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Hier wird dir wohl sein!« sagte ich zu mir selbst, da ich mein neues Logis eingerichtet hatte. »Hier hast du Alles, was du dir wünschtest: ein eignes Haus, schöne helle Zimmer, geschmackvolle Meublen, eine herrliche Aussicht auf die entzückendste Gegend der Welt und eine Stille um dich her, die dir die schönste Muße zur Arbeit verspricht.«
»Ja, hier ist gut sein!« rief ich voll inniger Freude, da ich den ersten Morgen mit meiner Pfeife ans Fenster trat und die herrliche Gegend im Gewande des Frühlings vor mir liegen sah. Frohes Muthes ging ich an meine Arbeit, und mitten unter den trockensten Geschäften that ich einem Blick hinaus ins Freie, und holte mir neue Kraft und neuen Muth. »Wohl mir! – hier kann ich die Menschen mit allen ihren Thorheiten entbehren. Meine Bücher sollen meine Gesellschafter sein. Unter diesen großen Gestorbenen will ich die Lächerlichkeiten der Lebenden vergessen. Mein Haus soll mitten in dem Strudel der Welt eine ruhige Insel sein, wo man nur den Wissenschaften und den Grazien lebt. › Ille terrarum mihi praeter omnes angulus ridet,‹ sag ich mit Freund Horaz.«
Dies Winkelchen der Welt
Lacht mich vor allen an,
Bis hieher drängt sich nicht
Das Gaukelspiel der Menschen,
Hier lebt man der Natur,
Hier lebt man Gott und sich!
Nur stille Einsamkeit,
Nur diese süßen Freuden
Im Anschaun der Natur
Sind einzig zu beneiden!
»Acht Tage bin ich nunmehr in meiner Wohnung, und meine Zimmer wollen mir nicht mehr recht gefallen; sie sind mir alle zu weit. Meine Meublen sind bestäubt. Meine Freunde kommen, wegen der Entlegenheit, seltner zu mir. Mein Vetter Jakob ist zu seinem Schwager, dem Amtmann in Liebstadt, gegangen, und ich möchte doch gern, besonders in den Stunden, wo ich die Acten auf die Seite lege, Jemanden bei mir haben, zu dem ich sagen könnte: ›Sieh' nur die herrliche Gegend! wie die Wolken dort an den Bergen hinziehn, wie das Rauschen des Wasserfalls so schön durch den ruhigen Abend hintönt!‹ Aber da bin ich nun so einsam, da fühle ich oft eine Leere, die mir die gewählteste Lectüre nicht ausfüllen kann; ich werfe dann die Bücher weg und laufe aus einem Zimmer ins andre. Heute kam ich bei dieser unruhigen Wanderschaft in die Küche. Lieber Gott! da sah es wild aus: kein Topf, kein Teller, keine Spur auf dem ganzen Herde, daß irgend einmal ein Fünkchen Feuer dagewesen war. ›Ach!‹ rief ich aus, ›die Wohnung ist ganz gut, es ist Platz vollauf, aber es sollte Jemand da sein, der so recht nach Herzens Lust darin herumwirthschaftete. – Ein eigner Herd ohne Feuer ist doch immer eine Narrheit.‹ Gott weiß, durch welche Combination der Gedanken mir das Heirathen einfiel. ›Du solltest heirathen!‹ sagte ich auf einmal und erschrak, wie es heraus war. ›Heirathen?‹ wiederholte ich, ›du? mit deinen Vorurtheilen gegen die Welt? mit deinen Schwärmereien von Freiheit und Selbstständigkeit? Du heirathen?‹ Ich lachte laut auf. ›Ach, was würde aus der ruhigen Insel werden, die du nur den Wissenschaften geweiht hast! Wie bald würde das Modejournal neben deinem Horaz und Virgil paradiren; der Vater Homer würde, trotz aller Epopöen, den Ritterromanen Platz machen müssen, und mancher ehrliche Foliant, der jetzt ruhig im Posseß seines Stuhls ist, würde ihn hergeben müssen, um darauf die Kleider und Aufsätze der Frau Regierungsräthin zu placiren. Das Feuer in der Küche könnte wohl auch gar weiter um sich greifen.‹ Nein, nein! wie mir auch so ein Gedanke einfallen konnte? Ich hätte gar nicht in die Küche gehen sollen. Im Grunde fehlt mir weiter nichts, als mein Vetter Jakob, mit dem ich sonst die Abende so angenehm verplauderte, und dann habe ich zeither zu viel gesessen; es ist kein Wunder, daß mein Geist nicht heiter ist. Seit ich die schöne Gegend vor dem Fenster habe, bin ich gar nicht in sie hineingekommen. Es kommt mir recht gelegen, daß ich diese Woche eine Untersuchung auf dem Kloster Haidebach habe, die mich wahrscheinlich mehrere Tage dort aufhalten wird. Die Reise wird das dicke Blut durchschütteln, die reine Bergluft wird mich umwehen, und leicht wie Nebelwolken werden alle die schwermüthigen Gedanken verfliegen, die meine Studierstube erzeugt hat. Der Abt soll ein lieber Mann sein, und unter den Mönchen soll es auch mehrere gescheidte Leute geben. Es ist ein Benedictinerkloster, und die Kinder des heiligen Benedicts waren von jeher klüger in ihren Geschlechtern, als die Kinder des Dominicus und Franciscus. Ihre Gesellschaft, denke ich, soll das, was etwa von Heirathslust in meiner Seele noch übrig bleibt, vollends wegbringen. Ich lege mich heute um Vieles ruhiger zu Bette, da ich doch weiß, woran ich bin, und da ich die schöne Aussicht der Reise vor mir habe, die mich mir selbst wiedergeben soll. Es ist elf Uhr, der Nachtwächter brummt: ›Bewahrt das Feuer und auch das Licht.‹ Ach, guter Freund! mit dem Feuer soll es so bald bei mir noch nichts zu sagen haben.«
Heiter wie der prächtige Morgen, der mich umgab, sprang ich aus dem Bette. Singend ging ich im Zimmer auf und ab und rauchte meine Morgenpfeife. Der Wagen kam. Johann packt ein. »Lege die Acten tief unten im Kutschkasten!« rief ich ihm nach, da er sie zum Zimmer hinaustrug, »sonst plagt mich der Henker, daß ich im Fahren darin blättere.«
»Ja, ja,« sagte ich zu mir selbst und rieb mir freudig die Hände, »es gehört nur Aufmerksamkeit auf sich selbst dazu, und man kann aus sich machen, was man will. Welche Heiterkeit umgiebt mich! welches neue Leben strömt durch meine Adern! welche herrlichen Folgen verspricht mir diese Reise! Ist sie nicht die beste moralische Cur gegen das Gefängnißfieber meiner Seele? Ich brauche alsdann nur jeden Morgen eine halbe Stunde ins Freie zu gehen, so werde ich ein ganz anderer Mensch werden.«
»Es ist Alles fertig, lieber Herr,« trat mein Johann herein.
»Gut, Johann, gieb mir meinen Stock und Hut.«
»Wollen Sie denn keine Bücher mitnehmen?«
»Ach, laß heute die Bücher. Ich will versuchen, das wegzucuriren, was ich mir an den Hals gelesen habe.«
»Gott sei Dank!« sagte der ehrliche Junge, »da wird man doch unterwegs ein Wörtchen mit Ihnen reden können?«
»Nun, Johann, mit dem Reden wird es nicht viel werden. Setze Dich auf den Bock, im Wagen bist Du mir im Wege, ich kann dann nicht ungestört denken.«
»Ach, guter Herr,« versetzte er, »wenn Sie sich nicht auch Ihre Gedanken wegcuriren, da wird's mit Ihrer Besserung langsam gehen.«
»Wo denkst Du hin, Johann?« sagte ich lachend und setzte mich in den Wagen.
Mit Pfeilschnelle rollte ich durch die Vorstadt und war auf einmal mitten in der herrlichen Gegend, die ich bis jetzt nur aus meinem Fenster gesehen hatte.
Ich war ungefähr eine Stunde gefahren, als ein Zufall meinen Kutscher zu halten nöthigte. Ich befand mich am Fuße eines ziemlich steilen Bergs. Unweit meines Wagens stand ein Mann neben einem Schubkarren, auf dem ein großes Faß lag, er trocknete sich den Schweiß ab und ruhte aus, um hernach mit neuer Kraft den Berg hinaufzufahren. –
»Was fährt Er da, mein Freund?« fragte ich. – »Kindtaufsbier, lieber Herr! meine Frau ist gestern in die Wochen gekommen.« – »Er armer Mann,« sagte ich theilnehmend, »man hat doch immer Noth, wenn man verheirathet ist!«
»Noth, Herr? Noth? Je was ist denn das für Noth, wenn man einen dicken, muntern, gesunden Jungen hat? Gotts Sapperment! ich bin gestern gesprungen wie ein Bock, für lauter Freude, und denkt Er denn, daß mir das Faß schwer wird? Ich bin schon eine Meile Wegs damit gefahren, und es ist mir gewesen, als ob ich zur Kirmse ginge.«
»Hat Er denn noch weit zu fahren?« fragte ich ganz beschämt.
»Eigentlich nur noch eine halbe Stunde, aber ich fahre über Schieritz zu meinen alten Aeltern, die werden für Freude jung werden, wenn sie's hören, daß meine Anne einen Jungen hat. Adieus, Herr, ich muß machen, daß ich nach Schieritz komme, mein Alter soll den ersten Krug von dem Biere haben.« – Und damit schob er muthig den Berg hinauf.
Ich drückte mich in die Ecke meines Wagens und sagte seufzend: »Die Acten haben alles Gefühl bei dir getödtet, du kennst die Ehe nur aus Consistorialprocessen, die Kindtaufen nur aus Gevatterbriefen, die Liebschaften nur aus Gedichten. Ist es nicht lächerlich, sich mitten in einer wirkenden thätigen Welt in Bücher zu vergraben? und gleicht es nicht der Thorheit jenes Pedanten, der, da ihn endlich seine Freunde durch viele Ueberredung ins Schauspielhaus gebracht hatten, einen alten Komödiendichter aus der Tasche zog und darin las, und so über der alten Komödie kein Wort von der neuen vortrefflichern hörte?«
»Ach, deine ganze Krankheit,« fuhr ich fort, »rührt bloß daher, daß du dich zu weit von der Natur entfernt hast. Du hast nur Portraits gesehen, aber keine Menschen, nur Landschaftsgemälde, aber keine Landschaften. Geh' endlich aus deiner Bücherwelt heraus und falle der in die Arme, von welcher alle Bücher nur matte Copien sind, der unendlichen großen Natur! Tödte nicht durch kaltes Raisonnement die schöne Menschlichkeit in deiner Brust, sondern knüpfe ein Band an zwischen dir und der Menschheit. Die Natur hat eine große Tafel bereitet, sei du auch ein froher Gast, genieße die heiligen Freuden der Menschheit, Aeltern- und Gattenliebe, und werde durch diese seligen Gefühle selbst ein Mensch.«
Dies waren ungefähr die Gedanken, die mir in der Ecke meines Wagens durch den Kopf zogen, und das Bild des glücklichen Bauers schwebte immer vor meiner Seele. Ich sah, wie er um die Wiege seines Neugebornen herumsprang; ich hörte die Freude, die er durch die Nachricht im Hause seiner Aeltern machte; ich sah, wie er seinem alten Vater einen Krug von dem Biere reichte, das er im Schweiße seines Angesichts so weit geschleppt hatte; und Gott weiß, ob mich meine Gedanken nicht zu einem festen Entschlusse würden geführt haben, wenn mich nicht Johann gestört hätte, der mir zurief: »Dort auf dem Berge liegt das Kloster!« Ich blickte zu dem Wagen heraus und sah es über den Wald hervorragen, der den Berg hinaufstieg, auf dem es lag.
»Seid mir gegrüßt, ehrwürdige Mauern!« dacht' ich; »wie mancher Kopf voll Zweifel mag in euch gelebt, wie manches Herz voll Schwanken zwischen Wirklichkeit und Schwärmerei, zwischen Natur und Vorsatz mag in euch geklopft haben. Auch ich eile euch zu, zweifelnd, schwankend, mit einem unruhigen Herzen und einer bekümmerten Seele. Bin ich auf dem Wege klein zu werden, o so laßt mich in eurer stillen Abgeschiedenheit Stärke finden, daß ich mich von allen den Banden losreiße, die der Mensch mit dem Thiere gemein hat, und mich zu der Würde eines Lebens erhebe, das bloß der geistigen Vervollkommnung gewidmet ist; daß ich mich über eine Welt emporschwinge, die für große Seelen zu eng ist, und daß ich von der stolzen Höhe meines Standpunktes das Thun und Treiben der Menschen betrachte, ohne doch selbst zu ihnen zu gehören.«
So mochte ich einige Zeit vor mich hin perorirt haben, als der Wagen vor dem Klosterthore hielt und Johann vom Bocke sprang, um meine Ankunft dem Abte zu melden.
»Gott sei Dank, daß ich mich hierher gerettet habe! Welch ein Leben! welch ein seliges, überirdisches Gefühl! O in dieser schönen Einsamkeit tönen nur die höhern Accorde der Seele, und der Geist, losgekettet von allen endlichen Formen der Anbetung, sinkt in die Arme des unendlich Angebeteten! Ach, ist nicht der Mensch zum Engel geboren? Aber bindet nicht Einer dem Andern die Fittiche? Muß nicht die Weisheit in einsame Gegenden flüchten, um das zu bleiben, was sie ist? und ist nicht jeder höhere Mensch ein Sokrates, dem die Welt den Giftbecher reicht und ihn tödtet, zwar nicht auf einmal, sondern langsam und tropfenweise? O daß ihr euch Alle um mich versammeltet, ihr bessern Menschen! o daß ich euch Alle aus dem Wuste der Welt gerettet sähe, ihr Seelen, die ihr einer höhern Erkenntniß würdig seid!«
»Die Menschen, die mich umgeben, fühlen das Lebendige nicht, das mich durchglüht. Sie sind sehr alltäglich. Die meisten Mönche sind mit Wirthschaftsangelegenheiten beschäftigt; der Bruder Lector, der den Lehrer im Kloster macht, scheint mir einer von den dummglücklichen Menschen zu sein, die die ganze Peripherie des menschlichen Wissens sauber in ihre Hefte eingetragen haben, und der Abt, der ein edler, liebenswürdiger Greis zu sein scheint, ist bis jetzt immer so beschäftigt gewesen, daß ich ihn außer der Mittagsmahlzeit wenig oder gar nicht gesehen habe. Die Gesellschaft der meisten Mönche ist mir lästig, ich gehe daher gewöhnlich einsam spatzieren oder setze mich auf einen Felsen hinter der Gartenmauer, von wo aus ich mehrere Meilen in die Runde die herrlichste Flur sehen kann. Das Betglöckchen des Klosters ruft mich da oft zu Gebeten, die feuriger und herzlicher zu dem Throne des Allliebenden emporsteigen, als das unharmonische Geplärr der gedankenlosen Mönche. Wie ich heute so dasaß und sie drinnen im Kloster sangen: et in terra pax hominibus bonae voluntatis, ach! da ergriff ein Gefühl voll unendlicher Liebe und Wohlwollen meine ganze Seele, und ich blickte in das Blaue des Himmels hinauf und stammelte mit thränenden Augen: ›Ach ja, du Ewiger, gieb Frieden, Frieden, äußern und innern, allen deinen Kindern! Allen, und auch mir!‹«
»Um mich her ist überall Leben und Freude. Die ganze Natur erwacht und feiert ihr erneuertes Dasein. Wo ich hinblicke, sehe ich einen lebendigen Odem, der Alles mit Freude und Liebe umweht; aber in meiner Seele steigt eine Wehmuth empor, für die ich keinen Namen weiß, meine Augen füllen sich mit Thränen, aber es sind nicht Thränen des Entzückens. Ach, ich möchte die ganze Welt in dem erhabenen Gefühle meiner Liebe umarmen; aber die Arme eines Menschen sind zu klein, und wenn ich mich dann umsehe und nicht einmal ein Herz neben mir steht, das ich fest an das meinige andrücken kann, soll ich da nicht wehmüthig werden?«
»Die Menschheit zu lieben ist ein leerer Gedanke, aber in dem einzelnen Menschen den Repräsentanten der ganzen Menschheit zu umarmen, ist eine Seligkeit, die nur erhabnere Seelen verstehen.«
»Das Gefühl meines Alleinseins begleitet mich überall. Die Sehnsucht, mich an ein verwandtes Herz anzuschließen, verläßt mich nie, sie ergreift mich hier in diesem stillen von allen Zerstreuungen entfernten Leben mächtiger als vorher. Hier in dieser feierlichen Einsamkeit bin ich dir näher gekommen, heilige große Natur, ich habe dein erhabnes Gesetz erkannt, es heißt Liebe, und alle Trugschlüsse meiner Vernunft sind nicht vermögend, deine Stimme und die Stimme meines Herzens zu übertönen, die mir unaufhörlich zuruft: suche dir ein Wesen, das dir gleich ist; eine Seele, die dich versteht; ein Herz, das dich liebt, und sei du glücklich in Liebe und durch Liebe!«
Den ganzen Nachmittag brachte ich heute beim Abte zu und beendigte vollends das Geschäft, wegen dessen ich hierhergekommen war.
»Lassen Sie uns einen Spatziergang auf die Meierei des Klosters machen,« sagte er gegen Abend, wie wir fertig waren, »Sie sind schon einige Tage hier, und ich habe Ihren Umgang so wenig genießen können.«
Die Mönche waren in der Vesper, es herrschte eine Todtenstille im ganzen Kloster, und wir gingen über die Tabulate.
»Was sind das für Portraits, die hier längs der Mauer aufgehangen sind?« fragte ich.
»Es sind die Aebte, die seit der Fundation des Klosters hier gelebt haben,«, antwortete er. »Dieser,« sagte er und blieb bei dem Letzten stehen, »war mein Vorgänger, ein lieber edler Mann, voll Menschenfreundlichkeit und Sanftmuth, er war zweiundvierzig Jahre Abt, unter ihm bestand ich mein Noviziat und ward eingekleidet; er war mein Freund, bis ich ihm die Augen zudrückte. Auf diese leere Stelle kommt mein Bild, wenn mich der dort oben wieder auskleiden wird; ach!« setzte er seufzend hinzu, »dieses Bild wird das Einzige sein, was in der Welt von mir übrig bleibt.«
Eine sanfte Schwermuth überzog sein Gesicht, es schien mir, als ob eine Thräne seine grauen Augenwimpern versilberte. – Wir gingen schweigend die Treppe herab und über den Klosterhof. Ein Fußpfad schlängelte sich durch den Wald und führte den Berg hinab. Wir kamen zu einer einsamen Kapelle; Grabhügel und hölzerne Kreuze wurden von hohen Ulmen überschattet. Es war der Kirchhof des Klosters.
»Wie sanft muß sich's hier schlafen!« rief ich aus.
»Ja wohl sanft!« sagte der Abt.
»O wie Wenigen schenkt das Schicksal einen so ruhigen Lebensabend, wie Ihnen! Mit welcher süßen Zufriedenheit sehen Sie die letzten Tage Ihres Lebens vorüberziehen, mit welcher seligen Ruhe gehen Sie dem entscheidenden Augenblicke entgegen, der Sie mit einer bessern Welt vereinigt!«
»Vor einigen Tagen,« erwiederte der Abt, »starb ein alter Tagelöhner des Klosters, seine Frau war einige Jahre vor ihm gestorben. Vier Kinder und zwei Kindeskinder standen um sein Sterbebette her; ein Bruder unsers Klosters wollte ihm Trost zusprechen und schilderte ihm die Freuden der Seligen, aber er lächelte und sagte: ›Würdiger Herr, ich brauche keinen Trost, ich sterbe gern, denn ich werde ja meine Marie wiedersehen.‹ Er starb freudig, er ging aus den Armen der Liebe in die Arme der Liebe, und seine Hinterlassenen weinten ihm nach. Ach, Herr Rath,« fuhr er fort und drückte mir die Hand, »dieser arme alte Tagelöhner starb froher, als ich sterben werde. Die Einsamen, die hier schlafen, hat die Welt längst vergessen, ihr Name und ihr Gedächtniß lebt bloß noch in den Jahrbüchern des Klosters, kein Auge hat ihnen nachgeweint, und ihr Herz ist gebrochen, ohne daß ein anderes Herz dabei geblutet hätte. – Um mein Sterbebette her werden Kabalen geschmiedet werden wegen der Wahl eines neuen Abtes; der, welcher die meisten Stimmen für sich gewonnen hat, wird ängstlich auf meine Pulsschläge lauern, wird mir lachend die Augen zudrücken und wird es kaum erwarten können, bis der leere, herzlose Pomp meines Begräbnisses vorbei ist.«
»Mein Gott!« rief ich erstaunt, »aus welchem Gesichtspunkte sehen Sie sich und Ihre Lage an?«
»Aus dem wahren, mein Herr. Im Alter sieht man Wirklichkeit; die erhitzte Phantasie ist abgekühlt, die jugendlichen Schwärmereien sind in ihr Nichts zerronnen, und man unterscheidet die Frucht von der Spreu, das echte Gold von dem falschen.«
Er brach ab; schweigend setzten wir unsern Weg fort, Jeder von uns schien in Gedanken vertieft zu sein. Jetzt waren wir am Fuße des Berges, der Wald öffnete sich, und vor uns lag mitten im fruchtbarsten Thale eine Meierei, deren rothe Dächer freundlich durch die Blüthen und Knospen hindurchschimmerten, mit denen sie umgeben war.
»O wie herrlich!« rief ich aus.
Das Gesicht des Greises erheiterte sich. »Ja,« sagte er, »hier bin ich gern. Dieser schöne Platz allein läßt mich fühlen, daß ich nicht ganz unnütz gelebt habe. Unter dem vorigen Abte war hier nur eine armselige Köhlerhütte, das Thal war sumpfig und wurde wenig oder gar nicht besucht. Ich schlug ihm vor, es urbar zu machen, er überließ mir die Besorgung, und es war Jahre lang meine einzige süßeste Beschäftigung, hier zu arbeiten. Ich ließ Graben ziehen, den Wald an einigen Stellen aushauen, ich legte Felder an, und so entstand endlich diese kleine Meierei. Wie ich selbst Abt wurde, ließ ich sie vergrößern, die Gebäude, die vorher nur aus Holz waren, wurden von Stein aufgeführt, und ich verpachtete sie für einen mäßigen Pacht an eine Familie, die im letzten Kriege um alles das Ihrige gekommen war.«
Wir traten in den Hof. Zwei muntere, rothbäckige Knaben sprangen uns entgegen, küßten dem Abte die Hände und erhielten von ihm einiges Confect. Der Pachter kam, schüttelte mit edler Treuherzigkeit dem Greise die Hand und schloß uns den Garten auf. Die Bäume standen in voller Blüthe; auf den Beeten blühten Aurikeln, Hyazinthen und Tulpen. »Hierher,« sagte der Abt freundlich, »komme ich alle Tage; ehemals wohnte ich ganz hier, fast jeden Baum habe ich selbst gepflanzt, inoculirt oder gepfropft. Wenn mein Name längst vergessen ist, werden diese Bäume doch Früchte tragen; die Felder, die ich urbar machte, werden volle Aehren haben, und eine arbeitsame Familie wird Unterhalt davon finden. Nicht wahr, Herr Rath, non omnis moriar.«
Meine Seele war zu voll, ich konnte ihm nur durch einen Druck der Hand antworten.
Wir setzten uns in eine Laube, die Pächterin brachte Milch und Erdbeeren.
»Und doch konnten Ew. Hochwürden vorhin einige Unzufriedenheit über Ihre Lage äußern?« hob ich an.
»Es ist selten,« erwiederte er, »daß der Mensch mit dem Menschen spricht; gewöhnlich spricht der Stand mit dem Stande, das Amt mit dem Amte. Sie sind ein edler Mann, Herr Rath, und es thut einem so wohl, mit einem edlen Manne zusammen zu sein. Erlauben Sie also, daß nicht der Abt im Benedictinergewande, sondern der Greis mit seinem menschlichen Herzen zu Ihnen spricht. – Haben Sie die Menschen kennen gelernt, die mich umgeben? Sie sind entweder einfältig und gefühllos und fühlen sich glücklich, oder sie sind Opfer ihrer Schwärmerei, in einem ewigen Kampfe mit sich selbst, voll Unzufriedenheit und Reue, und fühlen sich unglücklich. Mit Beiden ist kein angenehmes Leben, keine Offenherzigkeit, kein vertrauter Umgang. Selbst die strenge Subordination des Klosterlebens macht, daß die Gehorchenden beisammenstehen, aber der Befehlende immer allein. Ich muß also ewig meine Gefühle in mich selbst verschließen. Da denke ich nun oft, wenn ich in der Welt geblieben wäre, so wäre ich jetzt ein glücklicher Hausvater, ich hätte ein gutes Weib, an deren Brust mein graues Haupt ausruhen könnte, die die Stürme und die Hitze des langen Lebenstages mit mir ausgehalten hätte, und die also die innige Vertraute meines Herzens und seiner Gefühle wäre. Ich sähe mich in meinen Kindern wieder aufleben und genöss' in ihnen die Tage meiner sorglosen Jugend noch einmal. Jeder Tag hätte neue Freuden für mich, ich hätte gearbeitet für die Meinigen, ich ständ', von meinen Lieben umringt, in der Abendröthe meines Lebens, und wenn ich einst in den Armen meines Weibes, unter den Küssen meiner Kinder zu der unbekannten Welt hinüberschlief, so lebte ich doch auf dieser Erde in meinen Kindern und Kindeskindern fort. O Herr, diese Unsterblichkeit kann mir kein Zweifler ungewiß machen! Welches Leben führe ich jetzt! welche schöne Bestimmung habe ich verfehlt! Ich kann mir Gott nicht unter dem Bilde eines Mönchs vorstellen, aber mit einem Hausvater vergleicht sich das gütige Wesen oft selbst.«
Er war sehr gerührt, ich suchte ihn zu beruhigen, aber er sagte freundlich lächelnd:
»Lassen Sie mich es immer fühlen, daß ich ein Mensch bin!«
»Aber wie konnte ein Herz, wie das Ihrige, einen Stand wählen, der seinen Wünschen so ganz entgegen war?«
»Zwei Ursachen trieben mich dazu, von denen schon eine hinreichend ist, einen Menschen aus seinem Gleise zu bringen. Unglückliche Liebe und gekränkte Ehre. Alte Leute schwatzen gern, besonders von ihren jungen Jahren; ich will Ihnen meine Geschichte kurz erzählen. Meine Aeltern waren wohlhabende Leute und gaben mir die beste Erziehung. Mein Herz ward unter Griechen und Römern groß. Die Meisterwerke der Alten gaben meinem Geiste jene erhabene Richtung, jene einfache Größe, die von der alten Welt zu uns herüberweht und sich so wenig mit der jetzigen und ihren Einrichtungen verträgt. Ich studierte, um meine Bildung zu vollenden, nicht, um mir Brod damit zu verdienen. Dann reiste ich. Manches Mädchen hatte mir wohl bisher gefallen, aber mein Geschmack war griechisch, kein Mädchen ohne hohe Geistesbildung konnte mich fesseln. Ich lebte in Idealen. In einer fremden Residenzstadt lernte ich endlich ein Mädchen kennen, die meinen Wünschen entsprach. Meine ganze Seele, mein volles, offnes Herz flog ihr entgegen. Ich liebte sie mit dem heiligen Enthusiasmus, den die Liebe nur in reinen Seelen hervorbringt. Sie erwiederte meine Neigung. Sechs Monate lebte ich fast täglich in ihrer Gesellschaft; alle die glänzenden Zirkel der Residenz, in denen sie nicht war, ekelten mich an, und mit Vergnügen vertauschte ich den leeren Glanz großer Gesellschaften gegen den Umgang mit der stillen Familie, bei der sie sich aufhielt. Eine gewisse Gefallsucht, eine Neigung zu rauschenden Vergnügungen bemerkte ich zwar an ihr, und dies verursachte öftere Streitigkeiten zwischen uns. Aber das Mädchen hatte eine unumschränkte Gewalt über mein Herz, bei jeder Versöhnung wurde meine Liebe zu ihr heftiger und feuriger. Der Frühling kam. Mein Schicksal rief mich in entfernte Gegenden. Sie war trostlos, sie schluchzte an meinem Halse, wie ich den letzten Abend mit ihr zubrachte. Mehr todt als lebendig reiste ich ab. Meine Reise war beschwerlich; eine drückende Sehnsucht nach der, die ich so innig liebte, machte mir beinahe jede Freude unschmackhaft, und doch war ich so glücklich, wenn ich nur ungestört an sie denken konnte. Diese Liebe, die in ihrem Ursprunge so edel, in ihrer Folge immer so rein und unschuldig gewesen war, schien mir für die Ewigkeit bestimmt zu sein. Meine Abwesenheit dauerte beinahe ein Jahr. Ich riß mich von Allem los, was mich halten wollte, von meinen Freunden, von vortheilhaften Aussichten zu Beförderungen, selbst von einer Verbindung, die mir meine Verwandten zugedacht hatten, ich riß mich von Allem los und eilte zu ihr. Seit langer Zeit hatte ich schon keinen Brief von ihr erhalten, aber ich ahnete nichts, ich Thor beurtheilte nach meinem edlen Herzen die Menschen um mich her! Ich kam. Mit erzwungener Freundlichkeit nahm sie mich auf. Ein adeliger junger Herr saß neben ihr. Auf ihrem Gesichte stand mehr Ueberraschung als Freude. Mein Stolz gab mir so viel Kraft, daß ich die wenigen Augenblicke, die ich mich bei ihr aufhielt, Herr meiner selbst blieb. Mit zitternden Knien wankte ich die Treppe hinab. Erst nach einigen Wochen erhielt ich es wieder über mich, sie zu besuchen. Gütiger Gott! sie sprach kein Wort mit mir. Anerkannte sittenlose Menschen, die aber in der Stadt eine Rolle spielten, umgaben sie, fade junge Leute waren ihre Gesellschafter, und diesen Menschen konnte sie mich und mein Herz voll reiner Liebe aufopfern! Ich hätte sie verachten sollen,« fuhr er nach einer Pause fort, »aber ich konnte es nicht, ich liebte sie, und ich schäme mich nicht, es Ihnen zu sagen, ich liebe sie noch. Sie schläft nun schon fünfzehn Jahre in der Erde, eine unglückliche Ehe und der Todesschlummer werden die Flecken ihrer Seele weggenommen haben, ich werde sie in einer bessern Welt wiederfinden, und dort wird sie der Engel sein, für den ich sie hier hielt. – Um diese nämliche Zeit bewarb ich mich um ein Amt. Meine Probeschriften waren besser als die meines Mitbewerbers, aber dieser hatte Wege eingeschlagen, die mir Stolz und Redlichkeit nicht zu betreten erlaubten. Meine Arbeiten wurden verworfen. Alles stürmte auf mich ein. Mein Herz war zerrissen, mein Verstand erlag, mir ekelte vor der Welt und ich glaubte, dieser Ekel würde ewig sein. Der kleine Mensch ist ein stolzes Wesen, er glaubt, Alles an ihm ist ewig! Ich kam hierher und ließ mich einkleiden. Drei Jahre lebte ich in dumpfer Betäubung. Mein Erwachen war schrecklich. Der vorige Abt stand mir wie ein guter Engel zur Seite. Die Arbeit zerstreute mich. Ich ward Oekonom auf dieser kleinen Meierei, und nur in den Armen der Natur vergaß ich auf Augenblicke, welch ein unnatürliches, freudenloses Dasein ich mit mir fortschleppte.
»Jetzt bin ich alt, aber die sanften Gefühle in meiner Brust sind nicht gestorben, die Sehnsucht nach einer weiblichen Seele hat der Schnee des Alters nicht weggenommen. Die Reize des zweiten Geschlechts machen aus dem Morgen unsers Lebens ein Paradies, aber ihre wartenden, pflegenden Hände, ihre treue Sorgfalt, ihre ausdauernde Liebe sind der Stab unsers Alters, die Abendröthe unsers Abends. Ohne sie ist unser Leben eine einsame stürmische Nacht, ohne Stern, ohne Licht, ohne Freund, und wir wünschen weiter nichts, als nur recht bald einzuschlafen!«
Er schwieg. Weinend sank ich in seine Arme. Eine feierliche, stumme Minute schwebte über zwei gerührte, zitternde Herzen, vier Augen voll Thränen blickten empor zu dem großen blauen Gewölbe des Himmels, und in unsern Seelen stieg eine unendliche Sehnsucht auf nach einer bessern Welt und einer reinern, seligern Liebe, als die Erde giebt und ein Menschenherz faßt!
Nichts verbindet zwei Menschen so innig und so fest, als eine gemeinschaftliche Erweichung oder Erhebung. Wenn es daher möglich wäre, daß eine große Gemeinde sich zu gleicher Zeit auf den Flügeln der Andacht erheben könnte, so wären sie, zumal wenn ein gemeinschaftlicher Druck von außen dazukäme, alle Brüder, und ginge Einer für den Andern in den Tod, wie in den ehemaligen kleinen Gemeinden der erstern Jahrhunderte. Dieses Gefühl der geistigen Verwandtschaft ist ein warmer Sonnenblick aus einer höhern Sonne, als die, um welche wir uns herumdrehen, und ein Siegel mehr unter die Urkunde unsrer Unsterblichkeit. Es gleicht der Freude eines einsamen Fremdlings, der in seiner Muttersprache angeredet wird, und dem bei diesen geliebten Tönen sein verlassnes Vaterland mit allen schönen Erinnerungen vor Augen schwebt.
»Ach warum durft' ich dem edlen Greise heute beim Abschiednehmen nicht um den Hals fallen? warum durfte ich nicht zu ihm sagen: ›Vielleicht sehe ich Dich nicht wieder, Du lieber, lieber Mensch! wenn ich einst wieder hierher komme, hast Du Dein weißes Haupt vielleicht schon hingelegt zum letzten langen Schlaf, und der Ewige, der Dich liebt, hat Dich eingewiegt zu seligern Träumen, als Dein Wachen war; aber ich werde Dein doch gedenken, und die Arme, die Dich nicht mehr umfangen können, werden den kleinen Hügel umarmen, unter dem Du schläfst!‹ Aber ich konnte ihm nur die Hand drücken und ihm ein freundliches Lebewohl wünschen, denn der Schwarm der Mönche umgab mich, und unter herzlosen Menschen zieht sich der höhere Mensch zusammen und zeigt nichts als höchstens – Stacheln.«
Ich blickte zum Wagen hinaus, bis sich die Spitze des Klosterthurms hinter den Wald verkroch, und dann überdachte ich mit freudiger Rührung die Zukunft, der ich entgegenging, meinen Entschluß, mir eine Gattin zu suchen, und die Veränderung, die mit meinem ganzen Wesen vorgegangen war.
Welche Summe kleiner Ereignisse machen den Menschen zu dem, was er ist! Wir schweben von einem Momente zum andern, und jeder arbeitet an unserm Ich; wir hören den Strom der Zeit nur in seinem Fallen, in Tagen, Monaten, Jahren, aber die einzelnen Tropfen, die bei uns vorüberfließen und in unserm Innern Gedanken ansetzen und Gestalten bilden, hören wir nicht!
Ich betrachtete Alles, was mich umgab, in Beziehung dessen, was in mir vorging. Die Natur war rings um mich lebendiger und anmuthiger geworden, weil ich sie nicht durch das trübe Glas meiner Stubenphilosophie betrachtete. Wo ich vorher nichts als Mühe und Anstrengung gesehen hatte, sah ich jetzt Frohsinn und Heiterkeit.
Die Wiesen wimmelten von Menschen, die mit der Heuernte beschäftigt waren; ich sah nicht mehr die Schweißtropfen, die vom Gesichte des arbeitsamen Landmanns niederfallen, sondern ich hörte nur die frohen Lieder, womit er seine Arbeit versüßt, und stimmte mit Dir, mein Matthisson, ein:
»Was ist es wohl, das an den Staub
Den Erdenpilger kettet,
Daß er auf dürres Winterlaub
Sich wie auf Rosen bettet?
Das bist
du, süße Liebe,
du!
Du giebst ihm Trost, du giebst ihm Ruh',
Wenn Laub und Blumen sterben!
»Und ach! wenn sein zerrissnes Herz
Aus tausend Wunden blutet,
Was sänftigt dann den Seelenschmerz,
Der drinnen ebbt und flutet?
O Liebe! Liebe! Oel und Wein
Träufst du den Todeswunden ein,
Tränkst uns mit Himmelsfreuden!«
»Schon dreimal habe ich zum Fenster hinausgesehen, ob mein Vetter Jakob nicht bald kommt. Er ist von Liebstadt zurück und hat mir versprochen, von heute an regelmäßig wieder jeden Abend mich zu besuchen. – Ich kann mir die Zeit, während der ich ihn erwarte, nicht besser vertreiben, als wenn ich ihn schildere:
»Mein Vetter Jakob ist fünfundfunfzig Jahre alt, beinahe sechs Pariser Fuß lang und verhältnißmäßig stark, er trägt immer einen braunen Rock, und in meinem Leben habe ich ihn noch nicht in Schuhen gesehen. Er ist die Seele unsrer Familie, sein Kopf ist voll Erfahrung, sein Herz voll Güte. – Er ward in seiner Jugend zum Studieren bestimmt; aber da er seine Aeltern schon im vierzehnten Jahre verlor, und ihm die Mittel fehlten, sein Studieren fortzusetzen, so lernte er die Kaufmannschaft, und die Kenntnisse, die er von der Schule mitgebracht hatte, erleichterten ihm das Studium der neuern Sprachen, das er während seiner Lehrjahre fleißig betrieb. Wie er ausgelernt hatte, ging er in eine Condition nach Amsterdam, und von da kam er zu einem Hause nach Manchester. Für dieses Haus reiste er sechs Jahre lang; er durchreiste beinahe ganz Europa, und seine Principale hatten so viele Vortheile von seinen Reisen, daß sie ihm einen Antheil an ihrer Handlung gaben. Einige Jahre nach seiner Zurückkunft verheirathete er sich in Manchester, und seine Frau gebar ihm im ersten Jahre ihrer Ehe einen Knaben, über dessen Ankunft er eine ausgelassene Freude hatte. Ihre zweite Niederkunft war unglücklich, das Kind kam todt zur Welt, und sie selbst starb einige Tage nach der Geburt. Er wendete alle Sorgfalt auf die Erziehung seines Sohnes, aber im zehnten Jahre starb ihm das hoffnungsvolle Kind an den Blattern. Sein Aufenthalt in Manchester hatte für ihn nun keine Freude mehr, er zog sein Geld aus der Handlung und eilte nach seinem Vaterlande, um da sein Leben zu beschließen. Er kaufte sich hier an, weil sein Bruder hier in der Nähe lebt, und nahm eine Tochter seiner verstorbenen Schwester zu sich, die ihm die Wirthschaft führt.
»Jedermann ist ihm gut, denn er hilft, wo er helfen kann, er thut Gutes, wo es ihm möglich ist, und giebt Jedem Rath, der ihn um Rath fragt, ohne auf seine Hülfe oder seinen Verstand den geringsten Werth zu setzen. Jeder ehrliche, gerade Mann ist ihm willkommen, aber die Heuchler, die Schwindler, die Menschen, die mehr scheinen wollen, als sie sind, sind ihm tödtlich verhaßt. Er ist der beste praktische Philosoph, der je auf der Erde gelebt hat, ohne nur ein einziges Mal über die Theorie nachgedacht, noch viel weniger irgend ein System studiert zu haben. Er denkt:
Was
recht ist,
wissen Wir! Das Ebenbild,
Das Gottes eigne Schöpferhand
In unser Innerstes gesiegelt hat,
Trägt in der reinen Umschrift seinen Willen,
Und wen Gepräg' auf Gold und Silber nicht
Geblendet hat, der wird ihn
lesen können,
Verständ' er auch das
Buchstabiren nicht,
Woüber in der Schule
Kants noch immer
Die großen Schüler mit einander zanken!
Aus der Litanei für das Jahr 1797 von Mnioch.
»Er ist immer froh und guter Laune; Herzlichkeit und Offenheit liebt er am meisten, Zwang und Ceremonie sind ihm unausstehlich. Ueber die Thorheiten der Menschen ist er nie aufgebracht, selten ärgerlich, oft satyrisch, aber seine Satyre ist nur über Bosheiten bitter. Die britischen Humoristen Addison, Sterne, Swift u. A. sind seine Lieblinge, in ihrer Gesellschaft hat er sich schon manche Sorge weggelacht. Er nennt mich Du, und ich muß ihn Ihr nennen, er sagt, Sie sei die lächerlichste Form der Anrede, und unter Freunden und Verwandten vollends ganz unausstehlich. Er … doch, da sehe ich ihn unter dem Fenster vorbeigehen, geschwind mit meiner Schreiberei in das Pult; er mag nicht gern viel Redens von sich machen lassen, wenn er nun gar wüßte, daß in meinem Tagebuche eine Beschreibung von ihm stände!«
»Seid herzlich willkommen, Vetter Jakob!«
»Ah sieh' da, Eduard! Du hast ja Deine Wohnung so ausstaffirt, als ob eine ganze Legion unzufriedner Geister darin wohnen sollten?«
»Wie meint Ihr das, Vetter Jakob?«
»Je nun, es fiel mir eben ein, daß ich bei dem zufriedensten Manne immer die simpelsten Meublen gefunden habe. Ich muß recht oft lachen, wenn die Menschen Alles um sich herum so herausputzen und poliren, Alles symmetrisch ordnen, die Büsten der größten Männer um und neben sich stehen haben; da soll man denn nun denken, ihr Kopf, der mitten unter den großen Köpfen herumgeht, gehöre auch mit dazu, und sie selbst seien in sich auch so polirt und symmetrisch.«
»Vetter, Eure Satyre trifft mich nicht, dieser Christuskopf und dieser Sokrates, die Ihr auf meinem Pulte seht, sollen weiter nichts, als mich an den Abstand meiner Niedrigkeit gegen die erhabenste menschliche Größe erinnern, sollen mich …«
»Gieb mir die Hand, Eduard! Du bist auch im neuen Hause noch der Alte. Nur wie ich zu Dir hereintrat, kam mir's ein Bischen fremd vor, und da ich eine Zeit lang entfernt gewesen bin, so fürchtete ich schon, Du hättest Dich in diesem Komödiantenzeitalter auch bei der großen Truppe anwerben lassen, die mit ihren weinerlich komischen Stücken die Welt durchzieht, und beinahe in jedem Hause eine Posse nach eigner Invention spielt. – Gieb mir meinen alten Lehnstuhl, damit ich wieder bei Dir zu Hause bin.«
»Hier steht er, Vetter Jakob, hier ist Eure Lieblingspfeife, hier Taback, stopft.«
»Auch der hat einen neuen Ueberzug? Das Tabackskästchen von Mahagony? Nun meinetwegen, wenn sich's nur auf dem Stuhle so weich sitzt, wie vorher, und wenn nur der Knaster gut ist.«
Er stopfte und rauchte, wir setzten uns.
»Ihr spracht vorhin, Vetter,« sagt' ich, indem ich meinen Stuhl näher zu dem seinigen rückte, »von Unzufriedenheit, und darin hattet Ihr nicht so ganz unrecht.«
»Also traf's doch, lieber Junge?«
»Hört mich an. Schon lange begleitete mich überall ein Gefühl, das ich Sehnsucht nennen will, weil ich ihm keinen andern Namen zu geben weiß, ob ich gleich fühle, daß auch dieser nicht paßt, genug, es war da, es unterbrach mich in meinen liebsten Arbeiten, es machte mich mißmuthig, oft traurig; nur Ihr mit Eurer frohen Laune konntet es verscheuchen.«
»Sieh' doch, habe ich wirklich solche Davidstalente?«
»Ihr wißt, meine vorige Wohnung war in einer engen Gasse, die Zimmer waren nicht hell, die ganze Einrichtung war unbequem. Ich glaubte, das Alles wäre an meinem Mißmuthe Schuld, kaufte mir dieses Haus und dachte, es würde nun besser werden, aber – es blieb wie es war. Jetzt haben mir mehrere Zufälle den Grund meiner Unzufriedenheit entdecken helfen. Vetter, mir fehlt ein Weib, ich will heirathen!« –
»Heirathen, lieber Junge?« rief er und fiel mir um den Hals; »nun, das ist doch einmal ein vernünftiger Vorsatz. Also der künftigen Frau Gemahlin zu Ehren sind die Zimmer so decorirt worden? und welche Xantippe hat denn den Sokrates aus den abstracten Regionen der Philosophie zu der concreten Idee des Heirathens gebracht?«
»Scherzt nicht, Vetter! Kein Weib hat mich dazu veranlaßt, keine Sinnlichkeit ist hier im Spiele. Ich brauche eine Gefährtin des Lebens, denn der Weg ist mir zu einsam. Ich kenne weder die Welt, noch die Weiber, Ihr kennt beide, unterstützt mich mit Eurer Erfahrung, helft mir suchen!«
»Topp, Eduard! wegen Dir will ich Schuhe anziehen, wegen Dir will ich eine Perrücke aufsetzen, wir wollen in die Welt hinaus! wir wollen wie Perlenfischer mitten in die strudelnden Wogen hineintauchen; Gott gebe, daß wir eine Perle finden!«
»Wißt Ihr hier kein Mädchen für mich?«
»Nein, Eduard, hier weiß ich keines; wir müssen wandern, wir müssen auf Entdeckungen ausreisen. Ueberdies habe ich so meine eigne Meinung über das Heirathen. Erfahrung an mir und an Andern hat mich gelehrt, daß es selten gut ist, ein Mädchen aus dem Orte zu nehmen, in dem man lebt. Denn sieh', Vetter, wenn man auch einen Engel heirathet, so kann man doch eins gegen tausend wetten, man bekommt an den lieben Schwiegerältern, an den lieben Onkeln, Tanten und Basen einen oder ein Paar Teufel, oder wenigstens einige Narren als Zulage, und nimmt man vollends einen Teufel, so ist man ja mitten in seiner Hölle! Heirathest Du aber eine Fremde, so kannst Du sie ungleich besser bilden; alle Menschen, die Dir daran hinderlich sein würden, kannst Du entfernen, Du kannst ihre Gesellschaft selbst wählen, und wenn Du gute Menschen um sie versammelst, so muß sie gut werden, um sich ihre Liebe und Freundschaft zu erwerben.«
»Also laßt uns wandern und suchen, Vetter! Pfingsten ist nahe; die Ferien dauern sechs Wochen; vielleicht kann ich noch einen Monat länger Urlaub bekommen, wir haben Zeit genug; aber wohin meint Ihr wohl, daß wir unsern Weg nehmen?«
»Vor allen Dingen, Eduard, was wünschest Du Dir für ein Weib?«
»Vetter, ich fordere wenig, und doch ist's vielleicht viel. Ich will Euch das Portrait einer Frau malen, wie ich sie wünsche, und jedes Mädchen, das wir treffen, wollen wir mit dem Portraite vergleichen. Einen gebildeten Verstand muß sie besitzen, nur muß ihr diese Bildung ihre Weiblichkeit nicht genommen haben, denn sonst ist sie ein Mann in der Figur eines Weibes, und solche Zwittergeschöpfe kann ich nie lieben, höchstens, aber nur selten – achten. Ein gefühlvolles Herz muß sie haben, aber ihr Gefühl muß ihrem Verstande untergeordnet und zu erhaben sein, als daß sie je zur Empfindlerin oder Komödiantin herabsinken könnte. Reinlichkeit, Sparsamkeit, Ordnung und Häuslichkeit müssen die Grazien sein, die sie unaufhörlich begleiten. Ihr Aeußeres braucht nicht schön zu sein, nur gefällig. Sie braucht nicht sogenannte Welt zu haben, nur muß sie jenen Anstand besitzen, der sich überall zu nehmen weiß, jene Natürlichkeit, die sich nie in Verlegenheit bringen läßt. Setzt noch zu diesem Allen Liebe, wahre innige Liebe für mich hinzu, so habt Ihr die Haupterfordernisse, Vetter, die ich von meinem künftigen Weibe verlange. Verbände sie damit noch Geschmack, Witz, Gefühl für Dichtkunst, musikalische Talente, sänge sie gut, dann, Vetter, dann wäre sie das Ideal, das vor meiner Seele schwebt.«
»Hast Du nie die Geschichte von dem verwünschten Prinzen gehört, Eduard, der, wie der ewige Jude, die ganze Welt durchlaufen mußte, um das Original zu einem Portraite zu finden, das ihm eine Fee geschenkt hatte? Ich fürchte, wir werden so ein Paar verwünschte Prinzen werden.«
»Mein Gemälde wäre also …«
»Ich liebe die Bilder aus der italienischen Schule, sie sind Erzeugnisse eines wärmern Himmels und einer feurigern Phantasie; wenn mir's aber um Wahrheit zu thun ist, so ziehe ich die Niederländer vor.«
»Ihr meint also, Vetter? – –«
»Ich meine nichts, ich glaube nichts, ich sage nichts, bis ich, wie ein kluger General, meinen Operationsplan gemacht, wie ein erfahrner Schiffskapitän meinen Cours überlegt habe, dann erst rüste ich ein Schiff aus, nehme Passagiere an Bord und steure zum Hafen hinaus, oder mit andern Worten, ich miethe einen Lohnkutscher, Du setzest Dich zu mir in den Wagen und wir fahren zum Thore hinaus. Für heute Basta!«
»Morgen ist der letzte Sessionstag vor Pfingsten, eine Menge Arbeiten überhäufen mich, die ich vor meiner Abreise noch fertig liefern muß,« und ich war daher noch mitten in den Acten vergraben, als Vetter Jakob, früher als gewöhnlich, zu mir hereintrat.
»Ei ei! wo habt Ihr gesteckt, Vetter Jakob? Ihr seid gestern und vorgestern nicht bei mir gewesen?« –
»Ich habe studiert, mein lieber Eduard!«
»Studiert? wie so?«
»Ja, ja, studiert! auf den Vortrag, den ich Dir heute halten will. Pfingsten ist vor der Thür, die Zeit ist nahe, wo wir auswandern sollen in alle Welt, und da finde ich denn nöthig, daß ich Dich vorbereite zu diesem wichtigen Vorhaben.«
»Ihr macht mich neugierig, Vetter!«
»Weg mit all' dem profanen Actengeschmiere! Untern Tisch all die Querelen, Cautelen, Klagen und Einreden, wir haben jetzt einen ganz andern Proceß vor uns, wir wollen mit einander Meditationen anstellen, an die Leyser in seinem Leben nicht gedacht hat. – Vorher
wollen wir aber, gewöhnlichem Gebrauche nach, eine Pfeife
Taback stopfen.« –
»Ihr seid heute sehr bei Laune, Vetter Jakob!«
»Dichter und Redner müssen begeistert sein; das Feuer lodert in meinem Kopfe, und jetzt brennt auch sogar der an meiner Pfeife. Geschwind meinen Lehnstuhl! komm', setze Dich zu mir! Alle die berühmten Leute, die mich umgeben und die sich, um mich besser zu hören, auf Tische und Schränke gestellt haben, übergehe ich, weil ihre Köpfe leer sind, und wende mich an den einzigen unberühmten, aber vollen, der neben mir sitzt, in folgender Anrede:
»Mein lieber Zuhörer Eduard!
»Nichts ist in der Welt mit Vergleichungen mehr heimgesucht worden, als die Welt selbst; die größten Humoristen haben in ihrem Leben nichts lächerlicher gefunden als eben ihr Leben, und da der Mensch ein Narr mit Classificiren und Eintheilen ist, so hat er auch die Welt und sein Leben gar verschiedentlich eingetheilt. Es ist in der That für Jeden, und besonders für meinen lieben Vetter, nothwendig, diese Eintheilung zu kennen. Wie sehr verstößt man außerdem! Wie würde man z. B. irren, wenn man die Welt, von der Newton spricht, für dieselbe halten wollte, von der ein junger Stutzer behauptet, daß er sie besitze? Ja, wenn man die Eintheilung der Welt in große und kleine nicht recht gefaßt hat, so könnte man wohl gar auf die tolle Meinung kommen, Newtons Welt sei die große, da es doch bekannt ist, daß Newton, ungeachtet er das Weltensystem mit einer Meßkette durchflog, gar keine große Welt gekannt hat, denn er besuchte keine Gesellschaften, machte den Damen nicht die Cour, spielte nicht und guckte die Nächte hindurch nach nichts als nach Sternen. Ich will Dir, mein lieber Zuhörer Eduard, die Welt und besonders die große Welt näher beschreiben und vor die Augen stellen, erstlich deßwegen, weil Du sie noch nicht kennst, zweitens, weil Du sie kennen lernen mußt, und drittens, weil ich schon den Lohnkutscher Vogel gemiethet habe, der uns auf den Montag, geliebt es Gott, nach der Residenz, also mitten in die große Welt hineinfahren soll. Ich will Dir nicht verhehlen, daß man sie gar verschieden verglichen hat, zum Beispiel mit den luftigen Farben einer Seifenblase, mit einem Tanze, einem Jahrmarkts u. s. w., aber ich vergleiche sie am liebsten mit einer Maskerade. Und paßt nicht dieses Gleichniß beinahe durchgängig? Ist nicht Alles maskirt, ausgenommen ganz kleine Kinder, die man daher auch nicht mitbringen darf? und werden die größern nicht so zeitig als möglich an eine Larve gewöhnt? Ist es nicht auf einer Maskerade nothwendig, daß man seine Sprache verstellt oder in einer fremden spricht? Muß man sich nicht oft stellen, als kenne man Leute gar nicht wieder, die man doch vorher recht gut gekannt hat und die einem manche Gefälligkeit erzeigt haben, ehe man auf die Maskerade ging? Ich könnte Dir noch viele Ähnlichkeiten aufzählen, mein lieber Zuhörer, aber wozu das, da Du sie bald selbst finden wirst? In der That, es wird Dir recht wunderlich vorkommen, wenn Du mit Deinem geraden, offenen Herzen unter die verlarvten Menschen hintrittst, wenn Gefälligkeit, Höflichkeit, Artigkeit Dich umgeben, und Du immer besorgen mußt, daß Bosheit, Verleumdung und Verkleinerung hinter diesen Masken verborgen sind. Denke in den Zirkeln der großen Welt unaufhörlich daran, daß es Masken sind, die Dich umgeben, und daß es bloß das Possenspiel so mit sich bringt, von Gefühl, von Freundschaft, von Liebe zu sprechen. Spiele Deine Rolle mit und maskire Dich selbst; freilich wirst Du Dich Anfangs so linkisch dabei benehmen, wie der arme Cantor auf der Braunschweiger Redoute; aber laß Dich das nicht abhalten, Deine Maske ist nicht auszeichnend, man wird Dich wenig oder gar nicht bemerken. Die vorzüglichsten Masken sind die weiblichen, Du wirst sehen, wie sich Alles um sie herum drängt, wie man die Kunst versteht, ihnen tausenderlei unbedeutende Dinge zu sagen, bloß um mit ihnen zu sprechen, wie man Jeder durch eine Menge Aufmerksamkeiten zu verstehen giebt, man halte sie für die Schönste und Liebenswürdigste. Gieb genau auf die weiblichen Masken Acht, sie sind ungleich bessre Komödiantinnen als die Männer. Die Kunst, sich geschmackvoll anzuziehen, ist ihnen von Jugend auf eingeprägt, Witz und Laune stehen ihnen mehr zu Gebote, und da sie die Rolle, die sie einmal angenommen haben, besser durchzuführen verstehen, so hält man sie allgemein für die Lehrmeisterinnen der großen Welt. Der Tanz einer Vigano und das Spiel einer Chevalier sind nicht so hinreißend als die Graziengestalt eines schönen Weibes, die, in allen ihren Bewegungen leicht, in jedem ihrer Gespräche witzig und geistreich, mitten unter ihren Anbetern dasteht und die Huldigungen der Menge annimmt, wie einen Tribut, der der Schönheit und der Ausbildung gebührt. Vergiß es nie, Eduard, daß Du auf einer Maskerade bist, bewundere die Talente der Schauspielerin, aber verwechsele nicht ihre Rolle mit ihrer Person, halte nicht jeden Schmuck für echte Steine; bei Abende glänzt Alles, und der echte Demant wird von dem blitzenden böhmischen Steine übertroffen.
»Die Maskerade ist aus, die Gesellschaft geht aus einander, der Theaterputz wird abgelegt und der Mensch wird wieder das, was er ist. Der bessre Mensch, froh, des Zwanges los zu sein, dem er sich unterwerfen mußte, nimmt in dem Kreise seiner Vertrauten die Offenheit und Herzlichkeit wieder an, die er nur ungern auf einige Zeit verleugnete, und lacht über die Lächerlichkeiten, bei denen er gezwungen war, eine ernsthafte Miene zu machen. Der Mensch aber, der nur in der Maske schön ist, fühlt sich unglücklich, so wie er sie ablegt. Unzufriedenheit mit sich selbst, Neid und Mißgunst gegen Andere foltern ihn, er fühlt in sich eine unausstehliche Leere und zählt ängstlich die Stunden, wo er sich wieder in das bunte Gewühl der Gesellschaften werfen und sich selbst entfliehen kann. Sieh', geliebter Zuhörer und Vetter, das ist das Gemälde der großen Welt!«
»Und dahin wollt Ihr mich führen? Dort, wo Alles Verstellung ist, soll ich ein Weib finden?«
»Eduard, unsre Irrthümer sind die Hebel, mit denen wir unsre Wahrheiten aufrichten; um Wirklichkeit zu schätzen, muß man den Schein kennen. Ich kaufte in Manchester einen Garten, dessen Anlagen ganz im alten französischen Style waren. Eine Menge Boskets bildeten labyrinthische Gänge, auf den Beeten lagen Porzellanscherben und Glaskugeln und die Bäume waren wie Kronen oder wie Pyramiden geformt. Ich ließ ihn, wie er war. Hinter ihm lag eine Wiese, die mit Wald umgeben war, ein freundliches, nettes Bauerhaus stand mitten darauf, und eine Allee von hohen schattigen Linden führte darauf zu. Die unnatürlichen, kunstvollen Anlagen meines Gartens thaten mir herrliche Dienste; wenn ich Freunde bei mir hatte, so führte ich sie erst durch die labyrinthischen Boskets und bei den blitzenden Glaskugeln vorbei, und war sicher, daß sie dann eine desto größere Freude hatten, wenn auf einmal die schöne Natur in ihrer kunstlosen Einfalt vor ihren Augen lag; dahingegen oft Leute, die nie solche groteske Gärten gesehen hatten, mit Vergnügen die bunten Porzellanscherben anstaunten, bei den Glaskugeln verweilten und die verstümmelten Bäume bewunderten.«
»Nein, Vetter Jakob, laßt uns bei allen den großen Zirkeln vorbeigehen und irgend eine stille Familie aufsuchen, in der ein gutes, sanftes Mädchen lebt, vielleicht daß …«
»Der, der dort auf Deinem Schreibepulte steht, Sokrates, führte seine Schüler in die Gesellschaften der Aspasia, und der, der hier bei Dir sitzt, Dein alter Vetter Jakob, führt seinen Eduard mitten in das rauschende Gewühl der Weltmaskerade. Glaube mir, lieber Junge, das Besuchen der großen Welt ist eine heilsame Arznei; nur muß man einen Gebrauchszettel bei sich haben, und den habe ich Dir vorausgeschickt.«
»Ich sehe, Vetter, Ihr habt den Operationsplan, von dem Ihr bei Eurem letzten Besuche spracht, völlig entworfen?«
»Völlig, Eduard. Höre mich an. Wir reisen nach der Residenz; der Geheimerath Gardner ist mein alter Freund, ich wurde auf meinen Reisen mit ihm bekannt, und unsre Bekanntschaft ward bald zur herzlichsten Freundschaft; wir durchreisten ganz Italien zusammen. In Neapel trennten wir uns. Meine Geschäfte nöthigten mich, länger dort zu bleiben, und er mußte nach Hause eilen. Am Fuße des Vesuv nahmen wir von einander Abschied. Unser Briefwechsel hat ununterbrochen fortgedauert, und wie ich vor zwei Jahren aus England kam, besuchte ich ihn. Er ist der edelste, beste Mann und hat in seinem Leben nur einen dummen Streich gemacht, und den noch dazu vor dem Altare, da er seine jetzige Frau heirathete. Du wirst sie kennen lernen, sie ist ein eitles, eroberungssüchtiges Weib. Mein armer Gardner ist des lieben Hausfriedens wegen genöthigt, eins der ersten Häuser in der Residenz zu machen. Dorthin wollen wir. Der Umgang mit diesem Hause wird uns die übrigen Gesellschaften öffnen, und wir werden auf einmal auf dem Theater der großen Welt erscheinen. O guter Junge, laß uns unsre Rolle dort so spielen, daß, wenn wir wieder in die Coulissen kommen, Du an Deinen Arbeitstisch und ich in meinen Lehnstuhl, daß wir dann unsre Köpfe eben so hell und unsre Herzen eben so froh wieder zurückbringen, und daß wir nichts an uns verdorben haben, als höchstens – den Magen.«
»Wie glaubt Ihr aber, daß sich unser dortiger Aufenthalt mit dem Zwecke unsrer Reise verträgt?«
»Du wirst eine Menge Mädchen sehen, Eduard, betrachte sie genau. Lerne Weiber beurtheilen, den feinen Takt und das leise Gefühl, das dazu gehört, giebt nur der Umgang mit der großen Welt. Alle Menschenkenntniß, die aus Büchern erlernt ist, ist Narrheit. Ich sehe überall gern mit hellen Augen und suche mir meine Gefühle deutlich zu machen, aber in der Menschenkenntniß statuire ich einen Mysticismus.«
»Nun wohlan, führt mich durch die labyrinthischen Boskets Eures Gartens, aber versprecht mir, mich dann zur Natur wieder zurückzuführen.«
Vom Vetter Jakob erhielt ich heute folgendes Billet:
»Du wohnst verdammt weit, Eduard! und es kann einem ehrlichen Manne, der übermorgen nach der Residenz reist und vorher noch so Manches in seiner kleinen Haushaltung zu besorgen hat, nicht zugemuthet werden, an das äußerste Ende der Vorstadt zu laufen, um einen Regierungsrath aus seinem Acten- und Bücherschlaf aufzuwecken. – Es ist ärgerlich, daß Salzmann in seinem Elendsregister das Elend der Mode vergessen hat, das Deinen Vetter Jakob gewaltig quält. Da habe ich nun heute meinen ganzen Emballagevorrath, ich meine meine Garderobe, gemustert und die traurige Entdeckung gemacht, daß es nicht genug ist, wenn der innere Mensch durch die größten Weisen der alten und neuen Welt seinen Zuschnitt bekommen hat, sondern es muß noch ein ehrlicher Schneidermeister dazukommen, der auch den äußern nach dem Geist der neuesten Zeiten aufstutzt. – Deinen Reisewagen können wir nicht brauchen. Ich nehme den meinigen. Unsre Caravane hat sich um eine Person vermehrt. Liddy, die älteste Tochter meines Bruders, reist mit uns. Sie ist vor Kurzem aus Freudorf, wo sie der brave Pastor Winter erzogen hat, zu ihren Aeltern nach Liebstadt zurückgekommen. Das Mädchen ist neunzehn Jahre und muß nun auch in den Guckekasten der Welt hineinsehen; es ist mir lieb, daß sie es in meiner Begleitung thun kann. Ueberdem kann sie uns gute Dienste leisten, Eduard; wir machen es wie die Vogelsteller, die Lockvögel ausstellen, damit sich ihnen die andern nähern. Lebe wohl. Liddy grüßt Dich unbekannter Weise. Uebermorgen früh um vier Uhr sei segelfertig!«
»Diese Begleitung kommt mir sehr ungelegen. Ich kenne zwar das Mädchen nicht, aber sie wird uns in unseren Gesprächen gewiß Zwang auflegen, wir werden bloß in weiblichen Reimen sprechen, und ich liebe die Kraft und Fülle der männlichen.«
Es schlug fünf Uhr, da wir aus der Vorstadt herausfuhren. Langsam zählte ich die Schläge der Glocke. Eine Menge Gedanken und Erinnerungen flogen bei mir vorüber, längst verklungene Gefühle tönten wieder durch mein Herz, und eine ernste, feierliche Stimmung hatte sich meiner Seele bemächtigt. Vetter Jakob saß stumm und nachdenkend neben mir, der Gedanke an die vielen Trennungen seines Lebens, und die geliebten Herzen, von denen er sich losgerissen hatte, stand vor seiner Seele. Gegen mir über saß Liddy. Die Sonne stand roth in Osten, ihr verkleinertes Bild hing an jedem Thautropfen und ihre Strahlen zitterten auf Liddy's Wange. Mein Blick ruhte auf der schönen Gestalt des stillen Mädchens. »Du gutes, engelreines Geschöpf!« dachte ich, »der Morgen ist nicht nur um dich, er ist auch in dir, die Sonne des Lebens steht noch golden und schön vor deiner Seele; süße Hoffnungen und selige Erwartungen umglänzen dich, und tausend frohe Gefühle deines Herzens singen dem kommenden Tage entgegen; ach, du Gute, die Erinnerung deines schönen Morgens begleite dich durch den ganzen Tag und lächle noch in deinen Abend hinüber, und die Melodie deines Herzens verklinge nicht eher, als bis du einschläfst.«
Wir waren einen Berg hinaufgefahren. Ein lebendiges, fruchtbares Thal lag unter uns, in einiger Entfernung konnte man den Kirchthurm von Liebstadt sehen. – »Vetter, dort ist unser Kirchthurm,« sagte Liddy. – Jakob erwachte aus seinen Träumen und blickte zum Fenster hinaus. – »Ja ja,« sagte er, »Dein Vater wird heute schon an uns gedacht und uns eine glückliche Reise gewünscht haben.« – Liddy's Auge ward feucht.
»Wir werden heut' Alle recht froh sein,« sagte Vetter Jakob, »weil wir am Morgen so still gewesen sind; es wird uns gehen wie den Kindern, unter denen diejenigen immer die frohesten und geistreichsten Menschen werden, die still vor sich hin spielen. Ich kann zwar den Zusammenhang nicht begreifen, aber er ist da, und ich bemerke an mir, daß ich dann den frohsten Humor habe, wenn die ernsthaftesten und größten Gedanken in meiner Seele gewesen sind. Und hierin liegt eben der charakteristische Unterschied des Humoristen von dem blos witzigen Menschen. Der Geist des erstern ist groß, das Objectivglas seiner Seele ist convex geschliffen zum Erheben, er arbeitet in großen Ideen, und der grelle Abstich der kleinen äußern Welt, gegen seine innere Erhabenheit, erzeugt in ihm das Gefühl des Lächerlichen und der Satyre. Der Witzling hingegen ist ein kleiner Mensch; unfähig, aus sich selbst herauszutreten, bemerkt er weiter nichts, als die Beziehung der äußern Welt auf sich, und freut sich wie ein Kind über diese armselige Bemerkung. Der Witzling spielt mit seinen Einfällen, der Humorist seufzt mitten unter seiner Satyre. Bei dem Witzling ist nichts als Scharfsinn, bei dem Humoristen ist moralischer Kummer, und seine Satyre ist nur eine eigne Art, diesen Kummer auszudrücken. Da habe ich nun so eben einige Scenen meines Lebens auf meinem Privattheater wieder aufgeführt, und meine Seele mußte von Rom wegfliegen, wo ich eben mit Gardnern herumwandelte, um hier den Kirchthurm von Liebstadt in Augenschein zu nehmen. – Liddy,« fuhr er fort und ergriff des Mädchens Hand, »singe mir das schöne Lied, bei dem alle meine alten Erinnerungen in neuem Glanze hervortreten.«
Und Liddy sang:
»Kennst du das Land, wo die Citronen blühn?« etc.
Mein Vetter Jakob wiegte sich in seine Träume von Italien, aber durch meine Seele zitterte die höhere Beziehung dieses himmlischen Gesanges, ich dachte an das Land, wo schönere Früchte reifen, wo das Verdienst seinen Lorber findet und wo die Myrte für die reinere Liebe blüht. »Ach ja, ach ja!« rief mein ganzes Herz, »dahin, dahin laß mich mit dir, o du Geliebter, fliehn!« – Liddy sang mit Gefühl, jeder ihrer Töne schien aus einer edeln Seele hervorzugehen. – Bei der Stelle:
»Und Marmorbilder stehn und sehn mich an –«
da war es mir, als ob ich schon in der großen Welt drin wäre, und mich schauderte vor den Menschenfiguren, in deren Brust das heilige Feuer der Vesta nie gelodert hat, und die jeden höhern Menschen anstaunen wie ein Naturspiel.
»O Goethe!« rief ich aus, wie der letzte Ton von Liddy's Stimme verklang, »die Fittiche deines Geistes haben mich oft emporgetragen in die hohen Regionen, wo du einheimisch bist! Du Wesen einer höhern Welt, warum bist du so oft ein Mensch von dieser Erde?« –
So schwand uns der Morgen. Vetter Jakobs Laune machte uns heiter und froh. Der Mensch ist wie sein Schatten, am Morgen und Abend ist er groß, und die übrige Zeit – klein.
Ich fühlte eine wunderliche Beklommenheit in mir, da ich durch die Thore der Stadt hineinfuhr und nun eine Menge Menschen auf der Straße um mich herumtobten, deren Treiben und Wesen mir ganz unbekannt war. Wir stiegen im Gasthofe ab, und Vetter Jakob eilte zu seinem Freunde. Ich blieb mit Liddy allein zu Hause. Es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich mit einem schönen und liebenswürdigen Mädchen so allein war; Liddy mochte wohl auch zum ersten Male mit einem jungen Manne ganz allein sein, denn wir waren Beide stumm und sahen uns nur dann und wann von der Seite an, als ob wir uns fürchteten. Endlich trat ich ans Fenster und sagte zu Liddy: »Sehen Sie doch das Menschengewühl, wie sich Alles drängt und drückt, wie da Reich und Arm so bunt durcheinandergeworfen ist.« – »Ach,« erwiederte Liddy, »ich sehe so etwas nicht gern, ich weiß nicht, warum? aber es wird mir ängstlich dabei; die Menschen, die so nahe bei einander sind, scheinen sich doch Alle so fremd! ich glaube, ich würde mich nie in einer großen Stadt einheimisch fühlen, weil der Menschen zu viel sind, als daß man an Allen Theil nehmen könnte.« – »Ja wohl!« versetzte ich, »sollte gegenseitige Theilnahme und Unterstützung der Hauptzweck sein, warum sich Menschen so nahe bei einander anbauen, aber in großen Städten ist es gegenseitige Benutzung.« Liddy sprach nun viel von dem Landleben, von der glücklichen Beschränktheit und der einfachen Lebensweise wahrhaft zufriedner Menschen, und jede ihrer Aeußerungen war ein sanfter Erguß einer reinen, stillen Seele. Ich war ganz Ohr, es war mir, als ob jedes Wort aus meinem Herzen genommen wäre. Die unerklärbare Scheidewand, die bis jetzt zwischen mir und Liddy gewesen war, schwand auf einmal weg, wir wurden recht vertraulich und ihre Hand lag in der meinigen, als Vetter Jakob zur Thüre hereintrat.
»So recht, Kinderchen!« rief er uns zu, »Hand in Hand! wenn alle gute Menschen so ständen, so hätten die Buben der Welt nicht so leichtes Spiel. Mein Gardner,« fuhr er fort, »ist noch der Alte, er hat mich froh und herzlich aufgenommen, aber bei der Frau Gemahlin habe ich für mich und Euch Karten abgegeben. Ihr seht, ich kann mich in die Welt schicken! Die Karten greifen immer weiter um sich, es ist nicht genug, daß sie schon lange die gesellschaftliche Unterhaltung ausgemacht haben, jetzt beweist man sich auch seine Freundschaft und Hochachtung durch sie. Leute von Ton haben gar keinen Platz mehr, einen ehrlichen Mann, der sie schätzt und liebt, und der ihr Freund ist, zu sich zu bitten, denn ihre Zimmer sind zu voll von solchen Leuten, die Karten abgeben. Ich muß gestehen, diese neue Art von Bettelbriefen gefällt mir ausnehmend!« – –
Ungefähr eine Stunde nach des Vetters Zurückkunft brachte ein Bedienter der Frau Geheimeräthin eine Einladung zum Thee und Abendessen für heute. Die Einladung war in französischer Sprache, und es kam mir lächerlich vor, daß ein Deutscher einen Deutschen mitten in Deutschland französisch zu sich einladet, aber Jakob sagte: »Nein, Eduard, es ist ein schöner Zug, daß Leute von Welt nicht deutsch zu ihren Zusammenkünften einladen, man könnte ja sonst denken, es wären deutsche Gesellschaften. Aber wahrlich, Du wirst von dem Verstand, von der Geradheit und Biederkeit der Deutschen auch nicht eine Spur in diesen Zirkeln finden! Bewundre ferner die Bescheidenheit, man ladet Dich zu weiter nichts ein, als zum Essen und Trinken; setzt dies nicht voraus, daß die Menschen selbst fühlen, daß weiter nichts mit ihnen anzufangen ist?«
Es war nach sechs Uhr, da wir die Treppe zu dem Visitenzimmer der Frau Geheimeräthin hinaufstiegen. So sehr ich auch mein inneres Bewußtsein zu Hilfe rief, so konnte ich doch das Herzklopfen, das mich überfiel, nicht ganz unterdrücken. Jetzt that sich die Thür auf, und wir traten ein. Der glänzende Zirkel der Damen erhob sich, die Wirthin kam uns entgegen und empfing uns mit hinreißender Artigkeit. Sie war eine schöne Figur, über ihr ganzes Wesen war Grazie und Liebenswürdigkeit verbreitet. Liddy mußte unter den Damen Platz nehmen, Alles setzte sich und ich sah mich unter die eleganten jungen Herren rangirt, die hinter den Stühlen der Damen standen und mit Blicken und Worten sehr gesprächig waren. Ich fühlte mich in einer völlig fremden Welt. Die Elegants waren viel zu sehr mit den Damen beschäftigt, als daß sie sich mit mir hätten in ein Gespräch einlassen sollen, und so gern ich auch eine Dame angeredet hätte, so war es mir doch, als ob ich gar nicht die Sprache könnte, die man hier sprach. Selbst zu stillen Bemerkungen, mit denen sich Vetter Jakob divertirte, hatte ich nicht Freiheit genug, denn ich gab auf weiter Niemand Acht, als auf mich selbst, und dies vermehrte mit jedem Augenblicke meine Verlegenheit, zumal da ich sah, mit welcher Zuversicht Andere in die Gesellschaft hereintraten und mit welchem freien Anstand sie sich darin benahmen. Vetter Jakob ging jetzt auf das Zimmer des Geheimeraths, und ich trat zu der einzigen bekannten Seele im Zimmer, zu Liddy. Eben wollte ich mit ihr sprechen, als die Wirthin eine witzige Bemerkung über mein Attachement an meine schöne Reisegefährtin – so drückte sie sich aus – machte; da hätte ich nun durch eine gescheidte Antwort zeigen können, daß ich auch nicht so arm am Geiste bin, ich wußte auch eine Minute nachher, was ich hätte sagen sollen, aber in dem Augenblicke erstickte die glühende Röthe, die auf meinem Gesichte brannte, jede Antwort, und wie ich Liddy ansah, so sah sie auch röther als gewöhnlich aus. Ich fühlte, daß ich eine schlechte Figur spielte, und eben dieses Gefühl machte, daß ich immer eine noch schlechtere spielte. Der Eintritt des Geheimeraths war mir die Erscheinung eines Engels; er eilte mit Herzlichkeit auf mich zu und nahm mich dann mit auf sein Zimmer. Gott sei Dank, hier athmete ich wieder frei! Ich blieb mit ihm und Jakob allein, bis wir zur Tafel gerufen wurden. Mein Platz war zwischen zwei schönen Mädchen, und ich glaube, ich würde viel mit ihnen gesprochen haben, wen nicht Jede auf der andern Seite einen Nachbar gehabt hätte, mit dem sie vertrauter zu sein schien, als ich wünschte. Der Wein gab mir, wenn auch nicht Muth, viel zu sprechen, doch Freiheit und Scharfsinn, viel zu bemerken. Das Tischgespräch ward nie allgemein, die Parteien pflogen bloß die Güte unter sich, aber laut genug. Die meisten Gespräche drehten sich um die Armseligkeiten des Tages herum, und so genau ich auch Achtung gab, so hörte ich doch kein einziges Wort, das sich allenfalls wo anders als bei einem Abendessen hätte sagen lassen. – Um elf Uhr fuhren wir nach Hause.
»Eduard,« sagte Vetter Jakob im Wagen, »Du hast viel Sachen im Kopfe, aber wenig Worte, und fürs alltägliche Leben gar keine Phrasen; es geht Dir wie den reichen Leuten, die den Bettlern kein Almosen geben können, weil sie keine Münze bei sich haben.«
»Ihr mögt Recht haben, Vetter,« erwiederte ich, »aber soll denn ewig der Gang der Welt unser Führer sein? Sollen wir klein werden, wenn es in unserer Willkühr steht, groß zu bleiben? Welche Karikaturen habe ich heute kennen gelernt! Es ist wahr, Eure Mädchen kleiden sich griechisch, aber sie haben auch von den Griechen weiter nichts, als ihren Anzug und ihre Sittenlosigkeit; das, was das griechische Mädchen zur Griechin machte, fehlt diesen Geschöpfen so ganz! Und was können sie für Weiber werden? sie, die nie fühlten, was Achtung für den Mann, was Verehrung des männlichen Geistes ist? sie, die bloß mit elenden Halbmännern tändeln und spielen, und diese Tändelei Liebe nennen?«
»Dein Urtheil ist zu rasch, Eduard, manches gute Mädchen ist mitten in diesen Zirkeln und fühlt den Zwang und die Leere ihres Lebens eben so und vielleicht noch mehr wie Du!«
»Vetter! an einem Orte, wo die Pest wüthet, giebt es auch Viele, die nicht angesteckt sind; aber wollt Ihr es wagen, Jemanden aus dem Orte zu Euch kommen zu lassen? Wißt Ihr gewiß, daß der Stoff dieser fürchterlichen Krankheit nicht verborgen in ihm liegt? Könnt Ihr mir aus der ganzen Gesellschaft Eine nennen, die nicht an ihrer Abgeschmacktheit ein Vergnügen gefunden hätte? Vetter,« fuhr ich in meinem Feuer fort und vergaß es ganz, daß Liddy neben mir saß, »ich will ein ernsthaftes Weib haben, sie soll meine Geliebte, meine Freundin, meine Trösterin sein, und diese flatterhaften Weltgeschöpfe verstehen nicht einmal den Sinn dieser heiligen, bedeutungsvollen Worte!«
Große Menschen ziehen uns mit sich empor, aber kleine Menschen ziehen uns zu sich herab. Die Welt geht mit uns um, wie der Metaphysiker mit unsern Empfindungen, er zergliedert und zerstückelt sie in unsichtbare Faden, und jene raubt uns unsere Einheit und Selbstständigkeit. »Seit acht Tagen habe ich mich unaufhörlich in den Gesellschaften von gutem Ton herumgetrieben, und ich fühle es, der Ton hat meinen gewöhnlichen Ton verändert, ich bin diesen Menschen nicht mehr so unähnlich wie Anfangs. Freude fühle ich zwar noch nicht in ihren Zirkeln, aber auch keine Unbehaglichkeit. Mein Herz würde veröden und mein Geist klein werden, wenn nicht ein Engel neben mir stände, der seine Unschuld und Würde unverändert behauptet. O Liddy, wie danke ich dem Zufall, der mich in deine Gesellschaft führte! wie gewinne ich dich mit jedem Tage, mit jeder Stunde lieber! Du gleichst der Madonna von Raphael, kein blendendes Colorit zieht das Auge des flüchtigen Besehers auf sie, aber dem aufmerksamen Beobachter tritt in jedem Augenblicke längerer Betrachtung eine neue Schönheit, eine neue Größe hervor, bis Vollendung in höchster Einfachheit vor seinem Blicke dasteht.«
»Nichts ist mir unausstehlicher, als das Spielen mit Empfindung, das ich beinahe allgemein, besonders unter dem weiblichen Geschlechte in der großen Welt finde. Sie würdigen das Edelste im Menschen zu einem jämmerlichen Nervenkitzel herab und wenden das, was ihnen den Rang in der Geisterwelt anweisen sollte, zu einer Coketterie in der Körperwelt an.«
Vorgestern waren wir im Schauspiel. Es wurde Schillers Kabale und Liebe gegeben. In unsrer Loge waren einige junge Frauenzimmer von Stande, und während der Zwischenacte kamen mehrere junge Herren vom Parket herauf. So sehr die armen Mädchen vom Trauerspiel angegriffen wurden, und so häufig ihre Thränen während der Vorstellung flossen, so waren sie doch wieder unterhaltend und lustig, wenn der Vorhang gefallen war und hörten sogar die Schmeicheleien der jungen Herren über ihr empfindsames Herz mit Wohlgefallen an. Heißt das nicht mit Empfindungen spielen? oder vielmehr gar keine besitzen? Wie ganz anders war Liddy! Ohne zu weinen, fühlte sie tiefer als die Andern, bei den erschütternden Szenen, deren das Stück so viele hat, fühlte ich ihre Hand in der meinigen zittern. Sie war den ganzen Abend ernst, und als wir allein waren, fragte sie mich: »Sollte es wirklich ein so ungeheures Schicksal geben, das einen edeln Menschen dahin brächte, sich und einer Person, die er über Alles liebt, den Tod zu geben?« – »Ich glaube,« antwortete ich, »daß selten andere als höchst excentrische Menschen in solche Lagen kommen und zu solchen Mitteln greifen werden, aber doch, Liddy, sind Verkettungen der Umstände denkbar, wo selbst einer edelmüthigen Seele das Leben zur Last wird, und wo der Entschluß, diese Last von sich zu werfen, unwiderstehlich reift.«
»Unwiderstehlich?« sagte sie, »o nein! ich fühle, daß ich selbst im härtesten Drange meines Unglücks diesem Entschlusse muthig widerstehen würde.«
»Und was, Liddy, würde Sie halten, wenn Sie Alles verließ?« – »Das Vertrauen auf Gott,« sagte sie sanft, »der Anblick des gestirnten Himmels, die Hoffnung auf die Welt jenseit des Grabes!«
Gerührt und schweigend küßte ich ihr die Hand und trat, um meine Rührung zu verbergen, an das offene Fenster, und da ich hinausblickte in die ruhige Nacht; da die kühle Luft mich umwehte und die Sterne Gottes hoch über meinem Haupte glänzten, da ward meine Liebe zu Liddy Andacht, und meine Andacht eine höhere Liebe!
»Es ist tief in der Nacht, Alles um mich schläft, aber wie könnte ich schlafen? Den Freudetrunknen besucht der Schlaf eben so wenig als den höchst Unglücklichen. – Der schönste Tag meines Lebens ist bei mir vorübergeflogen, wie ein guter Engel, und hat mich angelächelt und geküßt und für die ganze Zukunft gesegnet! – Breitete ich nicht lange meine Arme umsonst aus nach einem Wesen, das mich verstände? Stand ich nicht da mit einem glühenden Herzen voll unendlicher Liebe in einer kalten, todten Einsamkeit? Weinte ich nicht zu dir hinauf, du verborgener Vater, und flehte um eine geliebte Seele? – O! du hast mich sehr beglückt und sehr erfreut! – ich kann weiter nichts als danken und weinen!« …
Ich mußte abbrechen vor Erweichung – ich trug mein freudezitterndes Herz vor die stille Nacht und vor Gott, und es ergoß sich in Thränen. – Ruhiger kann ich nun die Erzählung des heutigen Tages in mein Tagebuch verzeichnen.
Der Hofrath Rother hatte uns auf sein Landgut gebeten, das eine Stunde vor der Stadt, dicht am Rheine, in der herrlichsten Gegend liegt. Wir fuhren gegen Mittag hinaus und trafen eine zahlreiche Gesellschaft an. Schon in der Stadt ist der Ton des Rotherschen Hauses herzlicher und ungezwungner, als in den meisten übrigen Gesellschaften, und hier auf dem Lande war vollends alles Städtische entfernt. Der Hofrath und seine vortreffliche Frau beeiferten sich, Frohsinn und Freude um sich her zu verbreiten und diesen schönen Ort, der schon durch seine Lage ein Paradies war, durch frohe, gesellige Unterhaltung noch angenehmer zu machen. – Scherz und Laune würzten die Mittagsmahlzeit, und nach Tische theilte sich die Gesellschaft in mehrere Partien und ging in den schönen englischen Garten spatzieren, oder auf die Berge, oder spielte auf der Wiese, die vor dem Hause lag. Ich wählte das Erstere und ging mit dem Geheimerath Gardner und Vetter Jakob in den Garten und dann auf die Berge, die das Ufer des Rheins begrenzen. Liddy war mit der Hofräthin spatzieren gegangen.
»Nun, alter Freund,« sagte Jakob zu Gardner, »seit siebenundzwanzig Jahren sind wir nicht so Hand in Hand mit einander gegangen. Damals, Brüderchen, waren unsre Beine noch frischer, da wir Italien durchwanderten!«
»Und unsre Herzen noch froher!« setzte Gardner seufzend hinzu.
»Nicht doch, Herr Bruder, der alte Jakob hat immer noch ein so frohes Herz wie damals, da er mit Dir bei der Quelle Petrarka's Brüderschaft trank. Nur die Beine, die Beine! sind auf dem langen Lebenswege steif geworden. Es ist immer so bergauf und bergab gegangen. Aber was schadet's! Laß die Schale alt werden und welken, wenn nur der Kern frisch und jung bleibt!«
»Glücklicher Mensch! wenn ich Dich höre, fühle ich doppelt, was ich verloren habe. Jakob, wenn ich an den feurigen Jüngling denke, der mit Dir auf den Fluren Neapels herumschwärmte, und jetzt den kalten, trübsinnigen Mann ansehe, der neben Dir steht, so kommt es mir wie ein Traum vor, daß ich der Jüngling war und der Mann bin! Ach, ich wäre auch noch so heiter und froh wie Du, wenn nicht Zeit und Schicksale die Flügel meiner Kraft beschnitten hätten!« –
»Ich denke nur, Brüderchen, wir sind Narren, daß wir dem Schicksale so still halten; so lange noch Kraft in uns ist, kann das Schicksal niemals den Herrn über uns spielen. Glaube mir, ein kräftiger Mensch trägt eine so große Welt in sich, daß ihm die äußere dagegen immer klein bleibt, und ich bin gewiß, wenn wir aus einem andern Leben auf unsre Reise durch die Erde zurücksehen, so werden wir über unsre jetzigen Leiden eben so lachen, wie es uns jetzt lächerlich vorkommt, daß wir als Kinder über eine Puppe weinen konnten, die uns die Mutter verweigerte.«
»Sollten wir das über alle unsre jetzigen Leiden können!«
»Ueber alle, die aus äußern Verhältnissen entspringen!«
»Auch über das einer unglücklichen Ehe?«
»Unser Zeitalter, lieber Gardner, hat eine Menge Krankheiten, physische und moralische, von denen unsre Vorfahren wenig oder nichts wußten; unter diese letztern gehört auch das Uebel der unglücklichen Ehen, das von Tage zu Tage gemeiner wird. Aber sind wir denn nicht selbst Schuld? Kann ich die Thränen eines Menschen über ein Uebel, das er sich muthwillig zuzog, gerecht finden? gleichen sie nicht auch den Thränen eines Kindes, das, oft vor dem Feuer gewarnt, doch die Hand hineinsteckte, und nun weint, weil es sich gebrannt hat? O Bruder! wenn wir immer das geliebt hätten, was an sich liebenswürdig ist, Unschuld, Einfalt und Sittsamkeit, wahrlich, diese moralische Pest wäre nie in die Welt gekommen!«
»Ach Du hast Recht, alter Freund! Was zog mich an sie? Ihre schöne Gestalt, ihr Witz, ihre Laune, ihre Talente, die Menge Anbeter, die um sie versammelt waren, von denen sich Jeder glücklich schätzte, wenn sie ihn nur freundlich ansah. Meine Eitelkeit ward geschmeichelt, da sie mich Allen vorzog, ich glaubte, nur ihr Besitz könne mich zum glücklichen Menschen machen. Ich war entzückt über die Gewißheit, daß sie mich liebte; ich Thor hätte wissen sollen, daß ein so eitles Geschöpf, wie sie, nur ewig sich selbst liebt; ich hätte ahnen sollen, daß sie mich nur deßwegen zu heirathen wünschte, weil sie mein Vermögen als Mittel ansah, ihre brillante Rolle fortzuspielen. Aber ich rannte blind in mein Verderben. Unsere Verbindung ward vollzogen. Ich wünschte ein stilles, häusliches Leben zu führen, aber dies war ihren Planen entgegen. Anfangs gab ich aus Liebe nach, jetzt muß ich aus Schwachheit nachgeben, weil ich mich außerdem nicht stark genug fühle, diese Hölle zu ertragen. So schleppe ich mich denn fort, wie ein Baugefangener mit seiner Kette, bis der Tod sie zerbricht! Und verdiente denn das nicht Mitleid?«
»Bruder,« erwiederte Jakob, »wenn ein gutes, sanftes Weib an einen Mann gebunden ist, der ihr Herz ewig verwundet, dann kann ich mit ihr trauern und weinen, denn die Arme ist durch tausend Bande gefesselt, sie kann sich nicht losreißen; aber der Mann ist zum Handeln und Wirken geboren, er hat Kraft, zu tragen, und Muth, seine Ketten zu zersprengen, warum soll ich mit ihm weinen?«
»O bleibe bei mir und stärke mich!« rief Gardner aus und ergriff die Hand meines Vetters.
Während dieses Gesprächs war ich still nebenhergegangen, und wie Jakob sagte: »Wenn wir nur das liebten, was an sich liebenswürdig ist: Unschuld, Einfalt und Sittsamkeit,« da trat das Bild der frommen Liddy vor meine Seele, und mein Verstand billigte die Wahl meines Herzens. Wir hatten jetzt den Berg bestiegen, der hinter dem Garten liegt, der Rhein floß unter uns, die entzückendste Gegend lag vor unsern Blicken, da faßte Jakob die Hand seines Freundes und sagte:
»Gardner! so standen wir einst in unsrer Jugend auf dem Vesuv; die Dampfwolken, die aus dem Krater heraufstiegen, umgaben uns, aber wir achteten sie nicht, unsre Blicke ruhten auf dem Paradiese, das um uns lag, und auf dem unermeßlichen Meere, das vor uns fluthete, da schwuren wir uns, ewig so zu bleiben und die Wolken des Erdenlebens zu verachten, im Anschaun der Paradiese um uns und des unendlichen Meeres über uns! Gardner, dieser feierliche Augenblick ist mir unvergeßlich gewesen, er hat mir Stärke gegeben an dem Todesbette eines geliebten Weibes und wie mein einziges Kind in die Erde gesenkt ward! Hat er denn an Dir alle seine Kraft verloren? Ist denn Deine Jugend so ganz aus Deinem Gedächtnisse? bist Du denn so alt geworden?«
Da fielen die beiden Freunde sich in die Arme und küßten sich und riefen: »O Bruder, laß uns jung bleiben, bis wir sterben!«
Nach jeder großen Rührung wird der Mensch still; er hört noch auf den Nachklang der hohen Accorde, die in seiner Seele angeschlagen wurden. Schweigend gingen wir wieder zur Gesellschaft zurück.
Wir fanden Alle im Gartensaale versammelt auf uns warten. Ein fremder Virtuose, der an den Hofrath Rother empfohlen und mit in der Gesellschaft war, hatte versprochen, auf dem Flügelfortepiano zu spielen, das im Gartensaale stand. Wir setzten uns in den Kreis, den die Gesellschaft um das Instrument gezogen hatte, der junge Künstler trat auf und fragte, was wir zu hören wünschten. Der Hofrath Rother, der am nächsten bei ihm stand, sagte ihm: »Spielen Sie uns nichts, was nur Ihre Fertigkeit im Spielen zeigt, wir wünschen Sie kennen zu lernen, aber nicht Ihre Finger, spielen Sie eine Phantasie über was Sie wollen, nur sein Sie so gütig und sagen Sie uns vorher, worüber Sie phantasiren, damit wir im Stillen den Text zu Ihren Noten machen können.« Der junge Mann billigte die Idee des Hofraths und versprach uns, das Bild des menschlichen Lebens in Tönen zu malen.
Nach einigen Griffen auf dem Instrumente fing er mit einem bekannten Reichardschen Wiegenliede an, seine Phantasie fuhr einfach und kindlich fort, dann ward sie abwechselnder, bunter, lebhafter, feuriger, bis er rauschend daherflog. Es war der Jüngling, den er malte. Das Toben der Leidenschaften, der wilde, regellose Drang nach Ehre und Ruhm, die Majestät des aufstrebenden Genius, der zum Bewußtsein seiner Kraft gekommen ist und seine Fittiche gebunden fühlt, hallte aus allen Saiten wieder. Das Rauschen verlor sich, die Dissonanzen lösten sich auf, eine sanftere Melodie trat ein, es war die Periode der Liebe, die den jungen Fremdling an die Welt kettet. Ein Adagio klagte den Kummer, der unzertrennlich im Gefolge dieser Leidenschaft ist, der Künstler ließ uns, um deutlicher zu malen, Gänge aus bekannten Mozartschen Arien hören; er ging bis zum rührendsten Klageton herab, um hernach desto überraschender das Entzücken der beglückten Liebe im fliegenden Prestissimo zu schildern. Der Ton ward jetzt ernst und majestätisch, es war das Gemälde des Mannes, wie er schafft und wirkt, wie er mit nüchterner Besonnenheit die Welt ordnet und regiert. Mitunter tönte das obige Wiegenlied wieder, und ernste zärtliche Melodien schilderten die süßen Freuden einer glücklichen Ehe und die noch süßern Vaterfreuden. Der Gang seiner Phantasie ward immer ernster und erhabener und feierlicher. Er malte den Menschen, der der Ewigkeit entgegenreift, keine Dissonanz ließ sich hören; es war das Bild der Ruhe, der Vollendung und des trostvollen Erwartens, und schloß mit einem großen herzerhebenden Accorde. Wir saßen Alle still und stumm und verloren in die Töne, die sich an unser Herz legten, und wie er schloß, da hob sich jeder Busen zu einem Seufzer. Ich eilte auf den Künstler zu und drückte ihn an mein Herz und sagte: »Ich danke Ihnen, Ihre Töne haben mir alles Das gesagt, wofür ich keine Worte habe!«
Den jungen Leuten zu Gefallen spielte er nun einige Variationen, neue Tänze u. s. w. Die Freude ward allgemein. Einige Herren fielen auf den Gedanken, ob sie nicht hier im Gartensaale tanzen könnten? und der gütige Wirth erlaubte es sogleich und schickte ins Dorf nach Musikanten. Alles war nun geschäftig, noch vor ihrer Ankunft den Gartensaal zu einem Tanzsaal umzuwandeln. Das Instrument wurde hinausgeschafft, die jungen Herren trugen die Tische fort, andre ordneten die Stühle längs der Wand hin, einige junge Damen halfen die Gläser und was sonst auf den Tischen stand, fortschaffen. Es war ein fröhliches Gewühl und auf jedem Gesicht stand Scherz und Frohsinn. Vetter Jakob trat mit einem gewaltig großen Basse auf dem Rücken herein, den er den Musikanten abgenommen hatte, und da nun das ganze Musikchor zusammen war und die Instrumente gestimmt wurden, da hüpfte und sprang schon Alles.
Der kleine Ball ward mit einer Polonaise eröffnet, die Alten tanzten vor und Alle hinterdrein. Ich zog Liddy auf; wir hatten uns den ganzen Nachmittag wenig gesehen, sie erzählte mir, wie gütig die Hofräthin gegen sie gewesen sei, und wie froh ihr in ihrer Gesellschaft der Nachmittag verflossen wäre.
Nach der Polonaise traten die Alten ab und überließen die raschen Tacte der Anglaise den jungen Leuten. Liddy tanzte nicht, sie gab vor, sie könne es nicht, im Grunde aber geschah es, weil ihr die jungen Mannspersonen alle fremd waren; da ich auch nie, als nur unter ganz genauen Bekannten tanze, so schlug ich ihr einen Spaziergang in den Garten vor. Sie gab mir ihren Arm und wir traten hinaus in den ruhigen Abend, der auf die herrliche Gegend niedergesunken war.
Wir gingen durch die Gänge des Gartens, in den Gebüschen schlugen Nachtigallen, die Musik des Tanzes tönte aus der Ferne, aber wir schwiegen – Unsre Herzen wußten ihre Vereinigung, aber unsere Lippen wagten es noch nicht, sie auszusprechen. Ich drückte ihre Hand an meinen Mund und fühlte, daß sie zitterte. Wir stiegen den Berg hinauf, auf dem ich diesen Nachmittag mit Gardner und Jakob gewesen war, und setzten uns auf die Bank, von der man die Aussicht auf das prächtige Rheinthal herab hat.
»O Liddy,« sagte ich mit bebender Stimme, »ist nicht die Welt schön, und ist nicht ein reines frommes Herz der schönste Spiegel dieser schönen Welt?«
»Ach ja, Eduard!« sagte sie leise und drückte mir die Hand, und ich sah, daß eine Thräne von ihrer Wange niederfloß.
»Sie weinen, Liddy?« fragte ich.
»Die Musik und die Freude und der herrliche Abend haben mich so weich gemacht,« antwortete sie.
»O!« sagte ich, »ich habe oft geweint, wenn ich sonst allein stand in einer herrlichen Gegend und kein Herz neben mir war, zu dem ich sagen konnte: ›Sieh' doch, wie unser Vater seine Welt so schön gebaut hat, wie Alles um uns so herrlich und groß ist, und wie das Herz des Menschen noch herrlicher und größer ist, als Alles, was wir sehen.‹ – Ach, Liddy, der Mensch in der Einsamkeit verliert sich selbst, aber in einer geliebten Seele findet er sich doppelt wieder.«
»O, Sie sind so gut! so gut!« sagte Liddy; »wie ist es möglich, daß Sie so lange einsam gewesen sind?«
»Konnte ich Sie denn eher finden, Liddy? und werde ich Sie vielleicht nicht wieder verlieren?«
»Ach nein! Eduard, nein!«
»Liddy! wir stehen hier vor Gott! wollen Sie mein sein?«
»Ach! wenn ich Ihrer nur würdig bin; ich achte und liebe Sie unaussprechlich!«
»Liddy, über uns schwebt eine erhabene, feierliche Stunde; meine Liebe zu Ihnen ist ewig wie mein Geist; wollen Sie mein sein im Leben und im Tode?«
Da sank sie laut weinend in meine Arme, und meine Thränen flossen in die ihrigen, und wir hielten uns fest umschlungen. Siehe, da ging der Mond über die Wipfel des Waldes empor und beleuchtete die blassen, weinenden Gestalten, und seine Strahlen zitterten in ihren Thränen. – Und ein Mann stieg den Berg herauf und stand vor uns mit gefaltenen Händen, aber wir sahen ihn nicht im Rausche des Entzückens, und da wir erwachten von dem seligen Traume, da umarmte uns der alte Jakob und sagte:
»O Ihr Lieben! das habe ich ja gewollt und gewünscht!«
Und er entblößte sein graues Haupt und legte feierlich unsre Hände zusammen und sprach:
»Hier stehen zwei Herzen in deinem großen Tempel, verhüllter ewiger Vater! Sie haben sich Liebe geschworen, und Hülfe und Treue bis in den Tod. O laß jeden Tag ihres Lebens so schön sein, wie den heutigen, und ihren Abend so ruhig, und führe sie dann sanft hinüber, wo du bist und die Tugend!«
Ende des dritten Bandes.
Druck der Hofbuchdruckerei zu Altenburg.