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Contessina

Zuerst erschienen in »Das Wunderbare«, Albert Langen Verlag, München, 1897

Textquelle: Aufbau-Verlag, Berlin, 1953. Heinrich Mann, Novellen, I. Band

 

An der Hand ihrer Bonne geht Contessina langsam, mit kleinen mühsamen Schritten durch den von der Frühlingssonne gelockerten Strandsand. Auf dem weißgekrönten Meerblau, inmitten eines fast harten Glanzes zeichnet sich die schmächtige Silhouette des kleinen Mädchens ab, mit ihren schüchternen kurzen Bewegungen.

Ihr Haar sonnt sich, ein goldner Mantel, zu schwer für die schmalen Schultern, in dem mächtigeren Gold des Lichtes, aber ihre Augen vermögen den Glanz nicht auszuhalten. Contessina läßt den Blick über die Berge, jenseits des Pinienwaldes, weit dahinten zu ihrer Rechten, schweifen, wo die Blendung der schon gegen Mittag steigenden Sonne weniger stark ist. Im Weiterwandern schaut sie in versteckte Täler, in schmale Hohlwege hinein, deren lauschende grüne Stille von dem mattsilbernen Band eines kleinen Kanals durchzogen wird. Doch in Contessinas große dunkle Augen tritt nichts von der Stimmung der Landschaft ein, auf der sie ruhen, so wenig von ihrem innigen Schweigen wie von ihrem lauten Glanze. Ohne gerade traurig zu sein, sind sie ein wenig teilnahmslos, die Augen des kleinen Mädchens, für ein Alter, in dem auch der unbedeutendste Gegenstand ein ganz frisches Interesse erregt.

Das Kind läßt die muntere Französin plaudern, ohne sich durch die Unterhaltung ermüdet oder angeregt zu zeigen, ohne eine Frage zu stellen oder um eine Erklärung zu bitten. Sie kommen einmal an einem Trupp Fischer vorbei, die mit dem Einziehen der Netze beschäftigt sind, meist alte Leute mit eingetrockneten Gesichtern, gesträubten grauen Bärten, in zerlumpter, bunter Kleidung. Die Weiber sitzen weiter oben am Strande im Kreise, die Knie aneinandergeschoben und die Hände darum hergelegt. Von weitem sind ihre lauten harten Stimmen vernehmlich. Nachdem sie zwischen den beiden Gruppen hindurchgeschritten ist, von links den stummen Gruß eines alten Mannes, von rechts den Zuruf eines Weibes: »Gott segne unsere Contessina!« erhalten hat, stellt die Kleine, ein Stückchen weiter, die erste Frage an ihre Begleiterin, und ihre Stimme, die seltsam klangvoll aus dem schwächlichen Körper kommt, zittert leicht, fast ängstlich:

»Sind das denn auch Menschen?« fragt sie.

Die Bonne lacht lustig auf.

»Aber Contessina!«

Da der Mistral, der gegen Mittag aufkommt, sich bemerkbar macht, überschreiten die beiden eine kleine Brücke, waten quer zwischen den gebleichten, verwehten Dünen hindurch, und dann sind sie in der Pineta. Auf dem festen Waldwege wird Contessinas Schritt sicherer, im Schatten der hohen, geraden Stämme ihre Stimme fester, und sie plaudert ein wenig. Was man heute nachmittag beginnen werde, ob Mama gut geruht habe? – Oh, sie weiß, wieviel für sie selbst an Mamas gutem Schlafe liegt.

Der Fußweg verbreitert sich, nun läuft eine herrschaftliche Fahrstraße daneben her, und schon tritt das Schloß zwischen den Bäumen hervor. Das niedrige, graue, weitflügelige Gebäude liegt dort, vornehm zurückgezogen, im Grunde seines ungeheuren Parkes eingeschlafen – seit wie lange? Contessina weiß es. Es ist so still, und die grünen Jalousien der Vorderseite haben sich fast nie mehr geöffnet, seit Papa gestorben ist. Und dies war sehr bald, nachdem sie selbst zur Welt gekommen. Er ist gestorben, und obwohl alle ihn entschwinden gesehen haben, weiß doch niemand, auch Mama nicht, recht zu sagen, auf welchem Wege er das Leben verlassen. Er ist so dahingegangen. Seither hat Mama niemand mehr sehen wollen und sich mit seinen Bildern eingeschlossen. In jedem Zimmer befindet sich eines davon, und es hängt ein Teppich von der Staffelei, und es steht ein Schemel davor, fast als ob es ein Betschemel wäre.

Die arme Mama ist oft krank, so daß Contessina sie nicht sehen kann, heute aber ist es ein gutes Zeichen, daß sie schon aus der Loggia der Gartenseite herabgrüßt. Die Kleine wird zu ihr geführt und empfängt eine stürmische, zitternde Umarmung. »Meine Elena! Meine Elena!« Jedesmal mit dem leidenschaftlichen Ton, als ob sie das Kind schon sich entrissen geglaubt hätte.

Dann streckt Mama sich auf der Ottomane aus, breitet ihr dunkles Kleid über die matten Farben des Teppichs und legt die Arme wieder um das Kind, das auf einem Kissen an ihrer Seite sitzt. So bleiben sie, regungslos aneinandergeschmiegt, dem großen Bilde eines bleichen hohen Mannes gegenüber, der, obwohl sie noch da sind, der Letzte war. Die Mutter, aus dem gleichen Geschlechte, und Contessina, sie sind nur wie der Nachhall des letzten Akkordes von einem alten Liede, das nun beendet ist.

Die Mutter beginnt zu erzählen mit ihrer bald heftig und hastig flüsternden, bald langgezogenen und eintönigen Stimme. Sie erzählt von ihrem Leben mit dem Papa; wie damals das Haus voll Licht und Menschen gewesen jeden Sommer, und wie sie mit ihm allein weit aufs Meer hinausgefahren. Aber im Winter haben sie in einer großen Stadt, die Florenz heißt, gelebt, wo viele Paläste nebeneinander stehen, in denen es jeden Abend Licht und Menschen gibt und vor denen das Equipagenrasseln nicht aufhört.

Im Halbdunkel des weiten Gemaches, weit in die Arme der Mutter gelehnt, läßt Contessina sich einlullen von den Erzählungen, die wie Märchen klingen. Aber in das behagliche Dämmern ihrer kleinen Kindergedanken schleicht sich, unmerklich und unverstanden, die Ahnung, daß sie selbst das alles, wovon sie hört, nie, nie erleben und besitzen werde. Und doch ist dies eine Ahnung, die Kindern beim Anhören von Märchen nicht zu kommen pflegt.

Die Mutter hat wohl recht, die Gesundheit der Kleinen zu hüten wie sie es tut, denn Contessina mag wirklich noch empfindlicher sein als man's ihr ansieht. Einmal, vielleicht das erstemal, daß sie allein aus dem Hause getreten, hat es sich gezeigt. Es war der erste Frühlingstag, so jung, daß er von allen Jugend und Fröhlichkeit verlangte, so lebenverheißend, daß das kleine Mädchen ein ganz neues, springendes Leben pulsen fühlte. Mit trippelnden, des Laufens ungewohnten Schritten sprang sie die Lichtung hinab, sprang mit Lachen und Jauchzen einem blauen Falter nach. Da erstarb ihr plötzlich der Ton im Munde, es war bei dem runden steinernen Brunnen, der die Mitte der Lichtung einnimmt, wo die Kleine bewußtlos hingefallen war. Als man sie ihrer entsetzten Mutter zugetragen hatte und sie erklären sollte, was ihr geschehen:

»Du hast mir doch«, sagte sie, »von dem Schutzengel erzählt, der jedes Kind vom Himmel herab festhält, daß es gerade und ohne Gefahr weitergehen kann? Ich glaube fast, mein Engel hat eben einen Augenblick seine Hand von mir gezogen.«

 

Es ist wieder der Morgen eines Frühlingstages und Contessina tritt auf die Terrasse hinaus; diesmal ohne Begleitung, denn sie ist nun fünfzehnjährig.

Auf der grauen Mauer des Hauses bildet ihre Gestalt einen hellen Fleck mit verschwimmenden Konturen. Es ist die Zeit, wo ihre Linien sich bilden sollen, nichts steht noch fest außer etwa der schlanken, allzu zerbrechlichen Form ihrer Füße und Hände. Aber die Arme des jungen Mädchens sehen ein wenig lang und hager aus ihren weiten Ärmeln hervor, die auch die Schmächtigkeit der Schultern nicht verhehlen können. Es liegt in den überschlanken Linien der Hüften und der jungen Brust eine fast leidende Anmut, die gewiß nichts Bleibendes bedeutet. Nur die Umrisse des Gesichtes zeichnen sich unter dem Haar, das nicht mehr wie das des Kindes über Stirn und Nacken fällt, sondern locker von allen Seiten aufgenommen ist, mit bestimmterem Ausdruck. Die Stirn ist ganz leicht gewölbt, doch nicht hoch, die Nase, ein wenig aufgeworfen, bildet einen kecken Gegensatz zu dem zu spitzen, kränklich aussehenden Kinn und dem so zarten Ansatz des Halses, besonders aber zu dem seltsamen Ausdruck des übergroßen schwarzen Auges. Man findet wohl, daß Contessinas Auge nichts ausspreche, aber man ahnt, daß es gleichwohl nicht inhaltlos sein kann. Es fehlt darin das Zittern und Glänzen von Hoffnungen, in einem Alter, wo alles uns Hoffnungen macht. Zuweilen nur kommt in die tiefe Stille ihres Blickes eine vielleicht unbewußte Regung wie ein Suchen und Fragen; doch geht es vorüber.

Contessina schreitet langsam und ganz leicht vornübergeneigt an den Strand hinab. Die Sonne, so voll sie nun, da das junge Mädchen den breiten Strohhut in der Hand trägt, ihr Haar trifft, vermag es nur noch selten erglänzen zu machen. Es schillert nur noch darin wie ein Rest des Goldflitters, den sich die Kinder zu Epiphanias ins Haar streuen. Die warmen Töne von Contessinas Kinderhaaren sind ganz verblaßt.

Sie wandert gleichmütig geradeaus, mit weichen, ein wenig schläfrigen Bewegungen, den Blick niemals auf einen einzigen Gegenstand, auf eine bestimmte Aussicht geheftet. Das sonnige Meerblau und der grünviolette Talduft haben ihr noch ebensowenig süße Geheimnisse zu verraten wie damals. Gewiß würde sie nicht mehr fragen, ob denn die Fischer, über die ihr Blick hinweggleitet, auch Menschen seien; aber sie fühlt, daß diese Menschen einer andern Rasse angehören als sie selbst, daß sie eine Sprache reden, die, wenn sie die gleichen Laute wie die ihrige hat, doch ihr fremd ist.

Und wer spräche denn eigentlich ihre Sprache, die ihr so recht verständlich wäre. Gewiß nicht der gute alte Dorfgeistliche, der ihre geistlichen Übungen leitet und ihr die Beichte abnimmt, gewiß auch nicht die deutsche Erzieherin, die der französischen Bonne gefolgt ist, weniger Lustigkeit als diese und mehr Kenntnisse besitzt. Nicht einmal Mama, so fürchtet sie manchmal. Oh, sie hat Mama unaussprechlich lieb, und sie empfindet noch immer die gleichen, schmerzlich-süßen Schauer, wenn Mama sie in die Arme nimmt und ihr vom Vater erzählt. Aber mitten in solcher Stunde dämmert in ihrer schlummernden Seele eine ferne Ahnung auf, als ob das Leben nicht nur solchen Schmerzen, nicht solchen wunden und blassen Erinnerungen geweiht sein müßte. Vielleicht sind es gerade die Augenblicke, in denen ihr Auge zu suchen und zu fragen scheint. Sie hat schon oft gefühlt, daß dann etwas Fremdes, ihr Unheimliches in ihr vorgeht, aber der Abbate, dem sie es anvertraut, hat sie beruhigt, es sei keine Sünde. Doch empfindet sie's als solche, und sie betet, daß es ein Ende nehmen möge.

Ach, sie hat noch mehr abzubitten, die arme Contessina. Es kommt vor, daß sie vor ihrem Spiegel stehenbleibt, vor dem reizenden weißen Rokokospiegel, den Mama ihr geschenkt hat, und in ihrem Gesichte die Züge heraussucht und mit dem spitzen Finger nachzieht, die sich denen Mamas ähnlich herauszubilden scheinen. Und daß auch das Haar so matt und glanzlos werden muß wie das ihrige! Es ist ihr fast, als müsse sie darum auch Mamas mattes und freudloses Leben fortführen. Dann überkommt sie ein heftiges Grauen vor ihren eigenen Gedanken, und sie eilt, sich auf die Knie zu werfen vor dem großen silbernen Kruzifix, das von der weißseidenen Wand ihres Mädchenzimmers auf sie herabblickt. Den kleinen Kopf zwischen den Händen auf der Atlasdecke des Betschemels, wäscht sie mit ihren Tränen für ein paar Stunden die Leiden hinweg, deren Namen sie nicht kennt.

Als Contessina heute ihren täglichen Spaziergang, am Strande entlang und in der Pineta zurück, beendet hat, wird sie sogleich zum Frühstück gerufen. Mama zeigt sich ein wenig heiterer als gewöhnlich, sie ist innerlich mit irgend etwas beschäftigt. Nach Tische legt sie den Arm um den Nacken der Tochter und zieht sie nicht in ihr schattiges Boudoir, sondern hinaus in die Loggia.

»Meine Elena«, sagt sie dort, »wir werden morgen Besuch erhalten.«

»Besuch, wir?«

»Es erschreckt dich, mein Kind?«

»Nur weil wir noch nie Besuch hatten, Mama.«

»Es ist der Besuch eines Bildhauers aus Florenz, dem ich einen Auftrag erteile.«

Als Contessina schweigt, fährt sie fort.

»Meine Elena, du wirst nächstens fünfzehn Jahre alt und bald erwachsen sein. Nun mußt du noch besser wissen als du es bisher gewußt hast, daß dein Vater ein Mann war, wie du ihn nicht edler, nicht verehrungswürdiger im Leben finden kannst. Es ist unmöglich. Und dann war er mehr für uns als dieser Mann und mehr als dein Vater: er war auch der Letzte unseres Geschlechts, und die ruhmreiche Familie, die wir hinter uns im Schatten fühlen, sie ist unsere wahre Gemeinschaft, unser Umgang, den wir pflegen müssen wie den Verkehr mit dem Heiligen.

Das ist wohl deine Meinung wie meine eigene, ich weiß es, meine Elena, wie wärest du sonst meine Tochter? Aber es ist gut, vor Augen zu haben, woran das Herz denkt, und so soll der Künstler, der morgen eintrifft, uns von der teuren Figur deines Vaters ein lebensgroßes Steinbild schaffen, das wir in dein Zimmer stellen werden.«

Contessina lehnte den Kopf, den sie gesenkt gehalten, ohne aufzublicken gegen die Schulter der Mutter, die den Dank entgegennimmt und mit zärtlichen Fingern den weichen Flaum auf dem zarten Nacken des jungen Mädchens streichelt.

*

»Sie kommen von Florenz?« fragt Contessina auf einer ihrer nächsten Morgenpromenaden den Professor.

Er hat sie hinaustreten sehen von seinem Atelier aus, das ganz am Ende des linken Flügels liegt, wo nun zwei der grünen Jalousien immer weit offenstehen. Da ist er herabgestiegen und hat sich ihr ohne Umstände angeschlossen. Er ist ein Herr Mitte der Vierziger, von muskulöser Gestalt, mit breiten kräftigen Fingern, einer lebhaften Gesichtsfarbe, borstigen Haaren, die hier und da ergraut sind wie der energische Knebelbart. Die gekniffenen Augen verraten Klugheit und Fröhlichkeit. Manchmal zeigt er eine beinahe zu laute Fröhlichkeit für soviel Klugheit.

»Von Florenz, Contessina«, erwidert er.

»Das soll eine sehr schöne Stadt sein?«

»Wie? Sie müssen sie doch kennen?«

»Ich bin noch nie dort gewesen.«

»Unmöglich! Die Reise ist doch so kurz.«

»Aber Mama liebt auch kurze Reisen nicht, und dann – was sollte ich dort tun?«

»Sich sehen lassen! das heißt, ich bitte um Verzeihung. Aber glauben Sie denn, Contessina, daß Erscheinungen wie die Ihrige gar so häufig sind?«

Er mißt sie mit ungeniertem Kennerblick, während er lebhaft weiterspricht.

»Daß Sie im letzten Fasching nicht dort waren! Sie hätten ja eine Figur des Botticelli gemacht, den jetzt alle lieben. Stellen Sie sich doch das bunte Gewoge unter den Lichtern vor, und alle sind da, um Ihren Triumph zu feiern, der sich auf der Straße fortsetzt, wenn Sie Ihren Wagen besteigen. Das Volk läßt Sie hochleben!«

Er spricht mit weiten, begeisterten Armbewegungen. Contessina hält den Blick gesenkt, in ihre Wangen ist eine schwache Röte gestiegen. Einen Augenblick, gleichsam nur zwischen zwei Gedanken, hat sie die Möglichkeit offen gesehen, als könnten seine Reden zur Wirklichkeit werden. Aber das ist gleich vorbei, und sie hört ihm weiter zu, wie sie ehemals den Erzählungen Mamas von ihren eigenen Triumphen zuhörte – als seien es Märchen –, aber fast ganz ohne Traurigkeit, denn es ist schwer, in der Gesellschaft des Professors traurig zu sein.

Selbst Mama wird während der Mahlzeiten hin und wieder so von ihm aufgeheitert, daß Contessina sie kaum wiedererkennt. Die Mahlzeiten, die sonst zu zweien so schweigsam vor sich gingen und, für jeden Gang zehn Minuten gerechnet, genau vierzig Minuten in Anspruch nahmen, währen jetzt häufig zwei Stunden. Es wird gelacht, Anekdoten erzählt, von Reisen und von der Welt gesprochen. Als Contessina zuerst die laute offene Stimme des Professors gehört hat in diesen Räumen, in denen alle halblaut sprechen, hat es sie fast erschreckt. Aber mittlerweile scheint es, daß seine Stimme das ganze Haus ausgefüllt hat. Er unterhält überall Geräusch und Bewegung. Von seinem Atelier ruft er Befehle über die leeren Galerien, die breite Treppe hinab, und die alten Diener müssen springen und tun es nicht einmal ungern.

Niemand ist mit seinem Betragen unzufrieden, auch Mama nicht, denn es bleibt immer achtungsvoll und zuvorkommend. Die Veränderungen, die er mitgebracht hat, sind die des Lebens selbst, das in diese Stille eingezogen ist, und wer vermöchte ihm zu widerstehen?

Der Professor begleitet Contessina jeden Morgen. Trifft sie ihn drunten auf der Bank in der Lichtung noch nicht an, so klatscht sie in die Hände, er zeigt sich am Fenster in seiner weißen Schürze, ruft hinab: »Nur einen Augenblick, Contessina, mir die Hände zu waschen«, und dann brechen sie auf. Indes schlagen sie nicht mehr regelmäßig den alten Weg ein. Es kommt vor, daß sie durch das Dorf, das Contessina kaum kennt, zwischen grüßenden Weibern hindurchgehen, um dann auf der anderen Seite am Strande ihre Promenade fortzusetzen, wo die Fischer ihren Hauptarbeitsplatz haben. Dort bleiben sie manchmal stehen, bis das lange Netz, das an endlosen Tauen ans Land gewunden wird, auftaucht. Dann treten sie näher und betrachten, im Kreise der Leute, deren Berührung Contessina noch nie gefühlt hatte, den Fang. Zuerst krallen magere Finger sich in die mächtigen, durchsichtig schimmernden Quallen, die dem Meere zurückgegeben werden, und was dann am Grunde des Netzes zurückbleibt, sind häufig nur noch einige Dutzend ärmlicher Silberfischchen. Im Weitergehen rechnet ihr der Professor den Gewinn vor, den die Leute aus dem Verkauf ziehen werden. Contessina hat noch nie gewußt, wieviel man zum Leben braucht, aber daß es so wenig sei, hätte sie gleichwohl nicht geglaubt.

Sie lernt das Leben beobachten und daran teilnehmen; aber sie erfährt noch mehr. Wenn sie einmal noch gegen Abend ausgegangen sind und bei sinkender Sonne heimkehren, sehen sie an den Stämmen der Pinien silberne Flämmchen emporzüngeln, die auch in den Kronen ihren glänzenden Brand entzünden.

»Sehen Sie«, sagt der Professor, »wie zwischen den Stämmen hindurch, und durch die Lücken der Nadelbuketts erblickt, das wolkige Violett der Abendberge sich noch einmal zum tiefen Azur belebt.«

»Wirklich!« bestätigt das junge Mädchen, und ganz eingenommen von der großen Szenerie des Sonnenunterganges macht sie selbst ihre Bemerkungen.

»Welch ein buntes Gemisch von Farben in unsern Fußtapfen im tiefen Sande!«

»Die Sonne malt Farbentöpfe.«

Sie treten in die Pineta ein, wo Contessina auf die von weitem ihren seltsamen Duft sendenden gelben Distelblüten aufmerksam wird.

»Wie sie zittern! Man sollte meinen, die Sonne wollte sie so herunterstreifen wie – wie –«

»Wie klingendes Gold«, ergänzt der Professor.

Contessina entdeckt in ihrem Innern, das ihr im Verkehr mit dem Professor bisweilen ganz neu vorkommt, eine gewisse Vermittlung zwischen Natur und Kunst, die etwas Beglückendes für sie besitzt. Es ist eine still-heitere, seltsam zufriedene Stimmung, die solche Stunden hinterläßt.

Zwar können ihre Stimmungen nicht immer gleichbleiben. Eines Morgens fragte der Professor, bald nachdem er sich zu ihr gesellt hat:

»Sie sind heute traurig, Contessina.«

Sie blickt ihn ruhig an, fast erstaunt.

»Ich bin nicht traurig.«

Sein Blick hat ihre Augen gestreift, nur so flüchtig, aber es entfährt ihm ein fast erschreckter Ausruf:

»Arme Contessina!«

Es ist ein Ton, der ihr Herz unruhiger schlagen macht. Er hat seine Unvorsichtigkeit bemerkt und entschuldigt sich.

»Verzeihen Sie mir, aber es scheint mir, Sie sind traurig und wissen nicht, daß Sie es sind.

Und wir sollten doch fröhlich sein«, fährt er fort – »angesichts dieses Meeres! Es ist ja ein Blau, in dem man mit Wonne ertrinken würde. Meinen Sie, daß wir wie sonst in den Wald hinaufgehen, wenn der Wind mächtiger wird? Wir wollen lieber bleiben und sehen, wie er alles belebt:

Wie das Leben ist eine Harfe das Meer,
Die nur der Sturm zu spielen weiß –«

so beginnt er mit seiner vollen Stimme in das sich verstärkende Brausen der Wogen hineinzusingen. Contessina hat sich in den Sand niedergelassen. In träumerischer Haltung, das Köpfchen in die Hand gestützt, lauscht sie. Er singt ein Lied, dessen Begeisterung, wie sie selbst dahinstürmt, auch dem Sturme gilt. Und immer klingen, im Refrain, die beiden, dem Sturme geweihten, von ihm getragenen Mächte zusammen, das Leben und das Meer:

»Sooft du lauschest seinen Chören,
Wirst du die Stimmen des Lebens hören.«

»Aber ich höre sie nicht«, sagt, als der Sänger geendet, das junge Mädchen, mit Haltung und Stimme des ängstlichen Horchens.

Der Professor ist betroffen.

»Sie hören sie wirklich nicht? Und es muß sie doch jeder hören.«

Er betrachtet sie wieder mit seinen prüfenden Augen.

»Aber vielleicht – so wird es sein«, sagt er nach kurzem Zögern, »Sie haben wohl zu tief und zu fern in die Stille der Vergangenheit zurückzulauschen, so daß Sie die lauten, grellen Töne des Lebens schwer entwirren.«

Er hat halblaut gesprochen, aber obwohl sie die Worte, die der sich erhebende Mistral von seinem Munde entführt, nicht unterschieden hat, wird sie von ahnungsvollem Schrecken berührt. Er bemerkt auch dies und tröstet sie eilig, mit lauter, lustiger Stimme.

»Aber es wird schon noch kommen, Contessina. Es hört sie ja jeder am Ende. Und Ihr Leben liegt noch ganz im Lichte der Zukunft.«

»Das glauben Sie doch?«

»Wie sollte es anders sein! Und warum kümmern wir uns um Zukunft und Vergangenheit, da doch der Augenblick so schön ist. Kommen Sie!«

Und er beginnt zu phantasieren von den bleiweißen Flecken der Segel am Horizont, die er für gewaltige Wanderschwäne ausgibt, deren Schwingen erhoben wären zum Fluge über die ganze Welt.

»Denken Sie nur, die ganze Welt!«

Er sprudelt über von seiner alten Lustigkeit und reißt das junge Mädchen darin mit.

»Dieser salzige wilde Meeresatem bringt den ganzen Menschen aus der Verfassung. Laufen Sie, Contessina?«

Er klatscht in die Hände. Sie flüchtet lachend. Er ruft ihr nach:

»Wir sind gleich daheim. Sie sind ein Füllen, das dem Stall zuspringt. Ich darf doch so unehrerbietig sein, es zu sagen?«

So geht es durch die Dünen, daß der Sand nach allen Seiten aufspritzt. Beim Eintritt in die Waldlichtung, dem Schlosse gegenüber, ist er ihr dicht auf den Fersen. Sie will sich nicht ergeben. In der Mitte der Lichtung angelangt, laufen sie im kleinen Kreise um den Brunnen herum. Sie reißt sich an der niedrigen Brüstung entlang, um ihm zu entwischen. »Fallen Sie nicht hinein!« ruft er plötzlich. Sie erschrickt ein wenig, und endlich kann er nach ihr greifen.

Ihr Gesicht hat Farbe bekommen, sie läßt ein offenes, glückliches Lachen hören, ihr Atem, der aus vollen Lungen kommt, ist frisch und duftig.

»Sie haben mich aber ganz atemlos gemacht«, stößt er hervor.

Sie lacht:

»Geben Sie mir Ihren Arm.«

Sorglos lehnt sie ihre leichte Gestalt gegen seinen Arm. Langsam, mit zufriedener Müdigkeit gehen sie dem Schlosse zu.

»Sie sprechen nie von Ihrem Werke«, beginnt das junge Mädchen wieder. »Zeigen Sie es mir?«

»Nein, Contessina, das ist mir streng verboten. Sie sollen damit überrascht werden, wenn es ganz vollendet ist.«

»Wohl gar erst nach Ihrer Abreise?«

»Darauf werden Sie nicht lange zu warten brauchen. In zwei Tagen muß ich von Ihnen Abschied nehmen.«

»Wie?«

»Nun, meine Arbeit wird dann beendet sein, und ich muß nur gestehen, daß ich mich länger dabei aufgehalten habe als nötig gewesen wäre.«

»Aber warum bleiben Sie nicht noch, ohne zu arbeiten?«

Er lachte:

»Ich habe mich an einen andern Platz verpflichtet. Aber daß ich ungern gehe, dürfen Sie mir schon glauben.«

Die letzten Worte hatte er gemurmelt. Contessina läßt den Kopf sinken, und sie erreichen unter Schweigen das Haus.

Am nächsten Tage ist der Professor sehr fleißig und läßt sich wenig vor den Damen blicken. Auch am folgenden Morgen muß Contessina ihren Spaziergang allein machen. Es ist so ungewohnt, sie fühlt sich ein wenig abgespannt. Doch macht sie unterwegs einige Beobachtungen, die sie von ihm gelernt, findet ein paar unbekannte Steine und Muscheln, die sie ihm mitteilen wird, denn er kennt alles.

Wie wird es sein, fragt sie sich plötzlich, wenn er nicht mehr da sein wird?

Aber ihr Kopf ist ein wenig müde, und sie verliert die Frage wieder.

Nachmittags, als sie mit der Mutter bei ihrer Tapisserie sitzt, erscheint der Professor im Salon.

»Ich möchte mich von den Damen verabschieden und für die Gastfreundschaft danken.«

»Sie haben ja den Wagen abbestellt?«

»Meine Sachen habe ich zur Bahn vorausgeschickt, gnädige Frau, und ich selbst möchte die wunderschöne Gegend noch einmal zu Fuß durchwandern.«

»Ganz allein?«

»Warum nicht, Contessina?«

»Aber Sie werden doch meine Begleitung nicht ausschlagen? Nur ein Stückchen!«

»Sie wollten?«

»Gewiß. Wir machen eben unsern letzten Spaziergang. Nicht wahr, Mama?«

So wandern sie noch einmal nebeneinander den Wald entlang. Ihre Schatten, ein schmächtiger und ein breitschultriger, springen über die Schatten der Pinienstämme hinweg, doch sie selbst schreiten bedächtig. Dann wenden sie sich querfeldein. Sie sprechen wenig, doch behaglich freundschaftlich, in ihrer alten Weise. Es ist, als mache der gesunde Atem der Felder ihre Gedanken bedächtig und sicher. Aber die salzige Brise, die vom Meere kommt, die muß dennoch etwas in ihnen finden, das sie aufregen kann. In der Ferne taucht schon die Station auf, als der Professor den Ton ändert.

»Es sind fast sechs Wochen, die ich hier in der Stille verlebt habe, Contessina. Und nun kehre ich in die laute Welt zurück. Glauben Sie mir indes, sie wird nie lärmend genug sein, um meine Erinnerung an diese Wochen der Stille und Einsamkeit zu übertäuben.«

»Ja, es ist hier einsam«, wiederholte das junge Mädchen. »Aber die Einsamkeit wird von einer Fee belebt, wie man sie in der Welt nicht findet. Dort gedeiht sie nicht, ja, mir ist der Gedanke gekommen, Contessina, daß dort das Leben nicht sanft genug für sie wäre.«

Sie blickt ihm in die Augen; es liegt soviel Güte und Trost darin. Dann neigt er sein rotes Gesicht über ihre weiße Hand.

Unwillkürlich und doch mit stockender Stimme sagt sie:

»Ich danke Ihnen.«

»Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen!«

Ein Gruß, ein Umschauen, noch ein Gruß. Contessina wendet sich allein den Weg zurück, den sie beide gekommen.

Ihr Schritt ist noch langsamer geworden, als wünschte sie, daß der Weg niemals ende. Nur nicht nach Hause kommen. Hier ist sie doch noch im vergangenen Augenblick mit ihm vorübergeschritten, an denselben Dingen haben ihre Augen gemeinsam gehangen. So flüstert ihr heimliches Gefühl, während ihre überhitzten, ermüdeten Gedanken nur immer wiederholen: Nur nicht nach Hause, nur nicht in die ewige, enge Einsamkeit zurück.

Ja, eine Fee, so fällt ihr plötzlich ein – von einer Fee hat er gesprochen!

Aber wenn nun die Fee ein menschliches Fühlen besitzt und nicht kaltblütig ist wie die anderen Feen. Dann gehört sie dennoch in die Welt.

Aber es wird ihr dort nicht gut ergehen, so sagt er.

Ach, wenn ich nicht dort sein kann – ach, wäre doch er dann hiergeblieben!

Aber das ist ja Sünde! ruft sie plötzlich und schlägt, stehenbleibend, die Hände vors Gesicht.

Sünde! Alle diese Gedanken Sünde. Was ist doch mit mir vorgegangen, mein Gott! Mein Gott!

Sie hat den Anhalt gefunden, nach dem sie suchte, und schreitet schneller aus. Nur er kann ihr raten.

O Gott, wenn es dennoch keine Sünde wäre?

Sie sieht das schmerzliche und doch so trostreiche Lächeln vor Augen, das in so vielen Stunden, in ihrem Zimmer, ihren Blick angezogen. Sie wird wieder wie sonst vor dem großen silbernen Kruzifix niederknien, und der Gott, mit dem sie so oft vom Tode gesprochen, von seinem, von dem ihres Vaters, vielleicht von ihrem eignen, er wird sie heute zuerst um das Leben beten hören.

Die Dämmerung sinkt schon tief, sie eilt nun, nach Hause zu kommen. Ohne jemand von ihrer Rückkehr zu benachrichtigen, ersteigt sie die Treppe, reißt die Tür auf – und gleich darauf würgt sie den Atem, der stocken will, mit pfeifendem Ton durch die Kehle. Eine starre, weißragende Figur steht ihr im Schatten gegenüber. Sie dreht sich um und um, erfaßt den Türpfosten, sie will umsinken, doch das Grauen rafft sie gewaltsam auf und sie stürzt, bebend in stummem Entsetzen, die Treppe hinab, aus dem Hause.

Die Lichtung hinunter läuft sie, das weiße Kleid flattert um ihre leichte Gestalt. Sie ist ein Falter, den der Wirbelwind entführt, sie weiß nicht wohin. Es fällt ihr ein, daß sie schon einmal so hier entlanggeflogen, aber das war doch ganz anders. Sie möchte auflachen. Und dann hört sie plötzlich in der Luft die Stimme, mit der er damals ausgerufen hatte: »Arme Contessina!«

Ihre Miene zieht sich zusammen, sie hat mit den spitzen Zähnen die Lippen wund gebissen. Da ist sie an dem runden Brunnen angelangt und umkreist ihn, einmal, zweimal, drei –

»Arme Contessina!«

Und plötzlich ist sie verschwunden.

»Contessina! Contessina!« ruft von fern, von der Terrasse, die klagende Stimme der Erzieherin.

In der Tiefe, in der sie verschwunden, rührt sich nichts. Es ist ja nicht einmal ein See, der Kreise über ihr zu ziehen vermöchte. Und viel weniger hat sie in der großen Freiheit des Meeres sterben sollen, dessen Stimmen, die Stimmen des Lebens, sie so gern verstanden hätte, die arme Contessina.


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