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Eine Abhandlung über Barmherzigkeit, Armenpflege und Armenschulen

Barmherzigkeit ist diejenige Tugend, kraft deren ein Teil unserer aufrichtigen Liebe zu uns selbst rein und unvermischt auf andere übertragen wird, die uns nicht durch Bande der Freundschaft oder Verwandtschaft verbunden sind, sogar auf völlig Fremde, denen wir nicht verpflichtet sind und von denen wir nichts zu hoffen oder zu erwarten haben. Sobald wir die Strenge dieser Definition irgendwie mildern, muss auch die Tugend als solche etwas verlieren. Was wir für Freunde und Verwandte tun, tun wir zum Teil für uns selbst. Wenn daher jemand sich im Interesse seiner Neffen und Nichten betätigt und sagt »sie sind meines Bruders Kinder, ich tu's aus Barmherzigkeit«, so stimmt das nicht. Denn wenn er überhaupt dazu imstande ist, so wird es von ihm erwartet, und er tut es dann teilweise um seiner selbst willen. Falls er die Achtung seiner Mitmenschen schätzt und es mit der Ehre und dem guten Rufe genau nimmt, so muss er sich um seine Verwandten mehr kümmern als um Fremde; sonst würde sein Ruf leiden.

Das sittliche Verhalten, von dem hier die Rede ist, bezieht sich teils auf unsere Gedanken, teils auf unsere Handlungen und zeigt sich in dem, was wir von anderen denken oder was wir für sie tun. Um also barmherzig zu sein, müssen wir zunächst alles, was andere sagen oder tun, im bestmöglichen Sinne deuten. Wenn z. B. einer sich ein Haus baut, es reich ausstattet und eine beträchtliche Summe auf Gemälde und Stiche ausgibt, so müssen wir, auch wenn er sonst keinerlei Symptome christlicher Demut zeigt, doch annehmen, er tue es nicht aus Eitelkeit, sondern um die Kunst zu fördern, Arbeiter zu beschäftigen und den Armen zum Wohle des Landes eine Tätigkeit zu verschaffen. Oder: wenn jemand in der Kirche schläft, so müssen wir, solange er nicht gerade schnarcht, glauben, er schliesse die Augen, um besser aufpassen zu können. Der Grund hierfür ist, dass wir unsererseits wünschen, man möchte das eine Mal unseren Geiz als Sparsamkeit auslegen, das andere Mal uns als Frömmigkeit anrechnen, was uns selbst als blosse Heuchelei bewusst ist. Barmherzigkeit zeigen wir zweitens dann, wenn wir jemandem Zeit und Mühe unentgeltlich widmen oder unseren Einfluss bei anderen zum Besten derjenigen verwenden, die es nötig haben, solche Unterstützung jedoch auf Grund von Freundschaft oder Verwandtschaft nicht von uns erwarten können. Der äusserste Grad der Barmherzigkeit besteht darin, dass wir – noch zu unseren Lebzeiten – an Leute der eben erwähnten Art weggeben, was wir selbst wertschätzen; wir sind dann damit zufrieden, lieber selbst weniger zu besitzen und zu geniessen, als den anderen, denen unser Opfer zugute kommen soll, nicht zu helfen.

Diese Tugend wird nun oft durch ein Gefühl in uns gefälscht, das wir Mitleid oder Mitgefühl nennen und das in einem Mit-Leiden und Anteil-Nehmen bei dem Unglück und Missgeschick anderer besteht. Alle Menschen sind ihm mehr oder weniger unterworfen, die schwächsten Gemüter aber im allgemeinen am meisten. Es entsteht in uns, sobald die Schmerzen und Leiden anderer Geschöpfe so heftig auf uns einwirken, dass wir unruhig werden. Es wird uns entweder durch das Auge oder das Ohr vermittelt, und je näher und lebhafter der Gegenstand unseres Mitgefühls jene Sinne affiziert, um so grössere Aufregung ruft er in uns hervor, – oft stark genug, um uns grosse Angst und Pein zu verursachen.

Viele werden sich über meine Behauptung wundern, das Mitleid werde uns durch Auge oder Ohr vermittelt; ihre Richtigkeit zeigt sich aber, wenn wir bedenken, dass wir um so mehr leiden, je näher der Gegenstand, um so weniger, je entfernter er uns ist. Die Hinrichtung eines Verbrechers bewegt uns, wenn wir sie ganz von fern wahrnehmen, nur wenig im Vergleich zu dem, was wir erleben, wenn wir nahe genug sind, um die Vorgänge in seinem Inneren aus seinen Mienen zu erkennen und seine furchtbare Erregung und Todesangst in jedem Zuge seines Gesichts ausgeprägt zu sehen. Solange der betreffende Gegenstand ganz ausser dem Bereich unserer Sinne liegt, kann der bloss gehörte oder geschriebene Bericht eines Unglücks nie das Gefühl des Mitleids in uns erregen. Wir können wohl über eine schlechte Nachricht, die Verluste und das Missgeschick von Freunden und uns Nahestehenden, betroffen sein; dies ist aber kein Mitleid, sondern Kummer und Sorge, dasselbe was wir beim Tode derer, die wir lieben, oder bei der Vernichtung dessen, was wir schätzen, empfinden.

Wenn wir hören, dass drei- oder viertausend Mann, die uns alle fremd sind, mit dem Schwerte getötet oder in einen Fluss gedrängt wurden, wo sie ertranken, so sagen und glauben wir vielleicht auch, dass wir sie bemitleiden. Die allgemeine Menschenliebe gebietet uns, die Leiden anderer mitzuempfinden, und die Vernunft sagt uns, dass unser Gefühl einem Geschehen gegenüber das gleiche bleiben sollte, ob es sich nun vor unseren Augen oder weit entfernt von uns zugetragen hat; und dass wir uns schämen sollten zu gestehen, wir empfänden kein Bedauern, sobald irgend etwas dies verlangt. »Ist das ein grausamer Mensch! Er hat kein Mitleid im Leibe« heisst es dann; aber alles dies ist die Wirkung von Vernunft und Menschenliebe. Die Natur macht keine Komplimente. Wenn die äusseren Dinge uns nicht berühren, so empfindet unser Leib nichts, und wenn jemand von seinem Mitleid mit nicht Anwesenden spricht, so ist ihm ebenso zu glauben, wie wenn er sagt, er sei unser »gehorsamer Diener«. Beim Austausch der üblichen Höflichkeiten während einer Begrüssung sind Leute, die sich nicht gerade jeden Tag sehen, oft in weniger als zwei Minuten fünf- oder sechsmal hintereinander abwechselnd sehr erfreut und sehr betrübt, fühlen aber nach dem Auseinandergehen nicht eine Spur mehr Kummer oder Freude als vor ihrem Zusammentreffen. Nicht anders verhält es sich mit dem Mitleid: es ist unserer Willkür ebenso entzogen wie Furcht oder Zorn. Wer eine starke, lebhafte Phantasie besitzt und Dinge sich innerlich vorstellen kann, als ständen sie tatsächlich vor ihm, der vermag sich wohl in eine dem Mitleid ähnliche Stimmung hineinzuversetzen; aber das geschieht dann künstlich und oft mit Hilfe von ein bisschen Schwärmerei. Es ist lediglich eine Nachahmung des Mitleids, daher auch das Herz nur wenig davon verspürt, etwas an der Oberfläche Verlaufendes wie das, was wir während der Aufführung einer Tragödie erleben. Hier schaltet unser Bewusstsein unseren Verstand teilweise aus und lässt sich, um einem müssigen Spiele frönen zu können, zu einer Täuschung verleiten, wie sie nötig ist zur Erzeugung eines Gefühls, dessen sanfte Regungen uns in einem Zustande untätiger Zufriedenheit nicht unerfreulich sind.

Wie das Mitleid von uns selbst und in eigener Sache oft fälschlich für Barmherzigkeit gehalten wird, so borgt es von ihr sein Aussehen und sogar seinen Namen. Ein Bettler bittet uns, jene Tugend um Christi willen zu üben, dabei geht seine ganze Absicht auf die Erregung unseres Mitleids. Er bietet seine Leiden und körperlichen Gebrechen unserem Auge von der schlimmsten Seite dar; in gewählten Ausdrücken schildert er uns sein wirkliches oder auch erdachtes Unglück; und während er Gott darum zu bitten scheint, dass er unser Herz aufschliesse, bearbeitet er in Wirklichkeit unser Ohr. Der gemeinste Kerl nimmt seine Zuflucht zur Religion und unterstützt die Wirkung seines dummen Geschwätzes durch den jämmerlichen Ton seiner Stimme und ein gekünstelt trauriges Gebärdenspiel. Er verlässt sich aber nicht auf ein Gefühl allein: unserem Stolz schmeichelt er mit Titeln und ehrenden Bezeichnungen, unseren Geiz besänftigt er durch den wiederholten Hinweis auf die Geringfügigkeit der von ihm erbetenen Gabe sowie durch bedingungsweises Versprechen einer künftigen Vergeltung nebst Zinsen, die zwar weit über das vom Gesetz Erlaubte hinausgehen, glücklicherweise aber ausserhalb von dessen Machtgrenze liegen. Leuten, die nicht an grossstädtisches Leben gewöhnt sind, bleibt bei solchen Angriffen von allen Seiten in der Regel nichts anderes übrig, als schliesslich etwas zu geben, auch wenn sie es selbst kaum entbehren können. – Welches seltsame Spiel treibt doch die Selbstliebe mit uns! Sie wacht unablässig zu unserem Schutze und zwingt uns doch, gegen unser Interesse zu handeln, sobald es gilt, ein allzu stark gewordenes Gefühl zu besänftigen. Denn wenn Mitleid uns erfasst und wir können uns überreden, dass wir zur Unterstützung des von uns Bemitleideten und zur Linderung seiner Not beitragen, so verschafft uns dies eine gewisse Erleichterung. Daher geben denn mitleidige Leute oft ein Almosen, obwohl sie deutlich merken, sie täten es lieber nicht.

Wenn ein Gebrechen recht deutlich sichtbar oder in anderer Weise besonders beklagenswert ist und der Bettler ist imstande, es der offenen Luft auszusetzen, so ist dies manchen Leuten höchst anstössig. »Es ist ein Skandal,« rufen sie »dass ein solcher Anblick geduldet wird.« Der Hauptgrund ist aber, es erregt ihr Mitleid sehr lebhaft, während sie gleichzeitig – sei es aus Geiz, sei es weil sie es für eine nutzlose Ausgabe halten – nichts zu geben entschlossen sind, und dadurch wird ihnen noch unbehaglicher zumute. Sie wenden ihre Augen ab, und sind die Klagen gar zu jammervoll, so würde sich mancher gern auch die Ohren zuhalten, wenn er sich nicht schämte. Sie können nichts tun als ihre Schritte beschleunigen und sich heftig darüber erbosen, dass überhaupt auf der Strasse Bettler herumstehen dürfen. Es ist aber mit dem Mitleid wie mit der Furcht: je mehr wir mit Dingen, die diese Gefühle erregen, vertraut sind, desto weniger stören sie uns, und wem alle diese Szenen und Klagen durch Gewöhnung geläufig sind, dem machen sie nur noch wenig Eindruck. – Falls er mit oder ohne Krücken gehen kann, so ist das Einzige, wodurch ein strebsamer Bettler solche verhärteten Gemüter vielleicht noch zu erweichen vermag, dass er den Betreffenden auf dem Fusse folgt, sie unaufhörlich mit lautem Gejammer bedrängt und es versucht, ob sie sich nicht doch noch ihren Frieden erkaufen werden. Tausende geben auf diese Weise Bettlern Geld aus demselben Beweggrunde wie ihrem Hühneraugen-Operateur, nämlich des angenehmeren Gehens wegen, und mancher Groschen wird an freche, aufdringliche Halunken verschenkt, die man, wäre es nicht unschicklich, viel lieber mit dem Stocke durchprügeln würde. All dies aber nennt die Höflichkeit des Landes »Barmherzigkeit«.

Das Gegenteil von Mitleid ist Bosheit oder Schadenfreude. Ich habe von ihr gesprochen, wo ich den Neid behandle. Wer Erfahrung in der Selbstbeobachtung besitzt, wird gern zugeben, dass es sehr schwierig ist, die Wurzel und Entstehung dieses Gefühls aufzudecken. Sie gehört zu denjenigen, deren wir uns am meisten schämen; soweit sie direkt verletzend wirkt, wird sie infolgedessen durch eine verständige Erziehung leicht unterdrückt und unschädlich gemacht. Wenn jemand in unserer Nähe stolpert, so strecken wir ganz natürlich und ohne Überlegung die Hände aus, um den Sturz zu verhindern oder wenigstens abzuschwächen; dies zeigt, dass wir im Zustand der Ruhe im grossen und ganzen zum Mitleid neigen. Obwohl aber Bosheit für sich allein nur wenig zu fürchten ist, so richtet sie, mit Stolz vereint, oft Schaden an und wird höchst gefährlich, sobald sie durch Zorn aufgereizt und verstärkt wird. Nichts löscht das Mitleid schneller und wirksamer aus als diese Mischung, die wir Grausamkeit nennen. Hieraus können wir ersehen, dass es zur Vollbringung einer verdienstlichen Tat nicht genügt, bloss ein Gefühl zu unterdrücken, ausser wenn dies aus einem lobenswerten Prinzip geschieht, folglich auch, wie notwendig in der Begriffsbestimmung der Sittlichkeit diese Einschränkung war, dass unser Handeln »aus einem vernünftigen Bestreben heraus, gut zu sein« entspringen müsse.

Das Mitleid ist, wie ich an anderer Stelle sagte, der liebenswürdigste von allen unseren Affekten, und es gibt nicht viele Gelegenheiten, bei denen wir es hemmen oder unterdrücken sollten. Ein Chirurg mag so mitfühlend sein, wie er will, wenn ihn dies nur nicht zum Vergessen oder Versäumen seiner Pflichten veranlasst. Auch Richter und Geschworene mögen von Mitleid bewegt werden, falls sie nur dafür Sorge tragen, dass immer genau dem Gesetze nach geurteilt und die Rechtsausübung nicht beeinträchtigt wird. Kein Mitleid richtet aber mehr Unheil in der Welt an als das aus der Zärtlichkeit der Eltern entspringende, das sie hindert, ihre Kinder so zu behandeln, wie vernünftige Liebe zu ihnen es erfordern würde und sie selbst es wünschen könnten. Auch der Einfluss jenes Gefühls auf die Neigungen der Frauen ist bedeutsamer, als man gewöhnlich glaubt; sie begehen täglich Fehltritte, die ausschliesslich ihrer Sinnlichkeit zugeschrieben werden, aber zum grossen Teil durch Mitleid verschuldet sind.

Das eben genannte ist nun aber nicht das einzige Gefühl, das der Barmherzigkeit ähnelt und sie vortäuscht: Stolz und Eitelkeit haben mehr Hospitäler erbaut als alle Tugenden zusammengenommen. Der Mensch hält so zähe an seinem Besitze fest, und Selbstsucht wurzelt so tief in unserem Wesen, dass jedem, der sie irgend zu meistern vermag, die Gunst der öffentlichen Meinung, überhaupt alles erdenkliche Entgegenkommen sicher ist für den Fall, dass er seine sonstigen Schwächen verbergen und die von ihm etwa noch gehegten Gelüste befriedigen möchte. Wenn jemand Privatmittel für etwas hergibt, wofür sonst die Allgemeinheit hätte aufkommen müssen, so verpflichtet er sich jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft. Alle Welt ist dann bereit, ihm ihre Anerkennung zu zollen, und hält sich für verpflichtet, jede solche Handlungsweise für sittlich wertvoll zu erklären, ohne die Motive, denen sie entsprang, zu prüfen oder auch nur aufzusuchen. Nichts ist für Moral und Religion verderblicher, als wenn Leuten eingeredet wird, die Überweisung von Geld an Bedürftige, wenn auch erst nach ihrem Tode, sei im Hinblick auf das künftige Leben eine volle Sühne für alle im gegenwärtigen begangenen Sünden. Ein Schurke, der einen grausamen Mord begangen hat, mag mit Hilfe falscher Zeugen der verdienten Strafe entgehen. Nehmen wir an, das Glück ist ihm günstig, er häuft grosse Reichtümer auf und hinterlässt auf den Rat seines Beichtvaters sein ganzes Vermögen einem Kloster, seine Kinder aber als Bettler. Wie schön hat dieser edle Christ hier seine Schuld gesühnt! Und was für ein ehrenwerter Mann war der Priester, der sein Gewissen leitete!

Ein reicher Geizhals, der vor lauter Habgier die Zinsen von seinem Gelde womöglich noch nach seinem Tode erhalten möchte, braucht bloss seine Verwandten zu betrügen und sein Vermögen einer unserer berühmten Universitäten zu hinterlassen. Sie sind Märkte, wo man, auch bei geringen Verdiensten, die Unsterblichkeit noch am billigsten einkauft. Wissen, Geist und Scharfsinn sind hier das natürliche Erzeugnis, ich hätte fast gesagt das Fabrikat des Platzes. Hier verfügen die Leute über gründliche Menschenkenntnis und wissen, was für Wünsche ihre Wohltäter haben. Besonderer Edelsinn findet hier auch immer besondere Belohnung, und der Stifter mag ein berühmter Arzt oder ein Kesselflicker sein: der Grösse der Gabe entspricht allemal das gespendete Lob, – wenn die lebenden Zeugen, die darüber lachen könnten, erst verschwunden sind. Ich kann nie an die jährliche Wiederkehr der einem gewissen grossen Manne gewidmeten Dankesfeier denken, ohne mir vorzustellen, welche wunderbaren Heilungen und andere überraschenden Dinge man nach hundert Jahren von ihm berichten wird; und ich wage vorauszusagen, dass man vor Ende dieses Säkulums zu seinem Preise Geschichten erfunden haben wird – denn Redner leisten keine Eide –, die mindestens ebenso fabelhaft sein werden wie die Heiligenlegenden.

Man wird vielleicht sagen, ein so strenges Prüfen und Richten und so genaues Erforschen des Inneren der Menschen wird die Leute davon abhalten, ihr Geld in der erwähnten Weise anzulegen, und es mag mit dem Gelde und den Beweggründen des Stifters stehen wie es wolle, der Empfänger hat seinen Nutzen davon. Nun, ich will mich diesem Einwand nicht entziehen, aber ich bin der Meinung, dass es kein Schade für die Allgemeinheit wäre, wenn man die Menschen daran hinderte, zuviel Geld als totes Kapital im Lande aufzuhäufen. Zwischen dem tätigen und dem untätigen Teile innerhalb der Gesellschaft sollte im Hinblick auf deren Wohlergehen ein ganz gewaltiger Grössenunterschied bestehen; wird dies ausser acht gelassen, so kann die Masse der Stiftungen und Schenkungen bald übergross und für die Nation verderblich werden. Wo die Barmherzigkeit allzusehr überhandnimmt, fördert sie häufig Trägheit und Müssiggang und leistet für das Gemeinwesen kaum mehr, als dass sie Nichtstuer grosszieht und den Gewerbefleiss untergräbt. Und das um so mehr, je mehr Stifte und Armenhäuser man baut. Die ersten Gründer und Förderer mögen gute und gerechte Absichten haben und suchen wohl schon ihres Rufes wegen den Eindruck hervorzubringen, dass sie höchst lobenswerte Zwecke verfolgen. Die Testamentsvollstrecker und späteren Verwalter jener Vermächtnisse haben jedoch ganz andere Gesichtspunkte, daher wir denn solche Stiftungen selten lange Zeit hindurch so angewendet sehen, wie es ursprünglich beabsichtigt war. Ich plane durchaus nichts Grausames und befürworte nichts, was im geringsten inhuman erscheinen könnte. Eine genügende Zahl von Hospitälern für Kranke und Verletzte betrachte ich als eine unerlässliche Pflicht in Kriegs- und Friedenszeiten. Der verwaisten Jugend und der hilflosen Greise, überhaupt aller Arbeitsunfähigen sollte man sich mit Eifer und Sorgfalt annehmen. Aber wie ich auf der einen Seite keinen vernachlässigt sehen möchte, der ohne eigenes Verschulden von aller Hilfe entblösst und ihrer wirklich bedürftig ist, so möchte ich auch anderseits unter der ärmeren Bevölkerung nicht Müssiggang und Bettelei unterstützen. Jeder, der irgend imstande ist, sollte zur Arbeit angehalten werden, und selbst unter den Kränklichen sollte genau nachgeforscht werden. Es dürften sich dann für die Mehrzahl der Lahmen und Blinden und für viele, die zu schwerer Arbeit untauglich sind, Beschäftigungen finden, solange ihre Gesundheit und ihre Kräfte noch ausreichen. – Mit dieser Betrachtung komme ich nun aber ganz von selbst auf jene unsinnige Schwärmerei für die Armenschulen, unter der das Land seit einiger Zeit zu leiden hat.

Die meisten sind von deren Nützlichkeit und Vortrefflichkeit so bezaubert, dass jeder, der ihnen offen zu widersprechen wagt, in Gefahr kommt, vom Pöbel gesteinigt zu werden. Man sagt: die Kinder, die in den Grundlagen der Religion unterrichtet werden und das Wort Gottes lesen können, haben mehr Gelegenheit, sich in bezug auf Moral und gute Sitten zu vervollkommnen, und müssen entschieden manierlicher werden als andere, die man frei und unbeaufsichtigt herumlaufen lässt. Wie verkehrt muss das Urteil derer sein, die nicht lieber sehen, wie die Kinder, hübsch angezogen und mindestens einmal wöchentlich mit frischer Wäsche, ihrem Lehrer in Reih und Glied zur Kirche folgen, als dass sie auf jedem offenen Platze einen Haufen schmutziger und höchst mangelhaft bekleideter Bengel antreffen, die, schon ganz abgestumpft gegen ihr Elend, es durch ihr fortwährendes Schwören und Fluchen nur noch vergrössern! Kann jemand zweifeln, dass sie eine wahre Brutstätte für Diebe und Spitzbuben bilden? Welche enorme Zahl von Verbrechern aller Art wird in jeder Gerichtssitzung verhört und für schuldig erklärt! Dies wird durch die Armenschulen verhindert werden. Wenn die Kinder der armen Leute eine bessere Erziehung gemessen, so wird die Gesellschaft in wenigen Jahren Nutzen daraus ziehen, und das Volk wird von den vielen Missetätern befreit werden, mit denen jetzt die Stadt und das ganze umgebende Land angefüllt sind.

So ruft man allerorten, und wer das geringste Wort dagegen sagt, ist ein unbarmherziger, gefühlloser, roher Mensch, wenn nicht gar ein gemeiner, böser und gottloser Wicht. Was den hübschen Anblick betrifft, so bestreitet das niemand, aber ich möchte nicht, dass eine Nation ein so vergängliches Vergnügen zu teuer bezahlt. Wenn wir von dem äusseren Gepränge absehen, so dürfte alles, was in obiger »Stimme aus dem Volke« von Gewicht ist, bald beantwortet sein.

Was die Frömmigkeit anlangt, so haben die Gebildetsten und Kenntnisreichsten innerhalb eines Volkes überall am wenigsten davon. Schlauheit macht einen Menschen eher zum Gauner als Beschränktheit, und das Laster im allgemeinen herrscht nirgendwo mehr als da, wo Künste und Wissenschaften blühen. Unwissenheit gilt sogar sprichwörtlich als die Mutter alles Glaubens, und es ist gewiss, dass Unschuld und Redlichkeit nirgends verbreiteter sind als unter den Ungebildetsten, den armen, einfältigen Landleuten. – Demnächst sind die höflichen Manieren in Betracht zu ziehen, die der ärmeren Bevölkerung durch die Armenschulen eingepflanzt werden sollen. Meiner Ansicht nach ist jedes nennenswerte Mass hiervon bei Leuten aus dem Arbeiterstande eine völlig überflüssige, wenn nicht schädliche Eigenschaft, zum mindesten gibt es nichts, was sie weniger nötig hätten. Nicht Komplimente sind es, was wir von ihnen brauchen, sondern ihre Arbeit und Dienstfertigkeit. Ich will jedoch in diesem Punkte sehr gern nachgeben. Gute Manieren sind meinetwegen für alle Menschen notwendig; auf welche Weise sollen sie ihnen aber in der Armenschule beigebracht werden? Die Jungen mögen dort lernen, vor jedem, den sie treffen, ausser gerade einem Bettler, die Mütze herunterzuziehen. Dass sie jedoch sonst irgendwelche feinen Manieren erwerben sollten, kann ich mir nicht denken.

Der Lehrer ist auch, wie man schon aus seinem Gehalte schliessen kann, nicht besonders dazu geeignet, und falls er den Kindern auch Manieren beibringen könnte, so hat er doch keine Zeit dazu. Während der Schulstunden lernen sie entweder ihre Aufgaben oder sagen sie ihm auf, oder aber sie sind mit Schreiben und Rechnen beschäftigt. Sobald die Schule aus ist, haben sie ihre Freiheit wie anderer armen Leute Kinder. Die Gebote und das Vorbild der Eltern und derer, mit denen sie essen, trinken und verkehren, sind das, was auf den kindlichen Geist Einfluss ausübt. Liederliche Eltern, die einen schlechten Lebenswandel führen und sich um ihre Nachkommenschaft nicht kümmern, werden nie wohlerzogene Kinder haben, auch wenn diese die Armenschule bis zu ihrer Verheiratung besuchen. Ehrbare und arbeitsame Leute dagegen werden auch bei grösster Armut – wenn sie nur selbst wissen, was gut und anständig ist – ihre Kinder in Zucht halten und nie dulden, dass sie sich auf den Strassen herumtreiben und die Nacht über im Freien zubringen. Wer selbst arbeitet und seine Kinder nur einigermassen in der Gewalt hat, wird sie so zeitig wie möglich zu irgendeiner Tätigkeit anhalten, bei der etwas, sei es auch noch so wenig, herauskommt. Die aber so unerziehbar sind, dass weder Worte noch Schläge auf sie einwirken, wird keine Armenschule bessern. Wir wissen vielmehr aus Erfahrung, dass es unter den Armenschülern zahllose schlechte Elemente gibt, die schwören und fluchen und, von ihrer Kleidung abgesehen, ebenso verlumpte Kerle sind, wie Tower-Hill und St. James je welche hervorgebracht haben.

Damit bin ich bei den schrecklichen Verbrechen und den Scharen von Missetätern angelangt, die alle der Vernachlässigung dieser vortrefflichen Erziehungsmethode zugeschrieben werden. Dass täglich massenhafte Diebstähle und Räubereien in und um London begangen werden und jedes Jahr eine grosse Anzahl für diese Verbrechen mit dem Tode bestraft wird, ist unleugbar. Aber nicht der Mangel der Lese- und Schreibfertigkeit, sondern ein verwickeltes Zusammenspiel von wesentlich ernsteren Übeln ist es, was in einer grossen und reichen Nation unaufhörlich das schlimmste Gesindel entstehen lässt. Wer Unwissenheit, Dummheit und Blödigkeit als die erste, sozusagen vorbereitende Ursache hiervon betrachtet, der möge sich nur mal die Lebensschicksale unserer durchschnittlichen Spitzbuben und Schwerverbrecher daraufhin ansehen, sowie ihre Besprechungen und Unternehmungen einer genauen Prüfung unterwerfen: er wird das Gegenteil finden, dass nämlich die Schuld eher der allzugrossen Schlauheit und Gewandtheit und den zu zahlreichen allgemeinen Kenntnissen beigelegt werden sollte, über die gerade die gefährlichsten Subjekte, der Abschaum des Volkes, verfügen.

Die menschliche Natur ist überall die gleiche: Geist, Talent und Begabung werden stets durch Fleiss und Anstrengung vervollkommnet und können in der Ausführung der gemeinsten Schurkerei eine ebensolche Höhe erreichen wie in arbeitsfrohem Schaffen oder der Betätigung edelsten Heldenmutes. Es gibt keine Lebensumstände, unter denen Stolz, Wetteifer und Ruhmsucht nicht zur Geltung gebracht werden könnten. Ein jugendlicher Taschendieb, der sich über seine wütigen Verfolger lustig macht und dem alten Richter in geschickter Weise die Überzeugung von seiner Unschuld aufschwatzt, wird von seinen sämtlichen Freunden und Genossen beneidet und bewundert. Spitzbuben haben dieselben Gefühlsregungen und -bedürfnisse wie andere Menschen und bilden sich auf ihre Ehre und gegenseitige Treue, auf Mut, Furchtlosigkeit und andere Mannestugenden ebensoviel ein wie Leute in angeseheneren Berufen; und ein Räuber kann bei seinen kühnen Wagnissen in seiner Tatkraft ebensosehr durch Stolz und Selbstgefühl angetrieben werden wie ein braver Soldat, der für sein Vaterland kämpft.

Diese oft beklagten Übel sind also ganz anderen Ursachen als den gewöhnlich für sie angeführten zuzuschreiben. Die Menschen müssen doch sehr schwankend in ihrer Gesinnung, wenn nicht mit sich selbst uneins sein, dass sie das eine Mal Wissen und Studium als das beste Mittel zur Förderung der Religion hinstellen und ein anderes Mal behaupten, Unwissenheit sei die Wurzel alles Glaubens.

Wenn nun aber die für die allgemeine Armenschul-Erziehung vorgebrachten Gründe nicht die wahren sind, woher kommt dann die ungeteilte Vorliebe für sie im ganzen Reiche, bei hoch und niedrig? Dass eine wunderbare Bekehrung unter uns stattgefunden hätte, ist nicht beobachtet worden, auch nicht, dass sich plötzlich ein allgemeiner Hang zum Guten und Sittlichen im Lande entwickelt hätte. Die Schlechtigkeit ist so verbreitet wie je, die Barmherzigkeit ebenso kalt, die wahre Tugend ebenso selten: das Jahr 1720 war, genau so wie irgendeines in früheren Jahrhunderten, fruchtbar an durchtriebener Schurkerei, verbrecherischem Eigennutz und vorbedachter Bosheit, aber nicht in armen unwissenden Kerlen, die weder lesen noch schreiben konnten, sondern in den auf höherer Vermögens- und Bildungsstufe Stehenden, deren Mehrzahl vorzügliche Rechner waren und in Glanz und Ehren lebten. – Doch es dürfte den Schärferblickenden nicht genügen, wenn nur gesagt wird, sobald einmal etwas en vogue gekommen ist, stimme eben die grosse Masse in das allgemeine Geschrei ein, und die Armenschulen seien in gleicher Weise modern geworden, wie die Reifröcke, nämlich durch Zufall und Laune, so dass sich für jene ebensowenig Gründe angeben lassen wie für diese. Und ich zweifle zugleich, ob viele meiner Leser meinen weiteren Ausführungen mehr Gewicht beilegen werden.

Die wahre Quelle jener zur Zeit herrschenden Torheit ist sicher sehr versteckt und fernliegend; wer aber in Dinge von grosser Dunkelheit auch nur das geringste Licht bringt, leistet den Wahrheitsfreunden einen guten Dienst. Ich will gern zugeben, dass das eigentliche Ziel jener Schulen anfangs ein gutes und barmherziger Gesinnung entsprungenes war. Um aber zu wissen, wodurch sie so übermässig zunehmen und wer jetzt ihre Hauptförderer sind, müssen wir anderwärts nachforschen und uns den eifrigen, für ihre Sache entbrannten Parteimännern zuwenden, sei es den zur Hochkirche gehörenden, sei es den Presbyterianern; da jedoch diese letzten nur die Nachäffer der erstgenannten sind, so werden wir uns auf die Hochkirche beschränken und uns einmal in einer Gemeinde umsehen, die des Segens einer Armenschule noch entbehrt. – Hier halte ich mich aber in meinem Gewissen für verpflichtet, meinen Leser um Entschuldigung zu bitten wegen der unerfreulichen Tour, die ich, wenn er mir folgen will, jetzt mit ihm unternehmen werde. Er möge also entweder das Buch fortwerfen und mich meinem Schicksal überlassen oder aber sich mit Hiobsgeduld wappnen, um all das Widerwärtige niederen Volkslebens, das ganze Geschwätz und Geklätsch ertragen zu können, das ihm bevorsteht, sobald er nur eine halbe Strasse lang geht.

Zunächst müssen wir unter den jüngeren Ladeninhabern Umschau halten, die nicht halb soviel, wie ihnen lieb wäre, zu tun und infolgedessen viel Zeit übrig haben. Falls ein solcher Anfänger nur ein wenig mehr Selbstgefühl als üblich besitzt und es liebt, sich in allerlei einzumischen, so fühlt er sich bald zurückgesetzt in der Gemeindeversammlung, wo vermögende, lang eingesessene Leute oder auch jene zänkisch-frechen, aufgeblasenen Schreier, die sich den Ruf wichtiger Persönlichkeiten erwarben, das Heft in Händen haben. Sein Lager, vielleicht auch sein Ansehn, ist nicht erheblich; dabei verspürt er aber einen starken Trieb zum Herrschen in sich. Ein so veranlagter Mann denkt nun: Es ist doch jammerschade, dass in der Gemeinde keine Armenschule ist, – und teilt seine Gedanken zunächst zweien oder dreien aus seiner Bekanntschaft mit. Diese tun dasselbe mit anderen, und nach Verlauf eines Monats wird in der Gemeinde von nichts anderem mehr gesprochen. Jeder einzelne findet, seinen Fähigkeiten entsprechend, neue Argumente und Anknüpfungspunkte in bezug auf dieses Thema. – »Es ist ein Erzskandal,« sagt einer, »dass man soviel Arme sieht, die ihre Kinder nicht ordentlich erziehen können, und dass nicht für sie gesorgt wird, wo wir doch so viele reiche Leute haben.« – »Was reden Sie von reichen Leuten,« antwortet ein anderer, »das sind gerade die Schlimmsten. Die müssen ihre vielen Diener haben, ihre Pferde und Wagen; für Schmucksachen und Möbel können sie hunderte und manche gar tausende von Pfunden ausgeben; für einen armen Teufel, der's braucht, haben sie nicht einen Schilling übrig. Wenn von neuen Moden und anderen Finessen die Rede ist, können sie gleich aufpassen und zuhören; gegen die Notschreie der Armen sind sie absichtlich taub.« – »Allerdings, Herr Nachbar,« erwidert der erste, »Sie haben sehr recht. Ich glaube, in ganz England gibt es keine schlechtere Gemeinde als die unsrige, was die Armenpflege anlangt. Solche wie Sie und ich, wir würden schon helfen, wenn wir die Mittel dazu hätten; aber von denen, die dazu imstande wären, mögen doch nur sehr wenige etwas tun.«

Andere, die hitziger sind, fallen über bestimmte Personen her und verleumden jeden angesehenen Mann, der ihnen nicht passt; tausend alberne Geschichten zugunsten der Armenpflege werden aufgebracht und verbreitet, um die besseren Leute zu verunglimpfen. Während dies unter der gesamten Nachbarschaft vor sich geht, ist der erste Urheber des frommen Planes erfreut, zu hören, wie viele sich daran beteiligen, und bildet sich nicht wenig darauf ein, dass er die eigentliche Ursache von soviel Gerede und Geschäftigkeit ist. Da aber weder er selbst noch seine nächsten Freunde angesehen genug sind, um eine solche Sache in Gang zu bringen, so muss jemand ausfindig gemacht werden, der mehr Einfluss hat. Es gilt, an ihn heranzutreten und ihm klarzumachen, wie notwendig, verdienstlich, nützlich und fromm ein solches Unternehmen sei; dann aber ihm zu schmeicheln: »In der Tat, werter Herr, wenn Sie sich der Sache annehmen wollten …; niemand hat einen grösseren Einfluss als Sie gerade auf die vornehmen Leute in der Gemeinde; ein Wort von Ihnen würde sicherlich den Herrn Soundso gewinnen. Falls Sie sich einmal dafür interessieren wollten, wertester Herr, so würde ich die Sache als gesichert ansehen.« – Wenn sie mit Hilfe solcher Rhetorik einen alten Narren oder aufdringlichen Wichtigtuer, der reich ist oder wenigstens dafür gilt, für sich gewinnen können, so wird die Sache schon aussichtsreicher und nun auch von den besseren Leuten besprochen. Der Pfarrer oder Pfarrvikar und der Hilfsprediger sind damit beschäftigt, das fromme Werk überall aufs höchste zu preisen. Die eigentlichen Begründer sind inzwischen unermüdlich; falls sie früher einem offenkundigen Laster gehuldigt hatten, so opfern sie es jetzt entweder ihrem guten Rufe oder werden zum mindesten vorsichtiger und lernen heucheln; denn sie wissen sehr wohl, dass es sich mit ihrem vorgeblichen Eifer für die Werke der Nächstenliebe und Frömmigkeit nicht verträgt, wenn ihnen ein schlechter Lebenswandel oder bestimmte Übeltaten nachgesagt werden.

Da die Zahl dieser Lokalpatrioten immer mehr wächst, so treten sie zu einem Verein zusammen und beraumen feste Sitzungen an, wo jeder, indem er seine Fehler verbirgt, seine Talente entfalten darf. Das Thema bildet die Religion oder auch die durch Atheismus und irdischen Sinn veranlasste Not der Zeiten. Hochgestellte Persönlichkeiten, die ein glänzendes Leben führen, sowie strebsame Geschäftsleute, die mit eigenen Arbeiten überhäuft sind, wird man dort selten zu sehen bekommen. Auch sonst suchen sich Menschen von Bildung und Geschmack für ihre Mussestunden in der Regel eine bessere Unterhaltung aus. Allen solchen, die höheren Zielen folgen, wird der Besuch der Versammlungen gern erlassen; irgendwie müssen sie sich aber beteiligen, sonst führen sie ein schweres Leben in der Gemeinde. Zwei Sorten von Menschen kommen aus freien Stücken: die treuen, unentwegten Diener der Kirche, die ihre guten Gründe dafür haben, und jene schlauen Sünder, die es als besonders verdienstlich betrachten und hoffen, dass dadurch ihre Schuld getilgt und der Teufel auf einfache Weise geprellt werden wird. Manche kommen, um ihren guten Ruf zu erhalten, andere um ihn wieder zu erlangen, je nachdem sie ihn zu verlieren fürchten oder schon verloren haben; manche tun es in der klugen Absicht, ihr Geschäft dadurch zu heben und Bekanntschaften anzuknüpfen, und viele, dürften sie offen und ehrlich sprechen, würden zugeben, dass sie sich bloss deshalb auf die Sache eingelassen hätten, um in der Gemeinde mehr bekannt zu sein. Verständige Leute, die das Törichte daran sehen und niemanden zu fürchten brauchen, lassen sich dazu überreden, um nicht aufzufallen oder allen anderen entgegenzuhandeln; selbst die es zuerst entschlossen ablehnen, werden doch, zehn gegen eins, zuletzt durch unaufhörliches Bitten und Drängen zum Nachgeben gebracht. Da der Beitrag auf den grössten Teil der Einwohnerschaft berechnet ist, so stellt seine Geringfügigkeit ein weiteres sehr wirksames Argument dar, und viele werden so mit hineingezogen, die sich ohne das abseits gehalten und dem ganzen Unternehmen energisch widersetzt hätten.

Die Inspektoren werden aus dem Mittelstande genommen, aber vielfach auch aus den niederen Ständen, falls nur ihr Eifer und Tatendrang über ihre dürftigen Verhältnisse überwiegt. Wollte man diese würdigen Oberhäupter fragen, warum sie, unter Zeitverlust und zum Schaden ihrer eigenen Angelegenheiten, eine so grosse Last auf sich nehmen, so würden sie einstimmig antworten, es geschehe mit Rücksicht auf Religion und Kirche, und weil es ihnen eine Befriedigung gewährt, zum Wohlergehen und zum ewigen Seelenheile so vieler armer, unschuldiger Kindlein beizutragen, die sonst aller Wahrscheinlichkeit nach in dieser bösen Zeit der Spötter und Freidenker ins Verderben rennen würden. Sie haben natürlich keinerlei eigennützige Interessen. Sogar diejenigen, die selbst mit den Artikeln handeln, mit denen sie die Kinder versorgen, haben nicht die geringste Absicht, beim Verkauf dieser Dinge etwas zu verdienen; und obgleich in allem sonstigen ihre Habsucht und Geldgier aufs deutlichste hervortreten, so handeln sie doch in dieser Sache völlig selbstlos und verfolgen keinerlei materielle Zwecke. Ein Motiv vor allem, das bei den meisten von ihnen nicht wenig ausmacht, ist sorgfältig zu verbergen, nämlich die Befriedigung, die ihnen das Befehlen und Regieren verschafft. Das Wort »Inspektor« hat einen melodischen Klang, der Leute niederen Standes bezaubert. Ein jeder bewundert Gewalt und Überlegenheit, sogar das Imperium in Belluas hat seinen Reiz; alles Herrschen über etwas bereitet Vergnügen, und dies hauptsächlich ist es, was den Menschen in der mühseligen Knechtschaft der Schulmeisterei aufrecht erhält. Wenn aber schon das Beherrschen von Kindern eine gewisse Befriedigung gewährt, so muss es eine Wonne sein, den Schulmeister selber zu beherrschen. Was für schöne Sachen werden nicht einem Inspektor gesagt und vielleicht geschrieben, wenn ein Lehrer gewählt werden soll! Wie da das Lob kitzelt, und wie köstlich es ist, die widerliche Schmeichelei, die gespreizten Phrasen und den pedantischen Stil nicht zu bemerken!

Wer in das Wesen der Dinge einzudringen versteht, wird immer finden: was solche Leute am häufigsten als Vorwand gebrauchen, das ist ihr geringstes, was sie am nachdrücklichsten leugnen, ihr stärkstes Motiv. Keine Gewohnheit oder Eigenschaft wird leichter erworben als Heuchelei, und nichts schneller erlernt als die Leugnung unserer innersten Gesinnung und der Beweggründe unseres Handelns. Indes, es gibt keinen Trieb und kein Gefühl, dessen Keime nicht von Geburt an in uns lägen; kein Mensch kommt ohne sie auf die Welt. Wenn wir die Spiele und Spässe kleiner Kinder beobachten, so finden wir ausnahmslos, dass alle, denen es gestattet wird, an dem Spiel mit kleinen Katzen und jungen Hündchen Gefallen finden. Was sie veranlasst, die armen Tierchen im ganzen Hause herumzuschleppen und zu zerren, ist nichts anderes, als dass sie alles mögliche mit ihnen vornehmen und ihnen jede beliebige Gestalt und Stellung geben können. Das Vergnügen, das sie dabei empfinden, leitet sich her aus dem Herrschertrieb und dem Machtbedürfnis, mit denen alle Menschen geboren werden.

Sobald nun das grosse Werk zustande gebracht und vollendet ist, scheint Freude und Heiterkeit das Antlitz jeglichen Einwohners zu überziehen. Zur Erklärung dieser Tatsache muss ich abermals eine kurze Abschweifung machen. Überall gibt es heruntergekommene, an Schmutz und Lumpen gewöhnte arme Kerle; sie erscheinen uns im allgemeinen als bejammernswerte Geschöpfe, und wenn sie nicht gerade besonders auffallen, beachten wir sie kaum. Trotzdem finden sich ebenso hübsche und gutgewachsene Leute unter ihnen wie unter Höherstehenden. Wird aber einer von diesen Soldat, welcher ungeheure Wandel zum Besseren vollzieht sich dann an ihm, sobald er seinen roten Rock anhat und wir ihn, mit Grenadiermütze und langem Säbel, keck einherschreiten sehen! Alle, die ihn vorher kannten, haben jetzt auf einmal eine ganz andere Meinung von ihm, die Urteile der Männer wie auch der Frauen über ihn haben sich beträchtlich geändert. Etwas analoges nun kommt bei dem Anblick der Armenschulkinder zur Geltung: ein natürliches Wohlgefallen, wie es den meisten Menschen aus dem Eindruck der Gleichmässigkeit erwächst. Es ergötzt das Auge, wenn man Kinder, Knaben wie Mädchen, hübsch ordentlich in einer Reihe, immer zwei nebeneinander, einhergehen sieht; dass sie alle nett und sauber und in übereinstimmender Weise gekleidet und hergerichtet sind, muss den Anblick noch erfreulicher gestalten; und was seine Beliebtheit weiter steigert, ist der vermeintliche Anteil, den selbst das Dienervolk und der Pöbel, die es nichts kostet, daran haben: »Unsere Pfarrkirche«, »Unsere Schulkinder …« In all dem liegt ein leises Bewusstsein des Mitbesitzes, das jedem zum Gebrauche dieser Worte Berechtigten schmeichelt, namentlich aber denjenigen, die an dem frommen Werke tätig mitwirkten und an seiner Förderung wesentlich beteiligt waren.

Es ist kaum zu fassen, wie Menschen ihre wahre Gesinnung so wenig kennen und ihr Innerstes so wenig durchschauen sollten, dass sie ihre Schwächen, ihre Gefühle und Leidenschaften für Güte, Tugend und Barmherzigkeit halten; und doch ist nichts wahrer, als dass die Befriedigung, die Freude und Wonne, die sie aus den genannten Gründen empfinden, bei diesen elenden Beurteilern als Motive der Frömmigkeit und Gottesfurcht gelten. Jeder, der das von mir auf den letzten zwei bis drei Seiten Gesagte erwägt und seine Gedanken ein wenig sich ausbreiten lässt über das, was er in dieser Angelegenheit gesehen und gehört hat, wird hinreichende Gründe dafür auffinden, warum die Armenschulen, unter völliger Ausschaltung von Religion und echtem Christensinn, so ungewöhnlich stark in Mode gekommen und von Leuten jeder Art und Stellung so einmütig gebilligt und bewundert werden. Es ist ein Thema, das jeder gründlich verstehen und erörtern kann und das ein unerschöpflicher Boden ist für allerlei Klatsch und Gerede in Fährbooten und Postkutschen. Wenn ein Inspektor, der sich der Schule zuliebe ganz besonders angestrengt hat, zufällig in eine Gesellschaft kommt, wie wird er da von den Damen gepriesen, die seinen Eifer und seine barmherzige Gesinnung in den Himmel erheben! – »Wahrhaftig, werter Herr«, sagt eine alte Dame, »wir sind Ihnen zu grösstem Danke verpflichtet. Ich glaube, keiner von den übrigen Herren Inspektoren hätte Einfluss genug gehabt, um einen Bischof für uns zu gewinnen. Ich hörte auch, seine Lordschaft sei nur Ihretwegen gekommen, obgleich er nicht ganz wohl gewesen.« Worauf der andere sehr ernst und gemessen antwortet, dass er nur seine Pflicht tue, aber auch keine Last noch Mühe scheue, um für die Kinder, die armen Schäfchen, zu sorgen: »In der Tat« sagt er »ich hatte es mir vorgenommen, einen von den Herren Bischöfen heranzukriegen, und wenn ich die ganze Nacht hätte unterwegs sein sollen; und ich bin froh, dass es mir gelungen ist.«

Manchmal wird auch von der Schule selbst gesprochen, sowie davon, wer eigentlich in der ganzen Gemeinde für den Bau einer solchen am meisten in Betracht komme: »Das alte Haus, wo sie jetzt untergebracht ist, fällt beinah zusammen; der Soundso hat von seinem Onkel ein grosses Vermögen geerbt und noch viel Geld ausserdem; tausend Pfund würden ihm gar nichts ausmachen.«

Ein andermal wird von dem grossen Gedränge in einigen Kirchen und von den beträchtlichen Summen geredet, die eingesammelt wurden. Von hier gleitet dann das Gespräch sehr leicht über zu den Fähigkeiten der einzelnen Geistlichen, der Verschiedenheit ihrer Talente und religiösen Überzeugung: »Dr. … ist ja ein sehr begabter und gelehrter Mann, und ich glaube, er tritt sehr eifrig für die Kirche ein; in seinen Predigten zum Besten der Armenpflege gefällt er mir aber nicht. Da gibt es keinen besseren in der Welt als …, der zieht den Leuten nur so das Geld aus der Tasche. Als er das letztemal für unsere Kinder predigte, haben sicher eine Masse Leute mehr gegeben, als sie sich unterwegs vorgenommen hatten. Ich habe es ihnen am Gesicht ansehen können und mich mächtig darüber gefreut.«

Ein anderer Reiz, durch den die Armenschulen so bezaubernd auf die grosse Menge wirken, ist die bei ihr weitverbreitete Ansicht, dass die Schulen nicht bloss dem Gegenwartsinteresse der Gesellschaft dienen, sondern dass auch das Christentum uns auffordert und verpflichtet, sie im Hinblick auf unser künftiges Wohlergehen zu errichten. Werden sie doch von der Gesamtheit der Geistlichen mit Ernst und grösstem Eifer empfohlen und mit mehr Sorgfalt und Beredsamkeit behandelt als irgendeine andere Christenpflicht; und das nicht von jungen Pfarrern und armen, noch unbekannten Kandidaten, sondern von den gelehrtesten und orthodoxesten unserer Prälaten, sogar von solchen, die sich bei anderen Gelegenheiten selten einmal bemühen. Auf religiösem Gebiete müssen sie zweifellos wissen, was uns vor allem obliegt und daher für unser Seelenheil am notwendigsten ist; und was die irdischen Dinge betrifft, wer sollte da wohl das Interesse der Nation besser beurteilen als die hohe Volksvertretung, in der die bischöflichen Abgeordneten eine so hervorragende Rolle spielen? – Infolge dieser Sanktion werden nun erstens diejenigen, die mit ihrem Gelde oder Ansehen zur Vermehrung und Erhaltung jener Schulen beitragen, dazu verführt, ihrer Handlungsweise grösseres Verdienst beizulegen, als sie sonst für berechtigt halten würden. Zweitens haben alle übrigen, die sich in keiner Weise beteiligen können oder wollen, immer noch einen sehr guten Grund, anerkennend davon zu sprechen. Denn obwohl es schwierig ist, unserem Gefühl widerstrebende Dinge durch die Tat zu fördern, liegt es doch stets in unserer Macht, in wohlwollendem Sinne über sie zu sprechen, weil dies mit nur geringen Kosten verknüpft ist. Unter dem abergläubischen Pöbel ist kaum einer so bösartig, dass er nicht in seiner Vorliebe für die Armenschulen einen Hoffnungsschimmer zu sehen glaubt, der ihm eine Vergebung seiner Sünden verheisst, und zwar aus demselben Grunde, aus dem sogar die Verworfensten sich mit ihrer Liebe und Verehrung gegenüber der Kirche trösten: der grösste Bösewicht findet dabei eine günstige Gelegenheit, die Reinheit seiner Gesinnung darzutun, ohne dass ihm dies etwas kostet.

Wäre aber auch alles dies noch kein hinreichender Anlass für die Menschen, um ihre unsinnige Schwärmerei für die Armenschulen zu verteidigen, so gibt es schliesslich noch etwas, was die meisten unfehlbar besticht, als ihr Anwalt aufzutreten. Wir alle finden von Natur aus ein Vergnügen darin, über andere zu triumphieren; jeder an dieser Sache Beteiligte ist aber, wenigstens in neun unter zehn Fällen, des Sieges sicher. Er mag disputieren mit wem er will; in Anbetracht des vorteilhaften Eindrucks, den die Sache macht, und der Mehrheit, die er auf seiner Seite hat, befindet er sich wie in einer Burg, einer uneinnehmbaren Festung, aus der er nicht vertrieben werden kann. Liesse man den vernünftigsten und anständigsten Menschen auf Erden alle später von mir zu nennenden – und noch stärkere – Argumente anführen zum Beweise des Schadens, den die Armenschulen oder wenigstens ihr Übermass der Gesellschaft zufügen, und wäre sein Gegner ein ganz abgefeimter Halunke, der bloss die üblichen dummen Redensarten über Religion und Barmherzigkeit vorbrächte, so würde doch die allgemeine Stimmung gegen ihn sein und er selbst in den Augen des Pöbels den kürzeren ziehen.

Der erste Ursprung all des Lärmens und Hastens, das im ganzen Lande wegen der Armenschulen entstanden ist, kommt also in der Hauptsache auf Rechnung menschlicher Schwächen und Leidenschaften; zum mindesten ist es mehr als möglich, dass eine Nation dieselbe Vorliebe und denselben Eifer dafür zeigte wie die unsrige und trotzdem nicht durch ein sittliches oder religiöses Motiv dazu bestimmt wäre. – Durch diese Feststellung ermutigt, werde ich nun mit um so grösserer Freiheit einen verbreiteten Irrtum angreifen und zu beweisen suchen, dass diese übertriebenen Erziehungsmassnahmen nicht nur keineswegs segensreich wirken, sondern vielmehr die Allgemeinheit schädigen. Deren Wohlfahrt – da sie über alle anderen Gesetze und Erwägungen hinaus Berücksichtigung verlangt – soll mein einziger Entschuldigungsgrund dafür sein, dass ich von den herrschenden Anschauungen der gelehrten und hochwürdigen Geistlichkeit abweiche, sowie dafür, dass ich das schlechthin zu leugnen wage, was, wie ich eben zugab, von der Mehrzahl unserer Bischöfe und niederen Geistlichen öffentlich behauptet wird. Da unsere Kirche selbst in geistlichen Dingen, ihrem eigentlichen Gebiet, keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit erhebt, so kann es sie nicht beleidigen, wenn man annimmt, dass sie in weltlichen Dingen irrt, die ja ihrer Sorge nicht so unmittelbar unterstehen. – Nun aber zu meiner Aufgabe.

Da ein Fluch auf unserer Erde lastet und wir unser Brot im Schweisse unseres Angesichts essen sollen, so muss der Mensch viel harte Arbeit leisten, ehe er als Einzelwesen das für sein Leben, für die blosse Erhaltung seines schwachen und hinfälligen Leibes Erforderliche zusammengebracht hat. Unendlich viel mehr ist aber nötig, um das Leben innerhalb einer bürgerlichen Gesellschaft angenehm zu machen, wo die Menschen eine Art Dressur durchgemacht und sich in grosser Zahl auf Grund gegenseitiger Übereinkunft zu einer politischen Körperschaft zusammengeschlossen haben; und je mehr in diesem Zustande das Wissen des Menschen sich erweitert, desto mannigfaltiger wird die Arbeit sein, die zu seiner Befriedigung notwendig ist. Eine soziale Gemeinschaft kann nun unmöglich lange bestehen, wenn sie duldet, dass viele ihrer Mitglieder müssiggehen und sich alle erdenklichen Annehmlichkeiten und Genüsse leisten, ohne dass gleichzeitig eine grosse Masse von Individuen vorhanden ist, die des Ausgleichs wegen sich zu dem geraden Gegenteil hiervon verstehen, nämlich sich durch rastlose Arbeit daran gewöhnen, im Interesse jener anderen, und ihrem eigenen dazu, tätig zu sein.

Die Menge und Billigkeit der Lebensmittel richtet sich in hohem Masse nach der Bewertung jener Arbeit. Die Wohlfahrt jeder sozialen Gemeinschaft verlangt daher, auch schon vor ihrer Berührung mit fremdländischem Luxus, eine Ausführung der Arbeit durch solche, die erstens stark und kräftig sind und Bequemlichkeit und Müssiggang nicht kennen, und die zweitens in bezug auf ihre Lebensbedürfnisse keine grossen Ansprüche machen, also durch solche, die in ihrer Kleidung gern mit der gröbsten Qualität vorlieb nehmen und in ihren Mahlzeiten lediglich die Stillung deutlich fühlbaren Hungers bezwecken, so dass sie, um Wohlgeschmack wenig bekümmert, nichts verschmähen, was nahrhaft und überhaupt geniessbar ist, und nur zu trinken verlangen, um ihren Durst zu löschen.

Da der grösste Teil der Plackerei bei Tageslicht erledigt werden muss, so verwenden sie es als eigentliches Mass für ihre Arbeit, ohne an die Zahl der Stunden, die sie schon beschäftigt sind, oder etwa an ihre Müdigkeit zu denken. Der Landarbeiter muss am frühen Morgen aufstehen, nicht weil er genug geruht hat, sondern weil die Sonne bereits aufgeht. Schon allein dieser letzte Punkt würde eine unerträgliche Härte für erwachsene Leute unter Dreissig sein, die sich in ihrer Jugend daran gewöhnt haben, so lange im Bette liegenzubleiben, bis sie ausgeschlafen haben. Alles bisher Erwähnte zusammengenommen macht aber ein Leben aus, wie es ein weniger streng erzogener Mensch kaum wählen würde, selbst wenn er dadurch vom Rade oder Galgen loskäme.

Wenn nun jede grosse Nation, um glücklich zu sein, erhebliche Mengen solcher Leute braucht, sollte da nicht eine weise Gesetzgebung ihre Aufzucht mit aller erdenklichen Sorgfalt betreiben und gegen ihren Mangel Vorkehrungen treffen, wie gegen den Mangel an Lebensmitteln selbst? Kein Mensch würde Armut und Mühsal auf sich nehmen, wenn er es nicht eines Lebensunterhalts wegen nötig hätte. Die absolute Unentbehrlichkeit von Speisen und Getränken, in kalten Klimaten auch von Kleidung und Wohnung, zwingt ihn, alles nur irgend Erträgliche zu erdulden. Wenn niemand Bedürfnisse hätte, würde auch niemand arbeiten; aber die grösste Beschwerde erscheint als wahrhaftes Vergnügen, wenn sie einen vor dem Verhungern bewahrt.

Aus dem Gesagten erhellt, dass in einem freien Volke, wo die Sklaverei verboten ist, der sicherste Reichtum in einer grossen Menge schwer arbeitender Armer besteht. Denn abgesehen davon, dass sie die nie versagende Quelle für Heer und Flotte sind, würde es ohne sie keinen Lebensgenuss geben, und kein Erzeugnis irgendeines Landes hätte mehr einen Wert. Um die Gesellschaft glücklich und die Leute selbst unter den niedrigsten Verhältnissen zufrieden zu machen, ist es notwendig, dass ein beträchtlicher Teil davon sowohl unwissend wie auch arm sei. Kenntnisse vergrössern und vervielfachen unsere Bedürfnisse, und je weniger Dinge ein Mensch begehrt, um so leichter kann er zufriedengestellt werden.

Glück und Gedeihen eines jeden Staates und Reiches erfordern daher, dass die Kenntnisse der arbeitenden ärmeren Klasse auf das Gebiet ihrer Beschäftigungen beschränkt und niemals – soweit es sich um materielle Dinge handelt – über ihren Beruf hinaus ausgedehnt werden. Je mehr ein Schäfer, ein Feldarbeiter oder anderer Landmann von der Welt und den seiner Arbeit und Tätigkeit fremden Dingen weiss, desto weniger geeignet wird er sein, deren Mühen und Strapazen in heiterer Zufriedenheit zu ertragen.

Lesen, Schreiben und Rechnen sind sehr wichtig für diejenigen, deren Beruf solche Fertigkeiten verlangt; wo aber die Menschen nicht auf jene Künste angewiesen sind, wie bei den Armen, die ihr täglich Brot durch ihrer Hände Arbeit verdienen, da sind sie höchst verderblich. Nur wenige Kinder bringen es in der Schule zu etwas, könnten aber währenddessen in irgendeiner Weise beschäftigt werden, so dass jede Stunde, die von den Kindern armer Leute bei den Büchern zugebracht wird, ebensoviel für die Gesellschaft verlorene Zeit bedeutet. Zur Schule gehen ist im Vergleich zum Arbeiten Müssiggang, und je länger die Jungen ein derart bequemes Leben führen, desto ungeeigneter werden sie als Erwachsene zu ordentlicher Arbeit sein, und zwar sowohl was Kräfte als auch was Neigung betrifft. Menschen, die bis an ihr Ende ein an Mühe, Plagen und Entbehrungen reiches Leben führen sollen, werden sich ihm für alle Zeiten um so geduldiger unterwerfen, je eher sie daran gewöhnt wurden. Harte Arbeit und möglichst derbe Kost sind für manche Arten von Übeltätern eine passende Strafe; sie aber denjenigen aufzuerlegen, die nicht von klein auf daran gewöhnt worden sind, das ist, solange sie kein Verbrechen begangen haben, eine unerhörte Grausamkeit.

Lesen und Schreiben sind nicht ohne eine gewisse Anspannung und Sorgfalt zu erlernen, und ehe die Menschen noch leidlich darin bewandert sind, schätzen sie sich unendlich viel höher ein als andere, die gar nichts davon verstehen, und dabei zeigen sie oft so wenig Gerechtigkeit und Nachsicht, als ob sie einer anderen Gattung angehörten. Wie alle Sterblichen eine natürliche Abneigung gegen Mühsal und Anstrengung haben, so haben wir auch alle eine – leicht übertriebene – Vorliebe für solche Fertigkeiten, die wir Jahre hindurch auf Kosten unserer Ruhe und Bequemlichkeit erworben haben. Wer einen grossen Teil seiner Jugend mit Lesen, Schreiben und Rechnen zugebracht hat, erwartet auch, nicht ohne Recht, in einem Berufe beschäftigt zu werden, wo er diese Fertigkeiten gebrauchen kann. Die meisten werden mit äusserster Verachtung auf rechtschaffene Arbeit herabsehen, d. h. auf Arbeit, die unter den dürftigsten Lebensumständen für eine minimale Entschädigung im Dienste anderer verrichtet wird. Ein Mann von einiger Bildung kann wohl einmal freiwillig Landwirtschaft treiben und dabei auf die schmutzigste und schwerste Arbeit Fleiss verwenden. Dann muss es aber in seinem eigenen Interesse sein. Gewinnsucht, Sorge um die Familie oder sonst ein dringendes Motiv muss ihn dazu treiben. Einen tüchtigen Lohnarbeiter, der bei einem Gutsherrn gegen klägliches Entgelt in Diensten steht, wird er aber nicht abgeben; mindestens ist er nicht so geeignet hierzu wie ein Tagelöhner, der stets am Pfluge und am Mistkarren beschäftigt war und sich nicht erinnert, je anders gelebt zu haben.

Wo Ergebenheit und niedere Dienste vonnöten sind, können wir jederzeit bemerken, dass sie nie so gern und freudig erwiesen werden wie von Tieferstehenden gegenüber Höherstehenden; ich meine Tieferstehende nicht bloss in bezug auf Rang und Besitz, sondern auch in bezug auf Kenntnisse und Verstand. Ein Diener kann keinen ungeheuchelten Respekt mehr vor seinem Herrn haben, sobald er gescheit genug ist, um zu merken, dass er einem Narren dient. Wenn wir lernen oder gehorchen sollen, so erleben wir es an uns selbst, dass wir den Geboten und Belehrungen der uns Leitenden oder Unterrichtenden um so mehr Beachtung schenken, eine je höhere Meinung wir von ihrer Weisheit und Fähigkeit haben. Kein Geschöpf unterwirft sich bereitwillig seinesgleichen, und verstände ein Pferd so viel wie ein Mensch, so möchte ich sein Reiter nicht sein.

Ich habe bereits hinreichend dargelegt, warum Zur-Schule-Gehen im Vergleich zum Arbeiten Müssiggang ist, und habe diese Art der Erziehung der Kinder armer Leute verworfen, weil sie sie für alle späteren Zeiten zu rechtschaffener Arbeit unfähig macht. Denn solche Arbeit ist ihr eigentliches Tätigkeitsgebiet und sollte in keiner bürgerlichen Gesellschaft ein Gegenstand des Grolles und Verdrusses für sie sein, wenn sie in kluger und humaner Weise von ihnen verlangt wird. Das einzig Gewichtige daher, was noch zugunsten der Armenschulen gesagt werden kann, ist, dass durch sie viele Tausende von armen Kindern im christlichen Glauben und in den Grundlehren der Landeskirche erzogen werden. Wegen des Beweises dafür, dass dies keine ausreichende Rechtfertigung für sie ist, muss ich, da ich Wiederholungen hasse, den Leser auf das früher Gesagte zurückzublicken bitten. Ich will noch beifügen, dass alles, was für das Seelenheil nötig ist und armen Arbeitsleuten über Religion zu wissen gebührt, – soweit es die Kinder in der Schule lernen – genau ebensogut durch Predigten oder Bibelstunden in der Kirche gelehrt werden kann, deren sonntäglichen Besuch ich auch dem Ärmsten in der Gemeinde, solange er noch hinzugehen imstande ist, nicht erlassen möchte. Der Sonntag ist der wichtigste Tag der Woche, der dem Gottesdienste und der Erbauung wie auch dem Ausruhen von körperlicher Arbeit vorbehalten ist, und es ist die Pflicht jeder Obrigkeit, diesem Tage besondere Sorgfalt zu widmen. Gerade die Armen und ihre Kinder sollten veranlasst werden, sowohl vor- wie nachmittags zur Kirche zu gehen, da sie an keinem anderen Tage Zeit dazu haben. Durch Vorschrift und Beispiel sollten sie von Kindheit an dazu angehalten und daran gewöhnt werden, absichtliche Vernachlässigung sollte als höchst anstössig gelten, und falls direkter Zwang zu hart und vielleicht auch untunlich schiene, so sollten wenigstens alle Lustbarkeiten streng verboten und die Armen von der Teilnahme an öffentlichen Vergnügungen, die sie anlocken und der Kirche entziehen könnten, zurückgehalten werden.

Wo die Obrigkeit, soweit es in ihrer Macht liegt, in diesem Sinne wirkt, können die Diener des Evangeliums auch dem schwächsten Verstande mehr Frömmigkeit und Gottesfurcht und eine bessere Grundlage für Tugend und Religion einpflanzen, als es Armenschulen jemals taten oder jemals tun werden. Die trotz der also vorhandenen Gelegenheiten darüber klagen, dass sie ihre Pfarrkinder ohne Lesen und Schreiben nicht hinreichend mit den ihnen als Christen nötigen Kenntnissen versehen können, sind entweder sehr faul oder selber sehr unwissend und unwürdig.

Dass die Kenntnisreichsten nicht die Religiösesten sind, dürfte klar werden, sobald wir eine Probe zwischen Menschen verschiedenen Bildungsgrades selbst unter den gegenwärtigen Verhältnissen machen, wo der Kirchenbesuch den Armen und Ungelehrten nicht so als Pflicht angerechnet wird, wie es geschehen könnte. Greifen wir die ersten besten hundert armen Leute über vierzig Jahre heraus, die von Kindheit an bei schwerer Arbeit aufwuchsen, nie zur Schule gingen und von Grossstadtleben und geistiger Bildung stets unberührt blieben. Vergleichen wir mit diesen eine gleich grosse Zahl hervorragender Wissenschaftler, die alle die Universität besucht haben sollen; die Hälfte von ihnen soll meinetwegen aus Geistlichen bestehen, in Sprachen und Polemik wohl bewandert. Prüfen wir jetzt Leben und Lebensart auf beiden Seiten unparteiisch. Ich wage zu behaupten, dass wir unter jenen ersten, die weder schreiben noch lesen können, mehr Einigkeit und Nächstenliebe, weniger Bosheit und Genusssucht, mehr Zufriedenheit, Unschuld, Redlichkeit und andere, Frieden und Glück der Allgemeinheit fördernde Eigenschaften finden werden als in der zweiten Gruppe. Hier haben wir im Gegenteil äusserste Anmassung und Eitelkeit, ewige Meinungsverschiedenheiten, unversöhnlichen Hass, Zank, Neid, Verleumdung und andere der allgemeinen Eintracht schädliche Untugenden zu erwarten, mit denen die Angehörigen des ungebildeten niederen Volkes kaum jemals in erheblichem Grade behaftet sind.

Ich bin fest überzeugt, das im letzten Abschnitt Gesagte wird den meisten meiner Leser keine Neuigkeit sein. Wenn es aber wahr ist, warum soll es dann unterdrückt werden, warum muss unsere Sorge um die Religion dauernd als Deckmantel für unsere realen Absichten und eigennützigen Zwecke dienen? Wenn beide Parteien übereinkämen, die Maske abzunehmen, so würden wir bald bemerken, dass sie trotz aller ihrer Vorwände mit den Armenschulen vor allem die Stärkung ihrer Partei anstreben; wir würden dann sehen, dass die eifrigen Vorkämpfer der Kirche unter »Kindererziehung auf religiöser Grundlage« soviel verstehen wie: sie mit übermässiger Verehrung für die Geistlichkeit der englischen Hochkirche und einer starken Abneigung und unversöhnlicher Feindschaft gegen alle Andersgläubigen erfüllen. Um uns des zu vergewissern, brauchen wir bloss zu überlegen, einerseits welche Sorte von Geistlichen wegen ihrer Armenschul-Predigten am meisten bewundert wird und sie am liebsten abhält, andererseits ob wir in den letzten Jahren irgendwelche Krawalle oder Parteifehden unter dem Pöbel gehabt haben, in denen die jugendlichen Insassen eines bekannten Londoner Armenhauses nicht stets die kecksten Rädelsführer gewesen sind.

Die grossen Freiheitsverkünder, die sich dauernd gegen Willkürherrschaft verwahren und auflehnen, auch wenn ihnen gar keine Gefahr von dieser Seite droht, sind im allgemeinen nicht gerade sehr abergläubisch und scheinen auf irgendwelche moderne Apostelschaft keinen grossen Wert zu legen; trotzdem treten einige von ihnen lebhaft für die Armenschulen ein. Was sie aber von diesen erwarten, hat zu Religion und Sittlichkeit keinerlei Beziehung. Sie betrachten sie nämlich bloss als geeignetes Mittel zur Untergrabung und Zerstörung der Herrschaft der Priester über die Laien: Lesen und Schreiben vermehren die Kenntnisse, und je mehr die Menschen wissen, desto urteilsfähiger werden sie. So nimmt man denn an, dass bei allseitiger Ausbreitung des Wissens die Gewalt der Pfaffen, die man vor allen anderen Dingen fürchtet, zu Ende gehen werde.

Es ist freilich sehr wahrscheinlich, dass die Leute, von denen vorhin die Rede war, ihr Ziel erreichen werden. Vernünftige Menschen, die nicht gerade für eine Partei entbrannt oder den Priestern blind ergeben sind, werden aber gewiss nicht so viele Missstände, wie die Armenschulen mit sich bringen, ertragen wollen, bloss um den Ehrgeiz und die Macht der Geistlichkeit zu stärken. – Den anderen würde ich antworten: wenn nur alle diejenigen, die auf Kosten ihrer Eltern oder Verwandten unterrichtet werden, selber denken und es verschmähen wollten, sich von den Priestern betrügen zu lassen, so brauchten wir uns nicht darum zu kümmern, welchen Einfluss die Geistlichkeit auf die Unwissenden, gänzlich Ungebildeten ausüben werde. Möge sie diese noch so sehr für sich ausnutzen, angesichts der Schulen für solche, die für ihren Unterricht zahlen können und es auch tun, ist es lächerlich, zu glauben, die Abschaffung der Armenschulen könne eine für die Nation nachteilige Förderung der Unwissenheit bedeuten.

Ich habe bereits weiter oben darauf hingewiesen, dass es unter den gegenwärtigen sozialen Verhältnissen ausserordentlich viel Arbeit zu verrichten gibt. Und folgendes halte ich gleichfalls für unleugbar: je freudiger diese Arbeit geleistet wird, desto besser ist es, und zwar sowohl für die, die sie leisten, wie für den Rest der Gesellschaft. Glücklich sein heisst befriedigt sein, und je weniger jemand von besserer Lebensführung weiss, desto zufriedener wird er mit der seinigen sein. Andererseits, je umfassender eines Menschen Kenntnisse und Erfahrung in dieser Welt sind, je verfeinerter sein Geschmack, und je gediegener sein Urteil über die Dinge im allgemeinen ist, desto schwieriger wird es sicherlich sein, ihm Genüge zu tun. Ich möchte nichts irgendwie Grausames oder Inhumanes vorbringen; wenn aber jemand vergnügt ist, wenn er lacht und singt und in Haltung und Benehmen alle Zeichen vollster Zufriedenheit darbietet, so erkläre ich ihn für glücklich und frage nicht nach seinem Geist und Verstand. Ich forsche auch nicht nach der Berechtigung seiner Freude; zum mindesten sollte ich sie nicht von mir selbst aus beurteilen und mich nicht danach richten, wie das, was ihn erfreut, auf mich wirken würde. Von diesem Standpunkt aus müsste mich jemand, der keinen Käse mag, einen Narren heissen, weil ich ihn gern esse. De gustibus non est disputandum ist im übertragenen Sinne ebenso wahr wie im buchstäblichen; je grösser der Abstand zwischen den Menschen in bezug auf Stand, Vermögen und Lebensweise ist, desto weniger sind sie zur gegenseitigen Beurteilung ihrer Freuden und Leiden imstande.

Liesse man den einfachsten, ungebildetsten Bauern vierzehn Tage lang den grössten König inkognito beobachten, er würde, fände er auch mancherlei Begehrenswertes, doch noch vieles mehr entdecken, was er im Falle eines Tausches mit dem Monarchen augenblicklich geändert oder abgestellt wünschen würde, während sich der König zu seinem Erstaunen ohne weiteres damit abfindet. Und andererseits, hätte der Fürst den Bauern in gleicher Weise zu prüfen, seine Arbeit würde ihm unerträglich, der Schmutz und Gestank, seine Tafel- und Liebesfreuden, seine Vergnügungen und Unterhaltungen, alles dies würde ihm grässlich sein. Aber dann, wie würde ihn der zufriedene Geist des anderen, seine Heiterkeit und Seelenruhe locken! Kein Zwang zur Verstellung gegen seine Familie oder zur geheuchelten Liebe gegen seine Todfeinde; kein Eheweib in fremdem Interesse, keine drohenden Gefahren von seiten seiner Kinder; keine Verschwörungen zu enthüllen und kein Gift zu fürchten; kein Sich-Vertragen-Müssen mit populären Staatsmännern oder mit intrigierenden fremden Höfen, keine Notwendigkeit, Scheinpatrioten zu bestechen, unersättliche Günstlinge zu befriedigen, einem eigennützigen Ministerium nachzugeben und einer entzweiten Nation zu gefallen oder sich um die Gunst eines launenhaften, seine Wünsche kritisierenden und durchkreuzenden Pöbels zu bemühen.

Hätte unparteiische Vernunft zu richten zwischen wahrem Gut und wahrem Übel, und würde eine Liste der verschiedenartigen Freuden und Widerwärtigkeiten auf beiden Seiten angelegt, so zweifle ich, ob die Lage eines Königs überhaupt der eines Bauern vorzuziehen wäre, selbst bei dem Mass von Unwissenheit und Arbeit, das ich diesem letzten zuzumuten scheine. Dass die Menschen im allgemeinen lieber Könige als Bauern sein möchten, kommt erstens auf Rechnung der Eitelkeit und Ehrsucht, die tief in der menschlichen Natur wurzeln und um deren Befriedigung willen wir täglich Menschen die grössten Wagnisse und Schwierigkeiten ohne Zaudern auf sich nehmen sehen; zweitens auf Rechnung der verschieden grossen Lebhaftigkeit, mit der die Dinge auf unser Gefühlsleben einwirken, je nachdem sie der körperlichen oder der geistigen Welt angehören. Was die äusseren Sinne unmittelbar berührt, wirkt heftiger auf das Gefühl als die Ergebnisse des Denkens und die Antriebe selbst der offenbarsten Vernunftgründe, und die Wahrscheinlichkeit, dass wir den Dingen unsere Zu- oder Abneigung entgegenbringen, ist dort viel grösser als hier.

Es gibt bei uns noch für hunderttausend Arme mehr, als wir tatsächlich haben, Arbeit auf drei- bis vierhundert Jahre hinaus. Um unser Land in allen Teilen nutzbar und im ganzen stattlich bevölkert zu machen, wären viele Flüsse schiffbar zu machen und zahlreiche Kanäle anzulegen. Manche Gegenden wären zu entwässern und für die Zukunft gegen Überschwemmungen zu schützen. Weite Strecken dürren Bodens wären fruchtbar, viele Quadratmeilen Landes leichter zugänglich und damit einträglicher zu machen. Dii laboribus omnia vendunt. Es gibt keine Schwierigkeiten auf diesem Gebiete, die Arbeit und Ausdauer nicht zu bewältigen vermöchten. Die höchsten Berge lassen sich in die Täler stürzen, die bereitstehen, sie in sich aufzunehmen, und Brücken könnten geschlagen werden, wo wir jetzt gar nicht würden daran zu denken wagen. Blicken wir einmal zurück auf die staunenerregenden Werke der Römer, vornehmlich ihre Wegebauten und Wasserleitungen. Vergegenwärtigen wir uns die ungeheure Ausdehnung von manchen ihrer Strassen, wie gediegen und dauerhaft sie angelegt wurden, und gleichzeitig einen armen Reisenden von heute, der alle zwei Meilen vor einem Schlagbaum anhalten muss, um sich wegen eines Groschens zur Ausbesserung der Wege belästigen zu lassen, noch dazu, wo das Zeug, das man im Sommer zu diesem Zwecke benutzt, bekanntlich wieder zu Staub geworden ist, ehe noch der nachfolgende Winter vorüber ist.

Das allgemeine Beste sollte auch immer die allgemeinste Sorge sein. Kein Sonderinteresse einer Stadt oder einer Provinz sollte jemals die Ausführung eines Planes oder Unternehmens hindern, das offensichtlich zur Förderung der Gesamtheit beitragen würde. Jedes einzelne Mitglied der regierenden Körperschaft, das seine Pflicht kennt und lieber eines weisen Mannes würdig handelt als sich bei seiner Umgebung einzuschmeicheln sucht, wird den geringsten, dem Reiche als Ganzem zufliessenden Gewinn dem deutlichsten Vorteil des gerade von ihm vertretenen Platzes vorziehen.

Wir haben genug eigenes Material und brauchen weder Stein noch Holz, um Arbeiten in Angriff nehmen zu können. Eine Menge Geld wird an Bettler hingegeben, die es gar nicht verdienen, und von den Hausherren für die Armen ihrer Gemeinde eingezogen, um in anderer Weise verbraucht oder verschleudert zu werden. Würde dies jedes Jahr zusammengelegt, es würde eine Summe ausmachen, die gross genug wäre, um vielen Tausenden Arbeit zu geben. Ich sage das nicht, weil ich es für ausführbar halte, sondern nur um zu zeigen, dass wir Geld genug zur Beschäftigung grosser Mengen von Arbeitern übrig haben; auch dürften wir hierzu gar nicht soviel brauchen, wie vielleicht angenommen wird. Wenn man zugibt, dass ein Soldat, dessen Kraft und Leistungsfähigkeit mindestens so wie die jedes anderen auf der Höhe gehalten werden muss, für fünf Groschen täglich leben kann, so ist mir nicht verständlich, warum man den Tagelöhnern den grössten Teil des Jahres hindurch sechzehn oder achtzehn Groschen geben soll.

Die ewig Bedenklichen, denen stets um ihre Freiheit bange ist, werden freilich gleich ausrufen, wo solche Mengen von Menschen in dauerndem Solde gehalten werden, müssen Eigentum und Privilegien unsicher werden. Aber sie mögen sich beruhigen: man würde schon in bezug auf die Frage, wem die Leitung und Beaufsichtigung dieser Arbeitskräfte anzuvertrauen wäre, geeignete Wege zu finden und solche Verfügungen zu treffen wissen, dass es für den Fürsten oder sonst jemanden unmöglich sein würde, einen schlechten Gebrauch von ihnen zu machen.

Was ich in den letzten vier oder fünf Abschnitten gesagt habe, wird, wie ich voraussehe, von vielen meiner Leser reichlich verlacht und verspottet, bestenfalls als Luftschlösser bezeichnet werden. Ob dies aber meine Schuld ist oder die ihrige, ist noch die Frage. Wenn einmal der Gemeinsinn aus einer Nation verschwunden ist, so verlieren die Menschen mit ihm nicht bloss alle Geduld und Ausdauer, sondern sie werden auch so engherzig, dass es sie schon grosse Überwindung kostet, an Dinge zu denken, die von aussergewöhnlicher Tragweite sind oder sehr lange Zeit in Anspruch nehmen. Alles Grosse und Ideale gilt in solchen Zeiten als phantastisch. Wo die echte Unwissenheit aus allen Schlupfwinkeln gründlich vertrieben ist und dafür eine seichte Halbbildung sich über alle ohne Unterschied ergossen hat, da verwandelt die Selbstsucht das Wissen in Schlauheit; und je mehr diese letzte Eigenschaft bei einem Volke überhandnimmt, desto mehr werden die Menschen ihre Interessen und all ihr Sinnen und Trachten an die Gegenwart heften, ohne, was später einmal werden soll, zu berücksichtigen oder jemals über die nächste Generation hinauszudenken.

Da aber die Schlauheit, wie Bacon sagt, nur eine linkhändige Weisheit ist, so sollte eine umsichtige Regierung gegen diesen Zersetzungsprozess innerhalb der Gesellschaft einschreiten, sobald dessen Symptome sichtbar werden. Von diesen sind die folgenden die deutlichsten. Ideelle Auszeichnungen werden allgemein verachtet; jedermann ist für Geldverdienen und Geschäftemachen; wer allem misstraut und nur noch glaubt, was er mit Augen sieht, gilt als der klügste, und das gesamte Handeln der Menschen erscheint beherrscht von dem Grundsatz »Den letzten mag der Teufel holen«. Anstatt Eichen zu pflanzen, die erst nach hundertfünfzig Jahren gefällt werden dürfen, baut man Häuser in dem Gedanken, dass sie nicht über zwölf oder vierzehn Jahre zu stehen brauchen. Alles beschäftigt sich mit der Unsicherheit der Verhältnisse und den Wechselfällen des menschlichen Lebens. Das Rechnen wird die einzige noch lohnende Kunst, die nun überall, auch wo es lächerlich ist, Verwendung findet, und in die Vorsehung scheinen die Menschen schliesslich kein grösseres Vertrauen mehr zu setzen, als sie zu einem verkrachten Geschäftsmann haben würden.

Es ist Sache des Staates, den sozialen Missständen abzuhelfen und das zuerst in die Hand zu nehmen, was von seiten der Privatpersonen am meisten vernachlässigt wird. Gegensätze werden am besten durch Gegensätze geheilt; und da im Falle nationalen Versagens das Beispiel mehr wirkt als das Gebot, so sollte die Regierung sich zu irgendeinem grossen Unternehmen entschliessen, das lange Zeit hindurch gewaltige Arbeit beanspruchen müsste, und sollte so die Welt davon überzeugen, dass sie nichts tut ohne ängstliche Rücksicht auf die späteste Nachkommenschaft. Dies wird festigend wirken auf den schwankenden Geist und den luftigen Sinn des Volkes, es wird uns daran erinnern, dass wir nicht bloss für uns selbst leben, und wird schliesslich ein Mittel sein, um die Menschen weniger misstrauisch zu machen und ihnen dafür mehr wahrhafte Vaterlandsliebe und treue Anhänglichkeit an den heimatlichen Boden einzuflössen, was für die Höherentwicklung einer Nation vor allem anderen notwendig ist. Regierungsformen mögen wechseln, die Religion und selbst die Sprache mögen sich ändern: Grossbritannien aber, oder wenigstens – falls es auch seinen Namen verlieren sollte – das Land selbst, wird immer bestehen bleiben und aller menschlichen Voraussicht nach so lange vorhanden sein wie irgendein anderer Teil des Erdballs. Jedes Zeitalter hat noch in freundlicher Anerkennung auf die früheren Geschlechter zurückgeschaut, dafür, dass es deren Wohltaten geniessen durfte. Ein Christ, der sich an den zahlreichen Quellen und der gewaltigen Wasserfülle erfreut, die man in der Stadt des Heiligen Petrus findet, ist ein ganz elender Wicht, wenn er nie dankbar des alten heidnischen Rom gedenkt, das ein so grossartiges, mühevolles Werk geschaffen hat.

Wenn unser Land durch gründliche Kulturarbeit in jedem Winkel bewohnbar gemacht und nutzbringend bewirtschaftet sein wird, so dass es im ganzen als der schönste und angenehmste Platz auf Erden gelten darf, dann werden alle hierauf angewendeten Kosten und Mühen durch die Lobpreisungen späterer Geschlechter in glorreicher Weise vergolten werden. Wollten nur diejenigen, die jetzt in edlem Eifer und Streben nach Unsterblichkeit entbrannt sind, bereit sein, in solcher Weise für ihr Vaterland zu wirken und zu schaffen, so dürften sie sich überzeugt halten, dass sie noch tausend und zweitausend Jahre später im Gedächtnis und dankerfüllten Lobe künftiger glücklicher Zeiten weiterleben werden. Man darf in diesem Aufsatze M.s Ausführungen über Erziehung und Belehrung der arbeitenden Klassen nicht missverstehen, indem man sie vom Standpunkte der modernen Volksbildungsbestrebungen aus beurteilt; man muss vielmehr hier den richtigen historischen Massstab anlegen. Auch ist nicht zu vergessen, dass die »Armenschulen«, die M. bekämpft, durchaus nicht der heutigen Volksschule entsprechen. Anmerk. des Herausgebers.


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