dem leisen, leisen Geräusch seiner Strandwellen.

Als Erich kürzlich abends allein von einem Ausgange heimkehrte, gab er mir ein Gedicht, das ich Dir mitteilen möchte. Ich finde es nicht schlecht, doch bin ich ja nicht unparteiisch. Denke Dir aber, daß ich jetzt an Musik und Poesie mehr Geschmack gewonnen habe als je zuvor. Du siehst, daß große Ursachen neben den bedeutenden auch kleine Wirkungen haben.

Ich grüße Dich, mein guter Vater, in Liebe

Deine Tochter Anna

Hier das Gedicht:

Still lag der See im weißlich-blauen Duft,
Aus dem die Berge gleich Phantomen ragten.
Weich abgestimmt war jede schwarze Kluft,
Darüber hin sonst Wetterwolken jagten.
Von dieser jungen, schmeichlerischen Luft,
In der die Möwenschreie leis nur klagten.

Nur selten Boote durch den stillen Raum
Mit lautlos eingetauchten Rudern glitten;
Dem Abendschein entgegen, wie im Traum
Bin ich den lieb vertrauten Weg geschritten.
Als ich mich wiederfand, am grünen Saum
Des Weingeländes, hab' ich's gern gelitten.

Der Pfad schleicht aufwärts durch das Kreuz und Quer
Von weißen laubwerküberhangnen Mauern.
Der leise Wind trägt Blütenduft mir her:
Aus unserm Garten schon? wie lang wird's dauern,
Bis unterm Tor, die Angeln dreh'n sich schwer,
Des Ahorns kühle Grüße mich durchschauern.

Nun winkt herab vom grauen Gartensaal
Weiß die Gestalt im Josephinenmieder.
»Ich bin's.« – Es duftet süßer am Portal
Als je zuvor im Mai Jasmin und Flieder; –
Und daß das Schicksal uns einander anbefahl,
Wir fühlen's, und wir sagen es uns wieder.

Am Ende des Blattes angelangt, vermochte Dora die Augen nicht mehr von den letzten Zeilen zu erheben.

»Und daß das Schicksal uns einander anbefahl« –

Sie las dies immer aufs neue, als begriffe sie es nicht, oder als hoffte sie, dennoch einen anderen, weniger schrecklichen Sinn aus dem Verse herauszudeuten. Ach, die Worte waren nur zu klar, und er selbst hatte sie schreiben können! Jeder Zweifel an der Aufrichtigkeit und Endgültigkeit der ausgesprochenen Gesinnungen ward unmöglich, wenn sie die Ähnlichkeit in Ton und Stimmung der beiden Gatten verglich. Es lag etwas darin, was ihr die Überzeugung auferlegte, daß alles für sie verloren sei, mit jener Unwiderruflichkeit, für welche es keine Gründe gibt. Es mußte wohl die stille Innigkeit sein, von der Anna schrieb, und die gleichmäßig aus jeder Zeile sprach, ob Wellkamp den Heimweg zur Geliebten schilderte, oder ob die junge Frau ihre naive Bewunderung für die Eigenschaften ihres Mannes äußerte. Dora mußte nun sehen, daß alles, was geschehen, ihr kurzes Glück und ihr langes Leiden, endlich nur vermocht hatten, die Bande zwischen dem geliebten Manne und der verhaßten anderen fester zu knüpfen, ihnen die wahre, unzerstörbare Herzensnähe zu geben, die sie vorher nicht besessen. Und war nicht auch das Verhältnis von Vater und Tochter enger geworden? In ihrer geistigen Abgeschlossenheit hatte Anna vormals in ihrem Vater keinen Vertrauten erblickt; sie hätte ihm nie die Geständnisse gemacht, wie jetzt. Vielleicht war, so fiel es der einsamen Frau ein, ihr Gatte eben in diesem Augenblick bei seinen Kindern in ihrem neuen Heim. Der Brief war vom 20. Mai datiert, und man befand sich in den ersten Tagen des Juni; das Paar mußte zurückgekehrt sein. So war sie von diesen drei Menschen gewaltsam entfernt worden, die dann sich alle einander genähert. Die Wahrnehmung, wie ein schädliches Element in schweigender Übereinkunft ausgeschlossen worden zu sein, vollendete ihre Trostlosigkeit. Auch er hatte sich dazu verstehen können! Diese Entdeckung mit allem, was ihr der Brief verriet, hatte in ihr eine letzte, äußerste Hoffnung vernichtet, die trotz allem, selbst während jenes furchtbaren Abschieds, ja in den Fieberdelirien und später während der halben Betäubung noch unversehrt geblieben war, die Hoffnung, daß er mit der anderen dennoch sein Glück nicht finden und daß er zurückkehren werde. Vielleicht war es nichts anderes, was bisher die fliehenden Kräfte beisammengehalten, was den Rest des Lebenswillens ausgemacht hatte, als diese Hoffnung. Sie war wohl schwach gewesen wie der Atem der Kranken, aber einzig die heutige grausame Aufklärung hatte sie ganz stocken lassen können. Nun dieser tiefverborgene Rückhalt, aus dem alle Seelenkraft, alles Nervenleben einzig noch genährt worden, aufgehoben war, ward das Auseinanderverlangende durch nichts länger verbunden.

Die junge Frau warf achtlos Scheite über Scheite in den Kamin, um dann mit unbeweglichen Augen in die übergroße Flamme zu starren. Erst als ihre Stirnhaare versengt wurden und ihr Gesicht unerträglich glühte, zog sie den Kopf zurück. So blieb sie sitzen und blickte mit denselben Augen die erkaltete Asche an, mit denen sie in die Lohe gesehen. So fand sie jeder Tag einer langen Reihe. Sie beschäftigte sich nicht mehr; ihre Bücher blieben geschlossen, sie machte keine Tagestoilette. Kleidete man sie des Morgens an, so war ihre einzige Sorge, daß man ihr jenes hellviolette Gewand überwarf, welches ihr unseliges Brautkleid gewesen. Der Stumpfsinn, der über die in ihrer Einsamkeit ihm Hingegebene hereinbrach, nahm ihr die Erinnerung an das verhängnisvolle Jahr, welches hinter ihr lag. So trat sie eines Tages ins Speisezimmer, wo sich soeben ihr Gatte bedienen ließ, und bestellte, ohne ihn zu beachten, unbefangen gleichfalls ihr Gedeck. Dann Herrn von Grubecks gewahr geworden, redete sie ihn nachlässig und gleichgültig an:

»Guten Tag, mein Lieber, etwas Neues?«

Der Mann glaubte darin eine schneidende Ironie zu hören, als spielte sie auf die ihr geflissentlich verheimlichte Rückkehr des jungen Paares an, die sie wohl in Erfahrung gebracht haben mußte. Er zitterte und erbleichte. Dora aber hatte sorglos zu essen begonnen und erwartete keinerlei Antwort. Was sie gesagt, war nur die gewohnheitsmäßige Anrede gewesen, mit welcher sie den Gatten in der ersten Zeit ihrer Ehe, als sie gleichgültig, aber doch in ungestörtem Frieden nebeneinander lebten, empfing, wenn er nach Hause kam: »Etwas Neues?«

Den Brief hatte sie indes bewahrt und entfaltete ihn häufig, ohne selbst noch zu wissen, warum. War es ein letztes, ihr nicht mehr deutlich fühlbares Bedürfnis, mit dem Verlorenen wenigstens durch dieses Blatt Papier in einer gewissen fernen, fernen Beziehung zu stehen? Einmal geschah es, daß ihr sonst darüber hinschweifender, verständnisloser Blick auf der Schilderung verharrte, welche Wellkamp vom Genfer See und der ihn umgebenden Landschaft gab; diese Landschaft, in welcher sich sein friedliches Glück befestigt hatte und die Dora selbst ihm zuerst genannt! Mit der Fähigkeit, sich nach sich selbst zurückzuwenden, die einem versiegenden Leben bis zuletzt erhalten bleibt, rief sie plötzlich ihre eigene Gestalt wach, wie sie sich damals, noch in ihrer Mädchenzeit, an jenem herrlichen Ufer bewegte. Es war vor wenig mehr als fünf Jahren gewesen, und doch wie weit lag es zurück in ihrem kurzen Dasein, worin Erleben sich mehr als in einem andern gedrängt hatte. Ihr inneres Gesicht zeigte ihr den Schmuck jener Natur in leuchtenderen Farben, in magischerem Duft, als ihn die armen Worte beschrieben. Und sie selbst, so müde sie schon damals nach Europa herübergekommen war, um in der Ehe mehr auszuruhen als zu beginnen – nun erblickte sie ihre Mädchengestalt dennoch in dem Glanze der Jugend, denn die Luft war damals gleichwohl noch voll Hoffnungen gewesen, und an jeder Wegbiegung konnte das Glück zu ihr treten. Das Glück! Verkörperte es sich nicht in dem jungen blonden Manne, mit dem sie geheimnisvoll zusammengeführt war und der seine schlanke Gestalt zu ihr neigte, um ihr ein Wort zuzuflüstern, das sie wie einen Kuß im Nacken fühlte. Dann aber bewegte sich ein Schatten in das Bild, und die Zurückschauende mußte sehen, wie eine fremde Gestalt sich über ihre eigene schob, um an der Seite des Mannes weiterzugehen. War dies nicht Sinnbild ihrer Geschichte? Sie fand ihn in der idealen Landschaft ihrer Jugend, und er war ihr bestimmt. Warum hatte sie ihn zu spät im Leben treffen müssen, so daß nun Schuld geworden war, was in Ehren hätte bestehen sollen. Hatte sie gesündigt, da er doch der einzige Mann gewesen war, den sie geliebt? Alle andern waren ihr nichts als eine Machtprobe gewesen; sobald sie sich besiegt gaben, hatte sie jeden fortgeworfen. Diesem einen aber hatte sie sich gegeben, und gerade er war es, der sie nach flüchtiger Laune verschmähte. Sie fühlte die Rache der Natur plötzlich wieder mit ungeahnter Stärke. Sie sprang auf, sie wollte schreien. Sie stampfte mit den Füßen, dann gellte eine Stimme, die so schrecklich klang, daß die Unglückliche selbst sich die Ohren hielt, und die von den dicken Vorhängen und Teppichen ringsumher ruhig angehalten und erstickt ward:

»Ich liebe ihn noch!«

Diese Frau, die mit unfruchtbarer, falscher Leidenschaftlichkeit ihr ganzes Leben zersetzt hatte, um es dann in bitterer Langeweile abbröckeln zu sehen, konnte nicht friedlicher enden als sie gelebt. Sollte sie sterben, so durfte ihr letzter Atem nicht sanft entfliehn, er mußte in Stößen von ihr gehen. Es war, als geböte ihr Wesen an einer Stelle den fliehenden Kräften halt und zwänge sie, die danach verlangten, still und unbemerkt dahinzuschwinden, sich zusammenzuraffen zu einem gewaltsamen letzten Ausbruch.

Doras Eifersucht war in der Zeit des schnellen Verfalls des Verhältnisses schwächer und weniger gefährlich erschienen als die Eifersucht Wellkamps. In Wahrheit war sie nur zurückgehalten worden durch die tiefe Angst, mit der die junge Frau das Wachsen dieser Leidenschaft bei sich wie bei dem Geliebten bemerkte. Da sie an ihre einzige große Liebe sich wie an das Leben selbst klammerte, schauderte sie vor der Eifersucht als vor der natürlichen Mörderin des Gefühls zurück. Dieser erhaltende Instinkt war erst langsam ermattet. Bei all ihren sich bekämpfenden Gefühlen war sie ruhiger erschienen als der Mann, sei es durch einen Rest weiblicher Zurückhaltung oder nur, weil der Zustand eines wirklichen Kranken zuweilen weniger gefährlich erscheint als der eines eingebildeten. Was war denn Wellkamps Eifersucht im Vergleich mit der ihren? Nichts als diejenige eines Kindes, das ein Spielzeug zwar fortgeworfen hat, aber nicht dulden will, daß ein anderer die Hand darauf legt. Der Frau, die er nicht mehr für sich begehrte, mißgönnte er dennoch ihre Ruhe und ihren Gatten. Sie aber liebte ihn, die Unglückliche, und während die Wunden, die nur seine männliche Eitelkeit ihm geschlagen, ihn vielleicht schon nicht mehr schmerzten, hatten die ihren das Blut vergiftet und nun ein äußerstes Fieberdelirium herbeigeführt, dem die Auflösung folgen mußte.

Bis zum letzten mußte sie jetzt die Rache der Natur über sich ergehen lassen, die uns unerbittlich dort straft, wo wir uns an ihr vergangen haben. So ward ihr das einst so leichte Spiel mit Bildern der Phantasie, die sie sonst abwechselnd reizten und abschreckten, nun zur raffinierten Qual. Der Traumzustand, in dem sie soeben ihre Jugend erblickt, war beendigt. Die erwachten und schmerzhaft angestrengten Sinne zeigten ihr alles in nackten, harten Formen. Sie sah den Geliebten, jener anderen gehörig, und sein Lächeln, seine Bewegungen waren die gleichen, die sie an ihm kannte, die er für sie selbst gehabt. Dann wechselte das Gesicht, Erinnerungsbilder ihrer kranken Sinne tauchten auf. All das tief Unwürdige, womit sie und ihr Mitschuldiger ihre in sich selbst schon beendigten Beziehungen zu verlängern gesucht hatten, ging noch einmal an ihr vorüber und erregte ihre irre, verzweifelte Sehnsucht. Unter ihren Augen, die, wie um in das Unsichtbare einzudringen, gewaltsam aufgerissen waren, schwollen die blauen Adern, während ihre Hände mit einem krachenden Geräusch der Knochen sich krampften, als wollten sie das furchtbare Bild auseinanderreißen. Es war dicht vor ihr, sie sprang mit Aufschreien einen Schritt vor, hart in die Luft greifend. In die Schleppe ihres Gewandes verwickelt, stürzte sie vornüber und verharrte eine Minute kniend. Als sie sich mit leeren Händen aufgerafft hatte und alles verschwunden fand, starrte sie verständnislos um sich her, aber plötzlich wußte sie, daß sie allein sei, wie sie es niemals vorher gewußt. Aus dem Zimmer wich, was den Raum füllte; die dichtstehenden Möbel und die Etageren, auf denen hundert Kleinigkeiten sich drängten, die Albums und Bilder, die Teppiche und Vorhänge waren wie vom Abgrund verschlungen. Die Wände wurden kahl, der Raum weit und immer weiter. Es gab nichts mehr als etwas Ungeheures, das in graue Schatten wie in die Unendlichkeit auslief. Rings um sie her fühlte die Unglückliche die Einsamkeit liegen, gleich einem wilden, ausgehungerten Tiere, das sie mit leeren, übergroßen Augen ansah. Das Tier sog die Luft ein, ihre Lebensluft: sie meinte nicht mehr atmen zu können, und wie ein Erstickender um sich schlägt, fühlte sie in ihrer Lebensnot sich zu Gewaltsamkeiten gedrängt, sie wußte nicht, zu welchen. Sie rannte umher und begann zu suchen, sie wußte nicht was. Sie dachte nicht mehr. Der Rest ihres Lebenswillens gab sich aus und tat es auf eine Weise, die Bewußtsein und Verantwortlichkeit ausschloß. Im Zimmer ihres Gatten zögerte sie, wie in Erinnerung an den Fund, den sie hier bereits einmal gemacht. Was ist in solchem Augenblick Erinnerung? Ein schwacher Hauch, der einen dichten, dichten Schleier heben möchte. Man hat ihn eine Sekunde gespürt, der Schleier bleibt liegen. Wenn sie nicht wußte, was sie suchte, begriff sie vielleicht ebensowenig, was sie gefunden hatte. Sie betrachtete die zierliche, silberbeschlagene Pistole, die ihre hastigen Finger unter einem Haufen von Papieren hervorgewühlt, ganz ratlos, mit der Hand über die glühende Stirn fahrend. Dennoch erschien kein Gedanke, und was sie in der Folge tat, war nichts anderes als die Bewegung des in den Abgrund Stürzenden, der mit ausgespreizten Armen den am Rande Stehenden mit sich reißt. Kein Impuls kann heftiger sein als dieser; der Moment ist einzig, es gibt weder Für noch Wider.

Sie prüfte nicht, ob das Spielzeug geladen, sie hatte schon den Mantel umgeworfen, das Spitzentuch hing lose von ihrem Haupte, sie war schon die Treppe hinab. Einige Schritte weiter hielt sie einen Einspänner an. Draußen an der Schillerstraße stieg sie aus, um das Haus zu erfragen.

Wellkamp und Anna schritten soeben von der kleinen Landungsbrücke, wo ihr Boot angelegt, die Terrassen ihres Gartens hinan, aufeinander gestützt, langsam, süß ermattet von der leichten Anstrengung des Ruderns in der weichen Frühlingsluft. Sie hatten von unten das Herankommen Doras nicht bemerken können; nun sahen sie plötzlich auf der Höhe des Gartens, von der sie noch einige Stufen trennten, die dunkle Gestalt stehen, vergrößert gegen den lichten Himmel. Beide machten bei dieser unvorhergesehenen Erscheinung eine Bewegung des Schreckens. Wellkamp blieb halb abgewandt stehen, ohne sich über eine Auffassung der Lage schlüssig werden zu können. Dagegen hatte Anna sofort ihre Fassung wiedergewonnen. Keine Selbstüberwindung war ihr anzumerken, während sie der ehemaligen Feindin, der Frau, die ihr den größten Schmerz ihres Lebens zugefügt, die Hand entgegenstreckte.

»Ich weiß wohl,« sagte sie, »daß es unrecht von uns war, dir nicht sofort von unserer Rückkehr Anzeige zu machen. Aber sei gewiß, daß wir es nicht unterlassen hätten. Unter uns allen muß Frieden geschlossen sein, ehe uns ganz wohl werden kann.«

Sie erwartete, daß Dora ihr einen Schritt entgegenkäme. Als nichts davon geschah, erhob sie zum ersten Male aufmerksam den Blick zu dem Gesicht der Obenstehenden und ließ nun selbst den Arm sinken, bestürzt durch die fremde, jedes Ausdrucks beraubte Miene, mit den zwischen ihr und ihrem Gatten ins Leere starrenden Augen. Nur auf der Stirn schien etwas sich zu bewegen, etwas wie eine Falte, die über der Nasenwurzel kam und verschwand, als sei es eine Idee, die zum Durchbruch drängte. Dann öffnete sich langsam der Mantel, eine Hand bewegte sich daraus hervor, die eine winzige Waffe hervorhob, um sie tastend auf Wellkamp zu richten. Schon aber war Anna zum Schutze vor den Geliebten gesprungen, mit aller Stärke ihrer rückwärts gebreiteten Arme umklammerte sie ihn. Der Mann vermochte sich nicht zu rühren, Anna erwartete den Schuß, und noch niemand hatte den nächsten Atemzug getan, als die Mündung der Pistole sich wendete, um eine Sekunde lang gegen Doras eigene Schläfe gerichtet zu bleiben. Indes sollte ihr die Tat erspart bleiben. Noch rechtzeitig genug hörte ihr müdes Herz zu schlagen auf, sie sank in die Knie.

Als Wellkamp aus längerer Betäubung zu sich kam, war er allein an dem Lager der einst Geliebten. Er war mechanisch gefolgt, als man sie hinaufgetragen und gebettet hatte. Der Gatte war herbeigeholt worden, dann war der Arzt erschienen. Es war alles zu Ende, und nun erst hatte man sich dessen erinnert, der teilnahmlos daneben stand, und hatte ihn da gelassen, in stiller Nachsicht mit den Beziehungen, die ihn mit Dora verbunden und die der Tod plötzlich fast erlaubt erscheinen ließ. Angesichts des siegreichen Todes wagte sogar die Schuld das Ausgeschlossene, Heimliche, das ihr anhing, abzulegen. Kaum allein, war er ohne Besinnung niedergesunken, mit dem Körper gegen den Bettrand, und als er nun zu sich kam, fühlte er in seiner Hand eine andere, die er beim Falle ergriffen. Anfangs mochte er dieser Hand seine eigene Wärme mitgeteilt haben, nun aber hatte sie gesiegt und auch die seine erkältet. Er ließ sie dennoch nicht los; es tat ihm wohl, etwas von ihrem Tode in seinem Blute zu spüren. Er drückte sie fester, während er in der schon hereinbrechenden Dämmerung ihre Züge erspähte. Seine fiebernden Blicke immer tiefer hineinversenkend, ergab auch er sich der Wiederbelebung ihrer gemeinsamen Vergangenheit, nicht anders als sie selbst in ihren letzten Nöten. Er sah alles wieder vor sich, erkannte alles wieder bis auf längst vergessene Kleinigkeiten, Unterschiede in der Entwicklung seines Gefühls, auf die er kaum Gewicht gelegt und denen das Ende nun Sinn gab. Wellkamp ging jetzt sicheren Schrittes durch das Labyrinth seiner Leidenschaften, dem er früher zögernd, eine Beute seiner Begierde, nachgegangen; denn vor seinen Augen stand der Ausgang. ›Es hat alles so sein müssen.‹ Dies war der schmerzliche und doch wohltuende Gedanke, der jede seiner Erinnerungen begleitete. Er erbebte unter den tief-innern Schauern jenes nachträglichen Fatalismus, den der Lebenswille entdeckt. Wellkamp erkannte nun die Vorherbestimmung, die ihn genau auf dem Wege geleitet hatte, den er gegangen, da er auf keinem andern das Ziel hätte erreichen, der Mensch werden können, der er heute war oder der er werden sollte. Er fragte sich mit einer mystischen Angst: wie, wenn er zum Beispiel an jenem Punkte, als das verbotene Einverständnis bereits vorhanden und die tatsächliche Ausführung nur noch die Frage von Tagen war, das Werdende abgebrochen hätte? Wenn er in der Folge jenes Weihnachtsabends zu dem Vorsatz, ohne Zögern abzureisen, die Kraft gefunden hätte? Und er antwortete, daß dies ebenso unmöglich gewesen sei, wie ein Zusammentreffen mit Dora überhaupt zu verhindern, die ihm vom Schicksal in den Weg geführt war. Er hatte alle Stationen dieser Leidenschaft durchwandeln müssen, von höchster Ekstase zu tiefster Erniedrigung, weil er nur so von seiner Jugend erlöst werden konnte. Wie hatte er, als er in der Ehe von neuem zu beginnen trachtete, glauben können, daß diese Jugend ihn ohne Buße entlassen werde, mit allem, was eine Jugend, wie die seine, hinterläßt an schlechtgeheilten Wunden, nicht verschmerzten Enttäuschungen und noch lebenden Begierden, an zu kürzlichen Erfahrungen, die an das neue Leben übergehn. Sein Leben hatte so viele Trümmer, die ihm den Weg versperrten und fortgeräumt werden mußten, ehe er von neuem zu bauen beginnen konnte. Und dies war es, was hier geschehen war, mit einem Schlage, der alle Lasten der Vergangenheit mit seiner Wucht in unerkennbare Fernen zurückwarf und entrückte. Alles ward unansehnlich und verlor seine Wirkung in der Erinnerung angesichts dieses Opfers, welches sein Dasein erfordert hatte. Wie viel reiner mußte fortan sein Fühlen, sein Denken, wie viel größer werden, sollte er dies sühnen! Der Gedanke, daß sie für ihn, für sein Lebensglück geopfert sei, ergriff ihn von neuem mit aller Gewalt. Seltsam, er fuhr fort zu bedenken, daß die Natur, welche kein Gefühl für dieses oder jenes Geschöpf besitzt, häufig so wie hier ein Leben zerstört, um ein anderes, nicht wertvolleres, dadurch erhalten und verbessern zu können, und warf sich doch gleichzeitig unter lautem Aufschluchzen über den stillen Körper, dem er wie ein Geständnis zurief:

»Ich habe dich getötet!«

 

Die Dunkelheit ließ nur noch wenig unterscheiden, als der regungslos über die Tote Geneigte seiner schmerzlichen Hingabe durch das Öffnen der Tür entrissen wurde. Er erkannte in dem Eingetretenen einen Geistlichen. Anna war durch das lange Verbleiben ihres Gatten bei der Toten beunruhigt worden. Um seinen Schmerz sanft zu schlichten, hatte ihr Herz das rechte Mittel gefunden. Der Geistliche, welchen sie holen ließ, gehörte der katholischen Kirche an. Es war die der Verstorbenen gewesen, und auch Wellkamp hätte ihr angehören wollen, Anna wußte es. Er war ein Mann von Jahren, der die Wissenschaft des Beichtstuhls wohl zu nutzen verstand. Er war gewohnt, Fürsprecher des Lebens zu sein, wo es gab, was er in seinen Gebeten von der Kanzel Sünden nannte, und worunter er Selbstaufgabe begriff. So hatte er sich auch jetzt, schon bei der Begrüßung mit Anna, durch leise, kluge Erkundigungen über die Lage der Dinge unterrichtet und überblickte sie völlig, wie er nun an das Totenbett trat. Als er den fassungslos davor Knienden bewogen, sich zu erheben, und ihn an der Hand einige Schritte ins Zimmer hineingeführt hatte, sagte er, still in den Schatten deutend, in dem Dora schlummerte:

»Unsere Toten wünschen, daß wir schon im Leben den Frieden haben mögen, den sie leider oft erst im Tode gefunden haben.«


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