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Jungfrauen

Zuerst erschienen in »Stürmischer Morgen«, Albert-Langen Verlag, München, 1906

Textquelle: Aufbau-Verlag, Berlin, 1953. Heinrich Mann, Novellen, I. Band

 

Die letzten Gäste kamen fröstelnd herein. Sie schalten über die erfrorenen Blüten, den Sturmhimmel, die Schwärze des Sees. Auf dem Monte Baldo hatte es geschneit! Italien erfüllte alle mit Bitterkeit.

»Ich dachte überhaupt, hier sei immer blauer Himmel!«

»Seien Sie nur zufrieden! Wir haben wenigstens einen anständigen deutschen Ofen. Tiefer im Land hört einfach alle Kultur auf, und man kriegt Frostbeulen.«

Der alte Bucklige entschuldigte alles, im Namen der Schönheit. Die drei aus verschiedenen Himmelsrichtungen zusammengereisten Töchter redeten schon wieder, über ihre eingeschrumpfte Mutter hinweg, sehr laut von Konzerten, die sie gegeben, von Bildern, die sie ausgestellt hatten. Die Mama der beiden kleinen Mädchen sprach nur von ihnen. Die Frau Geheimrat rühmte das Nachtleben von Berlin. »Mein Mann kennt alles«, wiederholte sie und bedachte nicht, in welche Verlegenheit man sie setzen konnte mit der einfachen Frage, was er denn kenne. Der alte Bucklige stellte nur fest, daß auch in Wien nachts manches los sei.

»Das ist nicht wahr!« rief die Geheimrätin. Und obwohl der Bucklige vor Empörung beinahe flehte: »Wie können Sie mir das sagen!« behauptete sie nochmals: »Das ist nicht wahr!«

Der Redakteur aus Augsburg erklärte die Säule mit dem Markuslöwen am Strande für ein recht anmutiges Werkchen; und Claire und Ada beobachteten, wie er bei dem Wort »Werkchen« die Zähne fletschte.

Alles machte ihnen Erstaunen: die schlechte Erziehung der Frau Geheimrat und das übrige. Sie waren fünfzehn und sechzehn Jahre, noch nie vorher von ihrem Landgut heruntergekommen und hielten der unbekannten Welt ihre hellen Augen groß als Spiegel hin. Niemand sah sehr lange hinein; man schien den Spiegel unzart zu finden und wenig vorteilhaft. Und wenn ihnen ein Blick auswich, lächelten sie einander zu, ohne recht zu wissen, warum.

Am meisten wunderte sie, daß die Mutter sie den Leuten rühmte, und zwar wegen der natürlichsten Dinge, die daheim noch nie erwähnt worden waren. Daß sie sich gegenseitig eine Strafarbeit abnahmen oder einander einen Spaziergang abtraten: das unterhielt nun die ganze Gesellschaft, und es war genauso, als hätte man ausführlich darüber verhandelt, daß sie Ada und Claire hießen. Die beiden Namen ließen sich nur zusammen aussprechen; einer ohne den anderen hätte einen ganz leeren Klang gegeben. Und so hatten sie selbst nie einen Schritt getan und kein Gefühl gehegt, es sei denn gemeinsam. Jede setzte die andere für sich; und als neulich die Erzieherin, die von ihnen ging, zu Claire gesagt hatte: »Wirst du mich nicht vergessen?«, da hatte Claire geantwortet: »Nein, gewiß nicht, Fräulein. Ada wird Sie doch nicht vergessen!« Weil die Schwester so gut war, fühlte die Schwester sich vertrauenswürdig und voll Güte. Und ein Mensch, den die größere, blühende Ada liebhatte, durfte glauben, ihn liebe auch die blasse kleine Claire.

Da ging mit einem Ruck die Tür auf, und plötzlich stand mitten im Zimmer ein neuer Herr, als sei eine ganze Garbe von Sonnenstrahlen hereingefallen. Er stand mannhaft aufgereckt. In seinem bis an den Hals zugeknöpften wollenen Schoßrock war seine Brust breit, und seine Hüften waren schmal. Er führte ein sieghaftes Lächeln über die Köpfe der Gäste hin. Sein großer goldblonder Bart mit den weißen Zähnen darin lächelte geradeso wie seine blitzenden Augen. Auf einmal streckte er eine große schöne, goldig behaarte Hand aus und eilte auf den alten Buckligen zu. »Mein lieber Herr Hermes!«

Der Große umarmte den Kleinen und verkündete mit prächtiger, metallischer Stimme, wo sie sich früher schon getroffen hätten. Herr Hermes stellte vor: »Herr Schumann«; und der Ankömmling sah allen nacheinander fest in die Augen. Bei der Geheimrätin sagte er: »Sehr angenehm«, und es dauerte etwas länger. Mit den beiden kleinen Mädchen ward er am raschesten fertig.

Kaum saß er nun mit am Tisch, gab er in allem den Ausschlag. Die drei zusammengereisten Schwestern sprachen weniger und leiser und sahen ihn dabei fast zaghaft an. Er vermittelte auch zwischen dem Nachtleben von Berlin und dem von Wien; während er Herrn Hermes vollkommen zu trösten wußte, gab er doch dem von Berlin den Preis und verbeugte sich dabei vor der Geheimrätin, die schmachtend dankte. Unvermittelt rief der alte Bucklige, stolz auf seinen großen Freund: »Und Ihre Stimme! Er kann auch singen!«

Sofort wollten alle ihn hören; und er ließ sich nicht bitten. Die Musikkünstlerin unter den Zusammengereisten setzte sich ans Klavier. Herr Schumann trat aufgereckt neben sie und sang. Doch brach er sogleich ab und verlangte, die Tür nach dem Strande zu öffnen. Es blies kalt herein, aber man nahm es hin; denn schon wußte man, was er vermochte. Sein Gesang durchtobte die Stille, wie ein rechter Held auf einem Schlachtfeld, wo schon alle tot sind. Als er geendet hatte, äußerte jeder ein Wort der Anerkennung; nur Claire und Ada hingen stumm mit großen Augen an seinem nun geschlossenen Munde. Die Geheimrätin sagte: »Das muß wahr sein, Ihre Stimme ist erstklassig.«

Und dankbar, mit einem Anflug von Untertänigkeit, zog er seinen Stuhl neben ihren. Sie flüsterte ihm etwas zu, und darauf nickte er, voll überlegener Freundlichkeit, nach den beiden kleinen Mädchen hinüber. Sie erröteten und sagten sich, zueinander zurückgekehrt, mit den Augen ihre große Bewunderung des neuen Herrn. Während er sang, war es jeder von ihnen gewesen, als höbe es sie auf und wirble sie, atemlos, aus der offenen Tür in die blühende und stürmende Nacht, über den See und wer weiß wohin. Es war sehr merkwürdig: die eine hatte die andere aus dem Sinn verloren und war mit sich selbst allein und mit Herrn Schumanns Stimme. Sie waren froh, einander nun wiederzufinden und zu merken, daß sie beide dasselbe empfunden hatten. Sie faßten unter dem Tischtuch nach ihren Händen.

Aber in der Nacht träumte Claire, sie gehe in der Dunkelheit am See hin, und ihr zur Seite Herr Schumann, der, über sie gebeugt, schallend sang, so daß sie in seine Stimme und seinen Atem ganz eingeschlossen war und heftig bebte. Plötzlich ward es hell, und er zog sich einen Stuhl neben sie, ebenso beflissen und voll Einverständnis, wie er sich neben die Geheimrätin gesetzt hatte. Und Claire warf sich im Schlaf herum, vor Furcht, die Geheimrätin könne dazwischenkommen; oder auch Ada. Eine Wallung von Haß bewegte sie – Haß gegen die Geheimrätin und gegen Ada. Da wachte sie auf und erschrak. Adas Atem ging ruhig durch das dunkle Zimmer. Claire verstand nicht, was geschehen war; sie schluchzte auf. Wie gern wäre sie hingeschlichen und hätte Ada geküßt. Wenn aber Ada die Augen öffnete: was sollte sie ihr sagen? Noch lange saß sie aufgestützt und lauschte hinüber. Nun war ihr etwas geschehen, das Ada nicht geschehen war und das sie Ada nicht sagen konnte.

Am Morgen war sie zum erstenmal mit Überlegung liebevoll gegen Ada. Sie war es so sehr, daß Ada fragte: »Was hast du eigentlich?« Wie sie sich zum Mittagessen anzogen, half sie der Schwester und riet ihr von einer Schleife ab und zu einer anderen, die ihr besser stehe. Ada zögerte aber, blickte Claire forschend an, wie eine Fremde: »Wirklich?« Claire sah erschrocken weg, und Ada errötete tief. Gleich darauf fielen sie einander wortlos in die Arme.

Herr Schumann begrüßte sie mit flüchtigem Wohlwollen, und dann sah er während der ganzen Mahlzeit nicht mehr herüber; die Geheimrätin beschäftigte ihn vollauf. Claire und Ada liefen nach Tisch hinaus, fühlten sich seltsam erleichtert und plauderten, umschlungen, stundenlang von daheim und ihren eigensten Dingen. Am Abend aber, wie sie harmlos eintraten, kam Herr Schumann auf Ada los und sagte: »Fräulein, Ihre Bluse ist ein Gedicht!«

»Es ist noch dieselbe wie heute mittag«, versetzte sie; und dann erst merkte sie, daß dies ein Vorwurf war, weil er sie mittags nicht angesehen hatte. Sie färbte sich dunkel und sah angstvoll zur Seite. Da stand Claire und machte ein tief unglückliches Gesicht.

»So?« entgegnete Herr Schumann, besann sich noch etwas und ging weiter, ohne mehr gefunden zu haben.

Aber nun sollte er singen. Herr Hermes öffnete eigenhändig die Tür, und die Geheimrätin sagte: »Für die Kunst frieren wir gern.«

»Luft ist das erste«, erklärte Herr Schumann. »Die alten Germanen, unsere Väter, sangen im Walde und auf dem Schlachtfeld.«

Als er mit seinem Liede fertig war, hatte Ada eine schreckliche Minute zu überstehen; denn ein unerbittliches Pflichtgefühl verlangte von ihr, daß sie sage: »Das war wunderschön.« Gern wäre sie weit weg und still in ihrem Bett gewesen; aber sie mußte sprechen; und sie tat es, unter aller Blicken, heiß und kalt. Darauf lächelte ihr Herr Schumann so stark in die Augen, daß sie sie senkte, betäubt und glücklich. Erst als niemand mehr sich mit ihr beschäftigte, fühlte sie neben sich Claires Schweigen, und ihr ward es beklommen.

Sie löschten rasch ihre Kerzen und sprachen vor dem Einschlafen kein Wort mehr.

Als Ada erwachte, war Claire schon fort; Ada konnte sich denken, wohin, und ging ihr nach, den Weg gegen Nago hinauf. Da stand Claire, vor dem Sonnenaufgang über dem See. Die Bergkulissen öffneten sich weit dem Endlosen, und in ein Blau, das an schöne Morgenträume erinnerte, rannen ein Rot und ein Gold, bei denen man an das Glück dachte.

Ada ging rascher; sie mochte Claire dort nicht stehen sehen. Nicht Claire war von Herrn Schumann angesprochen worden, sondern Ada. Nur Ada hatte ihm gesagt, daß er wunderschön singe, und ihm dadurch gefallen. Claire aber hatte etwas voraus, weil sie vor diesem Himmel stand und ihre Gedanken dachte. Und zuletzt kam Ada ins Laufen, als fürchtete sie, Herr Schumann möchte ihr zuvorkommen und Claire dort stehen sehen.

Sie sagte, noch atemlos: »Findest du das denn so schön? Ich nicht!«

Claires Antwort kam langsam; und das peinigte Ada.

»Du weißt wohl nicht, was du sagst«, meinte Claire; und Ada: »Oh, sehr gut.«

Dann gingen sie schweigend zurück, Ada immer einen halben Schritt voraus. Als aber die Frühstücksveranda vor ihnen lag und man sie sehen konnte, machten sie gleichzeitig dieselbe Bewegung und breiteten einander die Arme um die Hüften. Und sie plauderten auf einmal lebhaft.

»Ein überaus anmutiges Schwesternpaar«, bemerkte, als sie eintraten, der Redakteur aus Augsburg; und die Geheimrätin erklärte: »Sie stehen sich gut.«

Herr Schumann war nicht anwesend. Er kam erst, als die Geheimrätin schon fort war. Auch mittags verließ er den Speisesaal nicht mehr an ihrer Seite, und während sie die vorigen Tage gemeinsam und unermüdlich den Strand entlangspaziert waren, schloß jetzt die Geheimrätin sich den drei zusammengereisten Schwestern an, und Herr Schumann suchte die Gesellschaft des Herrn Hermes. Manchmal gönnte er Claire ein Wort und dann wieder Ada eins. Bald aber zog er sich zurück; auch die Geheimrätin war schon verschwunden.

Dann wanderten Ada und Claire ins Land hinein, in dem feindlichen Drang, miteinander allein zu sein. Ein blendendschöner Tag war dahingegangen, inmitten der Regenwoche; sie erstiegen die Terrassen, auf denen übereinander die Ölbäume grauten. Die Laubschleier schlugen gelind zusammen über der Tiefe des Tales, und sanft und klar durchströmte sie der Ton einer entfernten Turmuhr.

Claire sagte: »Du bist schrecklich kokett mit Herrn Schumann. Ich weiß nicht, ich möchte so nicht sein.«

Ada erwiderte spitz: »Wirklich nicht?« Und nach einer kleinen, bedeutsamen Pause: »Fräulein sagte einmal, du seiest nicht hübsch.«

Darauf sahen sie beide erschreckt geradeaus. Denn sie hatten gespürt, wie es sie auseinanderriß. Es stellte sich heraus, daß die Leute der einen von der anderen so gesprochen hatten wie von einer Rivalin. Die Schwester, merkte nun die Schwester, sah sie anders, als sie selbst sich sah. Und Erinnerungen wurden aufgedeckt, die jede, ungeahnt, für sich allein hatte, und die aus einer der anderen feindlichen Welt stammten.

Vor den Bergen drüben hing ein purpurvioletter Vorhang aus Luft: das war eine traurige Pracht, einschüchternd und drückend. Ada und Claire wären gern umgekehrt – und stiegen doch immer höher; sie konnten nicht anders. Über einer grauen Mauer bröckelte eine graue Kapelle. Das Bild war von Efeu darin eingeschlossen; und Claire und Ada fühlten ein Grauen im Nacken, weil sie nicht wußten, welch ein Gesicht ihnen, in der großen Stille, aus der Kapelle nachsah.

Endlich stellte sich ihnen ein verlassenes Haus entgegen, vor zwei Felswänden, die im Winkel zusammenstießen. In dem Dreieck des Himmels dazwischen stieg auf einmal ein großer grüner Stern herauf und öffnete sich, wie ein böses Auge. Da machten sie, zusammenfahrend, kehrt. Sie merkten plötzlich, daß der Himmel voll von Sternen war und das Tal grau, mit Scharen von Lichtern an seinen Rändern und mit einzelnen, hinter dem Schwarm zurückgebliebenen, im Lande verlorenen.

Claire sah von einem zum andern und dachte, unbestimmt traurig, daß jedes, jedes für sich allein brenne und erlösche. Sie sann auch: ›Warum gehe ich gerade hier? Man kann auf tausend Straßen gehen. Alles ist so weit und vergeblich.‹

Ada dachte an ihr gemeinsames Puppentheater daheim und daran, daß die Papierfiguren bald mit Claires Stimme gesprochen hatten und bald mit ihrer eigenen. Herr Schumann aber sollte nur ihr seine Lieder singen. Und darüber, daß sie es nicht anders ertragen konnte, verlor sie sich in ein ängstliches Staunen.

 

Am nächsten Tag stürmte es wieder, und aus dem Feuerwerk, das drüben beim Fort abgebrannt werden sollte, konnte schwerlich etwas werden. Trotzdem lud Herr Schumann, sobald es dunkel war, die Damen ins Boot ein, zum Hinüberfahren. Die Geheimrätin nahm Claire und Ada an ihre beiden Seiten, reichte jeder einen Arm, und so folgten sie Herrn Schumann. Er arbeitete lange, bis er das Boot losgemacht hatte, denn die Wellen rissen ihm die Kette immer wieder aus der Hand; und als er es endlich unter das Bollwerk des kleinen Hafens herangezogen hatte, machte es Sprünge, und die Geheimrätin konnte den Zeitpunkt des Einsteigens nicht finden.

»Geben Sie mir die Hand!«

Aber Herr Schumann saß und hielt sich selbst fest.

»Es ist doch etwas ängstlich«, meinte sie. Herr Schumann schwor, er habe ganz andere Wellen gebändigt, aber sie entgegnete und lachte geringschätzig: »Da verlasse ich mich doch lieber auf Ihren Kehlkopf.«

Herr Schumann hatte plötzlich das Gleichgewicht, stand aufgereckt im Boot und reichte Ada und Claire seine beiden Hände. »Dann fahre ich also mit meinen jungen Freundinnen. Nur rasch, meine Damen, ehe das Boot wieder abgestoßen wird!«

Sie waren drin, und er hatte noch nicht ausgesprochen. Fast hätten sie sich ins Wasser gestoßen, so eilig hatten sie es. »Verhalten Sie sich ruhig!« rief Herr Schumann mit ganz unbekannter Stimme. »Wir wären beinahe umgeschlagen!« Und gleich darauf, sehr wohltönend: »Haben Sie denn auch Mut, Fräulein Claire? Und Sie, Fräulein Ada?«

»Claire verträgt es nicht; sie soll lieber dableiben«, sagte Ada.

Claire wollte sich empört widersetzen, aber ein starker Stoß warf Herrn Schumann auf die Knie; sein großer Bart strich ihr kühl über das ganze Gesicht; und sie konnte nicht mehr sprechen.

Er entschuldigte sich gar nicht. Er redete, und die Worte liefen ihm davon. »Wir sind schon aus dem Hafen heraus, wir werden vom Lande abgetrieben. Das geht doch nicht!« Und ohne Umschweife, wild bei der Sache: »Helfen Sie mal mit! Ich habe keine Lust, zu ertrinken!«

Sie arbeiteten im Dunkeln. Schwarzes Wasser spritzte ihnen ins Gesicht, und Herr Schumann keuchte wütend. Sobald sie sich aber um den Steindamm zurückgewunden hatten, bekam er milde Überlegenheit. »Ich hätte es vor Ihrer Mutter nicht verantworten können. Mit Ihrem Leben dürfen Sie nicht spielen, liebe Freundinnen … Nun steigen Sie einmal aus. Ich bleibe bis zuletzt im Boot. Das ist meine Pflicht als Kapitän.«

Claire setzte hinter Ada den Fuß auf die Stufe. Sie taumelte; und innerlich hatte sie gar den Boden verloren. Ihr Gesicht, das Herrn Schumanns kühler Bart gestreift hatte, brannte nun. Ihr stilles Herz öffnete alle seine Verstecke. Alle Gesetze fühlte sie umgestoßen, die Welt schwindelnd emporgehoben, im Dunkeln etwas Großes wild aufgeblüht. Sie meinte, zu rufen: »Mein Leben, Herr Schumann! Wie gern gab ich es Ihnen!«

Aber sie hatte nur geflüstert; der Wind trug ihre Worte nach vorn, in Adas Richtung; und Herr Schumann fragte: »Wie? Sie sind wohl noch etwas schwach von der Angst? Das gibt sich; stützen Sie sich auf mich!«

Er machte noch das Boot fest. Ada und Claire gingen voraus. Und plötzlich beugte Ada sich über Claire. »Ich habe ganz gut gehört, was du zu Herrn Schumann gesagt hast«, versetzte sie, zischend. Claire antwortete nicht; aber beide fingen an, ganz rasch zu atmen. Sie wandten die Gesichter weg, in der schrecklichen Gewißheit, daß sie, hätten sie sich erblickt, übereinander hergefallen wären. So gingen sie durch eine lange, ganz finstere Laube.

Drüben bei der ersten Laterne wartete die Geheimrätin. Wo sie denn Herrn Schumann hätten. Er kam; und sie lachte wieder. »Sie sind blaß … Am See wehte es unanständig: wenn Sie meinen, ich will mich erkälten …«

*

»Singen Sie lieber«, sagte die Geheimrätin, »das hätten Sie gleich tun können.« Herr Schumann war bereit; er wartete nur, bis man die Tür öffnete. Die Geheimrätin tat es nicht mehr selbst; sie erklärte es heute sogar für albern. Aber Herr Hermes bediente seinen großen Freund. »Er braucht Luft.«

Ada und Claire saßen zwischen dem Ofen, der geheizt war, und der offenen Tür. Jede hatte Lust, sich ihren Mantel zu holen, aber keine mochte die andere allein lassen in dem Zimmer, worin Herrn Schumanns Stimme stieg und fiel. Die drei zusammengereisten Schwestern redeten auf sie ein. Sie sähen schlecht aus. Sie müßten sich auf dem See überanstrengt haben; und nun säßen sie in der Zugluft. Wenn ihre Mama zugegen wäre, würde sie es ihnen verbieten. Sie sollten zu Bett gehen. Aber sie saßen da, bis Herr Schumann gegangen war, und bevor sie nicht in ihrem Schlafzimmer waren, wichen sie, wortlos, nicht voneinander.

Am Morgen hatten sie Halsschmerzen und schwere Köpfe. Gegen Abend ging das Fieber an. Es stieg heftig, und in der Nacht redeten sie und warfen sich umher. Claire sah Ada mit Herrn Schumann auf den See hinausfahren. Sie selbst stand machtlos am Ufer und schrie gegen den Sturm: »Du hast mich immer betrogen! Du sollst nicht hübscher sein als ich!« Der Drang, ihrer Feindin nach, krampfte sie zusammen, erstickte sie. Aber da, auf einmal, war sie befreit und konnte laufen, über das Wasser laufen, die andere töten, sie töten! – In diesem Augenblick hörte sie Ada schreien. Ada schrie und schlug gegen die Wand; sie röchelte.

Claire fuhr empor, starrte und wußte nicht: was hatte sie getan? Hatte sie etwas getan? Sie hatte Ada getötet! Sie wand sich, das Gesicht im Kissen. Von fern, in allem Sausen, hörte sie Ada: »Ich will nicht sterben! Du sollst sterben!«

... Als Claire zu sich kam, war Adas Bett leer. Claire begriff: ›Ada ist tot!‹ Und langsam fand sie sich zurück: ›Ich habe es gewünscht!‹ Aber wie das hatte geschehen können und durch welche zerrissenen Wege sie zu dem argen Wunsch gelangt war: das hatte sie für immer verloren. Herr Schumann lag, merkwürdig verblaßt, dahinten, als sei er einmal vorzeiten ein wunderschönes Spielzeug gewesen, um das sie sich mit Ada gestritten und das sie im Streit zerrissen hatten. Das war gleichgültig; denn viel Wichtigeres war nun verdorben, da Ada tot war. Und jedesmal, wenn Claire dessen gedachte, würde sie hinzudenken müssen, daß sie es gewünscht habe. Adas Tod und Claires Wunsch waren so gut Brüder, wie Claire und Ada Schwestern gewesen waren. Und blieben es ewig. Claire lag und staunte, daß sich so viel tragen lasse; daß sie weiterlebe, nur müde sei und am liebsten nichts gewußt hätte.

Dann ward sie aus dem Bett gehoben, eingehüllt und, ohne daß sie gesprochen hätte, in die Veranda geführt. Wie sie, die Sonne auf ihren blassen Händen, im Sessel lehnte, stürzte Ada herein, die Augen wirr und ratlos, und machte, unter verhaltenem Weinen, tonlose Bewegungen mit den Lippen. In ihren Händen, die sie, vor Claire hingeworfen, um Claires Hände wand, fühlte die Schwester die Angst der Schwester, ihr könne nicht verziehen werden. Da ließen sie ihre Tränen ausbrechen und küßten einander.

Nun waren alle mit Italien zufrieden; es war blau und gelind, es sang, fächelte und plätscherte mit seinem See, seiner Luft und seinen Menschen. Die drei zusammengereisten Schwestern malten alles mit Herablassung ab, sich bewußt, daß der Süden doch nur billige Wirkungen biete. Der Redakteur aus Augsburg genoß alles mit Kennerschaft. Herr Hermes ruderte auf dem glatten Wasser, und sein Buckel durchsägte den Morgendunst.

Hinter dem Haus, im großen Gemüsegarten, hing Claires Hängematte zwischen zwei blühenden Apfelbäumen. Ada saß vor ihr im Gras, schaukelte sie und las manchmal einige Sätze aus Andersens Märchen. Aber sie hörte immer wieder auf und sah in die Luft, die von Schwalben durchstrichen war. Eine Magd kam vorbei und riet den Fräulein, in den Schatten zu gehen; es werde heiß. Ada und Claire fanden es so mild und so leicht zu leben, als lösten sie sich auf in den Frühling. So mild, als wären sie vorher durch Feuer gegangen.

Auf einmal hörten sie drüben beim Gartenhaus Herrn Schumanns Stimme. Sie konnten, ohne sich zu rühren, durch die Johannisbeerhecken spähen und die Geheimrätin erkennen, die sich in Herrn Schumanns Armen umherwand. Ihr Hund mißverstand sie und fuhr Herrn Schumann an die Beine, der im Schreck wegsprang. Die Geheimrätin rief: »Kusch!«, und Herr Schumann faßte wieder Vertrauen. Ada hatte das Gesicht in Claires Kleid gedrückt und hielt verzweifelt den Atem an. Es war die höchste Zeit, daß Herr Schumann und die Geheimrätin in das Gartenhaus verschwanden, denn Claire und Ada konnten das Lachen keine Sekunde mehr halten. Sie umarmten sich und lachten fassungslos. Davon wurden sie müde, vergaßen das Paar im Gartenhaus und kehrten zurück zu den Märchen.

Erst bei Tisch erinnerten sie sich wieder. Was dieser Herr Schumann für Pickel im Gesicht hatte! Die Geheimrätin machte heute eine matte Piepstimme: zu komisch. Herr Schumann sah immer alle der Reihe nach an, als sei er die Sonne selbst und frage: ›Na, seid ihr nun glücklich, weil ich euch bescheine?‹ Ada und Claire stießen sich an; jetzt kamen sie dran. Und richtig, er trank ihnen zu, seinen kleinen Freundinnen. Sie platzten aus, es ging nicht anders; doch blieb er sonnig und unberührt. Die Geheimrätin fragte, unruhig: »Was haben sie nur?«

Aber Claire und Ada hatten sich gefaßt und hielten der unbekannten Welt ihre hellen Augen groß als Spiegel hin. Niemand sah sehr lange hinein; man schien den Spiegel unzart zu finden und wenig vorteilhaft. Und wenn ihnen ein Blick auswich, lächelten sie einander zu, ohne recht zu wissen, warum.


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