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. In diesem Buche wird oft von Weisheit, Verhängnis, Gerechtigkeit, Glück und Liebe die Rede sein. Es liegt anscheinend ein gewisser Hohn darin, inmitten der sehr wirklichen Widerwärtigkeiten dieses Lebens nach einem kaum sichtbaren Glück, im Schosse einer, ach! nur zu materiellen Ungerechtigkeit nach einer vielleicht idealen Gerechtigkeit und im offenkundigsten Hass und Stumpfsinn nach einer nur schwer begreiflichen Liebe zu trachten. Es scheint durchaus nicht an der Zeit, in den verborgenen Falten des menschlichen Herzens einige Gründe zu Vertrauen und Heiterkeit, einige Gelegenheiten zum Lächeln, Sich-Aufschliessen und Lieben, einige Veranlassungen zu Dankbarkeit und Bewunderung mit Musse ausfindig zu machen, wenn der grösste Teil dieser Menschheit, in deren Namen man seine Stimme erhebt, weit entfernt ist, bei den inneren Erquickungen und tiefen, aber so schwer zu erreichenden Tröstungen zu verweilen, die der zufriedene Denker preist, und nicht einmal soviel Sicherheit und Musse hat, um das mannigfache Elend und die Trostlosigkeit des Lebens bis zur Hefe durchzukosten.

Man hat derart den Moralisten, z. B. dem Epiktet, den Vorwurf gemacht, dass sie sich immer nur mit dem Weisen beschäftigten. Es ist etwas Wahres an diesem Vorwurf, wie an den meisten Vorwürfen, die man machen kann. Im Grunde hätten wir ja, wenn wir den Mut besässen, nur auf die einfachste, nächste, dringendste Stimme unseres Gewissens zu hören, nur die eine völlig unbestreitbare Pflicht, ringsum in einem möglichst weiten Umkreise soviel Leiden zu lindern, als wir vermöchten. Man müsste Krankenwärter, Armenbesucher, Tröster der Betrübten, Gründer von Musterwerkstätten, Arzt, Arbeiter und was weiss ich noch werden, oder doch zum mindesten, wie der Experimental-Gelehrte, nur darauf bedacht sein, der Natur ihre unentbehrlichsten materiellen Geheimnisse zu entlocken. Freilich würde eine Zeit, in der es nur noch solche Leute gäbe, die einer dem andern beispringen, nicht lange bei diesem barmherzigen Werke verharren, wenn sich keiner die nötige Musse nähme, sich mit anderen Dingen abzugeben. Wir danken es einigen anscheinend unnützen Menschen, wenn es stets eine gewisse Anzahl von unbestreitbar nützlichen Menschen giebt. Das bessere Teil des Guten, das zu dieser Stunde rings umher geschieht, ist zuerst in einem der Geister entstanden, die vielleicht mehr als eine unmittelbare und dringende Pflicht vernachlässigt haben, um nachzudenken, in sich zu gehen, zu reden. Heisst das, sie hätten das Beste gethan, was sich thun lässt? Wer wagte diese Frage zu beantworten? Das Beste, was sich thun lässt, ist in den Augen der demütig rechtschaffenen Seele, die man zu werden trachten soll, stets die nächste und einfachste Pflicht; aber es wäre darum nicht weniger bedauerlich, wenn alle Welt sich stets an die nächste Pflicht gehalten hätte. Zu allen Zeiten gab es Wesen, die sich mit gutem Gewissen sagen konnten, dass sie allen Pflichten der gegenwärtigen Stunde genügten, indem sie der Pflichten der kommenden Stunde gedachten. Die Mehrzahl der Denker bestätigt gern, dass diese Wesen sich keineswegs getäuscht haben. Es ist gut, dass der Denker etwas bestätigt, wenn auch die Wahrheit nebenbeigesagt oft im Gegenteil von Dem liegt, was der Weiseste bestätigt. Aber was schadet das? Ohne diese Bestätigung hätte man sie dort nicht wahrgenommen – und der Weise hat seine Pflicht gethan.

 

. Heutzutage ist das Elend eine Krankheit der Menschheit, wie die Krankheit ein Elend des Menschen ist. Es giebt Ärzte für die Krankheit, wie es solche für das menschliche Elend geben sollte. Aber folgt daraus, dass der Krankheitszustand unglücklicherweise sehr verbreitet ist, dass man nie von Gesundheit reden dürfte, und dass jemand, der beispielsweise Anatomie lehrt, – die unter den physischen Wissenschaften der Moral am genausten entspricht – einzig und allein der Verbildungen zu gedenken habe, die ein mehr oder weniger allgemeiner Verfall dem menschlichen Körper bescheert? – Er muss vom gesunden Körper ausgehen, wie der Moralist, der danach strebt, über die gegenwärtige Stunde hinauszublicken, von einer glücklichen Seele ausgehen soll, oder doch wenigstens von einer solchen, die – das zureichende Bewusstsein ausgenommen – soviel hat, wie ein Wesen haben muss.

Wir leben im Schosse einer grossen Ungerechtigkeit, aber ich glaube, dass es trotzdem weder ein Zeichen von Gleichgiltigkeit noch von Grausamkeit ist, wenn man bisweilen redet, als ob diese Ungerechtigkeit nicht mehr vorhanden wäre; sonst käme man ja nie aus seinem Kreise heraus. Es ist sehr nötig, dass Einzelne sich gestatten, zu denken, zu sprechen und zu handeln, als ob Alle glücklich wären. Welches Glück, welche Gerechtigkeit, welche Liebe und welche Schönheit fänden auch sonst alle andern an dem Tage, wo das Schicksal ihnen die öffentlichen Gärten des gelobten Landes aufthun wird? Man kann freilich sagen, dass es sich zunächst gebührte, »auf das Dringendste« zu gehen. Aber »auf das Dringendste« zu gehen ist nicht immer das Weiseste. Es ist oft besser, sofort »auf das Höchste« zu gehen. Wenn die Wasser die Wohnung des holländischen Bauern bedrohen, wenn das Meer oder der benachbarte Fluss den Damm durchbrochen hat, der das Land schützt, so wird das Dringendste für ihn sein, sein Vieh, sein Futter, seinen Hausrat zu retten, aber das Weiseste, auf der Krone des Deiches gegen die Fluten anzukämpfen und Alle hinaufzurufen, die im Schutze des erschütterten Erdwalls wohnen.

Die Menschheit war bis auf diesen Tag wie ein Kranker, der sich Ruhe suchend auf seinem Lager wälzt; aber trotzdem sind ihr die einzigen wahrhaft tröstlichen Worte von Solchen gesagt worden, die zu ihr sprachen, als ob sie nie krank gewesen wäre. Denn die Menschheit ist dazu gemacht, glücklich zu sein, wie der Mensch dazu gemacht ist, gesund zu sein. Und wenn man ihr von ihrem Elend spricht, so hat es selbst im Schosse des allgemeinsten und andauerndsten Elends den Anschein, als sagte man ihr nur zufällige und vorläufige Worte. Es liegt nichts Verkehrtes darin, sie anzureden, als stünde sie alle Tage am Vorabend eines grossen Glückes oder einer grossen Gewissheit. In Wahrheit befindet sie sich dort auch durch ihren Instinkt, selbst wenn sie nie den nächsten Tag erreichen sollte. Es ist gut, zu glauben, dass etwas mehr Gedankenarbeit, etwas mehr Mut, etwas mehr Liebe, etwas mehr Wissbegierde, etwas mehr Lebensglut eines Tages genügen werden, um uns die Thore der Freude und Wahrheit zu öffnen. Dies ist keineswegs misszubilligen. Man darf hoffen, dass eines Tages alle Welt glücklich und weise sein wird, und wenn dieser Tag auch niemals kommt, so ist es doch kein Verbrechen, ihn erwartet zu haben.

Jedenfalls ist es nützlich, den Unglücklichen vom Glücke zu reden, damit sie es kennen lernen. Sie bilden sich so gern ein, das Glück sei etwas Ausserordentliches und Unerreichbares! Wenn aber Alle, die sich für glücklich halten dürfen, einfach die Gründe ihrer Befriedigung darlegten, so würde man sehen, dass zwischen Trübsal und Freude nur der Unterschied besteht, der eine lächelnde und aufgeklärte Entgegennahme von einer feindlichen und grollenden Beugung unter das Joch, oder eine kleinliche und eigensinnige Auslegung von einer harmonischen und weitblickenden Auslegung trennt. Die Unglücklichen würden dann ausrufen: »Nichts weiter als Das? Aber dann besitzen wir in unserm Herzen auch die Grundbedingungen zu diesem Glücke.« In der That besitzt ihr sie dort! Abgesehen von grossen körperlichen Leider besitzt sie alle Welt. Aber sprecht von diesem Glücke nicht mit Verachtung, denn es giebt kein anderes! Der glücklichste unter den Menschen ist dar, welcher sein Glück am besten kennt und am tiefsten davon durchdrungen ist, dass das Glück vom Unglück nur durch einen hohen, unermüdlichen, menschlichen und mutigen Gedanken getrennt ist.

Von diesem Gedanken möglichst oft zu sprechen, ist heilsam, nicht, um den eigenen Glücksgedanken Anderen aufzureden, sondern nur, um im Herzen der Zuhörer allmählich den Wunsch entstehen zu lassen, auch selbst einen Gedanken dieser Art zu besitzen. Denn dieser Gedanke ist für jeden von uns verschieden. Der eure behagt mir keineswegs; ihr werdet ihn mir umsonst mit Beredsamkeit rühmen: er wird die verborgenen Organe meines Wesens nicht erreichen. Ich muss den meinen in mir selbst und durch mich selbst erlangen. Aber indem ihr nur von dem euren sprecht, werdet ihr mir unbewusst helfen, den meinen zu finden. Es kann vorkommen, dass mich etwas bestärkt, was euch betrübt; und was euch tröstet, wird mich vielleicht betrüben. Was thut das? Das Schöne, das in eurer tröstlichen Ansicht liegt, wird in meine Trübsal übergehen, und was in eurer Trauer gross ist, wird in meine Freude eindringen, wenn anders meine Freude eurer Trübsal würdig ist. Was vor allem not thut, das ist, dass wir auf der Oberfläche unsrer Seele eine gewisse Höhe freilegen, wo wir diesen Gedanken empfangen können, wie die Priester alter Religionen den Gipfel eines Berges von Gestrüpp und Dornen säuberten und freilegten, um das himmlische Feuer dort zu empfangen. Es ist nicht unmöglich, dass man uns morgen vom Planeten Mars in der endgiltigen Wahrheit über Anlage und Zweck des Weltganzen die untrügliche Formel des Glückes sendet. Sie wird in unserem moralischen Leben nur soviel ändern und bessern, als wir in der Erwartung und im Verlangen nach Besserung gelebt haben. Jeder von uns wird die Wohlthaten dieser – übrigens unveränderlichen – Formel nur nach Maassgabe des selbstlosen, geläuterten, erwartungsvollen und schon aufgeklärten Raumes gemessen, den diese Formel in unserer Seele vorfinden wird. Alle Moral, alle Wissenschaft von Gerechtigkeit und Glück, sollte nur eine möglichst weitblickende, erprobte und empfängliche Erwartung und Vorbereitung darauf sein. Gewiss ist der Tag, an dem wir endlich in der Gewissheit, in der wissenschaftlichen, völligen und unerschütterlichen Wahrheit leben werden, aufs innigste herbeizuwünschen; inzwischen aber ist es uns gegeben, in einer noch wichtigeren Wahrheit zu leben, das ist die Wahrheit unserer Seele und unseres Charakters; und einige Weise haben uns bewiesen, dass dieses Leben selbst unter den grössten materiellen Irrtümern möglich ist.

 

. Ist es unnütz, vor der Entscheidungsstunde der Wissenschaft, die alles umwerfen kann, von Moral, Gerechtigkeit, Glück und allem, was darauf Bezug hat, zu reden? Vielleicht leben wir in vorläufigen Finsternissen, und manche Dinge nehmen sich im Finstern anders aus, als am Tage. Nichtsdestoweniger finden die wesentlichen Ereignisse unseres physischen und moralischen Lebens im Dunkeln ebenso notwendig, ebenso vollkommen statt, wie im Lichte. Wir sollen in Erwartung des Lösungswortes leben, und wenn man so glücklich und edel lebt, wie man kann, wird man sich am besten ausleben und am meisten Mut, Selbständigkeit und Hellsichtigkeit zum Trachten und Suchen nach Wahrheit finden. Und ferner ist die Zeit, die, was auch kommen mag, der Selbsterforschung gewidmet ist, nie verloren. Wie wir auch immer diese Welt, der wir angehören, einst werden anzusehen haben: es wird in der menschlichen Seele immer viel mehr Gefühle, Leidenschaften, unveränderte und unveränderliche Geheimnisse geben, als es Sterne am Himmel giebt, die mit der Erde verknüpft, oder Geheimnisse, die von der Wissenschaft erklärt sind. Im Schosse der unwiderleglichsten, alles durchdringenden Wahrheit wird der Mensch sich ohne Zweifel erheben, aber nur in der unveränderlichen Richtung der menschlichen Seele, und man kann behaupten, dass die Probleme des Glücks, der Moral, der Liebe und Gerechtigkeit desto mehr in aller Augen die überragende und erhabene Gestalt annehmen werden, die sie in den Augen der Denker längst hatten, je stärker und tröstlicher jene allgemeine Gewissheit sein wird.

Man sollte leben, als ob man stets am Vorabend der grossen Entscheidung stünde. Man sollte sich bereit halten, sie so vollständig, so innig, so eifrig aufzunehmen, als man vermag. Die beste Art aber, sie eines Tages aufzunehmen, in welcher Gestalt sie sich auch enthüllen möge, ist, sie von Stund' an zu erwarten, und zwar so hoch, so weit, so vollkommen, so veredelnd, wie unsre Seele es sich nur irgend vorstellen kann. Wir können ihr gar nicht Weite, Schönheit und Majestät genug verleihen. Es ist gewiss, dass sie besser sein wird, als unsere kühnsten Hoffnungen; aber wenn sie diesen auch nicht entspricht, wenn sie ihnen selbst widerspricht, so wird sie uns – eben durch die Thatsache, dass sie uns die Wahrheit bringt, – doch etwas Grösseres und Höheres bringen, als Alles, was wir erwartet hatten. Das Bewundernswerteste von allem wird für den Menschen – und müsste er darüber alles verlieren, was er bewunderte – die innere Wahrheit des Weltalls sein. Wenn wir aber auch annehmen können, dass an dem Tage, wo sie offenbar wird, die bescheidenste Asche unseres Hoffens in den Wind zerstieben wird, so bleibt uns doch auf alle Fälle unsere Vorbereitung auf das Wunderbare, und das Wunderbare wird in unsere Seele mit desto mächtigeren oder schwächeren Fluten eindringen, je nach der Breite und Tiefe des Bettes, das unsere Erwartung gegraben hat.

 

. Ist es notwendig sich für besser zu halten, als das Weltall? Unser Vernünfteln ist umsonst. Alle unsere Vernunft wird immer nur ein sehr schwacher Strahl der Natur, ein winziger Bruchteil jenes Ganzen sein, das zu beurteilen sie sich das Recht anmasst. Muss denn ein Strahl, um seine Pflicht zu thun, die Leuchte zu verändern wünschen, der er entströmt? Der Gipfel unseres Wesens, von dem aus wir die Gesamtheit des Lebens freizusprechen oder zu verdammen wähnen, ist augenscheinlich nur eine Unebenheit, die auf der grenzenlosen Lebenskugel allein von unserm Auge wahrgenommen wird. Es ist weise, zu denken und zu handeln, als ob Alles, was der Menschheit zustösst, unvermeidlich wäre. Vor nicht langer Zeit hatte man – um nur ein einziges dieser Probleme zu berühren, die der Instinkt unsres Planeten zu lösen berufen ist, – vor nicht langer Zeit hatte man scheinbar die Absicht, den Denkern Europas die Frage vorzulegen, ob es als ein Glück oder Unglück anzusehen wäre, wenn eine thatkräftige, hartnäckige und mächtige Rasse, die uns Ariern aber infolge von blindlings festgehaltenen Vorurteilen an Herz und Seele nachzustehen scheint, wenn mit einem Worte die jüdische Rasse vom Erdboden verschwände oder die Übermacht erlangte. Ich glaube, der Weise kann, ohne sich tadelnswerter Ergebung oder Gleichgiltigkeit schuldig zu machen, die Antwort geben: »Was geschehen wird, das wird das rechte sein«. Oft scheint uns das Geschehene Unrecht zu haben; aber was hat denn bisher alle menschliche Vernunft Nützlicheres geleistet, als für das Unrecht der Natur einen höheren Grund zu finden? Alles, was uns hochhält, alles was uns im physischen wie im moralischen Leben beisteht, stammt von einer langsamen und schrittweisen Rechtfertigung der unbekannten Macht, die uns anfangs erbarmungslos schien. Wenn eine Rasse verschwindet, die unserem Ideal vollkommen entspricht, so entspricht unser Ideal nicht völlig dem Ideal der Ideale, das, wie ich sagte, die innere Wahrheit des Weltalls ist.

Schon haben wir aus unserer Erfahrung zu schöpfen verstanden, schon haben wir wunderbare Träume, wunderbare Wünsche, grosse Ideen und Gefühle der Schönheit, Liebe und Gerechtigkeit durch die Wirklichkeit bestätigt gesehen. Und wenn es in unserer Vorstellung weitere und tröstlichere giebt, die aber die Probe der Wirklichkeit, d. i. der namenlosen und geheimen Macht des Lebens nicht bestehen würden, so heisst dies, dass sie anders, nicht, dass sie minder schön, minder weit und tröstlich sein müssen. So lange die Offenbarung der Wirklichkeit noch auf sich warten lässt, ist es vielleicht heilsam, ein Ideal zu nähren, das man sich schöner denkt, als die Wirklichkeit, aber nachdem sich diese endlich enthüllt hat, darf die Flamme des Ideals, die wir mit unsern besten Wünschen genährt haben, nur noch zur rechtschaffenen Beleuchtung der minder hinfälligen und minder ansprechenden Schönheiten der gewaltigen Masse dienen, die jene Wünsche vernichtet.

Ich glaube nicht, dass in allem diesem knechtisches Hinnehmen, schläfriger Fatalismus, thatloser Optimismus liegt. Es ist möglich, dass der Weise bei mancher Gelegenheit einen Teil jener hartnäckigen, blinden und selbstgenugsamen Leidenschaft verliert, kraft deren Manche schier übermenschliche Dinge verwirklicht haben, eben weil sie nicht die gesamte menschliche Vernunft besassen. Aber es ist nicht minder gewiss, dass es keiner rechtschaffenen Seele erlaubt ist, Thatlust, guten Willen, Illusionen oder Blindheit in einer Gegend zu suchen, die unter den Gedanken ihrer besten Stunden liegt. Man thut nur dann wahrhaft seine Pflicht im inneren Leben, wenn man sie Tag für Tag im Höchsten seiner Seele und seiner eigenen Wahrheit thut. Und wenn es im praktischen Alltagsleben bisweilen geboten ist, sich mit den Umständen abzufinden, wenn es dort nicht immer thunlich ist, bis ans Ende seines Wesens zu gehen, wie z. B. Saint-Just, der mit wundervoller Leidenschaft Gerechtigkeit, Frieden und Glück für Alle forderte und mit der besten Absicht tausende von Opfern aufs Schaffot schickte, – so ist es doch im Gedankenleben Pflicht, in jedem Falle bis ans Ende seines Denkens zu gehen. Übrigens wird das Bewusstsein, dass man in der Erwartung der Wahrheit lebt, nur Solche am Handeln verhindern, die auch in der Unwissenheit nicht mehr gethan hätten. Indem der Gedanke sich erhebt, ermutigt er das, was er entmutigt. Den Menschen, welche die Dinge von oben betrachten und Das, was ihrer Thatkraft den Untergang bereiten wird, von vornherein bewundern, scheint es so natürlich, alles, was sie können, zur Verbesserung Dessen zu thun, was man mit Recht die Vernunft, Gerechtigkeit und Schönheit der Erde, den Instinkt unseres Planeten nennt. Sie wissen, dass hier verbessern im Grunde nichts ist, als entdecken, begreifen, achten. Vor allem haben sie Vertrauen in die »Idee des Weltalls«. Sie sind überzeugt, dass jedes Streben nach dem Höchsten sie dem geheimen Willen des Lebens näher bringt, aber sie lernen zugleich aus dem Scheitern ihrer hochherzigsten Bestrebungen und dem Widerstande dieser grossen Welt neue Nahrung für ihre Bewunderung, ihre Glut und Hoffnung schöpfen.

Wenn man am Abend einen hohen Berg besteigt, so werden die Bäume und Häuser, der Kirchturm, die Wiesen und Obstgärten, die Strasse und selbst der Fluss, im zunehmenden Schatten des Thales stets kleiner und kleiner, um schliesslich ganz zu verschwinden. Aber die kleinen Lichtpunkte, die man auch in der Tiefe der dunkelsten Nächte noch an den Stellen findet, wo Menschen wohnen, werden nicht schwächer, je höher man kommt. Im Gegenteil erblickt man bei jedem Schritte, den man aufwärts thut, eine grössere Zahl von Lichtern in den schlafenden Dörfern zu seinen Füssen. So zart und ungewiss es sein mag, ist das Licht doch vielleicht das einzige, was angesichts der Unendlichkeit nichts einbüsst. Und ebenso ist es mit den Lichtern unseres moralischen Lebens, sobald wir das Dasein aus etwas grösserer Höhe betrachten. Es ist gut, dass die Betrachtung uns lehrt, von allen niederen Leidenschaften loszukommen, aber es ist nicht ihr Zweck, unsere bescheidensten Wünsche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe abzuschwächen oder zu entmutigen.

Woher kommt diese Regel, die ich so in Worte fasse? Ich weiss selbst nichts davon. Sie scheint mir menschlich notwendig, das ist Alles; ich könnte keinen anderen Grund dafür angeben, als dass sie mir im Gefühle liegt. Aber die Gefühlsgründe sind bisweilen am wenigsten zu verachten. Und wenn ich einen Gipfel erreichen würde, auf dem mir dieses Gesetz nicht mehr nützlich erschiene, so würde ich auf den geheimen Instinkt hören, der mir sagen würde, dass ich nicht stehenbleiben, sondern noch höher steigen sollte, bis ich von neuem seine ganze Nützlichkeit erführe.

 

.Nach dieser allgemeinen Einleitung wollen wir auf den Einfluss, den die Weisheit auf unser Schicksal haben kann, etwas näher eingehen. Es ist indes vielleicht von Nutzen, und ich nehme diese Gelegenheit wahr, um von vornherein darauf aufmerksam zu machen, dass man in diesem Buche vergeblich nach einer strengen Methode suchen wird. Es besteht nur aus unzusammenhängenden Betrachtungen, die sich mit mehr oder weniger Ordnung um zwei oder drei Gegenstände gruppieren. Es will niemanden überreden, es soll nichts beweisen. Überhaupt haben Bücher nicht den Wert, den ihnen die Mehrzahl derer, die sie lesen oder schreiben, gerne zugestehen möchte. Es sollte genügen, sie in dem Sinne aufzunehmen, in dem einer meiner Freunde, der ein grosser Weiser ist, eines Tages den Bericht von den letzten Augenblicken des Kaisers, Antoninus Pius vernahm; – Antoninus Pius, der es noch mehr als Mark Aurel verdient, für den besten und vollkommensten Menschen angesehen zu werden, den die Erde je getragen hat, denn mit der ganzen Weisheit, Tiefe und Güte und allen Tugenden seines Stiefsohnes verband er etwas, das ihn männlicher, energischer, praktischer, einfacher, glücklicher, ursprünglicher machte und ihn der Wahrheit des Alltags näher brachte. – Antoninus Pius erwartete, auf seinem Bette hingestreckt, den Tod, die Augen von unfreiwilligen Thränen umflort, die Glieder in bleichem Todesschweiss gebadet. In diesem Augenblick trat der Prätorianer-Hauptmann in sein Gemach, um, wie es Brauch war, die Losung zu empfangen. Aequanimitas – Gleichmut der Seele – antwortete er und wandte das Haupt nach der Seite des ewigen Schattens. – Es ist schön, sagte mein Freund, dieses Wort zu lieben und zu bewundern. Aber noch schöner ist es, setzte er hinzu, wenn man die Zeit, die der Zufall uns zu seiner Bewunderung lässt, unbemerkt und ohne selbst darauf zu achten, dem ersten besten jener kleinen nützlichen und einfach lebendigen Werke widmet, die derselbe Zufall dem guten Willen unsres Herzens unablässig anbietet.

 

. Ihr Schicksal wollte ohne Zweifel, dass sie überall, wo sie sich festsetzen wollten, von den Menschen oder Ereignissen unterdrückt wurden, sagt ein Schriftsteller von den Helden seines Buches. So geht es den meisten Menschen. So geht es Allen, die nicht gelernt haben, ihr äusseres Schicksal von ihrem moralischen Schicksal zu trennen. Sie gleichen dem kleinen blinden Bache, den ich eines Morgens von einem Hügel herab betrachtete. Im tiefen Grunde eines Thales umhertastend, tappend, strauchelnd und wankend, suchte er seinen Weg nach dem grossen See, der jenseits des Waldes im Frieden der Morgenröte schlief. Hier zwang ihn ein Basaltfels zu vier grossen Umwegen; weiter unten hemmten ihn die Wurzeln eines alten Baumes, noch weiter zwangen ihn die einfachen Überbleibsel eines für immer verschwundenen Hindernisses, in vergeblichem Aufsieden zu seiner Quelle zurückzukehren und sich aufs Unbestimmte hin von seinem Glück und Endziel zu entfernen. Aber in einer anderen Richtung, fast lotrecht zu dem tollen, unglücklichen, unnützen Bache, hatte eine den unbewussten Gewalten überlegene Kraft durch das Feld, durch zusammengestürztes Gestein, durch den gehorsamen Wald einen langen, festen, grün umsäumten, sorglosen, stillen Kanal gezogen, der ohne Hast und Rast, in ruhigem und klarem Flusse von den Tiefen einer anderen, am Horizont verborgenen Quelle daherkam und in den lichten und ruhigen See mündete. Und ich hatte zu meinen Füssen das Sinnbild der zwei grossen Schicksale, die sich dem Menschen darbieten.

 

. Neben denen, welche durch Menschen und Verhältnisse unterdrückt werden, giebt es in der That andere Wesen, die mit einer inneren Kraft begabt sind, der sich nicht allein die Menschen, sondern auch die sie umgebenden Ereignisse unterwerfen. Sie wissen um diese Kraft, und diese Kraft ist auch nichts anderes, als ein Selbstbewusstsein, das sich weit über die Grenzen des gewöhnlichen Bewusstseins auszudehnen vermocht hat.

Man ist bei sich, man ist vor den Tücken des Zufalls geschützt, man ist glücklich und stark nur im Umkreise seines Bewusstseins. Übrigens sind diese Dinge zu oft gesagt worden, als dass wir uns dabei aufhielten, es sei denn, um unseren Ausgangspunkt festzulegen. Ein Wesen wächst nur in dem Maasse, als es sein Bewusstsein mehrt, und sein Bewusstsein nimmt in dem Maasse zu, als es wächst. Es giebt hier wunderbare Wechselbeziehungen; und ebenso wie die Liebe unersättlich nach Liebe ist, ebenso ist jedes Bewusstsein unersättlich nach Ausdehnung und moralischer Erhebung, und jede moralische Erhebung ist unersättlich nach Bewusstsein.

 

. Aber das Selbstbewusstsein, wie man es für gewöhnlich versteht, beschränkt sich nur zu gern auf die Kenntnis unserer Mängel und Eigenschaften. Es kann sich aber auch auf unendlich hilfreichere Mysterien ausdehnen. Sich selbst kennen, heisst nicht allein, sich in der Ruhe kennen, oder sich mehr oder weniger in der Gegenwart und Vergangenheit kennen. Die Wesen, von denen ich spreche, besitzen diese Kraft nur, weil sie sich auch in der Zukunft kennen. Seiner selbst bewusst sein, heisst für die grössten Menschen, bis zu einem gewissen Grade seines Sterns und seines Schicksals bewusst sein. Sie kennen einen Teil ihrer Zukunft, weil sie schon ein Teil eben dieser Zukunft sind. Sie setzen Vertrauen in sich, weil sie schon heute wissen, was aus den Ereignissen in ihrer Seele werden wird. Das Ereignis an sich ist das reine Wasser, welches das Glück uns einschenkt; es hat gewöhnlich weder Geschmack, noch Farbe, noch Geruch an sich. Es wird schön oder trübe, süss oder bitter, tötlich oder belebend, je nach der Eigenschaft der Seele, die es aufnimmt. Den Menschen, die uns umgeben, begegnen unaufhörlich tausend und abertausend Ereignisse, die von Keimen des Heldentums zu strotzen scheinen, und doch erhebt sich nichts zum Heldentum, nachdem das Ereignis vorüber ist. Aber Christus trifft auf seinem Wege eine Kinderschaar, eine Ehebrecherin oder das samaritische Weib, und die Menschheit erhebt sich dreimal hintereinander zur Götterhöhe.

 

. Man müsste sagen können, dass den Menschen nur das zustösst, was sie wollen. Wir haben freilich nur geringen Einfluss auf eine gewisse Anzahl von äusseren Ereignissen; aber wir haben eine allmächtige Einwirkung auf das, was aus diesen Ereignissen in uns selbst wird, das heisst, auf das geistige Etwas, das den lichten und unsterblichen Teil jedes Ereignisses bildet. Es giebt tausend und abertausend Wesen, in denen dieses geistige Etwas, das aus jeder Liebe, jedem Unglück oder jeder Begegnung zu entstehen begehrt, nicht einen Augenblick zum Leben kommt; diese Wesen treiben vorüber, wie herrenloses Gut auf einem Flusse. Dann wieder giebt es andere, in denen dieses unsterbliche Teil alles verschlingt; diese sind wie Inseln im Meere, denn sie haben einen festen Punkt gefunden, von dem sie den inneren Schicksalen gebieten, und das wahre Schicksal ist ein inneres Schicksal. Was ihnen zustösst, macht den meisten Menschen das Leben finster oder licht; aber das innere Leben derer, von denen ich spreche, verklärt von sich aus Alles, was ihnen zustösst. Wenn du liebst, so ist es nicht die Liebe, die dein Schicksal mitbestimmt; dein Selbstbewusstsein, das du auf dem Grunde dieser Liebe findest, wird dein Leben gestalten. Wenn du verraten wirst, so ist nicht der Verrat von Belang; die Vergebung, die er in deiner Seele entstehen liess, und die mehr oder weniger allgemeine, mehr oder weniger erhabene, mehr oder weniger durchdachte Natur dieser Vergebung ist es, die dein Dasein jener friedlichen und geklärteren Seite des Schicksals zukehren wird, auf der du dich besser erkennen wirst, als wenn man dir treu geblieben wäre. Wenn aber der Verrat die Einfalt, die höhere Zuversicht und die Ausdehnung deiner Liebe nicht gemehrt hat, so hat man dich höchst unnützer Weise verraten und du kannst dir sagen, dass nichts geschehen ist.

 

. Vergessen wir nicht, dass uns nichts begegnet, was nicht von derselben Art ist, wie wir. Jedes Ereignis, das eintritt, stellt sich unserer Seele unter der Form unserer gewohnten Gedanken dar; und nie hat sich eine heldische Gelegenheit dem geboten, der nicht seit einer Reihe von Jahren ein schweigender und düsterer Held war. Erklimme das Gebirge oder steige ins Thal hinab, gehe bis ans Ende der Welt oder um dein Haus herum: du triffst immer nur dich auf den Strassen des Zufalls. Wenn Judas heute abend ausgeht, wird er dem Judas begegnen und Gelegenheit zum Verrat haben; wenn aber Sokrates seine Thüre öffnet, wird er den schlafenden Sokrates auf der Schwelle finden und Gelegenheit haben, weise zu sein. Unsere Abenteuer umkreisen uns, wie die Bienen, die im Begriff sind, zu schwärmen, den Bienenstock umkreisen. Sie warten, bis der Mutter-Gedanke endlich unsere Seele verlässt, und wenn er sie verlassen hat, ballen sie sich um ihn zusammen. Lüge, und die Lügen werden herbeistürzen; liebe, und die Traube der Ereignisse wird von Liebe strotzen. Es scheint, dass alles nur auf ein inneres Zeichen wartet; und wenn unsere Seele am Abend weiser wird, so wird auch das Unglück, das sie am Morgen selbst herausgefordert hat, weiser werden.

 

. Denen, welche nichts gethan haben, um sie zu sich zu rufen, begegnen niemals grosse Ereignisse, und doch trägt der geringste Zufall des Lebens den Samen eines grossen inneren Ereignisses in sich. Aber diese Ereignisse sind die Sklaven der Gerechtigkeit, und jedermann hat nur den Anteil an der Beute, den er verdient. Wir werden genau zu dem, was wir in den Glücks- und Unglücksfällen, die uns zustossen, entdecken; und die unerwartetesten Launen des Glückes gewöhnen sich daran, die Form unserer Gedanken anzunehmen. Kleidung, Schmuck und Waffen des Schicksals liegen in unserem Vorleben. Wenn Sokrates und Thersites an demselben Tage ihren einzigen Sohn verlieren, so wird das Unglück des Sokrates dem des Thersites nicht ähnlich sein. Der Tod selbst, den man für unveränderlich hält, hat im Hause des Guten andere Gewohnheiten, Geberden und Thränen, als im Hause des Bösen. Es scheint, dass Glück und Unglück sich läutern, ehe sie an die Thür des Weisen klopfen, und dass sie sich bücken, um bei einer mittelmässigen Seele einzutreten.

 

. In dem Maasse, wie wir weiser werden, entgehen wir einigen Schicksalen unseres Instinktes. In jedem Wesen lebt ein gewisses Verlangen nach Weisheit, das die meisten Zufälle des Lebens in Bewusstsein verwandeln könnte. Und was einmal in Bewusstsein verwandelt ist, gehört den feindlichen Mächten nicht mehr an. Ein Leid, das sich in deiner Seele in Sanftmut, Nachsicht und geduldiges Lächeln verwandelt hat, wird nicht mehr ohne geistigen Schmuck wiederkehren, und Fehler oder Mängel, denen du ins Auge geschaut hast, sind Fehler oder Mängel, die dir nicht mehr schaden können – und die den Anderen nicht mehr schaden können.

Es giebt unaufhörliche Beziehungen zwischen Instinkt und Schicksal. Sie unterstützen sich gegenseitig und umschweifen Hand in Hand den unbesonnenen Menschen. Aber jedes Wesen, das die blinde Macht des Instinktes in sich zu verringern weiss, vermindert rings um sich die Macht des Schicksals. Es schafft sich, scheint es, eine Art von Freistatt, die nach dem Grade seiner Weisheit unantastbar ist, und wer die geklärte Zone des von ihm erlangten Bewusstseins zufällig durchmisst, der hat vom Zufall nichts zu fürchten, so lange er sich in dieser Zone aufhält. Man setze Sokrates oder Christus mitten unter die Atriden, und die Orestie wird nicht stattfinden, so lange sie sich in Agamemmnons Palast aufhalten; und wenn sie auf der Schwelle von Jokastes Gemächern gesessen hätten, wäre Ödipus nicht so weit gekommen, sich die Augen auszustechen. Manche seiner Schläge wagt das Geschick in Gegenwart einer Seele, die es mehr als einmal besiegt hat, nicht zu führen, und der vorübergehende Weise unterbricht tausend Dramen.

 

.Dass die Gegenwart des Weisen das Schicksal lähmt, ist so wahr, dass es vielleicht kein einziges Drama giebt, in dem ein wahrer Weiser auftritt; und wo ein solcher auftritt, macht das Ereignis vor ihm Halt, ehe es Blut und Thränen giebt. Es giebt nicht allein unter Weisen nie ein Drama, es giebt auch um den Weisen sehr selten eines. Es ist gar nicht auszudenken, wie ein tragisches Ereignis sich unter Wesen entwickeln würde, die den Umkreis ihres Bewusstseins ernstlich durchmessen haben, und die Helden der grossen Tragödien haben Seelen, die sie niemals tief befragen. Deshalb kann uns auch der tragische Dichter nur eine mehr oder weniger gebundene Schönheit zeigen, denn sobald seine Helden sich so hoch erheben, wie es wahrhafte Helden sollen, lassen sie ihre Waffen fallen, und das Drama ist nur noch ein Ruhen im Lichte. Das einzige Drama des Weisen findet im Phädon, im Prometheus, im Leiden Christi, in der Ermordung des Orpheus oder im Opfer der Antigone statt. Aber wenn man dieses Drama, das einzige Drama der Weisheit, beiseite nimmt, so achte man darauf, wie selten die tragischen Dichter dem Weisen das Erscheinen auf der Bühne einen Augenblick zu gestatten wagen. Sie fürchten eine hohe Seele, weil die Ereignisse sie fürchten und ein Mord in Gegenwart des Weisen nicht dasselbe Aussehen hat, wie in Gegenwart von Leuten, deren Seele sich noch nicht kennt. Hätte Ödipus einige jener Gewissheiten besessen, die jeder Denker erlangen kann, hätte er jene allzeit offene Zufluchtsstätte in sich gehabt, die Mark Aurel in sich zu erbauen gewusst hat: was hätte dann das Schicksal gethan, und was hätte es in seine Fallen bekommen, ausser dem reinen Lichte, das eine grosse Seele verbreitet, wenn sie im Missgeschick schöner wird?

Aber wo ist der Weise im Ödipus? Ist es Tiresias? Er kennt die Zukunft, aber er weiss nicht, dass Güte und Vergebung die Zukunft beherrschen. Er kennt die heilige Wahrheit, aber die menschliche Wahrheit ist ihm fremd. Er weiss nichts von der Weisheit, die das Unglück in ihre Arme nimmt, um es ihre Kraft fühlen zu lassen. Die Wissenden wissen nichts, wenn sie die Kraft der Liebe nicht besitzen; denn der wahre Weise ist nicht der, welcher sieht, sondern der, welcher am weitesten sieht und die Menschen am meisten liebt. Aber sehen, ohne zu lieben, heisst ins Finstere blicken.

 

.Man versichert uns, dass alle grossen Tragödien uns kein anderes Schauspiel darbieten, als das Ringen des Menschen mit dem Verhängnis. Ich glaube im Gegenteil, dass es keine einzige Tragödie giebt, in der das Verhängnis wirklich herrscht. Ich mag sie alle durchgehen, ich finde nicht eine, wo der Held das einfache, klare Schicksal bekämpft. Im Grunde ist es nie das Schicksal, sondern stets die Weisheit, die er anfällt. Ein wahres Verhängnis liegt nur in gewissen äusseren Unglücksfällen, wie Krankheiten, Zufälle, unvermuteter Tod geliebter Menschen u.s.w.; aber es giebt kein inneres Verhängnis. Der Wille zur Weisheit hat das Vermögen, Alles, was unseren Körper nicht tötlich berührt, wieder ins Geleise zu bringen. Oft sogar gelingt es ihm, in den engen Bezirk der äusseren Verhängnisse sich einzuführen. Freilich muss man einen schweren, einen geduldigen Schatz in sich anhäufen, damit dieser Wille in dem feierlichen Augenblicke die nötigen Kräfte findet.

 

. Die Bildsäule des Schicksals wirft einen ungeheuren Schatten auf das Thal, das sie in Finsternis zu tauchen scheint; aber dieser Schatten hat für jeden, der ihn von den Seiten des Berges betrachtet, sehr deutliche Grenzen. Wir werden zwar darin geboren; aber vielen Menschen ist es verstattet, aus ihm herauszukommen; und wenn uns Schwäche oder Krankheit auch bis auf den Tod an die verfinsterten Gegenden fesseln, so macht es doch schon etwas aus, wenn man sich zuweilen durch Wunsch und Gedanken daraus entfernt. Möglich, dass das Schicksal über den Einen oder Anderen unter uns strenger herrscht, kraft der Erblichkeit, kraft des Instinktes, kraft anderer Gesetze, die noch unerbittlicher, tiefer und unbekannter sind; aber selbst dann, wenn es uns mit unverdientem und erstaunlichem Unglück überhäuft, selbst dann, wenn es uns zu thun zwingt, was wir nie gethan hätten, wenn es unseren Händen nicht Gewalt angethan hätte: wenn das Unglück geschehen, die That vollbracht ist, hängt es nur von uns ab, welchen Einfluss es auf das hat, was in unserer Seele vorgeht. Wenn es ein Herz von gutem Willen trifft, so kann es nicht verhindern, dass Unglück oder eingesehener Irrtum in diesem Herzen eine Quelle der Klarheit erschliessen. Es kann nicht verhindern, dass eine Seele jede seiner Prüfungen in Gedanken, Gefühle und unantastbare Güter verwandelt. Wie gross auch seine Macht da draussen sein mag, es hält immer an, wenn es auf der Schwelle einen der schweigsamen Wächter des inneren Lebens antrifft. Und wenn man ihm dann den Zutritt zu der verborgenen Wohnung gewährt, kann es dort nur als wohlthätiger Gast einkehren, um den erstorbenen Dunstkreis neu zu beleben, den Frieden zu erneuern, das Licht zu mehren, Heiterkeit zu verbreiten und den Horizont zu klären.

 

. Noch einmal: was hätte das Schicksal gethan, wenn es sich in der Seele getäuscht, wenn es dem Epikur, Mark Aurel oder Antoninus Pius die Fallen gestellt hätte, die es dem Ödipus stellte? Ich will selbst annehmen, dass es einen Antoninus Pius hätte hinreissen können, seinen Vater zu ermorden und in der gleichen Unwissenheit das Lager seiner Mutter zu entweihen. Was hätte es in der Seele des edlen Herrschers erschüttert? Wäre das Ende von alledem nicht dasselbe gewesen, wie in allen Dramen, die sich dem Weisen anheften, das heisst zwar ein grosser Schmerz, aber auch ein grosses Licht, das aus eben diesem Schmerze geboren ist und seinen Schatten schon halb besiegt hat? Antoninus hätte geweint, wie alle Menschen weinen; aber die reichlichsten Thränen löschen keinen Strahl in einer Seele aus, die keine erborgten Strahlen hat. Für den Weisen ist es vom Schmerze zur Verzweiflung ein langer Weg, den die Weisheit nie durchlaufen hat. Auf der sittlichen Höhe, die Antoninus erreicht hat, wie sein Leben uns zeigt, verklären die Gedanken, die da zunehmen, die Gefühle, die sich veredeln, alle Thränen. Er hätte das Unglück in die weitesten und reinsten Teile seiner Seele aufgenommen, und das Unglück schmiegt sich wie das Wasser allen Formen des Gefässes an, in das man es aufnimmt. Antoninus hätte sich darein ergeben, sagen wir. Ja, aber dabei wollen wir nicht vergessen, dass uns dieses Wort nur zu oft verbirgt, was in einem grossen Herzen stattfindet. Es ist für die erste beste Seele ein Leichtes, sich einzubilden, dass auch sie sich darein ergiebt. Aber nicht die Ergebung ist es, die uns tröstet, läutert und erhebt, sondern die Gedanken und Tugenden, in deren Namen man sich in etwas ergiebt, und hier belohnt die Weisheit ihre Getreuen nach dem Maasse ihrer Verdienste.

Es giebt Vorstellungen, die keine Katastrophe erreichen kann. Es genügt meistenteils, dass eine Vorstellung sich über die Eitelkeit, Gleichgiltigkeit und Selbstsucht des Alltags erhebt, und der, welcher sie nährt, ist nicht mehr so verletzlich. Und darum mag es Glück oder Unglück geben, so ist doch der Mensch, in welchem die grösste Vorstellung mit der grössten Leidenschaft lebt, allemal der glücklichste. Wenn das Verhängnis es gewollt hätte, wäre Antoninus Pius vielleicht zum Blutschänder und Vatermörder geworden, aber sein Innenleben wäre, statt sich wie das des Ödipus zu zerstören, durch seinen Unstern selbst gekräftigt worden, und das Schicksal hätte die Flucht ergriffen und rings um den Palast des Kaisers seine Netze und zerbrochenen Waffen liegen lassen. Denn ebenso wie der Triumph der Konsuln und Dictatoren nur in Rom stattfinden konnte, kann der wahrhafte Triumph des Schicksals nur in der Seele stattfinden.

 

. Wo ist das Schicksal im Hamlet, König Lear und Macbeth? Sein Thron steht im Mittelpunkte der Unvernunft des alten Königs, auf den unteren Stufen der Einbildungskraft des jungen Prinzen und auf dem Gipfel der krankhaften Machtgier des Thans von Cawdor. Sprechen wir nicht von diesem, noch von dem Vater Cordelias, dessen zu offenkundige Bewusstlosigkeit von keinem wird bestritten werden; aber Hamlet, der Denker, ist er weise? Sieht er die Verbrechen von Helsingfors aus einer genügenden Höhe? Er nimmt sie, scheint es, von den Gipfeln des Verstandes wahr; aber überragen die Gipfel gewisser Gefühle in der leuchtenden Bergkette der Weisheit, die Gipfel der Güte, des Zutrauens, der Nachsicht und Liebe, nicht die Gipfel des Verstandes? Was wäre geworden, wenn er die Schandthaten von Helsingfors von den Höhen aus betrachtet hätte, von denen etwa Mark Aurel und Fénélon sie angeschaut hätten? Und kommt es vor allem nicht oft genug vor, dass ein Verbrechen, wenn es den Blick einer mächtigeren Seele auf sich lasten fühlt, von seinem Weg im Finstern ablässt, wie die Bienen von ihrer Arbeit lassen, wenn ein Lichtstrahl in ihren Stock dringt?

Jedenfalls hätte das wirkliche Schicksal, dem Claudius und Gertrud sich preisgegeben – denn man liefert sich dem Schicksal nur dann aus, wenn man Böses thut, – das wirkliche Schicksal, welches das innere Schicksal ist, hätte seinen Weg in der Seele der Schuldigen fortgesetzt. Aber hätte es ihre Seele verlassen können, hätte es gewagt, die blendende und verräterische Schranke zu überschreiten, welche die einfache Gegenwart eines dieser Weisen vor den Pforten des Palastes dauernd errichtet hätte? Wenn die Schicksale derer, die minder weise sind, trotzdem etwas von den Schicksalen des Weisen an sich haben, dem sie begegnen, so werden die Geschicke des Weisen doch nur selten von untergeordneten Schicksalen erreicht. Im Gebiet des Verhängnisses steigen die Flüsse ebensowenig zu ihren Quellen zurück, wie auf Erden. Aber um auf den ersten Gedanken zurückzukommen: kann man sich wohl vorstellen, dass eine mächtige und überlegene Seele, wie die Christi, an Hamlets Stelle nach Helsingfors kommt, und dass die Tragödie ihren Verlauf nimmt, bis zu den vier Toten am Ende? Scheint das auch nur möglich? Gleicht das abgefeimteste Verbrechen in Gegenwart einer tiefen Weisheit nicht ein wenig jenen Spielen, die man abends den ganz kleinen Kindern bietet, und deren Armut und Lüge ein Sonnenstrahl offenbaren würde? Kann man Christus, oder auch nur den Weisen, dem man vielleicht begegnet ist, inmitten der freiwilligen Finsternis von Helsingfors sehen? Wer leitet denn den Hamlet, wenn nicht ein blinder Gedanke, der ihm sagt, dass Rache die einzige Pflicht sei? Aber bedurfte es wirklich einer übermenschlichen Anstrengung, um zu erkennen, dass Rache nie eine Pflicht ist? Ich wiederhole es, Hamlet denkt viel, aber er ist keineswegs weise. Er scheint nicht zu ahnen, wo sich die Blösse im Panzer des Schicksals befindet. Es genügt nicht immer, sich mit hohen Gedanken zu waffnen, um es zu besiegen, denn das Schicksal weiss hohen Gedanken noch höhere Gedanken entgegenzusetzen; aber welches Schicksal hätte je sanftmütigen, einfachen, guten und redlichen Gedanken widerstanden? Die einzige Art, das Schicksal zu unterwerfen, ist die, das Gegenteil des Bösen zu thun, das es uns zu thun zwingen wollte. Es giebt kein unvermeidliches Drama. Die Katastrophen von Helsingfors finden nur statt, weil alle Seelen sich weigern zu sehen; aber eine sehende Seele zwingt alle anderen, die Augen zu öffnen. Wo stand es geschrieben, dass Laërtes, Ophelia, Gertrud, Hamlet und Claudius sterben mussten, wenn nicht in der kläglichen Verblendung Hamlets; aber was war doch an dieser Verblendung Unvermeidliches? Man lasse das Schicksal nicht da eingreifen, wo ein Gedanke die mörderischen Gewalten noch entwaffnen kann. Sein Anteil bleibt gross genug. Ich erkenne das Reich des Schicksals in einem Steine, der mir auf den Kopf fällt, in einem Sturme, der ein Schiff zerschellt, in einer ansteckenden Krankheit, die meine Liebsten dahinrafft. Aber es kommt nie in die Seele eines Menschen hinein, der es nicht ruft. Hamlet ist unglücklich, weil er in unmenschlicher Finsternis wandelt, und seine Unwissenheit ist es, die sein Unglück bannt. Nichts auf Erden gehorcht länger als das Verhängnis allen denen, die ihm Befehle zu geben wagen. Selbst Horatio hätte ihm bis zum letzten Augenblicke welche geben können, aber er hat nicht die nötige Energie gehabt, um aus dem Schatten seines Herrn herauszukommen. Es hätte genügt, dass eine Seele in Helsingfors die Kühnheit gehabt hätte, die Wahrheit auszurufen, und die Geschichte von Helsingfors wäre nicht so gänzlich in Hass, Thränen und Schrecken verlaufen. Aber der böse Zufall ist in den Fingern der Weisheit biegsam wie eine Binse, die man eben abgeschnitten hat, und er wird zum Erzbarren von unerbittlicher Starrheit in den Händen des Unbedachten. Noch einmal gesagt, hängt hier alles nicht vom Schicksal, sondern von der Weisheit des Weisesten ab; denn Hamlet war der Weiseste, und darum ward er durch seine blosse Gegenwart zum Mittelpunkte des Dramas von Helsingfors; – aber Hamlets Weisheit hing nur von ihm selbst ab.

 

. Wenn man aber den imaginären Tragödien der Bühne misstraut, so möge man doch in eines der grossen Dramen der wirklichen Geschichte eindringen und man wird sehen, dass Mensch und Schicksal dort dieselben Beziehungen, dieselben Gewohnheiten und dieselbe Ungeduld, dieselbe Unterwerfung und dieselbe Widersetzlichkeit haben. Man wird sehen, dass auch dort der wirksamste Teil dessen, was wir so gerne Verhängnis nennen, eine von den Menschen geschaffene Kraft ist. Es ist gewiss ungeheuer, aber selten unwiderstehlich; es kommt nicht in bestimmten Augenblicken aus einem unerbittlichen, unzugänglichen und unerforschlichen Abgrunde hervor. Es bildet sich aus der Thatkraft, den Wünschen, Gedanken, Leiden und Leidenschaften unserer Brüder, und wir sollten diese Leidenschaften kennen, da sie den unseren gleich sind. Selbst in den seltsamsten Augenblicken, in den geheimnisvollsten, unvorhergesehensten Unglücksfällen haben wir fast nie gegen einen unsichtbaren oder völlig unbekannten Feind zu kämpfen. Dehnen wir das Gebiet des Unabwendbaren nicht nach Willkür aus. Die wirklich starken Menschen wissen sehr wohl, dass sie nicht alle Kräfte kennen, die sich ihren Plänen widersetzen, aber sie kämpfen gegen die, welche sie kennen, ebenso mutig, als ob es keine anderen gäbe, und triumphieren oft. Wir werden unsere Sicherheit, unseren Frieden und unser Glück erst mit dem Tage eigentlich befestigen, wo unsere Unwissenheit und Trägheit aufgehört haben, alles, was unsere Thatkraft und unser Verstand natürlich und menschlich nennen musste, verhängnisvoll zu nennen.

 

. Man sehe sich ein so denkwürdiges Opfer des Schicksals an, wie Ludwig XVI. Nie scheint das Schicksal das Unglück eines armen, redlichen, guten, sanftmütigen und tugendhaften Menschen unerbittlicher gewollt zu haben. Aber wenn man sich die Geschichte näher ansieht, woher kommt dann all das Gift dieses Verhängnisses, wenn nicht aus den Schwächen, dem Zögern, den kleinen Unredlichkeiten, dem Mangel an Folgerichtigkeit, der Eitelkeit und Blindheit des Opfers? Wenn es wahr ist, dass eine Art von Prädestination alle Umstände eines Lebens beherrscht, so dürfte sich diese Prädestination nur in unserem Charakter finden; und ist nicht der Charakter dasjenige, was sich bei einem Menschen von gutem Willen am leichtesten ändern sollte? Ändert er sich nicht in der That bei den meisten Wesen fortwährend? Hat man mit dreissig Jahren den Charakter, den man mit zwanzig hatte? Er ist besser oder schlimmer geworden, je nachdem man die Lüge und den Hass, die schlechte Gesinnung und Bosheit oder die Wahrheit, die Liebe und Güte hat triumphieren sehen. Und man hat geglaubt, den Hass oder die Liebe, die Wahrheit oder die Lüge triumphieren zu sehen, je nach der mehr oder weniger erhabenen Vorstellung, die man sich nach und nach vom Glück und Endzweck dieses Lebens gebildet hat. Worauf unser geheimes Begehren von vornherein gerichtet ist, das scheint mit Notwendigkeit den Sieg davonzutragen. Wenn man die Augen nach der Seite des Bösen wendet, so ist das Böse überall siegreich; wenn man aber gelernt hat, seinen Blick auf die Einfalt, Aufrichtigkeit und Wahrheit zu lenken, so wird man auf dem Grunde aller Dinge nur den mächtigen und schweigsamen Sieg dessen sehen, was man liebt.

 

. Wir wollen Ludwig XVI. jedenfalls nicht von dem Standpunkt aus betrachten, auf dem wir stehen. Versetzen wir uns in seine Lage, mitten in seine Ungewissheiten, seine Befangenheit, seine Schwierigkeiten, seine Dunkelheiten. Es ist nur zu leicht, vorherzusehen, was man hätte thun müssen, wenn man alles weiss, was gethan worden ist. Auch uns in unserer Ungewissheit, unserem Zaudern und Zagen, unserer Unkenntnis der Pflicht, wird man beurteilen müssen, indem man im Sande der kleinen Unebenheit, von der aus wir die Zukunft zu erspähen suchten, die Spur unserer letzten Schritte wiederzufinden sucht. Wissen wir besser, als Ludwig XVI., was in diesem Augenblick zu thun ist? Was man lassen muss, und was man festhalten soll? Werden wir weiser als er zwischen den Rechten der menschlichen Vernunft und denen der Umstände uns durchwinden? Trägt das gewissenhafte Zögern nicht oft alle Merkmale einer Pflicht? Das Beispiel des unglücklichen Königs kann uns indessen etwas sehr Wichtiges lehren, nämlich dass man in einem grossen und edlen Zweifel stets mutig, geraden Weges und unendlich weit über das hinausgehen muss, was uns vernünftig, ausführbar und gerecht erscheint. Die Vorstellung, die wir uns von der Pflicht, der Gerechtigkeit und Wahrheit machen, so klar, so vorgeschritten, so selbständig sie uns auch dünken mag, ist dies ganz naturgemäss nie so sehr, als sie es einige Jahre, einige Jahrhunderte später sein wird. Es ist also weise, zum mindesten so schnell wie möglich auf die äusserste Spitze dessen zu gehen, was wir sehen und hoffen. Wenn Ludwig XVI. gethan hätte, was wir an seiner Stelle gethan hätten, jetzt, wo wir wissen, was er hätte thun müssen, wenn er freimütig allen Thorheiten des königlichen Vorurteils entsagt und die neue Wahrheit, die höhere Gerechtigkeit, die man ihm vor Augen stellte, redlich angenommen hätte, so würden wir seinen Genius bewundern. Nun aber ist es wahrscheinlich, dass Ludwig XVI., der weder ein schlechter Mensch noch ein Dummkopf war, seine Lage – und wäre es nur für eine Minute – mit demselben Auge ansehen konnte, wie ein unbeteiligter Philosoph sie angesehen hätte. Jedenfalls ist dies historisch oder psychologisch nicht unmöglich. Wir wissen sehr oft in unseren feierlichen Zweifeln, wo sich der feste Pol befindet, der unveränderliche Gipfel der Pflicht, aber es scheint uns, dass zwischen der gegenwärtigen Pflicht und jenem allzu einsamen und strahlenden Gipfel ein Abstand ist, den sofort zu durchschreiten nicht eben klug wäre. Und dennoch beweist uns die ganze Geschichte der Menschheit, die ganze Erfahrung unseres eigenen Lebens, dass der höchste Gipfel allemal recht hat und dass man ihn zuletzt immer mit Gewalt nehmen muss, nachdem man kostbare Zeit auf den meisten dazwischenliegenden Erhebungen verloren hat. Was ist zuletzt ein Weiser, ein Held, ein grosser Mann, wenn nicht ein Mensch, der ganz allein und vor den Anderen auf die öde Hochfläche gegangen ist, die Alle mehr oder weniger klar erkannten?

 

. Wir beanspruchen nicht, dass Ludwig XVI. ein Mensch dieser Art, ein Genie hätte sein sollen, wiewohl es fast Pflicht ist, ein Genie zu sein, wenn man das Schicksal von Tausenden seiner Brüder in Händen hält. Wir behaupten ebensowenig, dass die Besten unter uns seine Irrtümer – und infolgedessen auch sein Unglück – vermieden hätten. Gewiss nicht; aber etwas ist gewiss: dass keiner dieser Unglücksfälle einen übermenschlichen Ursprung hatte und übernatürlich oder in zu geheimnisvoller Weise unvermeidlich war. Sie kamen nicht aus einer anderen Welt herab; kein ungeheuerlicher, unerforschlicher und launenhafter Gott sandte sie. Sie waren aus einer verkannten Idee der Gerechtigkeit entstanden, die jäh erwacht ins Leben trat, die aber in der menschlichen Vernunft nie geschlafen hatte. Und was ist auf der Welt beruhigender, was steht uns näher und ist tiefer menschlich, als eine Idee der Gerechtigkeit? Es war bedauerlich für die Seelenruhe Ludwigs XVI., dass diese Idee gerade unter seiner Regierung erwachte; dies ist ungefähr alles, was er dem Schicksal vorwerfen konnte, und die meisten Vorwürfe, die wir ihm für gewöhnlich machen, haben denselben Wert.

Im übrigen ist es sehr berechtigt und erlaubt, anzunehmen, dass eine einzige Handlung, die mit Energie, vollkommener Redlichkeit, selbstloser Weisheit und edler Hellsichtigkeit durchgeführt wäre, den Lauf der Ereignisse hätte ändern können. Wenn die Flucht nach Varennes, die übrigens eine hinterlistige That voll strafwürdiger Schwäche war, auf eine etwas weniger kindliche, etwas weniger unsinnige Art ins Werk gesetzt worden wäre, wie es jeder mit dem wirklichen Leben vertraute Mensch vermocht hätte, so hätte Ludwig XVI. ohne Zweifel nicht auf dem Schaffot geendigt. War es ein Gott, oder seine blinde Nachgiebigkeit gegen Marie Antoinette, die ihn die Vorbereitungen und die Leitung der verhängnisvollen Reise dem dummen, eitlen und ungeschickten von Fersen anvertrauen hiess? War es eine Gewalt voll grosser Mysterien oder seine Leichtfertigkeit, seine Sorglosigkeit, seine Unbesonnenheit und ich weiss nicht welche apathische und zugleich seinen Unstern herausfordernde Ergebung, wie die Nachlässigen und Schwachen sie oft in Gefahren zeigen, die ihn bei jedem Pferdewechsel den Kopf hinter der Gardine der Wagenthür hervorstecken liess, so dass er drei oder viermal zu erkennen war? Und im entscheidenden Augenblicke, in der finsteren und atemlosen Nacht in Varennes, die zu jenen geschichtlichen Nächten gehört, wo das Verhängnis am Horizont ragen musste, wie ein unerschütterliches Gebirge: sieht man da nicht, wie dieses Verhängnis bei jedem Schritte schwankt wie ein Kind, das zum ersten Male geht und nicht weiss, ob es an jenem weissen Kieselstein oder an diesem Grasbüschel, rechts oder links vom Wege straucheln wird? Bei dem tragischen Anhalten der Kutsche in der schwarzen Nacht, bei dem furchtbaren Anrufe eines Jünglings, des jungen Drouet: »Im Namen der Nation!« hätte ein Befehl des Königs im Wagen, ein Peitschenhieb, ein Stoss ins Genick genügt, und du und ich und wir alle wären wahrscheinlich nicht geboren, denn die Geschichte der Welt wäre nicht dieselbe gewesen. Und dann vor dem Maire, dem respektvollen, fassungslosen, zögernden Maire, der nur ein gebieterisches Wort erwartete, um alle Thore zu öffnen, in der Herberge und im Laden des braven Krämers Sauce, endlich bei der Ankunft Goguelats und Choiseuls mit ihren Husaren, die Rettung brachten, kurz, zu zwanzig Malen hing alles nur von einem Ja oder Nein, einem Schritte, einer Gebärde, einem Blicke ab. Man versetze zehn Menschen, die man ziemlich genau kennt, in die Lage des Königs von Frankreich, und man wird mit Genauigkeit den Ausgang ihrer zehn Nächte voraussehen. Denn dieses ist die Schande bringende Nacht, die offenbarende Nacht des Verhängnisses! Sah man je klarer die Unselbständigkeit, die fügsame und bestürzte Erbärmlichkeit dieser grossen und geheimnisvollen Macht, die in unseren allzu entsagungsvollen Stunden auf unserm ganzen Leben zu lasten scheint? Sah man sie je vollständiger ihrer erborgten, stolzen und trügerischen Gewänder beraubt, wie sie hundertmal hintereinander, ganz in Thränen aufgelöst, vom Tode zum Leben und vom Leben zum Tode schwankt und sich endlich wie ein erschrockenes Weib in die Arme eines unseligen Mannes wirft, der etwas weniger wesenlos, etwas weniger unentschlossen ist, als sie selbst, um bis zum frühen Morgen um einen Entschluss, eine Wesenheit zu betteln, die sie nirgends findet, als auf dem Grunde eines menschlichen Geistes und Willens?

 

. Dennoch ist dies nicht die ganze Wahrheit. Es ist heilsam, die Dinge auf diese Weise anzusehen, die Rolle des Verhängnisses derart zu verringern und es wie ein zögerndes und verlaufenes Weib zu behandeln, das man aufnehmen und leiten soll. Wir erhalten dadurch in Erwartung unserer Schicksalsstunde eine Zuversicht, eine Selbstbestimmungskraft und einen Mut, ohne die man nichts Nützliches vollbringen würde; aber damit soll nicht gesagt sein, dass es nichts anderes giebt, dass man immer nur mit seinem Willen und Verstand zu rechnen habe. Verstand und Wille sollen sich daran gewöhnen, wie siegreiche Soldaten auf Kosten dessen zu leben, was ihnen den Krieg macht. Sie sollen lernen, sich von dem Unbekannten zu nähren, das sie überragt. Man kommt aus dem allzu engen Glücke der Menschen ohne inneren Beruf, man kommt aus den gewöhnlichen Handlungen nur dann heraus, wenn man mit willensstarker Gewissheit den Pfad beschreitet, den man kennt, und dabei fortwährend an den unerforschten Raum denkt, den dieser Pfad durchläuft. Gewöhnen wir uns daran, so zu handeln, als ob uns Alles unterthan wäre, aber dabei in unserer Seele stets einen Gedanken zu unterhalten, dessen Aufgabe es ist, sich den grossen Gewalten, denen wir begegnen, auf edle Weise zu unterwerfen. Es ist vonnöten, dass die Hand glaubt, man habe alles vorhergesehen, aber dass ein geheimer, unverletzlicher und unbestechlicher Gedanke nie vergisst, dass alles Grosse fast immer unvorhergesehen ist. Dieses Unvorhergesehene, dieses Unbekannte führt das aus, was wir uns nicht getraut hätten; aber es kommt uns nur zu Hilfe, wenn es im Grunde unseres Herzens einen Altar weiss, der ihm geweiht ist. Man sehe nur zu, welchen Anteil die willensstärksten Menschen, wie Napoleon, dem Glücke an ihren ausserordentlichen Handlungen einräumen. Nur die, welche keine hochherzige Hoffnung hegen, sperren den Zufall ein, wie ein schwaches Kind; die anderen überlassen ihm all die grossen, grenzenlosen Flächen, die der Mensch zu durchmessen noch nicht die Kraft hat; aber sie verlieren ihn dort nicht aus den Augen.

 

. Es ist mit diesen fiebernden Stunden der Geschichte, wie mit den Stürmen auf dem Meere. Man kommt mitten aus der Ebene, man läuft ans Gestade, man schaut von steilen Klippen herab, man erwartet etwas, man befragt die riesigen Wogen mit einer gewissen kindlich erregten Neugierde. Da kommt eine, die dreimal höher und dreimal wilder ist, als die anderen. Sie wälzt sich heran, wie ein Ungetüm mit durchsichtigen Muskeln. Sie kommt hastig vom fernsten Horizont herangerollt und scheint die Trägerin einer dringenden, endgiltigen Offenbarung. Sie zieht eine so tiefe Furche hinter sich, dass sie ohne Zweifel eines der Geheimnisse des Ozeans ans Licht bringen will – und ebenso, wie an Tagen ohne Wind und Wolken die trägsten kleinen Wellchen, rollen klare und unergründliche Fluten über andere klare und unergründliche Fluten hinweg. Kein Lebewesen, kein Kraut, kein Steinchen ist emporgetaucht.

Wenn den Weisen etwas entmutigen könnte – und er ist nicht weise, so lange ein unerwarteter Grund zur Entmutigung sein Staunen nicht erleuchtet, seine Neugier nicht erhebt – so würde man in eben dieser französischen Revolution mehr als ein Geschick finden, das unendlich viel düsterer, vernichtender und unerklärlicher ist, als das Ludwigs XVI. Man denke nur an die Girondisten, man denke an den bewundernswerten Vergniaud. Selbst heute, wo wir alles wissen, was die Zukunft ihm verbarg, wo wir ungefähr erraten, wo hinaus die instinktive Idee eines Ausnahme-Jahrhunderts wollte, wäre es uns wahrscheinlich unmöglich, weiser und edler zu handeln, als er. Jedenfalls würde es für jeden Menschen, den der Zufall in die Glutpfanne eines Dramas wirft, das keine Grenzen mehr hat, schwierig sein, mit einem grösseren Geiste einen grösseren Charakter zu verbinden. Das schöne Lichtbild ohne Flecken, das schöne Wesen ohne Furcht, ohne Hintergedanken, ohne Irrtümer, ohne Schwächen, das wir im Grunde unseres Herzens aus allen unsern reinsten Kräften, all unsrer Weisheit und Liebe bilden, würde sich nicht fern von ihm auf die verlassenen Bänke des Konvents setzen, »auf denen schon der Schatten des Todes zu liegen schien«, um zu denken, zu reden und zu handeln, wie er. Er erkannte das Ewige und Untrügliche, was auf der Kehrseite des tragischen Augenblicks lag; er blieb der Menschlichkeit und Nachsicht auch in jenen Schreckenstagen treu, wo Menschlichkeit und Nachsicht die schlimmsten Feinde eines Ideals der Gerechtigkeit schienen; und »in einem grossen und edlen Zweifel ging er mutig, geraden Weges und unendlich weit über das hinaus, was vernünftig, ausführbar und gerecht erschien«. Der gewaltsame, aber nicht unerwartete Tod kam ihm entgegen, ehe er die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, um uns zu lehren, dass es sich in diesen Kämpfen zwischen Mensch und Schicksal oft genug nicht darum handelt, das Leben unsres Körpers zu retten, sondern das unsrer schönsten Gefühle und besten Gedanken.

Was liegt an meinem besten Gedanken, wenn ich nicht mehr bin? sagen die Einen. Was bleibt von mir, wenn alles, was ich liebe, in meinem Herzen und Geiste untergehen soll, damit mein Leben gerettet wird? antworten ihnen die Anderen. Und läuft nicht fast alle Moral, alle Tugend, alles menschliche Heldentum auf diese Wahl heraus?

Die wildesten Tage der Revolution beginnen mit der Flucht nach Varennes; sie endigen mit dem 18. Brumaire. Am Anfang steht ein Wille, ein Intellekt, ein Charakter, der nachgiebt, am Ende eine ausserordentliche Energie, die sich wieder besinnt und aufrichtet. Dort wird Ludwig XVI. von den ersten Flutwellen eines Stromes, der sich selbst noch nicht kennt, fortgerissen; hier setzt Napoleon dem Laufe eines selbstbewussten Stromes, der Siegeszeichen trägt, ein Ziel. Was man in solchen Zeiten Schicksal nennt, das ist der unklare Wille eines grossen Volkes; was die Mehrzahl dieses Volkes nach wenigen Jahren Schicksal nennen wird, das ist der Wille eines grossen Mannes; und dieser selbst wird das als Glück, Stern, Verhängnis, Los, Schicksal bezeichnen, was sein Verstand, seine Thatkraft, sein Wille, seine Moralität nicht vorauszusehen, zu erfassen und zu beherrschen die Kraft, die Gelegenheit oder den Mut haben. So verändert sich das Wesen und die Erscheinung des Schicksals beständig, je nach dem Stande unserer inneren Kraft. Und es ist ein Kennzeichen der Menschen ersten Ranges, dass sie den Namen Verhängnis von einer immer entfernteren, unwirksameren, unzugänglicheren und harmloseren Macht gebrauchen.

Sehr merkwürdig ist die Haltung des Schicksals bei jenem verwegenen Abenteuer des 18. Brumaire. Das ist kein Schicksal mehr, wie in Varennes, kein Schicksal, das aus Versehen über ein armes, verschlafenes Wesen herfällt, kein unsicheres Schicksal, das bereut, was es gethan hat, das keine Zeit gehabt hat, nachzudenken, das nicht weiss, wohin es sich nach den ersten Schlägen wenden soll, das selbst um Beistand bittet und ganz wie sein Opfer am liebsten nichts thun und um Alles nicht verhängnisvoll sein möchte. Hier haben Thränen, Zaudern, Mitleid und ohnmächtiges Flehen ein Ende. Die grosse Göttin, die uns unerschütterlich, schrankenlos, unbeschreiblich dünkt, nimmt hier wie überall die Gestalt und das Aussehen des Menschen an, dessen Absichten sie kreuzen will. Ist er gross, so wird sie gross erscheinen; ist er energisch, so wird sie energisch sein; ist er edel, treulos oder verwegen, so ist sie flugs auch treulos, edel oder verwegen. Der Mensch wird von der Göttin nur dann überwunden, wenn sein Verhalten dem Vorbild, das er der unbekannten Macht gegeben hat, nicht bis zuletzt entspricht. Denn wiewohl sie alle seine Gebärden getreulich nachahmt, sind ihre Bewegungen doch tiefer, umfassender, langsamer und andauernder, folglich auch mächtiger und wirksamer. In Wahrheit ist das, was wir Verhängnis nennen müssten, wenn wir nur öfter den Mut hätten, auf mystische Bilder und figürliche Einkleidungen zu verzichten, die unserer Eitelkeit und Trägheit freilich allzu willkommen sind, – was wir Verhängnis nennen sollten, ist das fast immer bestehende Missverhältnis zwischen der Kraft der Wünsche und der Kraft der That, zwischen der anfangs entwickelten Kraft und der erforderlichen Gesamt-Energie, zwischen dem Vorbild, das wir dem Schicksal gegeben haben, und unserer Haltung in der Entscheidungsstunde.

An jenem gefährlichen 18. Brumaire galt es, sich einer geschwächten, gelockerten, müden und zersplitterten Gewalt zu bemächtigen; aber es musste in dieser Nacht des Geheimnisses, des Argwohns und des Schreckens zugleich an ein Idol, das Idol der Freiheit, die Hand gelegt werden. Sie schien zu schlummern und von den ungeheuren Opfern, die man ihr gebracht, noch wie berauscht, von den Erinnerungen der Schreckenszeit noch blutüberströmt, und bebte noch von den Ängsten und Gefahren des Thermidor. Bonaparte kam als Sieger aus Ägypten zurück; der Beifallsjubel, der ihn empfing, machte ihn der Regierung um so verdächtiger. Ein falscher Schritt, ein Zaudern, ein kleiner Mangel an Verschwiegenheit konnte alles verderben. Man kann sich einen verwegeneren Handstreich in einem furchtbareren Augenblicke kaum denken. Und eben darum ist es gut, diese Blätter der Geschichte nachzulesen, um daraus zu lernen, wie ein unerschütterlicher Verstand und Wille den schlimmsten Zufällen vorbeugt, die jeden anderen ausser Fassung brächten, wie er sie bis in ihre Schlupfwinkel verfolgt und dort vernichtet. Immer steht Leben und Tod, höchste Gewalt und Schaffot, Begeisterungstaumel und Hass auf dem Spiele. Viermal, fünfmal wird die That wie ein Nachtvogel von plötzlichem Lichtschein aufgeschreckt, weiss nicht, wo sie sich niederlassen soll, und flattert ängstlich zwischen Ruhm und Schmach, Genie und Irrsinn, Triumph und Untergang hin und her. Das Glück hängt an Kleinigkeiten, hätte man gesagt, wenn das Schicksal in Saint-Cloud nicht auf einen Willen gestossen wäre, dem es nicht oft begegnet. Einen Augenblick schien Alles schon verloren, da sich die Vorbereitung der beiden Kammern um ein paar Stunden verzögert hatte. Die Freunde und Mitverschworenen Bonapartes, Siéyès, Ducos und Andere, die ihre Wagen schon am Schlossgitter in Bereitschaft hielten – so unsicher schien ihnen der Ausgang, – sind im Begriff zu fliehen. Die Fünfhundert, von denen alles abhängt, lehnen sich in wütender Entrüstung auf. »Nieder mit den Diktatoren!« schreien sie und schwören, die Verfassung aufrecht erhalten zu wollen. Selbst ihr Präsident, Lucian Bonaparte, Napoleons Bruder, wagt ihnen nicht zu widerstehen. Die Mitglieder des Rates der Alten, die einzigen, die gewonnen sind, werden schwankend und scheinen bereit, nachzugeben. Selbst die Truppen, mit denen Bonaparte Saint-Cloud überschwemmt hat, machen einen so unsicheren Eindruck, dass die Patrioten, d. h. die Vertreter der alten, unerbittlichen Revolution, schon einen günstigen Augenblick erspähen, um sie gegen den drohenden Staatsstreich auszuspielen. Alles steht so verzweifelt, der Misserfolg scheint so sicher, dass Augerau, der eben jetzt dem Anstifter und vielleicht dem Opfer dieses Tumultes begegnet, in die Worte ausbricht: »Nun, da sind Sie ja in einer schönen Lage!« – »Bei Arcole standen die Dinge noch viel schlimmer!« entgegnet ihm Bonaparte und dringt mit seinem Stabe in den Sitzungssaal der Alten ein. Er war an Versammlungen nicht gewöhnt und hatte noch nie auf der Rednerbühne gestanden. Und doch spricht er zu ihnen in abgerissenen Sätzen; er jagt ihnen Schrecken ein, beruhigt sie wieder, ermutigt sie und feuert sie an. »Bedenken Sie,« ruft er zuletzt drohend aus, »bedenken Sie, dass mich das Glück und der Kriegsgott begleiten!« Und der Saal huldigt ihm.

Dann eilt er zu den Fünfhundert. Kaum hat er die Schwelle überschritten, als ihm wütendes Geschrei entgegendonnert. »Nieder mit dem Diktator! Nieder mit dem Tyrannen!« Man umringt ihn, drängt ihn, stösst ihn; ein paar Grenadiere, die er vor der Thür zurückgelassen hatte, kommen ihm zu Hilfe. Er entgeht dem schrecklichen Tumult, in dem Dolche gezückt werden, und steigt zu Pferde. Er reitet wieder zu den Truppen und schildert die Gefahr, der er entronnen ist. Sie jubeln ihm zu.

Im Saal der Fünfhundert tobt man fort. Umsonst versucht Lucian seinen Bruder zu verteidigen. Von allen Seiten gellt der furchtbare Ruf – der Ruf, der schon Robespierre den Tod gebracht hatte –: »Geächtet!« Bonaparte hört draussen, wie der Auftritt immer bedrohlicher wird. Er fürchtet für Lucians Leben und schickt zehn Grenadiere hinein, die ihn aus dem Saale herauszerren. Beide Brüder steigen zu Pferde und reiten die Front ab. Dies ist die schreckliche Minute, wo das Schicksal still zu stehen scheint. Es ist zu spät für ein Zurück, zu früh vielleicht zum Vorgehen. Bonaparte giebt ein Kommando. Murat und Leclerq fuhren ein Grenadier-Bataillon mit gefälltem Bajonett in den Saal. Die Deputierten flüchten in ihrer Bestürzung durch Thüren und Fenster, und im Nu ist der Saal leer. Die Alten sind ausser Fassung, erschrocken, erschüttert; sie wagen nicht, zu widersprechen. Fünfzig Deputierte vom Rat der Fünfhundert, die sich im Garten befinden und Mitwisser des Staatsstreiches sind, unterzeichnen ein Dekret. Es wird von den Alten bestätigt, und gegen Mitternacht ist Bonaparte mit Siéyès und Roger-Ducos zum Konsul ernannt. Von diesem Tage an ist er Herr in Frankreich.

 

. Man müsste die feindliche und dunkle Macht, die wir Schicksal nennen, in einer vollständigeren Schilderung dieses Tages und anderer Tage dieser Art verfolgen, um ihre plötzliche Hartnäckigkeit und dramatische Wucht, ihre menschliche Voraussicht und Tiefe, ihre unerwartete Wirklichkeit im Grössten wie im Kleinsten, überall wo Napoleon eine entscheidende Bewegung macht, zu beobachten. Napoleon ist zu dieser Stunde der Geschichte der vollkommene Mensch. Alles, was er thut, ist unglaublich wirklich, notwendig, vernünftig, wenn nicht in den Zielen, so doch in den Mitteln. Alles, was er unternimmt, stützt sich auf die geringfügigsten, selbstverständlichsten Wahrheiten des täglichen Lebens, und nur mit Hilfe einer Unzahl dieser kleinen Wahrheiten, die er mit einem Blicke übersieht und beherrscht, wird er gross. Und darum muss auch das Schicksal fast alle seine gewöhnlichen Waffen augenblicks vor ihm strecken und namentlich jene grossen, mystischen Schatten entlassen, mit denen es so viele Helden schon gewarnt und betrogen, verwirrt, belehrt oder geschreckt hat; denn oft schlummert in der Seele der Helden ein Träumer oder ein empfänglicher und inbrünstiger Dichter, der an Schatten glaubt. Hier ist nichts von Alledem. Hier ist ein Mensch ohne Gleichen, der sein Vertrauen nur in die objektive Realität setzt, der nur mit physischen und geistigen Kräften rechnet, die man ohne Rechenfehler überschlagen und abwägen kann. Und doch verwirklicht er mit Hilfe dieser Elemente, die dem Träumer ganz fremd sind, den grössten Traum, der je geträumt wurde. Er hat ausser sich kein selbstloses Ideal, auf das sich sein selbstsüchtiger und maassloser Ehrgeiz stützen könnte. Keinen Augenblick glaubt er sich im Dienste eines Gottes, einer Wahrheit, einer höheren Gerechtigkeit, einer Sehnsucht nach Liebe und Glück. Er will nur Eines, nämlich, dass Frankreich so gross und mächtig wie möglich sei, damit er und die Seinen so gross und mächtig werden können, wie er es träumt. In seiner Phantasie leben nur materielle Utopieen, aber keine moralische Utopie. Und dennoch handelt er, als ob er von einer jener imaginären, hochherzigen Mächte getragen würde, die allein den Menschen so blenden und verblenden können, dass er sich im Augenblicke der Entscheidung seiner Schwäche nicht bewusst wird. Ein genialer Mathematiker und grosser Dichter in einer Person ist er von einem seiner Historiker genannt worden. Und doch nahm er jedenfalls die Mathematik ernster als das Heldengedicht. Im Grunde nahm er keine jener mächtigen Abstraktionen ernst, die als Gerechtigkeit, Freiheit, Brüderlichkeit, Glück, Güte, Liebe, Fortschritt, Zukunft, den grossen Männern der That und des Gedankens immer mächtigere Leitsterne gewesen sind, als der Masse. Er nahm nicht einmal sein eigenes Gewissen ernst. Er machte sich nichts aus Lügen, Grausamkeiten, Ungerechtigkeiten und Verrätereien, ohne die ihm kein Tag verging, und er scheint sich darum nicht weniger geachtet zu haben. Aber nicht aus Unwissenheit, aus Schwäche oder Urteilslosigkeit thut er dies. Seinem Universal-Geiste stehen alle Elemente der höchsten Moral, der gewissesten Weisheit, der vollkommensten Tugend so sicher zu Gebote, dass er sich für berechtigt hält, Weisheit, Moral und Tugend ohne Bedenken hintenan zu setzen, sobald sie seinen Plänen nicht förderlich sind. Von keinem Ideal erfüllt, findet er in sich die namenlose Kraft, die Anderen nur in solchen Augenblicken verliehen wird, wo sie sich ihrem erhabensten Ideal hingeben. Wenn man näher zusieht, findet man bei ihm keines jener edlen phantastischen Ziele, die eine von Grund aus hochherzige und vornehme Seele verraten, und doch scheint er mit der ganzen Gefühls- und Verstandesweite begabt, die notwendig ist, um solche Gedanken zu hegen und solche Ziele aus sich zu gebären. Wenn er nicht etwas von dem Gefühl des Träumers für Tugend, Gerechtigkeit, Schönheit und Ewigkeit gehabt hätte, jenem Gefühle, das die Grösse in ihrem Handeln zu lähmen pflegt, sobald sie sich als unnütz und verderblich zu fühlen beginnt, so wäre er nicht der Held, der ausserordentliche Mensch gewesen, der er war. Denn ein Held, ein ausserordentlicher Mensch besteht nicht nur aus praktischen und materiellen Anlagen. Und andererseits hätte er diese Art von Grösse, die wir trotz allem an ihm bewundern, nicht verwirklichen können, wenn er jenem Gefühl, das ihn erfüllte und das sich namentlich in seinem Missgeschick und gegen Ende seiner Laufbahn einstellte, zuweilen Gehör gegeben hätte. Es ist dies ein befremdlicher, aber sehr menschlicher Widerspruch, vor dem die Geschichte noch ratlos steht.

 

. Wie dem aber auch sei, man überschreitet jene grossen geheimnisvollen Schatten, von denen wir soeben sprachen, nicht ungestraft. Wenige Sterbliche hatten einen unerschütterlicheren und durchdringenderen Verstand, als Napoleon; wenige konnten sich also von der Gerechtigkeit eine höhere und deutlichere Vorstellung machen; aber sicher haben auch wenige in gewissen ausserordentlichen Stunden ihres Lebens mehr zu kämpfen gehabt, um sich den Vorstellungen, die sie sich davon machten, zu beugen. Sich der Gerechtigkeit nicht in dem Maasse beugen, als man sie kennt, heisst aber, den feindlichen Mächten, die aus unseren geringsten Handlungen entstehen, den Abgrund zeigen, der sich zwischen dem auf gethan hat, was unser Verstand zu begreifen und zu wünschen imstande ist, und dem, was unser Charakter vermag. Denn kaum hellt ein blitzhafter Lichtschein diesen Abgrund einen Augenblick auf, so stürzen sie sich schon allesamt hinein, und das ist der Anfang unseres Verderbens.

Und darum soll man zwar nicht auf die Gerechtigkeit des Schicksals rechnen, wohl aber ist es gut, sich der den Menschen und Dingen innewohnenden Gerechtigkeit bewusst zu werden und sich zu vergewissern, wie unerbittlich die meisten Kräfte, die uns umgeben, unsere grossen Übertretungen rächen, – was übrigens gar nicht erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass der unbestrittenste Teil unserer Moral im Grunde nichts anderes ist, als die Übertragung gewisser Naturgesetze auf die menschlichen Verhältnisse. Unter diesem Gesichtspunkte giebt es, glaube ich, kein Leben, in dem jede Ungerechtigkeit sich vollständiger und offenkundiger gerächt hätte, als im Leben Napoleons. Ich glaube, dass es kein Dasein giebt, in welchem sich die Folgen der Ungerechtigkeit, Lüge und Treulosigkeit schneller, unerbittlicher und unabänderlicher geltend gemacht haben. Man kann bei aller Scheu vor gefährlichen Trugschlüssen wohl mit Recht behaupten, dass, wenn man über die moralische Bedeutung dieser oder jener Handlung seines Lebens, wie über die Ermordung des Herzogs von Enghien, in Zweifel wäre, das Problem sich lediglich dadurch lösen liesse, dass man die mehr oder minder grosse Einbusse in Betracht zieht, welche die fragliche Handlung seinem Glücke gebracht hat. Wenn der Herzog von Enghien sich wirklich gegen ihn verschworen hatte, wenn er wirklich schuldig war und rechtmässig auf französischem Boden, nicht aber durch einen hinterlistigen Rechtsbruch in einem befreundeten Staate, gefangen genommen wurde, wenn der Prozess, das Urteil und seine Vollstreckung den Landesgesetzen entsprochen hätte, so hätte sein Tod höchst wahrscheinlich keine solche Empörung und Entrüstung in ganz Europa wachgerufen, wie es der Fall war. Damals richtete sich zwischen Napoleons Vergangenheit und Zukunft jene verhängnisvolle Scheidewand auf, die von nun ab nur noch die Unglücksfälle überschreiten sollten. Nie wäre der Hass so unauslöschlich, der Widerstand so furchtbar, so unvermeidlich und unversöhnlich geworden; denn von der rechten Höhe aus gesehen, ist es doch immer nur die Gerechtigkeit, die alle Thaten, alle Triebe der Menschen leitet, ob auch jeder von ihnen nur der vergänglichen Befriedigung seines Ruhmes, seines Hasses und seiner Liebe nachzujagen scheint.

Wir haben die Geschichte Napoleons hier nicht noch einmal zu schreiben. Es mag hinreichen, nach der Tragödie von Vincennes, jenem ersten Einbruch in die Gerechtigkeit, jenem ersten Stillstand eines Glückes ohne Gleichen, noch an die unglaubliche Falle von Bayonne zu erinnern, jene niedrige und geduldig lauernde Verräterei, welche die unglücklichen, wehrlosen und allzu vertrauensseligen spanischen Bourbons in seine Hand lieferte, und die einen schrecklichen Krieg zur Folge hatte, der dreimalhunderttausend Krieger, die ganze Energie und sittliche Kraft Frankreichs, das Ansehen, fast alle Gewähr, alle glücklichen Aussichten des Kaiserreiches und alle Hingebung dafür verschlang. Endlich denke man an sein unredliches, unmenschlich stolzes und ungerechtes Gebahren gegen den verständigen und ritterlichen Alexander, das mit dem furchtbaren russischen Feldzuge und dem endgiltigen Untergange seines Sterns in den eisigen Fluten der Beresina und auf den Schneefeldern Polens endigte.

Ich weiss wohl, dass diese ungeheuren Katastrophen auf die verschiedenartigsten Ursachen zurückzuführen sind; wenn man aber von allen äusseren Umständen, allen mehr oder minder unvorhergesehenen Zwischenfällen bis zur Veränderung eines Charakters, bis zu Thorheiten und Gewaltthaten, bis zu Grössenwahn und Geistes-Umnachtung Schritt für Schritt zurückgeht: dünkt es uns da nicht, als stünde der schweigende Schatten der verkannten menschlichen Gerechtigkeit an der Quelle des Unglücks? – Jener Gerechtigkeit, die Alles in Allem nichts sehr Übernatürliches und Geheimnisvolles hat, die aus sehr erklärlichen Ansprüchen, aus tausend kleinen sehr realen Thatsachen, unzähligen Irrtümern und Unwahrheiten besteht und keineswegs in einem tragischen Augenblicke plötzlich und waffenstarrend, wie die antike Göttin, aus der entscheidungsschwangeren Stirn des Schicksals hervorspringt. Nur etwas ist bei alledem geheimnisvoll, das ist die ewige Gegenwart der menschlichen Gerechtigkeit; – aber wir wissen ja, dass die menschliche Natur sehr geheimnisvoll ist. – Verharren wir einen Augenblick bei diesem Mysterium. Es ist das gewisseste, das tiefste, das heilsamste. Es ist das einzige, das die menschliche Güte nie lähmen wird. Und wenn wir jenen geduldigen und wachsamen Schatten nicht in jedem Leben so wiederfinden, wie im Leben Napoleons, wenn die Gerechtigkeit nicht immer so wirksam, so unerbittlich erscheint wie dort, so verlohnt es sich doch, sie überall aufzudecken, wo sie hervortritt. Und wenn dies zu Zweifel und Unsicherheit führt, so sind sie bessere Ratgeber, als das leichtfertige, faule und blinde Leugnen oder Behaupten, wie wir es uns so häufig erlauben; denn es handelt sich in Fragen dieser Art nicht sowohl darum, etwas zu beweisen, als darauf aufmerksam zu machen und eine gewisse mutige und ernsthafte Ehrfurcht gegen Alles einzuflössen, was in den Thaten der Menschen, in ihrer Gebundenheit an Gesetze, die allgemein zu sein scheinen, und in den Folgen dieser Gesetze noch unaufgeklärt bleibt.

 

. Bemühen wir uns, die wahrhaft verhängnisvolle Wirkung des grossen Mysteriums der Gerechtigkeit im Charakter eines Menschen aufzudecken. Denn hier, so darf man kühnlich behaupten, liegt der bedeutendste, der wirklichste Teil des Mysteriums. Im Gemüte des Menschen, der ein Unrecht thut, spielt sich ein unvergessliches Drama ab, – das Drama aller Dramen –, und dieses Drama ist um so gefährlicher, um so verhängnisvoller, je grösser der Mensch ist, und je mehr sein Geist umfasst. Man kann sich leicht vorstellen, was bei der Verräterei von Bayonne in Napoleons Seele vor sich gehen musste, als er den unglücklichen und sanftmütigen Karl IV. mit seinem Sohne Ferdinand unter ebenso feierlichen wie arglistigen Versprechungen nach einer Reihe von niedrigen und empörenden Machenschaften aus seinem Reiche lockte, um sie einzukerkern und ihrer angestammten Krone zu berauben.

Man sage nicht, dass in solchen stürmischen Augenblicken die Moral eines grossen Daseins nicht so einfach sein kann, wie die des Alltagslebens, dass ein thätiger und starker Wille Rechte hat, die ein stockender und schwacher Wille nicht hat, dass man Bedenken niederschlagen kann, sofern dies weder aus Unwissenheit, noch aus Schwäche geschieht, da ihre geflissentliche Unterdrückung, wenn man aus grösserer Höhe auf sie herabsieht, als der Durchschnitt, ja ein Sieg des Verstandes und der Kraft ist, und dass es ungefährlich ist, Böses zu thun, wenn man nur weiss, dass und warum man es thut. Dies Alles kann die Grundlagen unserer Natur nicht betrügen. Jede Ungerechtigkeit erschüttert das Vertrauen, das ein Wesen in sich und sein Schicksal setzt. Es hat zu einer gegebenen Zeit, gewöhnlich in seiner ernstesten Stunde, darauf verzichtet, nur auf sich selbst zu bauen. Das vergisst sein Gedächtnis nicht, und von nun an wird sich dieser Mensch nie mehr ganz wiederfinden. Er hat sein Glück in Verwirrung gebracht und wahrscheinlich für immer verdorben, als er fremden Mächten Einlass gewährte. Er hat das deutliche Gefühl seiner Persönlichkeit und seiner Kraft verloren. Er unterscheidet nicht mehr ganz klar, was er sich selbst verdankt, und was er immerfort den verderblichen Mitarbeitern entlehnt, die seine Ohnmacht herbeigerufen hat. Er ist nicht mehr der Feldherr, der seinem Soldatenheer gebietet; er ist der Bandenführer, der nur Helfershelfer hat. Er hat seine Menschenwürde aufgegeben, die nichts von einem Ruhme wissen will, zu dem man in seinem Herzen traurig lächelt, wie man einem ungetreuen Weibe lächelt, das man heiss, aber unglücklich liebt.

Der wirklich starke Mensch prüft sorgfältig die Anerkennung und die Vorteile, die ihm aus seinen Thaten erwachsen sind, und verwirft stillschweigend Alles, was die Grenzlinie, die sein Gewissen ihm gezogen hat, überschreitet. Er wird um so stärker sein, je enger diese Linie sich an die anschliesst, welche die geheime Wahrheit, die allen Dingen zu Grunde liegt, ebendort gezogen hat. Ein Akt der Ungerechtigkeit ist fast immer ein Eingeständnis unserer Ohnmacht gegenüber dem Schicksal, und es bedarf nicht vieler Geständnisse dieser Art, um dem Feinde den verwundbarsten Fleck unserer Seele zu offenbaren. Eine Ungerechtigkeit begehen, um einen kleinen Ruhm zu ernten, oder sich den Ruhm zu sichern, den man schon besitzt, heisst sich die Unfähigkeit eingestehen, das zu erreichen oder festzuhalten, was man sich wünscht, heisst bekennen, dass man die Rolle, die man sich erwählt hat, nicht ehrlich ausfüllen kann. Aber trotzdem will man sich oben halten, und damit nehmen die Verrechnungen, Täuschungen und Lügen ihren Anfang im Leben.

Endlich, nach zwei oder drei Falschheiten, zwei- oder dreimaligem Verrat, einigen Treulosigkeiten, einer gewissen Zahl von Lügen, schuldigen Unterlassungen und Schwächen, bietet uns unsere Vergangenheit nur noch ein entmutigendes Bild; und wir haben es doch so nötig, dass unsere Vergangenheit uns unterstützt! In ihr allein kennen wir uns wirklich; sie spricht zu uns in unseren Zweifeln: »Da du Jenes thatest, kannst du auch dieses thun. In jener Gefahr, in jenem bangen Augenblicke hast du nicht gezagt. Du hast Vertrauen in dich gesetzt und hast gesiegt. Die Umstände sind die gleichen; bewahre deinen Glauben unerschüttert; dein Stern wird treu sein.« Was aber sollen wir antworten, wenn unsere Vergangenheit uns zuraunt: »Es ist dir bisher nur mit Hilfe von Ungerechtigkeit und Lüge gelungen, folglich musst du noch einmal lügen und betrügen.« Niemand lässt seine ermüdeten Augen gern wieder zu einer Lüge, einer Niedrigkeit, einer Treulosigkeit zurückschweifen; und alles Gewesene, das wir nicht fest, klar, getrost und befriedigt ins Auge fassen können, stört und beengt den Horizont unserer Zukunft. Nur wenn wir die Vergangenheit weithin zurück verfolgen können, erlangt unser Auge die Kraft, in die Zukunft zu dringen.

 

. Aber kehren wir zu der Weisheit zurück, von der wir vor Betrachtung dieser beiden geschichtlichen Charaktere sprachen. Was sollen wir uns unter dieser Weisheit vorstellen? Hüten wir uns, sie zu streng zu fassen, denn das hiesse, sie einkerkern. Alle, die dies versucht haben, gleichen einem Menschen, der, um die Natur des Lichtes zu ergründen, das Licht zunächst ausbläst: er wird immer nur einen geschwärzten Docht und Asche finden. »Das Wort weise, zu einem Kinde gesagt,« bemerkt Joubert, »ist ein Wort, das es jederzeit versteht und das man ihm niemals erklärt.« Nehmen wir es auf, wie das Kind es aufnimmt, damit es mit uns wachse. Sagen wir von der Weisheit, was Schwester Hadewijck, die geheimnisvolle Feindin Ruysbroeck's des Grossen, von der Liebe sagt: »Ihr tiefster Abgrund ist ihre schönste Gestalt.« Die Weisheit bedarf keiner Form; ihre Schönheit soll so veränderlich sein, wie die Schönheit der Flammen. Sie ist keine unbewegliche Göttin, die ewig auf ihrem Throne sitzt; sie ist Minerva, die uns begleitet, mit uns bergauf und bergab steigt, mit uns weint und lacht. Wir sind nur dann wahrhaft weise, wenn unsere Weisheit sich von unserer Kindheit bis zum Tode unablässig verwandelt. Je tiefer und schöner der Sinn wird, den wir dem Wort weise beilegen, desto weiser werden wir; und jede Stufe der Weisheit, die wir erklimmen, erweitert in den Augen der Seele den Raum, den die Weisheit einst wird durchmessen können.

 

. Weise sein, das ist, Selbstbewusstsein haben; wenn man aber ein Bewusstsein seines Wesens hat, das umfassend genug ist, wird man inne, dass die wahre Weisheit noch etwas viel tieferes ist, als Bewusstsein. Die Mehrung des Bewusstseins ist nur wegen der immer höheren Unbewusstheit zu wünschen, die sie enthüllt; und auf den Höhen dieser neuen Unbewusstheit befinden sich die Quellen der lautersten Weisheit. Alle Menschen machen dieselbe Erbschaft an Unbewusstheit; aber ein Teil ihres Bereiches liegt diesseits, ein anderer jenseits des normalen Bewusstseins. Die meisten kommen aus dem ersten Gürtel nie heraus; wer aber die Weisheit liebt, dem lässt es keine Ruhe, bis er sich neue Pfade zum zweiten erschlossen hat. Wenn ich liebe und aus meiner Liebe das vollkommenste Bewusstsein gewonnen habe, das ein Mensch gewinnen kann, so wird diese Liebe von einer Unbewusstheit verklärt, die von ganz anderer Art ist, als die Unbewusstheit, welche die gewöhnlichen Liebschaften verdunkelt. Die letztere umgiebt nur das Tier, die erstere den Gott. Aber sie umgiebt ihn nur dann wirklich, wenn er das Gefühl für die erste verloren hat. Wir kommen nie aus dem Unbewussten heraus, aber wir können den Wert des Unbewussten, das uns umgiebt, beständig heben.

 

. Weise sein, das heisst nicht, seine Vernunft allein anbeten und diese Vernunft daran gewöhnt haben, mühelos über den niederen Instinkt zu triumphieren. Das wären mir nur sehr unfruchtbare Siege, wenn sie der Vernunft keine grössere Unterordnung unter jenen anderen Instinkt beibrächten, welcher der Instinkt der Seele ist. Diese täglichen Siege sollten nur angestrebt werden, weil sie einem immer göttlicheren Instinkte erlauben, sich immer freier zu bethätigen. Ihr Zweck liegt nicht in ihnen selbst. Sie dienen nur dazu, den Weg unseres Seelenschicksals freizulegen, welches immer ein Schicksal der Läuterung und des Lichtes ist.

 

. Die Vernunft öffnet der Weisheit die Pforte, aber die lebendigste Weisheit liegt nicht in der Vernunft. Die Vernunft schliesst den schlimmen Schicksalen das Thor, aber unsere Weisheit öffnet den günstigen Schicksalen am Horizonte ein anderes Thor. Die Vernunft verteidigt, verwehrt, zieht zurück, scheidet aus, zerstört; die Weisheit greift an, befiehlt, rückt vor, fügt zu, vermehrt und schafft. Die Weisheit ist viel eher ein gewisser Hunger unserer Seele, als ein Erzeugnis unseres Verstandes. Sie lebt über dem Verstande; auch ist es der wahren Weisheit eigen, tausend Dinge zu thun, welche die Vernunft nicht billigt, oder nur mit der Zeit billigen lernt. So hat eines Tages die Weisheit zur Vernunft gesagt, man müsse Böses mit Gutem vergelten und seine Feinde lieben. Die Vernunft erhob sich an jenem Tage über die höchste Höhe ihres Bereiches und gab der Weisheit recht. Aber die Weisheit ist noch nicht befriedigt; ganz allein sucht sie noch viel weiter vorzudringen.

 

. Wenn die Weisheit nur der Vernunft gehorchte, und es genügte, dass sie gerade nur über die Ratschläge der Instinkte triumphierte, so würde sie sich immer selbst gleich bleiben. Es gäbe dann nur eine einzige Weisheit, und der Mensch hätte sie durchmessen, weil die Vernunft schon mehr als einmal ihren Umkreis durchmessen hat.

Wenn es nun aber in der Weisheit auch verschiedene feste Punkte giebt, so ist doch nichts verschiedener, als der Dunstkreis, mit dem sie Sokrates und Christus, Aristides und Marc Aurel, Fénélon und Jean Paul umgiebt. Nichts würde sich vollständiger ändern, als ein gleiches Ereignis, das am gleichen Tage, statt in das fliessende Wasser der Weisheit dieser Menschen, in den stehenden Teich ihres Verstandes fiele, wo es genau dem gleich bleiben würde, was es an sich ist. Man stelle sich vor, dass Christus und Sokrates die Ehebrecherin träfen; ihre Vernunft wird etwa dasselbe sagen, aber ihre Weisheit wird jenseits ihrer Worte und Gedanken Bewegungen machen, die nicht den gleichen Welten angehören. Das Leben der Weisheit selbst will diese Unterschiede. Die Weisen gehen alle von demselben Punkte aus, welcher die Schwelle der Vernunft ist. Aber sie beginnen sich von dem Augenblick an von einander zu entfernen, wo die Siege der Vernunft sie nicht mehr behindern, das heisst von dem Augenblick an, wo sie in das Gebiet des höheren Unbewussten frei eindringen.

 

. Es liegt ein grosser Unterschied in den Worten: »Dies ist vernünftig« und »Dies ist weise«. Was vernünftig ist, das ist nicht notwendig weise, und was höchst weise ist, das ist in den Augen einer zu kalten Vernunft fast nie vernünftig. Die Vernunft gebiert zum Beispiel die Gerechtigkeit, und die Weisheit gebiert die Güte, die, wie der alte Plutarch bemerkt, »sich weit über die Gerechtigkeit hinaus erstreckt«. Hängt Heldentum wohl von der Vernunft oder von der Weisheit ab? Man könnte sagen, die Weisheit sei das Gefühl des Unendlichen, auf unser moralisches Leben angewandt. Zwar hat die Vernunft auch das Gefühl des Unendlichen, aber bei ihr ist dies Gefühl nur eine leblose Feststellung. Sie ist es sich fast selbst schuldig, ihm im Leben nie Rechnung zu tragen. Wohingegen die Weisheit nur insofern weise ist, als das Unendliche in Allem, was sie uns thun lässt, vorwiegt.

In der Vernunft giebt es keine Liebe; es giebt deren viel in der Weisheit, und die höchste Weisheit unterscheidet sich nicht vom reinsten Wesen der Liebe. Nun aber ist die Liebe die göttlichste Form des Unendlichen, und weil sie die göttlichste ist, auch zweifellos die am tiefsten menschliche. Könnte man also nicht sagen, dass die Weisheit der Sieg der göttlichen Vernunft über die menschliche ist?

 

. Man kann nie vernünftig genug sein; aber die Weisheit allein hat das Recht, Anforderungen an die Vernunft zu stellen. Der ist nicht weise, dessen Vernunft nicht gelernt hat, dem ersten Wink der Liebe zu gehorchen. Was hätte Jesus Christus, was hätten die Helden gethan, wenn ihre Vernunft sich nicht unterworfen hätte? Geht eine Heldenthat nicht allemal über die Grenzen der Vernunft hinaus? Aber wer wagte darum zu sagen, dass der Held nicht weiser ist, als die, welche thatlos blieben, weil sie ihrer Vernunft Gehör gaben? Um es nochmals zu wiederholen: nicht die Vernunft, sondern die Liebe muss das Gefäss sein, in dem man die wahre Weisheit bewahrt. Zwar sitzt die Vernunft an der Wurzel der Weisheit, aber die Weisheit ist nicht die Blüte der Vernunft. Denn es handelt sich hier nicht um die logische Weisheit, welche die Tochter, sondern um die Weisheit, welche die Lieblingsschwester der Liebe ist.

Vernunft und Liebe kämpfen in einem hochstrebenden Wesen zunächst gewaltig, aber die Weisheit entsteht aus dem Frieden, den Liebe und Vernunft am Ende schliessen. Und dieser Friede ist um so tiefer, je mehr Rechte die Vernunft der Liebe eingeräumt hat.

 

. Die Weisheit ist das Licht der Liebe, und die Liebe ist die Nahrung des Lichtes. Je tiefer die Liebe ist, desto weiser wird sie; und je höher die Weisheit sich erhebt, desto näher kommt sie der Liebe. Liebe, und du wirst weise werden; werde weise, und du musst lieben. Man liebt nur dann wahrhaft, wenn man besser wird, und besser werden, heisst weiser werden. Es giebt kein Wesen auf Erden, das in seiner Seele nicht etwas besserte, wenn es ein anderes Wesen liebt, selbst wenn es sich um eine gemeine Liebe handelt; und wer unablässig liebt, hört nur darum nicht auf zu lieben, weil er nicht aufhört, besser zu werden. Die Liebe nährt die Weisheit und die Weisheit die Liebe; es ist ein Lichtkreis, in dessen Mittelpunkt die Liebenden und Weisen sich umarmen. Weisheit und Liebe lassen sich nicht von einander trennen; und im Paradiese Swedenborgs ist die Gattin nur »die Liebe der Weisheit des Weisen.«

 

. Unsere Vernunft, sagt Fénélon, besteht nur aus unseren klaren Vorstellungen. Aber unsere Weisheit, könnten wir hinzufügen, das ist das Beste in unserer Seele und unserem Charakter, liegt vor Allem in unseren Vorstellungen, die noch nicht ganz klar sind. Wenn man sich im Leben nur durch seine klaren Vorstellungen leiten liesse, so würde man nicht lange brauchen, um ein Mensch zu werden, der wenig Liebe, wenig Achtung verdient. Im Grunde ist nichts weniger klar, als die Gründe, mit denen wir uns überreden, dass es sich gebühre, gut, gerecht, grossmütig zu sein und in allem und jedem die edelsten Gedanken und Gefühle zu hegen, deren wir habhaft werden können. Glücklicherweise lernt man, je mehr klare Vorstellung man hat, desto mehr die schätzen, welche noch nicht klar sind. Man muss nach einer möglichst grossen Zahl möglichst klarer Vorstellungen trachten, um eine möglichst grosse Zahl noch dunkeler Vorstellungen in seiner Seele zu erwecken. Die klaren Vorstellungen scheinen bisweilen unser äusseres Leben zu lenken, aber es ist nicht zu bestreiten, dass die anderen an der Spitze unseres inneren Lebens stehen; und das sichtbare Leben gehorcht zuletzt immer dem unsichtbaren. Nun aber hängt von der Zahl, Güte und Macht unserer klaren Vorstellungen die der dunklen ab, und es ist äusserst wahrscheinlich, dass die meisten endgiltigen Wahrheiten, die wir mit so viel Leidenschaft suchen, mitten in der Fülle unserer dunklen Vorstellungen geduldig ihrer Stunde harren. Es ist wichtig, ihre Wartezeit abzukürzen; eine schöne klare Vorstellung, die wir in uns erwecken, wird ihrerseits nie ermangeln, sofort eine dunkle Vorstellung zu erwecken; und wenn die dunkle Vorstellung alt und klar wird – denn die vollkommene Klarheit ist zumeist nur das Zeichen des Alters von Vorstellungen – so wird sie gleichfalls eine andere, dunkle Vorstellung aus ihrem Schlafe erwecken, die schöner und höher ist, als sie selbst in ihrem Schatten war; und vielleicht wird eine von ihnen, die so Schritt für Schritt die Reihen der Schlummernden unentmutigt entlang tastet, ihre kleine, fast unsichtbare Hand noch einst von ungefähr einer grossen Wahrheit auf die Schulter legen.

 

. Klare Vorstellungen, dunkle Vorstellungen, Herz, Verstand, Wille, Vernunft, Seele – dies alles sind im Grunde Worte, die ungefähr dasselbe besagen, um den geistigen Reichtum eines Wesens zu fassen. Die Seele ist ohne Zweifel nur der schönste Wunsch unseres Verstandes, und Gott ist wiederum vielleicht nichts, als der schönste Wunsch unserer Seele. Es herrscht in alledem so viel Dunkelheit, dass man höchstens versuchen kann, die Dunkelheit mit Hilfe grober Linien zu teilen, die noch schwärzer sind, als die Flächen, die sie schneiden. »Sich selbst erkennen« ist vielleicht das einzige annehmbare Ideal, das uns bleibt; aber wie weit hängt wohl dieses Erkennen, das beim ersten Blicke von unserer Vernunft allein abzuhängen scheint, wirklich von ihr ab? Müsste der beste, gerechteste, wahrste, mit einem Worte der sittlichste Mensch nicht der sein, welcher sich seiner Stellung im Weltall am deutlichsten bewusst geworden wäre? Aber wer kann mit gutem Gewissen glauben, dass er sich ihrer bewusst geworden ist, und reichen die Wurzeln der positivsten Religionen nicht alle in eine sozusagen mystische Unbewusstheit hinab? Der schönste Wunsch unseres Verstandes geht durch unsere Vernunft nur hindurch, und wir glauben zu Unrecht, dass die Ernte, weil sie über die Strasse gebracht wird, auch auf der Strasse geerntet sei. Die reinste Vernunft geht, selbst wenn sie ihr Gebiet erforscht, mit jedem Schritte über dieses Gebiet hinaus.

Trotzdem ist es der Verstand, mit dem wir dieses Verlangen zu verschönern beginnen; der Rest hängt nicht ganz von uns ab, aber auch dieser Rest gerät nur in Bewegung, wenn der Verstand ihm den Anstoss giebt. Die Vernunft, welche die älteste Tochter des Verstandes ist, muss sich auf die Schwelle unseres sittlichen Lebens setzen, nachdem sie die unterirdischen Thore geöffnet hat, hinter denen die lebendigen und instinktiven Kräfte unseres Wesens als Gefangene schlummern. Sie wacht dort, ihre Lampe in der Hand, und ihre blosse Gegenwart verwehrt diese Schwelle Allem, was der Natur des Lichtes noch nicht entspricht. Weiter davor, in der Gegend, wohin ihre Strahlen nicht dringen, dauert das dunkle Leben fort; sie beunruhigt sich darüber nicht, im Gegenteil, sie freut sich darüber. Weiss sie doch, dass in den Augen des Gottes, nach dem sie verlangt, Alles, was die erleuchtete Halle nicht durchschritten hat, sei es Traum, Gedanke oder That, dem Idealwesen, das sie formt, nichts hinzufügen, nichts nehmen kann. Die Pflicht ihrer Flamme ist, so klar und weit zu strahlen, wie sie vermag, und ihren Posten nicht zu verlassen. Sie zaudert nicht, so lange es sich nur um eine Bewegung der niederen Instinkte und der Finsternisse handelt. Aber es kommt vor, dass unter den Gefangenen leuchtendere Kräfte als sie selbst erwachen und dem Ausgang nahen. Sie verbreiten ein Licht, das unstofflicher, strahlender und unbegreiflicher ist, als die reine und beständige Flamme, die ihre Hand hütet. Es sind die unerklärlichen Mächte der Liebe, des Guten, und andere, noch geheimnisvollere, unendlichere, die den Durchgang fordern. Was thun? Wenn sie auf der Schwelle sitzt und das Recht, dort zu sitzen, nicht erworben hat, weil sie noch nicht den Mut hatte, zu lernen, dass sie auf der Welt nicht allein ist, wird sie unruhig, furchtsam und schliesst das Thor. Und wenn sie es je über sich gewinnt, es wieder zu öffnen, so wird sie nur eine Hand voll leichter Asche vor den dunklen Stufen finden. Wenn sie aber im Gefühl ihrer Kraft nicht zittert, weil Alles, was sie nicht hat lernen können, sie zum mindesten gelehrt hat, dass kein Licht gefährlich ist, dass man im Leben der Vernunft die Vernunft selbst für eine grössere Klarheit daransetzen kann, dann wird auf der Schwelle ein unaussprechlicher Austausch von Lampe zu Lampe stattfinden. Tropfen eines unbekannten Öles werden sich dem Öle der menschlichen Weisheit beimischen; und wenn die lichten Fremdlinge vorüber sind, so wird die Flamme ihrer Lampe, auf ewig verwandelt, höher, mächtiger und reiner emporlodern zwischen den Pfeilern der grösser gewordenen Halle.

 

. Verlassen wir hier die alleinstehende Weisheit, um zu der zurückzukehren, die in der grossen Schaar der menschlichen Schicksale dem Grabe zuschreitet. Ist es erlaubt, zu sagen, das Schicksal des Weisen vermischte sich nie mit dem des Bösen und seelisch Umnachteten? Im Gegenteil, alle Lebensschicksale kreuzen sich ohne Unterlass, und in dem Gewebe der meisten Ereignisse laufen Goldfäden den hanfenen unter. Es giebt langsameres Ungemach von minder erschrecklichem Aussehen, als das des Ödipus oder Hamlet, solches, das vor den Blicken der Gerechtigkeit, Liebe oder Wahrheit nicht die Augen senkt. Wer von den Vorteilen der Weisheit spricht, ist nie weiser, als wenn er ehrlich, ohne Bitterkeit und ohne Hochmut einsieht, dass die Weisheit ihren Getreuen fast nichts zugesteht, was die Unwissenden oder Bösen geringschätzen können. Oft geschieht es, dass sich durch das Nahen des Weisen nicht eben viel in dem ändert, was die Menschen wahrnehmen, sei es, dass er zu spät kommt oder zu schnell vorübergeht und keine wirkliche Berührung stattgehabt hat, sei es, dass er gegen Kräfte anzuringen hatte, die durch eine zu grosse Anzahl von Wesen und seit einer zu langen Reihe von Tagen angehäuft waren. Er thut keine äusseren Wunder; er rettet immer nur die, welchen nach den gewöhnlichen Gesetzen des Lebens zu helfen ist, und er selbst kann von einem grossen Wirbelsturme ohne Erbarmen fortgerissen werden. Aber selbst wenn er untergeht, kann er sich sagen, dass er untergeht, ohne dass er – wie es fast täglich vorkommt – viele Wochen, vielleicht viele Jahre vor der Katastrophe der ohnmächtige und hoffnungslose Zeuge des Unterganges seiner Seele war. Und dann wollen wir uns darüber verständigen: jemandem das Leben retten, das dieses und jenes Leben enthält, heisst nicht notwendig, ihn dem Tode oder dem äusseren Missgeschick entreissen; sondern dies heisst ganz gewiss, ihn glücklicher machen, indem man ihn ein wenig besser macht. Moralisch retten, das ist Alles; und dies scheint im Ganzen genommen, wie alles, was auf dem Gipfel unseres Wesens stattfindet, eine Kleinigkeit. Ist nicht der gute Schächer nicht allein im christlichen, sondern auch im höheren Sinne des Wortes, gerettet worden? Und doch musste er zur nämlichen Stunde sterben. Aber er starb ewig glücklich, denn er war im allerletzten Augenblick geliebt worden, und ein unendlich weises Wesen hatte ihm zu zeigen verstanden, dass seine Seele nicht unnütz, dass auch sie gut gewesen und nicht unbemerkt auf dieser Erde dahingegangen war ...

 

. In dem Maasse, wie man die Stufen des Lebens hinabsteigt, dringt man auch in das Geheimnis einer grösseren Menge von Trübsal und Ohnmacht ein. Man sieht alsdann, dass viele Seelen um uns hinsiechen, weil sie sich für unnütz halten und sich einbilden, dass sie nie einer bemerkt hat und dass sie nichts an sich haben, was sie liebenswert machen könnte. Aber schlägt nicht für den Weisen zuletzt eine Stunde, wo er jede Seele, die da ist, bemerkt, bejaht und liebt, nur weil sie die geheimnisvolle Gabe besitzt, da zu sein? Schlägt nicht schliesslich eine Stunde, wo er alle Kräfte, Wahrheiten und Tugenden auf dem Grunde aller Schwächen, Laster und Lügen sieht? Eine klare und gesegnete Stunde, wo die Bosheit nichts mehr ist, als Güte, die ihren Führer verloren hat, wo der Verrat nichts mehr ist, als Redlichkeit, die den Weg zum Glücke nicht mehr wiederfindet, wo der Hass nichts mehr ist, als Liebe, die voller Bangigkeit die Thüre ihres Grabes öffnet? Dann wird auch die Geschichte vom guten Schächer, ohne dass man es ahnte, zur Geschichte aller, die den gerechten Menschen umgeben, und auch die geringsten Wesen, die ein Blick, ein Wort, ein Schweigen derart gerettet hat, vergessen über ihrem wahrhaften Glück, das vom Schicksal nicht erreicht werden kann, bis zum Anbruch der Nacht ihr Leid, wie die Seele des Sokrates vergass, das sie vor Sonnenuntergang den Todeskelch getrunken ...

 

. Zuletzt ist das innere Leben vielleicht nicht das, was man denkt. Es giebt so viele Arten des inneren wie des äusseren Lebens. Die Geringsten gelangen in dieses stille Bereich ebenso gut, wie die Grossen; und man tritt dort nicht immer durch die Pforten des Verstandes ein. Es kommt oft genug vor, dass einer, der alles weiss, vergeblich an jene Pforten klopft, und einer, der nichts weiss, ihm von drinnen antwortet. Gewiss ist das sicherste, schönste und dauerhafteste Innenleben dasjenige, welches das Bewusstsein mit den klarsten Elementen unsrer Seele langsam in sich selbst erbaut. Weise ist, wer dieses Leben mit allem zu unterhalten lernt, was der Zufall ihm täglich zuträgt. Weise ist, wem ein Betrug oder Verrat, der ihn heimsucht, nur dazu dient, seine Weisheit noch mehr zu läutern. Weise ist, wem selbst das Böse den Scheiterhaufen der Liebe nähren muss. Weise ist, wer sich gewöhnt hat, in seinem Leiden nur noch das Licht zu sehen, das es in ihm verbreitet, und wer nie den Schatten ansieht, den es auf die wirft, welche es entstehen liessen. Weiser noch, wem die Freuden und Leiden nicht allein das Bewusstsein mehren, sondern wen sie auch erkennen lassen, dass es noch etwas Höheres giebt, als das Bewusstsein selbst. Hier erreicht man die Gipfel des inneren Lebens, von denen aus man endlich die Gluten überschaut, die sie erhellen. Aber das ist Sache der Wenigsten, und man kann in den minder glühenden Thälern, zu denen die dunklen Wurzeln dieser Gluten hinabreichen, auch glücklich leben. Es giebt manch dunkeles Dasein, das auch seine Zuflucht hat. Es giebt manch instinktives Innenleben. Es giebt Seelen ohne eigenen Antrieb oder Verstand, die nie den Pfad finden werden, der in sie selbst hinabführt, die nie sehen werden, was sie in diesem Zufluchtsorte besitzen, und die doch nichtsdestoweniger ebenso handeln wie die, deren Verstand alle ihre Schätze gewogen hat. Es giebt Wesen, die nicht wissen, dass das Gute der einzige Fixstern des höchsten Bewusstseins ist, und die doch einzig und allein das Gute wollen, ohne zu wissen, warum sie es wollen. Nun aber beginnt alles innere Leben weniger in dem Augenblicke, wo der Verstand sich entwickelt, als in dem, wo die Seele gut wird. Es ist seltsam genug, dass es nicht möglich ist, ein inneres Leben im Bösen zu erlangen. Jedes Wesen, das nicht etwas Seelenadel besitzt, hat kein inneres Leben. Es mag sich immerhin selbst kennen, es wird vielleicht wissen, warum es nicht gut ist, aber es wird weder diese Kraft noch Zuflucht, noch diesen Schatz unsichtbarer Befriedigungen haben, den jeder besitzt, der ohne Furcht in sein Herz einkehren kann. Das innere Leben besteht nur aus einem gewissen Glück der Seele, und die Seele ist nicht glücklich, wenn sie nicht etwas Reines in sich lieben kann. Es kommt vor, dass sie sich in ihrer Wahl täuscht, dass sie aus Liebe etwas wählt, was vor der Vernunft nicht bestehen kann; aber selbst wenn sie sich täuscht, wird sie glücklicher sein, als die Seele, die keine Gelegenheit hatte, zu wählen.

Auch heisst es schon jemanden retten, wenn man ihn dahin bringt, das Übel etwas weniger zu lieben, als bisher, denn das heisst ihm behilflich sein, im tiefsten Grunde seiner Seele den Bau des Obdachs zu beginnen, an dem die Waffen des Schicksals zu Schanden werden. Dieses Obdach ist das Bauwerk des Bewusstseins oder der Liebe – was liegt daran? Die Liebe ist das Bewusstsein, das sich noch dunkel sucht, während das wahrhafte Bewusstsein die Liebe ist, die sich in der Klarheit wiederfindet. Nun aber entzündet die Liebe das innige Feuer ihrer Freude im tiefsten Grunde dieser Zufluchtsstätte. Die Freude der Seele, welche die Trübsal verscheucht, die schlimme Schicksale zurücklassen, wie das irdische Feuer den Einfluss der Krankheiten lähmt, die auf Erden herrschen, die Freude der Seele ist den anderen Freuden nicht vergleichbar. Sie stammt nicht vom äusseren Glück, noch von einer Befriedigung der Eigenliebe. Denn unter der Freude der Eigenliebe, die umso mehr abnimmt, je besser die Seele wird, liegt die Freude der reinen Liebe, die um so mehr zunimmt, je mehr die Seele sich veredelt. Nein, diese Freude stammt nicht aus dem Hochmut; und nicht, weil sie ihrer Schönheit zulächeln kann, fühlt die Seele sich glücklich. Eine Seele, die etwas Selbstbewusstsein erlangt hat, hat das Recht, zu wissen, dass sie schön ist; aber alles, was sie dem Bewusstsein ihrer Schönheit willkürlich hinzufügt, nimmt sie vielleicht der Unbewusstheit der Liebe. Und es ist die erste Pflicht des sich entdeckenden Bewusstseins, uns die Achtung vor dem Unbewussten beizubringen, das sich noch nicht enthüllen will. Aber die Freude, von der ich rede, nimmt der Liebe nicht, was sie dem Bewusstsein hinzufügt. Im Gegenteil findet in ihr statt, was nirgends sonst stattfindet: dass sich das Bewusstsein von der Liebe nährt, indes die Liebe sich vom Bewusstsein mehrt. Ein Geist, der sich erhebt, hat Freuden, die kein Körper kennt, der glücklich ist; aber eine Seele, die sich bessert, hat Freuden, die auch ein aufstrebender Geist nicht immer kennen wird. Zwar pflegt der Geist, der sich erhebt, mit der Seele, die sich bessert, gemeinsam Hand anzulegen, um das innere Gebäude zu befestigen. Aber es kommt auch vor, dass sie getrennt arbeiten, und dass nichts die beiden Umwallungen verknüpft, die sie errichten. Wenn dem so wäre, und das Wesen, das ich auf Erden am meisten liebe, mich fragen käme, welche Wahl es treffen soll, welches die tiefste Zuflucht, die unantastbarste und lieblichste ist, würde ich ihm raten, sein Schicksal der Seele anzuvertrauen, die sich bessert.

 

. Der Weise wird nie leiden? Kein Gewitter wird den Himmel seiner Wohnung verdüstern? Keiner wird ihm Fallen stellen? Sein Weib und seine Freunde werden ihn nicht verraten? Was er für edel gehalten hatte, wird nicht gemein werden? Weder sein Vater, noch seine Mutter, noch seine Söhne, noch seine Brüder werden sterben, wie die andern? Alle Wege, auf denen der Schmerz sonst zu uns kommt, werden durch Engel versperrt sein? Und Jesus Christus hat nicht geweint am Grabe des Lazarus? Und Mark Aurel hat nicht gelitten zwischen seinem Sohne Commodus, in dem das Untier schon zu Tage trat, und seinem Weib Faustina, das er liebte und das ihn gar nicht liebte? Und Aemilius Paullus hat nicht geseufzt unter der Hand des Schicksals, als sein ältester Sohn starb, – fünf Tage vor seinem Triumph in Rom, und der zweite drei Tage später? Liegt denn hier der Schutz, den die Weisheit dem Glücke bietet? Sollen wir auslöschen, was wir gesagt haben, und die Weisheit unter die Zahl jener Illusionen aufnehmen, durch welche die menschliche Seele solche Wünsche vor der Vernunft zu rechtfertigen sucht, welche die Erfahrung fast immer für unvernünftig erklärt.

 

. In Wahrheit leidet der Weise auch. Er leidet, und das Leiden ist ein Element seiner Weisheit. Er leidet vielleicht mehr, als ein anderer Mensch, weil er ein vollkommenerer Mensch ist. Er leidet mehr, weil man um so mehr leidet, je weniger man allein ist; und je weiser der Mensch ist, desto weniger dünkt er sich allein. Er leidet in seinem Fleische, seinem Herzen und Geiste, denn es giebt Teile des Fleisches, des Herzens und Geistes, die keine Weisheit der Welt dem Schicksal abspenstig machen kann. Es handelt sich auch gar nicht um Vermeidung des Schmerzes, sondern um Vermeidung der Entmutigung und der Ketten, die er jedem bringt, der ihn wie einen Herrn aufnimmt, und nicht wie den Boten eines grossen Herrn, den eine Biegung der Strasse unseren Blicken noch entzieht. Gewiss wird der Weise, ganz wie sein Nachbar, jäh erwachen, wenn der ungebetene Sendling anpocht, dass die Wände seiner Wohnung erzittern. Er wird herabsteigen und mit ihm sprechen müssen. Aber während er mit ihm spricht, wird er mehr als einmal über die Schultern des frühen Unglücks hinwegspähen und im Staub am Horizonte den grossen Gedanken suchen, dem es vielleicht vorausging. Im Grunde erscheint uns das Übel, mit dem das Schicksal uns schlagen kann, wenn man im Schosse des Glückes daran denkt, sehr gering. Wenn das Übel da ist, erkennt man zwar, dass seine Grössenverhältnisse sich geändert haben. Aber wenn es den beständigen Heerd des Mutes in uns auslöschen wollte, so müsste es ihm vorerst gelingen, uns im Grunde des Herzens ein für allemal alles Geliebte, Bewunderte, Angebetete verächtlich zu machen: und welche fremde Macht vermag ein Gefühl, eine Vorstellung herabzuwürdigen, wenn wir sie nicht selbst entthront haben? Giebt es – die physischen Leiden ausgenommen – einen Schmerz, der uns anders als durch unsere Gedanken erreichen kann? Wer also liefert unseren Gedanken die Waffen, mit deren Hilfe sie uns angreifen oder verteidigen? Man leidet wenig selbst am eigenen Leiden, man leidet ungeheuer an der Art, wie man es aufnimmt. »Es war seine Schuld, dass er unglücklich war«, sagt Anatole France von einem von denen, die niemals über die Schulter des unwirschen Botschafters hinwegblicken; »es war seine Schuld, dass er unglücklich war, denn alles wirkliche Elend ist innerlich und von uns selbst verursacht. Wir glauben fälschlich, dass es von aussen käme. Aber wir bilden es in uns, aus unserem eignen Stoffe.«

 

. Die wirkende Kraft eines Ereignisses liegt lediglich in der Art, wie man es ansieht. Man nehme zehn Menschen, die, wie Aemilius Paullus, in der süssesten Stunde ihres Lebens ihre beiden Söhne verlieren, und man wird zehn ganz verschiedene Schmerzen haben. Das Unglück kommt zu uns, aber es thut in uns nur, was man ihm befiehlt. Es säet, verwüstet oder erntet, je nach der Weisung, die es auf unserer Schwelle eingeschrieben fand. Wenn die beiden Söhne meines Nachbarn, der ein mittelmässiger Mensch ist, in dem Augenblick umkommen, wo ihr Vater sich am Ziel seiner Wünsche sieht, wird alles im Finstern vor sich gehen, kein Funke wird sprühen, und das Unglück wird, fast selbst gelangweilt, nur etwas farblose Asche hinter sich zurücklassen. Ich brauche meinen Nachbarn nicht wieder zu sehen. Ich weiss schon vorher, welche Kleinlichkeiten der Schmerz ihm gebracht hat, denn der Schmerz erstattet uns nur wieder, was unsere Seele ihm in den Tagen des Glückes geliehen hat.

 

. Aber dasselbe Unglück hat den Aemilius Paullus betroffen. Noch hallt der Siegesjubel durch die Stadt. Rom steht in schreckhafter Erwartung. Was wird geschehen? Bieten die Götter dem Weisen Trotz, und wie wird der Weise den Göttern antworten? Was hat dieser Held aus diesem Schmerze gemacht, oder was hat dieser Schmerz aus dem Helden gemacht? In solchen Augenblicken scheint die Menschheit sich bewusst zu sein, dass das Schicksal wieder einmal die Kraft seines Armes erprobt, und dass sich etwas für sie ändern wird, wenn das, was dieser Arm bedroht, sich erschüttern lässt. Man sehe nur zu, mit welcher Unruhe sie in solchen Fällen in den Augen ihrer Führer die Losung gegen das Unsichtbare sucht.

Aber Aemilius Paullus schreitet mitten durch das römische Volk, das er zusammengerufen hat. Er ist ernst und spricht also: »Ich habe nie etwas gefürchtet, was von den Menschen kommt; aber unter den göttlichen Dingen habe ich immer die ungemeine Unbeständigkeit des Schicksals gefürchtet, und die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit seiner Schläge. Besonders während dieses Krieges, wo es wie ein günstiger Wind alle meine Unternehmungen förderte. Wahrlich, unaufhörlich gewartete ich, dass ich mein Glück würde umschlagen sehen und ein Unwetter sich erheben. Denn an einem einzigen Tage durchfuhr ich das adriatische Meer von Brundusium bis Corcyra, und von Corcyra langte ich in fünf Tagen in Delphi an, wo ich dem Apollo opferte. Fünf Tage noch, und wir, ich und das Heer, erreichten Macedonien, und ich entsühnte das Heer nach den heiligen Gebräuchen. Im nämlichen Augenblick begann ich meine kriegerischen Unternehmungen, und fünfzehn Tage später hatte ich diesen Krieg durch den glorreichsten Sieg beendet. – Dieser schnelle Siegeslauf gab mir ein gerechtes Misstrauen gegen das Glück ein. Wiewohl ohne Sorge über die Feinde, und ohne eine Gefahr befürchten zu müssen, bangte ich doch für die Rückfahrt vor der Unbeständigkeit der Göttin, da ich ein solches Heer nach solchen Siegen, so unermessliche Beute und drei gefangene Könige zurückführte. Aber ohne irgend einen Zwischenfall langte ich bei euch an und fand die Stadt in Freude, Festlichkeiten und Opferfeiern. Trotzdem habe ich dem Schicksal nicht weniger misstraut, denn ich wusste, dass nicht eine seiner Freuden uns ungemischt zu Teil wird, und dass der Neid stets den grossen Erfolg begleitet. Von dieser schmerzlichen Unruhe erfüllt und vor dem zitternd, was die Zukunft noch für Rom aufsparte, ist meine Seele von ihrer Furcht erst befreit worden, als ich in diesem fürchterlichen Schiffbruch mein eignes Haus untergehen sah, als ich in diesen heiligen Tagen Schlag auf Schlag zwei Söhne von so schöner Hoffnung, die einzigen, die ich mir zu Erben vorbehalten, mit meinen Händen begraben musste. So bin ich nun in Sicherheit vor grossen Gefahren, und ich habe das feste Vertrauen, dass euer Glück fest begründet und dauerhaft sein wird. Das Glück hat sich durch die Übel, die es über mich ausgeschüttet hat, für meine Erfolge genugsam gerächt. Es hat in dem Triumphator, so gut wie in dem Gefangenen, der im Triumph dahin geschleppt ward, ein schlagendes Beispiel menschlicher Ohnmacht gegeben, – nur mit diesem Unterschiede, dass Perseus, der Besiegte, noch immer seine Kinder hat, und Aemilius Paullus, der Sieger, die seinen verlor.«

Das ist Römische Art, den grössten Schmerz aufzunehmen, der einen Menschen in dem Augenblicke treffen kann, wo er am empfindlichsten für Schmerz ist, das ist im Augenblicke des grössten Glückes. Giebt es noch andere? Ja, denn es giebt so viele Arten, ihn aufzunehmen, als es hochherzige Gedanken und Gefühle auf Erden giebt, und jeder dieser Gedanken, jedes dieser Gefühle führt den Zauberstab, der Kleidung und Antlitz des Leidens auf der Schwelle ändert. Hiob hätte uns gesagt: »Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen; der Name des Herrn sei gelobt.« Und Mark Aurel vielleicht: »Wenn es mir nicht mehr vergönnt ist, die zu lieben, welche ich über alles liebte, so geschieht dies ohne Zweifel, damit ich die lieben lerne, welche ich noch nicht liebte.«

 

. Und glauben wir nicht, dass sie sich so mit Hilfe leerer Worte trösteten, und dass alle diese Worte nur schlecht eine Wunde verdeckten, die um so schmerzhafter ist, je mehr man sie verbergen möchte. Zunächst ist es immer noch besser, sich mit Hilfe leerer Worte zu trösten, als untröstlich zu bleiben; und dann, wenn zuzugeben ist, dass alles dies nur Einbildung ist, so ist es auch recht und billig, zuzugeben, dass die Einbildung das einzige ist, was eine Seele besitzen kann; – und kraft welcher andern Einbildung massen wir uns dann das Recht an, eine Einbildung gering zu schätzen?

Gewiss lernen die grossen Weisen, wenn sie am Abend in ihr verödetes Haus zurückkehren und an ihrem Heerde die Plätze aufsuchen, wo ihre Kinder nicht mehr sitzen werden, einen Teil jenes Schmerzes kennen, der vollständig nur von denen empfunden wird, denen er keinen einzigen edlen Gedanken gezeitigt hat. Denn es hiesse einem schönen Gedanken, einem schönen Gefühle Unrecht thun, wenn man ihnen eine Tugend beilegte, die sie nicht haben. Es giebt äussere Thränen, die sich nicht abwischen lassen, und heilige Stunden, wo die Weisheit noch nicht tröstet. Aber um es zum letzten Male zu sagen: nicht um Vermeidung des Schmerzes handelt es sich, denn er wird immer unvermeidlich sein, sondern um die Auswahl dessen, was das Leid uns zubringt. Und es behaupte keiner, dass diese Wahl, die das Auge nicht sehen kann, in Wirklichkeit etwas sehr Kleines sei und keinen Schmerz austilgen könnte, dessen Ursache uns unaufhörlich vor Augen bleibt. Alle unsere moralischen Freuden, die viel tiefer sind, als alle physischen oder geistigen, bestehen aus Kleinigkeiten dieser Art. Wenn wir es durch Worte verdolmetschen, so scheint das Gefühl, das den Helden zur guten That treibt, thatsächlich sehr gering. So war auch die Vorstellung, welche der jüngere Cato sich von der Pflicht gemacht hatte, eine Kleinigkeit im Vergleich zu dem ungeheuren Aufruhr eines Reiches und dem blutigen Gemetzel, das sie mit sich brachte; und doch ist sie grösser als dieser Aufruhr und überschattet selbst den Tod, den sie verursacht hat. Auch heute noch hat Cato recht; und giebt es wohl ein Leben, das kraft dieser Vorstellung, welche die menschliche Vernunft auf ihrer Waage nicht wägen – kann, so fremd scheint sie der Vernunft, – ein innigeres und edleres Glück besass, als das Catos?

Alles, was unser Dasein veredelt, alles, was wir in uns selbst achten, die Beweggründe unserer Tugend und jene Gefühlsgrenzen, die jeder Mensch auch seinen Lastern und Verbrechen setzt, scheinen in der That wenig, wenn unsere Vernunft von ihnen Rechenschaft fordert. Und doch liegen hier die Lebensgesetze jedes Wesens. – Und welcher Mensch könnte leben, ohne sich mehreren dieser Wahrheiten zu unterwerfen, die der Vernunft nicht unterworfen sind? Selbst die Erbärmlichsten gehorchen einer von ihnen, und je grösser die Zahl derer ist, denen ein Mensch gehorcht, um so weniger erbärmlich ist er. Wer gemordet hat, wird dir sagen: »Gewiss, ich morde, doch ich stehle nicht«. Und wer gestohlen hat, stiehlt, aber verrät nicht, und wer verrät, verrät nicht seinen Bruder. So flüchtet sich jeder in seine letzte moralische Schönheit, die ihm bleibt. Der verworfenste Mensch hat immer noch einen Rückhalt und Zufluchtsort in seiner Seele, wo er ein wenig reines Wasser findet, aus dem er die Kraft schöpft, die zur Fortsetzung des Lebens nötig ist. Auch hier ist nicht mehr die Vernunft die Trösterin; auf der Schwelle der letzten Zufluchtsstätte des Diebes oder Verräters muss sie Halt machen, wie sie auf der Schwelle des Opfers der Antigone, der Ergebung Hiobs und der Liebe Mark Aurels Halt macht. Sie macht Halt, sie legt sich keine Rechenschaft mehr ab, sie billigt nicht, und nichtsdestoweniger empfindet sie, dass, wenn sie sich empörte, sie sich gegen das Licht empören würde, dessen sichtbarer Schatten sie ist; denn sie steht inmitten dieser Dinge, wie ein Mensch im vollen Sonnenschein. Er sieht seinen Schatten, der sich zu seinen Füssen dehnt, er kann ihn vorwärts und rückwärts gehen lassen und seine Umrisse ändern, je nachdem er sich bückt oder aufrichtet; aber dieser Schatten ist das einzige, was er beherrscht, was er besitzt, und dem er befehlen kann in dem blendenden Lichte, das ihn umgiebt. Auch unsere Vernunft bewegt sich in einem höheren Lichte; und der Schatten, den sie dort wirft, hat keinen Einfluss auf diesen unbeweglichen Glanz. So fern sich Mark Aurel und der Verräter stehen, sie schöpfen doch aus dem nämlichen Born das mystische Wasser, das ihrer Seele Leben giebt; und dieser Born fiiesst nicht in ihrem Verstande.

Es ist seltsam genug, dass unser gesamtes moralisches Leben wo anders liegt als unsere Vernunft; denn wer nur nach dieser Vernunft lebte, der wäre das erbärmlichste Wesen. Es giebt keine Tugend, keine gute That, keinen edlen Gedanken, die ihre Wurzeln nicht fast alle abseits vom Verständlichen und Erklärbaren haben. Und doch ist es der Stolz des Menschen, alle Tugend, alles Innenleben, alle Freude in dem Einzigen zu finden, was er wirklich besitzt, dem Einzigen, in das er Vertrauen setzen kann, das ist seine Vernunft! Aber vergebens. Das geringste Ereignis wird ihm bald zeigen, dass man sich niemals dorthin flüchten darf, so wahr wir nicht nur vernunftbegabte Wesen sind.

 

. Wenn aber unsere Vernunft nicht auswählt, was das Leid uns bringt, was wählt dann eigentlich? Es ist unser Vorleben, das unserer Seele ihre Form gegeben hat. Man erntet die Früchte der Weisheit nicht von heute auf morgen. Wenn ich nicht gelebt habe, wie Aemilius Paullus, wird mich nicht einer der Gedanken trösten, die ihn trösteten, selbst wenn alle Weisen dieser Welt sich zusammenthäten, um sie mir unablässig zu wiederholen. Die Engel, die da kommen, meine Thränen abzutrocknen, nehmen genau die Form und das Antlitz dessen an, was ich gesagt, gedacht, und vor allem, was ich gethan habe, ehe die Schmerzensstunde schlug. Als Thomas Carlyle, der ein Weiser, aber ein krankhafter Weiser war, nach mehr als vierzig Jahren des Zusammenlebens sein Weib Jeannie Welsh verlor, das Wesen, das er am tiefsten liebte, nahm auch sein Schmerz mit unglaublicher Genauigkeit die Form des Lebens ihrer Liebe an. Und darum ward er erhaben und ungeheuer, quälend und tröstlich zugleich, der Grösse seiner Vorwürfe, seiner Zärtlichkeiten und seiner Reue entsprechend, wie ein Gebet oder eine Betrachtung am Strande eines verdüsterten Meeres. Im Grunde ist es das synthetische Bild aller unserer Tage, die nicht mehr sind, welches sich mit liebevoller oder böswilliger Treue im Leiden unseres Herzens ausprägt. Wenn ich an mein Leben nur Erinnerungen ohne Edelmut und ohne Licht habe, und der Augenblick kommt, der immer kommt, wo die Erinnerungen sich in Thränen verwandeln, dann werden auch diese Thränen ohne Edelmut und ohne Licht sein. Unsere Thränen haben an sich keine Farbe, sie sollen nur die Vergangenheit unserer Seele wiederspiegeln, und was sie wiederspiegeln, ist unsere Züchtigung oder Belohnung. Nur etwas verwandelt sich nie in Leiden, das ist das Gute, das wir gethan haben. Wenn wir ein geliebtes Wesen verlieren, so weinen wir die Thränen, die uns nicht erleichtern, in der Erinnerung an Augenblicke, wo wir es nicht genug liebten. Wenn wir dem Wesen, das nicht mehr ist, stets gelächelt hätten, würden wir nichts von all dem Herabstimmenden empfinden, was im Schmerze liegt, und würden Thränen weinen, denen ein wenig vom Schmelze der Tugenden und Zärtlichkeiten bliebe, deren wir gedenken. Denn die Erinnerungen an wahre Liebe, welche der Akt der Tugend ist, der alle anderen enthält, entlocken unseren Augen dieselben wohlthätigen Zähren, wie die schönsten Stunden, denen diese Erinnerungen gelten. Nichts ist gerechter, als der Schmerz, und wie die Prägeform auf das flüssige Erz wartet, so wartet jedes Leben, dass ihm die Stunde schlage, wo unser Lohn uns gezahlt wird.

 

. Auch hier, wo sich doch die Hauptstütze seines Throns befindet, sehen wir, wie begrenzt die Macht des Schicksals über jeden ist, der besser wird, als das Schicksal selbst. Es ist barbarisch geblieben und steht nicht auf der Höhe aller Menschen. Es entnimmt alle seine Waffen dem gewöhnlichen Leben, und seine Waffen bringen uns zurück. Es greift uns noch heute von aussen an, wie zu den Zeiten des Ödipus. Es zielt gerade vor sich hin, wie ein blinder Bogenschütze, aber wenn sich seine Pfeile ein wenig erheben sollen, um ihr Ziel zu erreichen, fallen sie kraftlos zurück.

Leid, Reue, Thränen, Schmerzen und alles übrige sind ähnliche Namen für Dinge, die sich niemals ähneln. Wenn wir diesen Worten bis auf den Grund ihrer Seele gingen, so würden wir erkennen, dass wir damit nur die Spur unserer Fehler benennen; und dort wo unsere Fehler edel waren, – denn es giebt auch edle Fehler, wie es kleinliche Tugenden giebt, – wird unser Unglück dem wahren Glücke näher stehen, als das Glück derer, die glücklich sind, ohne ihr Bewusstsein gemehrt zu haben. Glaubt man, Carlyle hätte sein Unglück, das wie eine ungeheure und zarte Blume in seiner Seele erblühte, mit dem Eheglück ohne Horizont und ohne Licht vertauschen wollen, das der glücklichste seiner Nachbarn in Chelsea hatte? Und ist der Schmerz Ernest Renans, als er seine Schwester Henriette verlor, nicht besser für die Seele, als der Mangel an Schmerz bei tausend anderen, die ihre Schwester nicht zu lieben wussten? Soll man den beklagen, der gewisse Abende am Strande eines unendlichen Meeres weint, oder den, welcher ohne Sinn und Grund sein Leben lang in einer kleinen Stube lächelt? Glück oder Unglück – wenn wir einen Augenblick aus uns selbst heraus könnten und das Unglück des Helden kosteten: wie viele unter uns würden dann noch reuelos zu ihrem engen Glück zurück wollen?

Es ist also wahr, dass Glück und Unglück, selbst wenn sie von aussen kommen, nur in uns selbst bestehen. Alles, was uns umgiebt, wird zum Engel oder Teufel, je nach dem Zustande unseres Herzens. Jeanne d'Arc hört die Heiligen und Macbeth die Hexen, und doch ist es dieselbe Stimme. Das Schicksal, über das wir so zu klagen belieben, ist vielleicht nicht das, was wir bisher gedacht. Es hat keine anderen Waffen, als die, welche wir ihm reichen. Es ist nicht gerecht, noch ungerecht; es fällt nie Urteilssprüche. Was wir für einen Gott halten, ist nur ein verkleideter Sendbote. Es zeigt uns zu gewissen Stunden unseres Lebens einfach an, dass die Stunde geschlagen hat, uns selbst zu richten.

Freilich richten die Wesen zweiten Ranges sich nicht selbst. Und gerade weil sie sich der Selbstbeurteilung entziehen, fällt der Zufall ihr Urteil. Sie sind einem fast unabänderlichen Schicksal unterworfen; denn das Schicksal kann sich nur nach dem Urteil bilden, das der Mensch über sich abgegeben hat. Bei der ersten Berührung mit allem, was ihnen zustösst, formen sie, statt des Ereignisses, dem sie begegnen, sich selbst moralisch um. Sie nehmen unmittelbar die Form eben des Unglücks an, das sie bejammern, und auch nur dessen ärmlichste und gebräuchlichste Form. Alles, was ihnen zustösst, hat den Geruch des Schicksals. Für Diesen ist es der Beruf, den er erfasst, für Jenen eine Freundschaft, die er schliesst, für den Dritten die Geliebte, die er findet. Für sie sind Schicksal und Zufall zwei gleiche Ausdrücke; und der Zufall ist selten ein günstiges Schicksal. Alles in uns, was nicht der Macht unserer Seele unterthan ist, wird unmittelbar von einer feindlichen Macht in Besitz genommen. Alle Leere in Herz und Geist wird zum Sammelbecken für Schicksalseinflüsse. Shakespeares Ophelia und Goethes Gretchen sind dem Schicksal unterworfen, weil sie so schwach sind, dass man in ihrer Nähe nicht eine Gebärde machen kann, die nicht zur Schicksalsgebärde würde. Wenn aber Ophelia und Gretchen nur einen Teil von jener Kraft besessen hätten, welche die Antigone des Sophokles beseelt, so hätte sich nicht allein ihr eigenes, sondern auch Fausts und Hamlets Schicksal gewendet. Und wenn der Mohr von Venedig, statt Desdemona zu freien, Corneilles Pauline zum Weibe genommen hätte: hätte dann unter gleichen Umständen Desdemonas Schicksal auch nur einen Augenblick gewagt, die geklärte Liebe Paulines zu bedrohen? War es ihr Körper oder ihre Seele, die das schwarze Geschick geborgen? Und wenn es manchmal wahr ist, dass der Körper nicht mehr Kraft erwerben kann, kann die Seele nicht immer welche erwerben? Man bedenke wohl: für die meisten Menschen lässt sich nur ein wahrhaftes Schicksal vorstellen, ein Schicksal, das sagte: »Von diesem Tage an kann deine Seele nicht mehr stärker und grösser werden«. Aber giebt es ein Schicksal, das berechtigt wäre, so zu uns zu reden?

 

. Dennoch wird die Tugend oft genug bestraft; und grade die Kraft einer Seele beschleunigt bisweilen ihr Verderben. Je mehr man liebt, desto mehr Oberfläche bietet man edlen Schmerzen; und der Weise liebt es, diese schöne Oberfläche zu vergrössern.

Ja, sehen wir es nur ein; das Schicksal bleibt nicht immer in der Tiefe seiner Finsternis; es bedarf zu gewissen Stunden auch reinerer Opfer und streckt seine eisigen Hände nach dem Lichte aus. Ich nannte vorhin den tragischen Namen der Antigone, und man wird ohne Zweifel sagen: »Hier ist, trotz seiner Seelenkraft, das Opfer des Schicksals, das du vergebens suchtest ...« Es ist nicht zu leugnen; Antigone ist die Beute des kalten Gottes, weil ihre Seele dreimal stärker ist, als die Seele eines anderen Weibes. Sie geht unter, weil das Schicksal sie in eine solche Lage gebracht hat, dass sie gezwungen ist, zwischen dem Tode und dem zu wählen, was sie für ihre zwingendste Schwesterpflicht hält. Sie sieht sich urplötzlich zwischen Tod und Liebe festgehalten, und zwar der reinsten und selbstlosesten Liebe, weil sie einem Schatten gilt, den sie nie mehr auf Erden sehen wird. Und wodurch hat das Schicksal sie derart in die mörderische Enge treiben können, die Tod und Pflicht hinter ihr bilden? Einzig und allein, weil ihre Seele höher war, als die der anderen, weil sie die unüberwindliche Wand der Pflicht gesehen hat, die Ismene, ihre arme Schwester, nicht gewahrt, auch wenn man sie ihr zeigt. Im nämlichen Augenblicke, während alle beide auf der Schwelle des Palastes stehen, erheben sich um sie dieselben Stimmen. Antigone hört nur die, welche von oben kommt; und darum stirbt sie. Ismene ahnt nicht einmal, dass es noch eine andere gäbe, als die von unten kommt; und darum stirbt sie nicht. Man lege ein wenig von der Ohnmacht Ophelias oder Gretchens in Antigones Seele, und das Schicksal würde es für unnütz halten, dem Tode zu winken, wenn die Tochter des Ödipus in der Halle von Kreons Palast erscheint. Nur weil ihre Seele stark ist, hat das Schicksal ihrer Herr werden können.

Ja, und das ist der Trost der Gerechten, der Helden und Weisen, dass das Schicksal keine andere Macht über sie hat, als durch das Gute, zu dem es sie zwingt. Die anderen Menschen sind wie Städte mit hundert offenen Thoren, durch die es eindringt; aber der Gerechte ist eine feste Stadt, die nur ein Lichtthor hat; und das Schicksal kann es nur öffnen, wenn es die Liebe dahinbringt, an dieses Thor zu pochen. Es lässt die anderen Menschen thun, was es will; – und das Schicksal, wenn es frei ist, will immer nur etwas Böses; – aber wenn es darauf sinnt, des Gerechten Herr zu werden, so muss es auch darauf sinnen, Gutes zu thun. Es greift dann nicht mehr mit der Finsternis an. Der Gerechte ist in guter Hut in seinem Lichte, und nur ein stärkeres Licht kann ihn besiegen. Das Schicksal muss also schöner werden als sein Opfer. Es stellt gewöhnliche Menschen zwischen den eigenen Schmerz und das Unglück der anderen; den Helden und Weisen kann es nur zwischen eigenem Leid und dem Glück des Nächsten fassen. Es überfällt jene mit allem Hässlichen; es kann diesem nur mit dem Schönsten beikommen, was es auf Erden giebt. Es hat tausend Waffen gegen die Einen, und selbst die Steine des Weges verwandeln sich ihm zu Waffen; es hat nur ein unzerbrechliches Schwert, um diesen anzugreifen, nämlich das glühende Schwert des Opfers und der Pflicht. Die Geschichte Antigones erschöpft die ganze Geschichte der Macht des Schicksals über den Weisen. Jesus, der für uns stirbt, Curtius, der sich in den Abgrund stürzt, Sokrates, der sich weigert, zu schweigen, die barmherzige Schwester, die am Krankenbette hinsiecht, und der schlichte Wanderer, der zu Grunde geht, um einen Wanderer zu retten, der zu Grunde geht, – sie alle haben wählen müssen und tragen an der gleichen Stelle die glorreiche Wunde Antigones. Wahrlich, es giebt schöne Gefahren im Lichte, und für jeden, der Furcht hat, sich zu opfern, ist es gefährlich, weise zu sein. Aber wer Furcht hat, sich zu opfern, wenn die Stunde des Edelmutes geschlagen hat, ist wohl nicht sehr weise ...

 

.Wenn wir das Wort Schicksal aussprechen, stellt sich jedermann etwas Düsteres, Schreckliches und Tötliches vor. Im Grunde ist es dem menschlichen Denken nur der Weg, der zum Tode führt. Ja, die meiste Zeit ist es nichts anderes, als der Name, den man dem Tode giebt, welcher noch nicht eingetreten ist. Es ist der Tod, in der Zukunft gesehen, und der Schatten des Todes auf dem Leben. »Kein Mensch entgeht seinem Schicksal,« sagen wir zum Beispiel, wenn wir an den Tod denken, der den Wanderer an der Biegung seiner Strasse erwartet. Wenn aber der Wanderer das Glück trifft, sprechen wir nicht mehr vom Schicksal, oder doch wenigstens nicht wie von derselben Gottheit. Und doch kann es wohl vorkommen, dass einer, der durch's Leben wandert, einem Glücke begegnet, das grösser ist, als das Unglück, und wichtiger, als der Tod. Es kann vorkommen, dass er einem Glücke begegnet, das wir nicht sehen; – und ist das Glück seiner Natur nach nicht minder offenbar, als das Unglück? Wird es nicht unsichtbarer, je mehr es sich erhebt? Aber wir ziehen das nicht in Rechnung. Wenn es sich um ein erbärmliches Abenteuer handelt, läuft das ganze Dorf, die ganze Stadt herbei, wenn es aber ein Kuss ist, ein Strahl der Schönheit, der unser Auge traf, ein Strahl der Liebe, der unser Herz erleuchtete, blickt keiner hin. Und doch kann ein Kuss für die Freude ebensoviel bedeuten, wie eine Wunde für den Schmerz bedeutet. Wir sind nicht gerecht; wir bringen das Schicksal fast nie in Beziehung zum Glücke; und wenn wir es nicht mit dem Tode in Verbindung setzen, so thun wir dies nur, um es mit einem Unglück zusammenzubringen, das noch grösser ist, als der Tod.

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. Wenn ich jemandem das Schicksal des Ödipus, der Jeanne d'Arc und des Agamemmnon nenne, wird er nicht auf das Leben dieser drei Wesen acht geben, er wird nur die letzten Pfade sehen, die zu ihrem Ende führen. Er wird sich sagen, dass ihr Schicksal nicht glücklich gewesen ist, weil ihr Tod nicht glücklich gewesen ist. Aber er vergisst, dass der Tod in den Augen derer, die noch nicht sterben, nie glücklich ist; und doch beurteilt er so das Leben. Es scheint, dass der Tod alles verschlingt; und wenn dreissig glückliche Jahre mit einem zufälligen Tode enden, scheinen uns diese dreissig Jahre verloren in der Finsternis einer schmerzhaften Stunde ...

 

. Wir thun dem Schicksal unrecht, wenn wir es dermassen mit dem Tode oder Unglück verknüpfen. Wann doch werden wir diese Vorstellung aufgeben, dass der Tod wichtiger sei als das Leben und das Unglück grösser als das Glück? Warum stets auf die Seite der Thränen sehen, wenn wir das Schicksal eines Wesens beurteilen, und nie auf die der Freude? Wer hat uns gesagt, man müsste das Leben am Tode messen und nicht den Tod am Leben? Wir beklagen das Schicksal eines Sokrates und Duncan, einer Antigone und Jeanne d'Arc und so vieler anderer Gerechten, weil ihr Ende unerwartet oder grausam war; und wir sagen uns, dass Weisheit oder Tugend das Unglück nicht entwaffnet. Aber zunächst ist man weder weise noch gerecht, wenn man in der Weisheit und Gerechtigkeit etwas anderes sucht, als Weisheit und Gerechtigkeit selbst. Und dann: mit welchem Rechte zwängen wir ein ganzes Dasein derart in den Augenblick des Todes? Warum sagt man mir, dass Sokrates oder Antigone durch ihre Weisheit unglücklich wurden, weil ihr Ende unglücklich war? Nimmt denn der Tod im Dasein einen weiteren Platz ein, als die Geburt? Und doch rechnet man die Geburt nicht an, wenn man das Schicksal des Weisen abwägt. Was uns glücklich oder unglücklich macht, das ist das, was wir zwischen Geburt und Tod thun, und nicht im Tode, sondern in den Tagen und Jahren, die ihm vorangehen, liegt das Glück und Unglück eines Wesens und sein wahres Schicksal.

Wir urteilen ein wenig, wie wenn der Weise, dessen schrecklichen Tod die Geschichte meldet, in ewiger Vorahnung des schmerzvollen Endes gelebt hätte, das seine Weisheit ihm bereiten würde. Aber in Wirklichkeit wird der Weise von der Vorstellung des Todes viel weniger beunruhigt, als der Böse. Sokrates hat nicht wie Macbeth zu fürchten, dass alles schlimm endet. Und wenn alles schlimm endet, so ist es wider alles Erwarten, und er hat sein Leben nicht damit verbracht, es schon im voraus zu sterben, wie der Than von Cawdor. Aber im Grunde unseres Denkens deucht es uns nur zu oft, als ob eine Wunde, die einige Stunden blutet, den Frieden eines ganzen Daseins vernichten könnte.

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. Ich sage nicht, das Schicksal sei gerecht, es belohne die Guten und strafe die Bösen. Welche Seele könnte sich noch für gut halten, wenn die Belohnung sicher wäre? Aber wir sind weit ungerechter als das Schicksal, wenn wir das Schicksal beurteilen. Wir sehen nur das Unglück des Weisen, denn wir wissen alle, was das Unglück ist; aber wir sehen nie sein Glück, denn man muss genau so weise sein, wie der Weise, und ebenso gerecht, wie der Gerechte, deren Schicksal man abwägt, um ihr Glück zu beurteilen.

Wenn ein Mensch mit niedriger Seele das Glück eines grossen Weisen zu messen trachtet, so zerrinnt ihm dieses Glück zwischen den Fingern wie Wasser; aber in der Hand eines anderen Weisen wird es so fest und glänzend wie Gold. Man hat nur soviel Glück, als man begreifen kann. Es kommt oft vor, dass das Unglück des Weisen dem eines andern Menschen ähnelt; aber sein Glück hat keinerlei Beziehung zu dem, was der Unweise Glück nennt. Es giebt im Glücke viel mehr unbekannte Länder, als im Unglück. Das Unglück hat immer die gleiche Stimme, aber das Glück wird lautloser, je tiefer es wird.

Wenn wir das Unglück auf eine Waageschaale legen, legt ein jeder von uns in die andere nur die Vorstellung, die er sich vom Glücke macht. Der Wilde wird Branntwein, Pulver und Federn hineinthun, der civilisierte Mensch ein wenig Gold und einige Tage des Rausches, aber der Weise wird tausend Dinge hineinlegen, die wir nicht sehen, seine ganze Seele vielleicht, und das Unglück selbst, das ihn geläutert hat.

 

. Es giebt nichts Gerechteres, als das Glück, nichts, das getreuer die Form unserer Seele annimmt, nichts, das genauer die Stellen ausfüllt, welche die Weisheit ihm geöffnet hat. Aber es giebt auch nichts, das noch so sehr der Stimme entbehrte, wie das Glück. Der Engel des Schmerzes spricht alle Sprachen und kennt alle Worte, aber der Engel des Glückes öffnet den Mund nur, wenn er von einem Glücke sprechen kann, das auch der Wilde verstehen kann. Das Unglück ist seit hunderten von Weltjahren aus den Kinderschuhen heraus; aber das Glück scheint noch in den Windeln zu schlafen.

Einige Menschen haben gelernt, glücklich zu sein, aber wo sind die, welche in ihrem Glück darauf bedacht waren, ihre Stimme dem stummen Erzengel zu leihen, der ihre Seele erleuchtete? Woher kommt dieses ungerechte Schweigen? Vom Glücke reden, heisst das nicht ein wenig, es lehren? Jeden Tag seinen Namen nennen, heisst das nicht, es rufen? Und ist es nicht eine schöne Pflicht der Glücklichen, den Anderen zu zeigen, wie man glücklich ist? Ganz gewiss lernt sich das Glücklichsein, und nichts lehrt sich leichter als das Glück. Wenn man unter Leuten lebt, die ihr Leben segnen, wird man das seine bald auch segnen. Das Lächeln ist so ansteckend wie die Thränen und die Zeiten, die man glückliche nennt, sind oft nur Zeiten, wo einige Menschen sich glücklich zu nennen wussten. Denn gewöhnlich ist es nicht das Glück, was uns fehlt, sondern das Wissen um das Glück. Wozu dient es, so glücklich wie möglich zu sein, wenn man nicht weiss, dass man glücklich ist? Das Bewusstsein des kleinsten Glückes trägt viel mehr zu unserer Glückseligkeit bei, als das grösste Glück, das unsere Seele achtlos übersieht. Zu viele Wesen bilden sich ein, das Glück sei etwas anderes als sie selbst, und darum sollten die, welche das Glück haben, uns zeigen, dass sie nichts mehr besitzen, als was wir im Grunde unseres Herzens alle besitzen.

Glücklich sein, das ist, die Ungeduld nach dem Glücke hinter sich haben. Von Zeit zu Zeit müsste ein Mensch, der vom Schicksal mit einem augenscheinlichen, beneideten, übermenschlichen Glücke begünstigt wird, vor uns hintreten und uns einfach sagen: »Ich besitze alles, was eure Wünsche täglich fordern, ich habe den Reichtum, die Gesundheit, die Jugend, den Ruhm, die Macht und die Liebe. Heute kann ich mich glücklich nennen, nicht der Gaben wegen, die das Glück mir gewährt hat, sondern weil mich seine Gaben gelehrt haben, über das Glück hinwegzusehen. Ich habe auf meinen wunderbaren Reisen, in meinen Siegen, in meiner Kraft und meiner Liebe den Frieden und das Glück gefunden, nach denen ich suchte, aber nur, weil diese Triumphe mich gelehrt haben, dass in ihnen das wahre Glück und der wahre Friede nicht liegen. Vordem ich sie kannte, lagen Glück und Friede nur in mir, aber seit ich sie kenne, liegen sie erst recht in mir, und ich weiss auch, dass ich bei etwas mehr Weisheit Alles, was ich besitze, auch hätte besitzen können, ohne dass ich notwendig so viel Glück besässe. Ich weiss, dass ich heute glücklicher bin, als ich es gestern war, weil ich endlich weiss, dass ich des Glückes nicht mehr bedarf, um meine Seele zu befreien, mein Denken zu befriedigen und mein Herz zu erleuchten.«

 

. Der Weise weiss das, ohne dass ein übermenschliches Glück es ihm erst offenbaren müsste. Der Gerechte weiss es auch, selbst wenn er minder weise ist, als der Weise, und sein Bewusstsein weniger entwickelt scheint; denn es ist merkwürdig, dass ein Akt der Gerechtigkeit oder Güte ein gewisses undeutliches Bewusstsein mit sich bringt, das oft wirksamer, inniger, mütterlicher ist, als das aus einem tiefen Gedanken entstehende. Namentlich bringt es eine Art von besonderem Glücksbewusstsein mit sich. Man befleissigt sich umsonst der gedanklichen Klarheit; die höchsten Gedanken sind fast immer ungewiss und veränderlich; wogegen das Licht einer wohlthätigen Handlung andauernd und beständig ist. Ein tiefer Gedanke ist zuweilen ein Schmuck des Bewusstseins; aber ein Werk der Barmherzigkeit, die Erfüllung einer heldischen Pflicht, das ist Bewusstsein, das heisst Glück im Thun. Mark Aurel, der eine tötliche Beleidigung vergiebt, Washingthon, der abdankt, als sein Ruhm seinem Volke zur Quelle des Irrtums wird, und ein gehässiges und schlechtes Wesen, das in einer wenn auch unwahrscheinlichen Hypothese das grosse Gesetz der Schwerkraft zufällig entdeckt hätte, werden nicht auf dieselbe Weise glücklich sein.

Es ist ein weiter Weg, und nur von den Freuden eingefasst, die den Winter nicht fürchten, der von einem befriedigten Verstande zu einem zufriedenen Herzen führt. Das Glück ist vielmehr eine Pflanze des moralischen, als des Verstandes-Lebens. Nicht im Verstande birgt das Bewusstsein im allgemeinen, und vor allem das Glücksbewusstsein, sein Kostbarstes. Ja, man könnte zuweilen sagen, dass das Höchste und Tröstlichste, was der Verstand besitzt, sich nicht in Bewusstsein umsetzt, wenn es nicht durch einen Akt der Tugend hindurchgegangen ist. Es genügt nicht, in der Welt des Willens oder der Vorstellung eine neue Wahrheit zu entdecken. Eine Wahrheit ist für uns erst von dem Augenblick an lebendig, wo sie in unserer Seele etwas umgeformt, geläutert und ausgeglichen hat. Was wirklich das Bewusstsein ausmacht, was seine wesentlichste That ist, das ist das Bewusstsein einer moralischen Besserung. Es giebt sehr kluge Wesen, die ihren Verstand nie dazu benutzen, um einen Fehler zu erkennen oder ein Gefühl der Barmherzigkeit zu ermuntern. Das ist zum Beispiel nicht selten beim Weibe der Fall. Von einem Manne und einem Weibe mit gleicher Verstandeskraft wird immer das Weib einen viel geringeren Teil dieser Kraft dazu verwenden, sich moralisch kennen zu lernen. Nun aber greift der Verstand, der nicht nach diesem Bewusstsein trachtet, anscheinend ins Leere. Jede Kraft unseres Gehirns, die nicht unmittelbar in die reinsten Gefässe unseres Herzens aufgenommen wird, läuft die grösste Gefahr, zu verderben oder verloren zu gehen. Jedenfalls bleibt sie dem Glücke fremd, wogegen sie leicht zum Unglück in Beziehung tritt. Man kann einen sehr mächtigen und sehr hohen Verstand besitzen und nie dem Glücke nahe gekommen sein. Aber man kann nicht eine sanfte, reine und gute Seele haben, und nichts anderes kennen, als das Unglück. Gewiss sind die Grenzen des Verstandes und jenes Bewusstseins nicht immer so reinlich geschieden, wie es hier scheinbar gesagt wird, und ein schöner Gedanke ist oft ein gutes Werk. Aber es kommt nichtsdestoweniger vor, dass ein schöner Gedanke, der nicht aus einer guten Handlung entstanden ist, oder keine solche entstehen lässt, zu unserer Glückseligkeit wenig beiträgt, wogegen eine gute Handlung, selbst wenn kein Gedanke daraus entspringt, unser Glücksbewusstsein stets wie ein wohlthätiger Regen befruchten wird.

 

. Dass man dem Glück Lebewohl gesagt haben muss, ruft Renan aus, als er von der Entsagung Mark Aurels spricht, dass man dem Glück Lebewohl gesagt haben muss, um eine solche Höhe zu erreichen! Man wird nie ganz begreifen, was dieses arme, welke Herz alles gelitten, wie viel Bitternis diese bleiche, allzeit ruhige und fast heitere Stirn verborgen hat. Freilich ist der Abschied vom Glück der Anfang der Weisheit und das sicherste Mittel, das Glück zu finden. Es giebt nichts so Süsses, wie die Wiederkehr der Freude, die dem Verzicht auf die Freude folgt, nichts so Lebendiges, Tiefes und Holdes, wie die Bezauberung des Entzauberten. –

So beschreibt ein Weiser das Glück eines Weisen. Und doch: liegt Renans und Mark Aurels Glück wohl einzig und allein in der Wiederkehr der Freude, welche dem Verzicht auf die Freude folgt, und in der Bezauberung des Entzauberten? Wenn dem so wäre, dann wäre es noch besser, weniger weise zu sein, um weniger entzaubert zu werden. Aber was wollte doch die Weisheit, die sich für entzaubert erklärt? Was suchte sie doch, wenn nicht die Wahrheit, und welche Wahrheit könnte im Grunde eines aufrichtigen Herzens just die Liebe zur Wahrheit dermassen zerstören?

Wenn die Wahrheit uns lehrt, dass der Mensch schlecht, die Natur ohne Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit unnütz und die Liebe ohnmächtig ist, so muss man sich sagen, dass sie uns nichts beibringt, wenn sie uns nicht zur selben Zeit eine grössere Wahrheit lehrt, die alle diese Enttäuschungen in ein Licht hüllt, das stärker strahlt und minder schnell erschöpft ist, als die tausend vergänglichen Lichter, die sie rings um uns auslöschte. Es giebt für die Wahrheit keine Grenzen, und darum hat die Wahrheit niemals das Recht, am ersten Kreuzwege des Hochmuts das arme kleine Zelt der Entzauberung und Verzichtleistung aufzuschlagen. Denn es liegt ein unglaublicher und höchst schwächlicher Hochmut darin, sich damit zufrieden zu erklären, dass uns nichts zufrieden stellen kann. Eine Zufriedenheit dieser Art ist nichts als Unzufriedenheit, die nur nicht mehr die Kraft hat, sich emporzuraffen, und unzufrieden sein, heisst im Grunde, nicht mehr begreifen mögen.

Solange der Mensch sich einbildet, es sei seine Pflicht, auf das Glück zu verzichten, verzichtet er auf etwas, das noch kein Glück ist. Und dann: welchem Glücke soll man dieses Lebewohl sagen, das der Einfalt entbehrt? Gewiss ist es recht und billig, jedes Glück von uns fern zu halten, das anderen Schaden thut; aber bleibt das Glück, das anderen Schaden thut, für den Weisen lange ein Glück? Und wenn seine Weisheit endlich andere Befriedigungen kennt, weiss sie dann noch, dass sie auf die ersten verzichtet hat?

Misstrauen wir immer der Weisheit und dem Glücke, die auf Missachtung von irgend etwas beruhen. Missachtung und Verzichtleistung, welche das kranke Kind der Missachtung ist, eröffnen uns lediglich ein Obdach für Greise und Schwächlinge. Wir haben kein Recht, eine Freude zu missachten, ausser wenn wir gar nicht mehr wissen können, dass wir sie missachten. Aber solange Missachtung oder Verzichtleistung das Wort ergreifen oder im Grunde unseres Herzens einen bitteren Gedanken erregen sollen, bedürfen wir noch der Freude, von der wir nichts mehr wissen wollen.

Man muss vermeiden, gewisse Schmarotzer-Tugenden in seine Seele einzulassen. Und die Verzichtleistung ist sehr oft nur ein Schmarotzer. Selbst wenn sie unser inneres Leben nicht schwächt, beunruhigt sie es. Wenn ein fremdes Tier in einen Bienenstock gerät, lassen alle Bienen von ihrer Arbeit; und ebenso lassen, wenn Missachtung oder Verzichtleistung in unsere Seele eingedrungen sind, alle ihre Kräfte und Tugenden ihre Aufgabe im Stich, um den seltsamen Gast zu umringen, den der Hochmut ihnen zuführt. Denn so lange der Mensch weiss, dass er verzichtet, entspringt das Glück seiner Verzichtleistung vornehmlich aus dem Hochmut. Nun aber ist es recht und billig, wenn man etwas auf das Verzichten hält, vor allem den Wollüsten des Hochmuts zu entsagen, welche die betrüglichsten und leersten sind.

 

. Wie bequem im ganzen und aller Kühnheit und Energie bar ist doch diese »Bezauberung des Entzauberten«. Aber welchen Namen soll man dem geben, der auf ein Glück verzichtet, das ihn glücklich machte, und der seinen gewissen Verlust heute vorzieht, aus Furcht vor dem Verluste morgen, wenn's der Zufall will? Ist es der einzige Beruf der Weisheit, derart in ungewisser Zukunft auf die Schritte eines Leidens zu horchen, das vielleicht nie kommen wird, und das Ohr dem Flügelschlage des Glückes zu verschliessen, das ihre Gegenwart erfüllt?

Suchen wir unser Glück im Verzichten, wenn es nicht mehr möglich ist, es wo anders zu suchen. Es ist leicht, weise zu sein, wenn man sich mit dem Glücke zufrieden giebt, das man im Fehlen des Glückes findet. Aber der Weise ist nicht dazu gemacht, um unglücklich zu sein, und es ist glorreicher und zugleich menschlicher, wenn man nicht aufhört, weise zu sein, indem man glücklich bleibt. Es ist durchaus das oberste Ziel der Weisheit, den festen Pol des Glückes im Leben zu finden; aber diesen festen Punkt im Abschied von der Freude und im Verzichten zu suchen, heisst ihn im Tode suchen wollen. Es ist leicht, sich für weise zu halten, wenn man sich nicht mehr rührt. Aber ist der Mensch nicht geschaffen worden, um sich zu rühren? Man muss wählen: entweder ist die Weisheit die geachtete Gattin unserer Leidenschaften und unserer Gefühle, aller unserer Gedanken und aller unserer Wünsche, oder die schwermütige Braut des Todes. Giebt es eine regungslose Weisheit für das Grab, so giebt es auch eine für das Haus, dessen Herd noch raucht.

 

. Nicht durch Verzichten auf das Glück, das uns umgiebt, werden wir weise, sondern indem wir weiser werden, lernen wir unversehens auf manches Glück verzichten, das sich nicht mehr bis zu uns erhebt. So lässt das Kind, indem es wächst, ganz von selbst von den Spielen ab, an denen es keine Freude mehr hat. Und wie das Kind im Spielen mehr Dinge lernt, als in der Arbeit, die man ihm auferlegt, so schreitet die Weisheit im Glücke schneller, als sie es im Unglück gethan hätte. Die Lehren des Unglücks erleuchten nur einen kleinen Teil des moralischen Lebens, und ein Mensch, der weise ist, weil er unglücklich gewesen ist, gleicht dem, der geliebt hat, ohne wieder geliebt zu werden. Er wird in der Weisheit niemals von dem erfahren, was dem anderen in einer unerwiderten Liebe verschlossen bleibt.

»Liegt im Glücke wirklich so viel Glück, wie man sagt?« fragte eines Tages ein Philosoph, den eine lange Ungerechtigkeit etwas zu sehr niedergeschlagen hatte, zwei glückliche Seelen. Nein, das Glück ist zugleich mehr und weniger beneidenswert, als man denkt, weil es etwas ganz anderes ist, als sich die vorstellen, welche nicht vollkommen glücklich gewesen sind. Fröhlich sein heisst nicht immer glücklich sein, und glücklich sein heisst nicht immer fröhlich sein. Nur das kleine Glück des Augenblicks lächelt und schliesst die Augen, während es lächelt. Aber auf einer gewissen Höhe ist das dauernde Glück ebenso ernst wie eine edle Trübsal. Weise haben uns gelehrt, dass man nicht glücklich zu sein braucht, um das Glück herbeiwünschen zu können. Wie aber kann der Weise wissen, wenn er nicht glücklich gewesen ist, dass die Weisheit das einzige ist, was im Glücke nicht traurig und müde wird? Die Denker, die das Glück kannten, haben die Weisheit viel inniger lieben gelernt, als die, welche unglücklich waren. Es ist ein grosser Unterschied zwischen der Weisheit, die im Unglück wächst, und der, die sich im Glücke entfaltet. Die erste tröstet, indem sie vom Glücke spricht, aber die zweite spricht nur noch von sich selbst. Am Ende der Weisheit des Unglücklichen steht die Hoffnung auf Glück; am Ende der des Glücklichen steht nur noch die Weisheit. Wenn es das Ziel der Weisheit ist, das Glück zu finden, so erfährt man nur durch langes Glücklichsein, dass dieses Ziel nur in ihr liegt.

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. Die erste beste Seele kann das Glück nicht tragen. Es giebt Mut im Glücke, wie es Mut im Unglück giebt. Vielleicht bedarf es grösserer Kraft, um dauernd glücklich zu sein, als um dauernd unglücklich zu sein; denn die Erwartung dessen, was man noch nicht hat, giebt dem unweisen Herzen mehr Freude, als der Vollbesitz alles dessen, was es begehrt hat. Vom Gipfel des andauernden Glückes erkennt man am besten die Begierden dieses Herzens, das sich anscheinend nur von Furcht oder Hoffnung nähren kann, und dem es so schwer fällt, sich von dem zu nähren, was es hat, selbst wenn es Alles hat.

Man sieht oft Wesen, die stark und voll moralischer Klugheit sind, dem Glücke unterliegen. Sie haben nicht alles darin gefunden, was sie suchten, und so verteidigen und halten sie es nicht mit der Energie fest, die man im Leben stets entwickeln sollte. Man muss bereits sehr weise sein, um sich nicht mehr zu verwundern, dass das Glück auch Trübsal mit sich bringt, und um in dieser Trübsal nicht zu dem Glauben zu neigen, dass man das wahre Glück noch nicht besitze. Das Beste, was man im Glücke findet, ist die Gewissheit, dass es nichts ist, was berauscht, sondern etwas, das nachdenken heisst. Es ist erreichbarer und weniger selten, wenn man einmal gelernt hat, dass die einzige Gabe, die es den Seelen lässt, die davon Gebrauch zu machen wissen, eine Erweiterung des Bewusstseins ist, die sie nirgendswo anders gefunden hätten. Es ist für die menschliche Seele wichtiger, den Wert eines Glückes zu kennen, als es zu geniessen. Es ist notwendig, sehr weise zu sein, um das Glück lange Zeit lieb zu haben; es ist unerlässlich, noch weiser zu sein, um zu erkennen, dass der feste und beständige Teil jeder Glückseligkeit, auch im Schosse eines ungetrübten Glückes einzig und allein in dieser Kraft liegt, die uns im tiefsten Grunde unseres Bewusstseins selbst im Unglück glücklich machen könnte. Wir können uns nur dann glücklich nennen, wenn das Glück uns auf Höhen hinaufgehoben hat, wo man es aus den Augen verlieren kann, ohne zugleich seine Lebenslust zu verlieren.

 

. Man findet tiefe Denker, die vom erhabenen Gefühl des Unendlichen, Ewigen und Allgemeinen durchdrungen sind, man findet Denker wie Pascal, Hello, Schopenhauer, die gar nicht glücklich erscheinen. Aber man würde sich sehr täuschen, wenn man sich einbildete, dass der Ausdruck einer allgemeinen Betrübnis stets eine grosse persönliche Verzweiflung voraussetzt. Der Horizont des Unglücks ist, von der Höhe eines nicht mehr instinktiven, selbstsüchtigen und mittelmässigen Denkens betrachtet, nicht merklich verschieden vom Horizonte des Glückes, den man von der Höhe eines Gedankens gleicher Art, aber anderen Ursprungs erblickt. Es liegt alles in allem wenig daran, ob die Wolken, die sich drunten an den Grenzen der Ebene türmen, tragisch oder freundlich sind; was den Wanderer beruhigt, das ist, dass er einen hohen Punkt erreicht hat, der ihm endlich einen grenzenlosen Raum erschliesst. Es brauchen durchaus nicht unaufhörlich weisse Segel über das Meer hinzuleiten, damit das Meer uns geheimnisvoll und bewundernswert erscheint; und ein Unwetter schwächt das Leben unserer Seele nicht mehr, als ein schöner ruhiger Tag. Geschwächt wird es nur dadurch, dass wir Tag und Nacht in der engen Kammer unserer kleinen Gedanken ohne Edelmut, ohne Leidenschaft und Ernst verharren, wiewohl Meer und Himmel rings um unsere Wohnung leuchten.

Aber es giebt vielleicht einen Unterschied zwischen dem Denker und dem Weisen. Es kommt vor, dass der Denker auf den erklommenen Höhen der Trübsal nicht Herr wird, aber der Weise versucht dort ehrlich zu lächeln, und dies auf eine so natürliche und menschliche Weise, dass der geringste seiner Brüder imstande ist, dies Lächeln, das wie eine Blume bis zum Fusse des Berges herabfällt, aufzufangen und zu begreifen. Der Denker erschliesst den Weg, der vom Sichtbaren zum Unsichtbaren führt, aber der Weise erschliesst die Strasse von dem, was man liebt, zu dem, was man noch lieben wird, und die Pfade, die von dem, was nicht mehr tröstet, zu dem aufsteigen, was uns noch lange trösten kann. Es ist notwendig, aber nicht hinreichend, dass man über den Menschen, über Gott und die Welt lebendige und kühne Gedanken hat. Was ist ein tiefer Gedanke, der uns nicht bestärken kann? Ist er nicht wie jeder, dem es nicht gelingt, unser alltägliches Leben zu durchtränken, ein Gedanke, den der Denker noch nicht ganz besitzt? Niedergeschlagen sein und in seiner Niedergeschlagenheit verharren, ist leichter, als auf der Stelle den Schritt über diese Niedergeschlagenheit hinaus thun, den die Zeit uns immer thun lässt. Tief erscheinen ist leichter im Misstrauen und in der Finsternis, als im Vertrauen und der redlichen Klarheit, in der die Menschen leben sollen. Hat man wirklich alles gethan, was man kann, wenn man im Namen aller seiner Brüder derart über die Trübsal des Lebens denkt? Hat man alles gethan, was man kann, wenn man ihnen, um das grosse Gemälde dieser Trübsal nicht zu mildern, die letzten Gründe verbirgt, aus denen man sie doch gutheisst, da man ja fortfährt zu leben? Nennt man das, bis ans Ende seines Denkens gehen, wenn man denkt, um nicht zu trösten? Es ist leichter, mir zu sagen, warum du dich beklagst, als mir schlecht und recht die mächtigeren und tieferen Antriebe mitzuteilen, aus denen dein Instinkt dieses Leben, über das du dich derart beklagst, nicht von sich weist.

Wer von uns findet nicht, ohne danach zu suchen, tausend und abertausend Gründe, nicht glücklich zu sein? Ohne Zweifel ist es nützlich, dass der Weise uns die höchsten nennt; denn die höchsten Gründe, weswegen man nicht glücklich ist, sind nahe daran, sich in Gründe zum Glücklichsein zu verwandeln. Aber alle, welche diese Keime von Glück und Grösse nicht in sich tragen, – und es giebt in der That im moralischen Leben eine Menge entdeckter Gegenden, wo Glück und Grösse mit einander verschmelzen – verdienen nicht aufgezählt zu werden. Man muss glücklich sein, um glücklich zu machen, und man muss glücklich machen, um glücklich zu bleiben. Versuchen wir zuerst zu lächeln, damit unsere Brüder auch lächeln lernen, und dann werden wir viel wirklicher lächeln, wenn wir auch sie lächeln sehen. »Es geziemt mir nicht, mich selbst zu grämen, da ich nie jemandem freiwillig Gram bereitet habe,« sagt Mark Aurel in einer seiner schönsten Zeilen. Aber heisst es nicht, sich selbst grämen und zugleich lernen, wie man den Anderen Gram bereitet, wenn man nicht lernt, so glücklich zu sein, wie man kann?

 

. Ein kleiner Gedanke, der einen zufriedenen Blick, eine gute Handlung, oder die ruhigste, bescheidenste Minute des Glückes an etwas Schönes, Beständiges und Ewiges knüpft, ist verdienstvoller, und es ist unendlich viel schwerer, ihn den Mysterien des Lebens zu entreissen, als eine grosse und finstere Betrachtung, die einen Schmerz, eine Liebe, eine Verzweiflung mit dem Tode, dem Schicksal oder den gleichgiltigen Mächten verknüpft, die unser Dasein umgeben. Lassen wir uns nicht durch den Augenschein täuschen. Hamlet, der am Rande des Abgrundes steht und klagt, scheint uns tiefer und begeisternder, als Antoninus Pius, der dieselben Gewalten ruhig betrachtet, annimmt und mit Ruhe befragt, statt sie zu verfluchen und nach Quellen der Verzweiflung in ihnen zu suchen. Alles, was man den Tag über thut, erscheint minder erhaben, als die geringste Gebärde, die man andeutet, wenn die Nacht herabsinkt; aber der Mensch ist dazu geboren, am Tage zu arbeiten, und nicht, sich in der Finsternis zu tummeln.

 

. Es liegt zudem in dem geringsten tröstlichen Gedanken eine Kraft, die man in der ungeheuersten Klage, in dem schönsten Gedanken der Schwermut niemals findet. Ein grosser und tiefer trauriger Gedanke ist eine Kraft, welche die Wände ihres Kerkers erleuchtet, indem sie ihre Schwingen im Finstern abzehrt, aber der schüchternste Gedanke der Zuversicht, der heiteren Ergebung in unvermeidliche Gesetze, ist bereits eine That, die einen Stützpunkt sucht, um sich endlich zu Leben und Wirklichkeit aufzuschwingen. Es ist nicht schlecht, sich bisweilen einzugestehen, dass ein weiter und selbstloser Gedanke zwar etwas Treffliches ist, aber die Wirklichkeit fängt erst bei der That an. Was unser Schicksal im eigentlichen Sinne ausmacht, das sind die unter unsern Gedanken, die unter dem Drucke der vielen unvollkommenen, dunklen und fast noch unbestimmten Gedanken die Kraft besessen oder endlich der Notwendigkeit nachgegeben haben, sich in Thaten, Gebärden, Gefühle und Gewohnheiten umzusetzen. Damit soll nicht gesagt sein, dass man die andern vernachlässigen müsse. Unsere Gedanken rings um unser wirkliches Wesen sind wie ein Heer, das eine Stadt belagert. Wahrscheinlich wird die Mehrzahl der Soldaten, wenn die Stadt genommen ist, nicht in ihre Umwallung hineinkommen. Man wird namentlich die Hilfstruppen, die Barbaren, kurz, alle formlosen Banden fernhalten, die dem Rausche, der Plünderung, der Brandstiftung und den Blutthaten zu leicht nachgehen würden. Wahrscheinlich auch, dass zwei Drittel der Truppen am Entscheidungskampfe keinen Anteil nehmen werden. Aber man bedarf sehr oft unnützer Kräfte; und es ist sonnenklar, dass die Stadt nicht gezittert und ihre Thore nicht aufgethan hätte, wenn das Heer auf den weiten Flächen ringsum nicht unzählig und vor den Mauern nicht wohlgeschult gewesen wäre. Ebenso geht es in unserm moralischen Leben. Die Gedanken, die noch nicht in die Wirklichkeit getreten sind, sind nicht vollauf vergeblich gewesen; sie haben die anderen angetrieben oder unterstützt, aber diese sind die einzigen, die ihre Aufgabe zu Ende geführt haben. Und deshalb müssen wir auch vor den dichten Reihen unserer verworrenen und trüben Vorstellungen eine Schaar von Gedanken haben, die menschlicher, einfacher und allezeit bereit sind, in die Stadt einzudringen.

 

. Man mag sich in einem sehr reinen Verlangen nach unstofflicher Güte über die Wirklichkeit hinausschwingen, aber tausend Absichten sind nicht eine Gebärde wert; nicht als ob die Absichten gar keinen Wert hätten, sondern weil die geringste Gebärde der Güte, des Mutes, der Gerechtigkeit mehr als tausend gute Absichten erfordert.

Die Chiromanten behaupten, dass unser ganzes Leben sich in unserer Hand ausprägte, und was sie unser Leben nennen, ist eine gewisse Zahl von Handlungen, die vor oder nach ihrem Geschehen unauslöschliche Zeichen in unser Fleisch eingraben. Unsere Gedanken und Absichten lassen darin so gut wie keine Spur zurück. Wenn ich manchen Tag lang verräterische, mörderische, heldische oder opferfrohe Pläne genährt habe, wird meine Hand nichts davon sagen; wenn ich aber durch Zufall, vielleicht durch Irrtum, an der Biegung einer Strasse jemanden getötet habe, der mich zu bedrohen schien, oder wenn ich eines Tages auf derselben Strasse einen Neugeborenen den Flammen entreissen soll, die ihn umzingeln, so wird meine Hand mein Leben lang das unabweisliche Zeichen des Mordes oder der Liebe tragen. Ob die Chiromanten sich Einbildungen hingeben oder nicht, thut wenig zur Sache; auf dem Grunde dieser Wahrnehmung liegt eine grosse moralische Weisheit. Ein Gedanke kann mich bis zu meinem Tode auf derselben Stelle im Weltall belassen; aber eine That lässt mich in der Rangordnung der Wesen fast immer eine Stufe vorwärts oder zurück kommen. Ein Gedanke ist eine vereinzelte, irrende und vergängliche Kraft, die heute aufbricht und die ich morgen vielleicht nicht wiedersehen werde. Aber eine That setzt ein beständiges Heer von Gedanken und Wünschen voraus, das nach heissem Ringen einen Stützpunkt in der Wirklichkeit zu finden gewusst hat.

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. Aber da sind wir sehr weit von der edlen Antigone und dem ewigen Problem der unfruchtbaren Tugend. Es ist gewiss, dass das Schicksal im gewöhnlichen, das heisst in dem Sinne, in dem es einzig und allein den Weg vom Leben zum Tode bedeutet, die Tugend durchaus nicht achtet. Am Rande dieses Abgrundes, der gleichsam das Zentralbecken ist, in welchem alle Moralen sich endgiltig läutern oder trüben müssen, sind wir gezwungen, zwischen Rechtfertigung und Verurteilung des Zufalls zu wählen. Die meisten Opfer der Pflicht lassen sich auf den Typus des Opfers der Antigone zurückführen. Wer von uns hat in seiner Umgebung nicht mehr als ein Beispiel von gezüchtigtem Heldentum gesehen? Mich liess einmal ein Freund von seinem Lager aus, das er nur noch mit jenem anderen Lager vertauschen sollte, welches man nie mehr verlässt, mit dem Finger alle die Umwege verfolgen, auf denen das Geschick ihn nach einer fremden Stadt geführt hatte, wo er einen Mund voll vergifteten Wassers trinken sollte, der ihm den Tod gab. Nichts war sichtbarer, als die unzähligen Fäden, mit denen das Schicksal dieses Leben umsponnen hatte, und der geringste Zufall schien mit einer unvergleichlichen Klugheit und Bosheit begabt. Und doch war mein Freund nur dorthin gegangen, um eine jener Pflichten zu erfüllen, die allein die Weisen, die Helden und Heiligen am Horizont des Bewusstseins wahrnehmen können. Was sollen wir dazu sagen? Schweigen wir über diesen Punkt noch; wir werden sogleich darauf zurückkommen. Wenn mein Freund am Leben geblieben wäre, so wäre er am nächsten Tage nach einer anderen Stadt aufgebrochen, wo eine andere Pflicht ihn gerufen hätte, ohne dass er sich gefragt hätte, ob er noch dem Rufe einer Pflicht entspräche. Es giebt solche Wesen, die allen Geboten gehorchen, welche ihr Herz ihnen zuflüstert. Sie kümmern sich nicht um die Ungerechtigkeit des Schicksals oder die Undankbarkeit der Tugend; sie beschäftigen sich nur mit der Ungerechtigkeit der Menschen und scheinen sich zu sagen, dass die anderen Ungerechtigkeiten sie noch nichts angehen.

Ist es wahr, dass man nie zögern soll und dass man seine Pflicht nur dann ganz thut, wenn man nicht einmal ahnt, dass man sie thut? Ist es unerlässlich, sich zu einer Höhe zu erheben, von wo die Pflicht nicht mehr aus der Wahl unserer edelsten Gefühle hervorzugehen scheint, sondern aus einer stummen Notwendigkeit unseres gesamten Wesens?

 

. Es giebt andere, die warten, sich befragen, urteilen, wägen und sich endlich entscheiden. Auch sie haben Recht. Was thut es, ob die Erfüllung einer Pflicht das Ergebnis des Instinktes oder des Nachdenkens ist? Die Gebärden des Instinktes haben, wie die Gebärden des Kindes, gewöhnlich eine etwas unbestimmte, naive, unerwartete Schönheit, die uns mehr rührt; aber besitzen die des guten, besonnenen Willens nicht eine ernsthaftere und festere Schönheit? Es ist wenigen Herzen gegeben, so kindlich bewundernswert zu sein, und es wäre ein Unrecht, alle Gesetze unserer Pflichten bei ihnen suchen zu wollen. Denn zuletzt gewahrt der gute, besonnene Wille, besonders wenn er sich keinen Selbsttäuschungen mehr hingiebt, eine grosse Zahl minder verführerischer Pflichten, die der Instinkt nicht sieht; und richtet sich der moralische Wert eines Wesens nicht ein wenig nach der Zahl der Pflichten, die es gewahrt und zu erfüllen wünscht?

Inzwischen ist es gut, dass die Mehrzahl, ohne sich zu aufmerksam zu befragen, – denn man muss sich sehr lange befragen, wenn die Antworten des Bewusstseins denen des Instinktes endlich ähnlich werden sollen – inzwischen ist es gut, dass die Mehrzahl in der Pflicht dem Instinkte des Opfers nachgeht. Sie folgt derart mit geschlossenen Augen einem Lichte, das die besten ihrer unsichtbaren Vorgänger vor ihr hertragen. Aber schliesslich liegt das Ideal nicht hier, und wer seinem Bruder zu Liebe dem Geringsten entsagt, und er weiss, was er aufgiebt, und warum er es aufgiebt, der nimmt im moralischen Leben eine höhere Stufe ein, als einer, der selbst sein Leben preisgiebt, ohne einen Blick zurückgeworfen zu haben.

 

. Die Welt ist voll von schwachen und edlen Wesen, die sich einbilden, das letzte Wort der Pflicht läge im Opfer. Die Welt ist voll von schönen Seelen, die, weil sie nichts Besseres zu thun wissen, ihr Leben zu opfern trachten; und das wird dann als die höchste Tugend angesehen. Nein! die höchste Tugend ist, zu wissen, was man thut, und wählen zu lernen, für was man sein Leben hingeben kann. Die Pflicht eines jeden von uns liegt nur vorläufig in dem, was er für seine Pflicht hält, und unsere allererste Pflicht ist die, unseren Pflichtbegriff zu klären. Das Wort Pflicht enthält oft viel mehr Irrtümer und moralische Fahrlässigkeiten als Tugenden. Klytemnästra weiht ihr Leben der Vergeltung, um den Tod Iphigeniens an Agamemmnon zu rächen, und Orest opfert das seine, um den Tod Agamemmnons an Klytemnästra zu rächen. Aber es brauchte nur ein Weiser vorüberzugehen und zu sagen: »Vergebet Euren Feinden!« – und alle Pflichten der Rache waren aus dem menschlichen Bewusstsein getilgt. Es wird vielleicht eines Tages genügen, dass ein anderer Weiser vorübergeht, damit die meisten Pflichten der Aufopferung gleichfalls verbannt werden. Inzwischen erschöpfen gewisse Vorstellungen über Entsagung, Ergebung und Aufopferung die schönsten moralischen Kräfte der Menschheit tiefer, als grosse Laster und selbst Verbrechen.

 

. Die Entsagung ist gut und notwendig bei den allgemeinen und unvermeidlichen Akten des Lebens, aber auf allen Punkten, wo der Kampf möglich ist, besteht die Entsagung nur aus Unwissenheit, Ohnmacht oder verhüllter Faulheit. Desgleichen ist die Aufopferung oft genug nur ein ermatteter Arm, den die Entsagung noch ins Leere ausstreckt. Es ist schön, sich einfach opfern zu können, wenn das Opfer uns entgegen kommt und wenn es den anderen Menschen ein wahres Glück bringt; aber es ist nicht weise, noch nützlich, sein Leben dem Suchen nach Aufopferung zu weihen und dieses Suchen als den höchsten Triumph des Geistes über das Fleisch anzusehen. Überhaupt legt man auf den Triumph über das Fleisch einen übertrieben grossen Wert; diese angeblichen Triumphe sind in den meisten Fällen nur völlige Niederlagen des Lebens. Das Opfer kann eine Blume sein, welche die Tugend im Vorübergehen pflückt; aber sie hat sich nicht auf den Weg gemacht, um diese Blume zu pflücken. Es ist ein schwerer Irrtum, zu glauben, dass die Schönheit einer Seele in ihrem Verlangen nach Aufopferung läge; ihre fruchtbare Schönheit liegt in ihrem Bewusstsein und in der Erhebung und Kraft ihres Lebens. Es ist wahr, dass es Seelen giebt, die das Gefühl zu leben nur im Opfer haben; aber es ist ebenso wahr, dass diese Seelen nicht den Mut noch die Kraft haben, nach einem anderen moralischen Leben zu suchen. Es ist im allgemeinen viel leichter, sich zu opfern, das ist, sein moralisches Leben zu Gunsten dessen preiszugeben, der es zu nehmen geruht, als sein moralisches Schicksal zu vollenden und die Aufgabe, zu der uns die Natur geschaffen hat, zu Ende zu führen. Es ist im allgemeinen viel leichter, moralisch und selbst physisch für die Anderen zu sterben, als für sie leben zu lernen. Zu viele Wesen schläfern so jede Initiative, jedes persönliche Dasein mit der Vorstellung ein, dass sie stets bereit sein müssen, sich zu opfern. Ein Bewusstsein, das über die Vorstellung der Aufopferung nicht hinauskommt und sich im Einklang mit sich selbst glaubt, weil es unablässig nach einer Gelegenheit sucht, alles hinzugeben, was es hat, ist ein Bewusstsein, das die Augen geschlossen hat und am Fusse des Berges eingeschlafen ist. Es ist schön, sich hinzugeben, und überdies kommt man auf diese Weise schliesslich dahin, sich ein wenig zu besitzen; aber es hiesse, sich auf eine kleine Hingabe vorbereiten, wenn man seinen Brüdern nichts hinzugeben hat, als das Verlangen nach Hingabe. Ehe wir geben, versuchen wir doch einmal, zu erwerben, und glauben wir nicht, dass wir im Geben von der Pflicht des Erwerbens entbunden seien! Erwarten wir die Stunde des Opfers, indem wir an anderen Dingen arbeiten. Sie schlägt schliesslich doch immer; aber verlieren wir unsere Zeit nicht damit, auf dem Zifferblatte des Lebens unaufhörlich nach ihr zu suchen.

 

. Es giebt solche und solche Opfer; und ich spreche hier nicht vom Opfer der Starken, die, wie Antigone, auf sich selbst zu verzichten wissen, wenn das Schicksal die Gestalt des augenscheinlichen Glückes ihrer Brüder annimmt und ihnen gebietet, ihr Glück und Leben fahren zu lassen. Ich spreche hier vom Opfer der Schwachen, von dem Opfer, das sich mit kindlicher Befriedigung in seiner Nutzlosigkeit spiegelt, von dem Opfer, das sich damit zufrieden giebt, uns wie eine blinde Amme in den abgemagerten Armen des Verzichtens und des freiwilligen Leidens zu wiegen. Man höre, was in dieser Hinsicht ein hervorragender Denker unserer Zeit, John Ruskin, sagt: »Gottes Wille ist, dass wir durch das Glück und das Leben unserer Brüder, und nicht durch ihr Unglück und ihren Tod leben. Es kann vorkommen, dass ein Kind für seine Eltern sterben muss, aber die Absicht des Himmels ist, dass es für sie lebe. Nicht durch seine Aufopferung, sondern durch seine Kraft, seine Freude und Lebenskraft ist es ihnen eine Erneuerung der ihren und wie ein Pfeil in der Hand eines Riesen. Ebenso verhält es sich mit allen anderen wahrhaften Beziehungen. Die Menschen unterstützen einander durch ihre Freuden und nicht durch ihre Trübsale. Sie sind nicht dazu geschaffen, sich für einander zu töten, sondern sich durch einander zu stärken. Und wer weiss, ob unter den vielen sehr schönen Dingen, die ein irriger Gebrauch sehr schlecht gemacht hat, ein gewisser unbewusster und verzärtelter Aufopferungstrieb nicht unter die verhängnisvollsten zu rechnen ist. Man hat manchen Seelen so gut beigebracht, dass Leiden Tugend sei, dass sie Pein und Herzensangst auf sich nehmen, als ob es ihr unvermeidliches Erbteil wäre, und gar nicht begreifen, dass ihre Niederlage darum nicht minder zu beklagen ist, weil sie ihren Feinden verhängnisvoller ist, als ihnen selbst.«

 

. Man sagt uns: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« Aber wenn man sich selbst auf eine engherzige, kindliche und furchtsame Weise liebt, wird man seinen Nächsten auf dieselbe Weise lieben. Man lerne doch weitherzig, gesund, weise und vollkommen sich selbst lieben; das ist etwas weniger leicht, als man glaubt. Die Selbstsucht einer starken und hellsichtigen Seele ist von viel wohlthätigerer Wirkung, als alle Hingebung einer blinden und schwachen Seele. Ehe man für die anderen da ist, hat man für sich selbst da zu sein; und ehe man sich fortgiebt, muss man sich erwerben. Sei versichert, dass die Erwerbung von etwas Selbstbewusstsein im tiefsten Grunde tausendmal mehr wert ist, als die Hingabe deiner gesamten Unbewusstheit.

Fast alle grossen Dinge dieser Welt geschahen durch Wesen, die durchaus nicht daran dachten, sich zu opfern. Platon lässt nicht von seinem Denken ab, um mit den Weinenden Athens zu weinen; Newton lässt seine Spekulationen nicht im Stiche, um nach Gelegenheit zu Mitleid oder Trübsal zu suchen, und Mark Aurel vor allem – denn es handelt sich hier um das häufigste und gefährlichste moralische Opfer – lässt die Klarheit seiner Seele nicht verlöschen, um die niedrige Seele Faustinas zu beglücken. Was aber im Dasein Platons, Newtons oder Mark Aurels recht ist, das ist im Dasein jeder Seele billig. Denn jede Seele hat in ihrer Sphäre die gleichen Pflichten gegen sich, wie die Seele der Grössten. Man muss sich ein für allemal davon überzeugen, dass die erste Pflicht jeder Seele die ist, möglichst vollkommen, glücklich, selbständig und gross zu sein. Es handelt sich hier nicht um Selbstsucht oder Hochmut. Man wird nur dann wirklich hochherzig und wahrhaft demütig, wenn man ein geklärtes, friedfertiges und getrostes Selbstgefühl hat. Man kann zu diesem Zwecke selbst die Leidenschaft des Opferbringens opfern, denn das Opfer soll kein Mittel zur Veredelung, sondern nur ein Zeichen der Veredelung sein.

 

. Wenn nötig, müssen wir unseren unglücklichen Brüdern unseren Besitz, unsere Zeit, unser Leben preisgeben können; es ist dies die ausnahmsweise Gabe einzelner Ausnahmestunden; aber der Weise ist nicht gehalten, sein Glück und Alles, was sein Dasein umgiebt, zu vernachlässigen, um sich einzig und allein auf ein paar Ausnahmestunden vorzubereiten, die er mit mehr oder weniger Heldenmut durchzumachen hat. In der Moral muss man sich vor allem der Pflichten befleissigen, die alle Tage wiederkehren, und der brüderlichen Handlungen, die sich nicht erschöpfen. Unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, ist das einzige, wovon wir den glücklichen oder unglücklichen Seelen, die Schulter an Schulter mit uns auf der grossen Strasse des Lebens wandern, unaufhörlich etwas mitteilen können, die Kraft, die Zuversicht und die beruhigte Selbständigkeit unserer Seele. Darum ist auch das geringste Menschenkind verpflichtet, seine Seele so zu nähren und zu vergrössern, als ob es wüsste, dass sie eines Tages berufen werden sollte, einen Gott zu trösten oder zu erquicken. Wenn es gilt, eine Seele vorzubereiten, so muss man sie immer auf einen göttlichen Beruf vorbereiten. Nur in diesem Bereiche und unter dieser Bedingung geschieht die wahre Hingabe des Menschen und vollzieht sich das Opfer der Opfer. Und wenn für Sokrates oder Mark Aurel die Stunde schlägt, für ihn, der tausend Leben lebte und tausendmal sein Leben durchmessen hat: glaubt man da nicht, dass Alles, was er giebt, tausendmal mehr wiegt, als das, was einer geben kann, der zur Erhöhung seines Selbstbewusstseins nicht einen Schritt gethan hat? Und glaubt man, wenn ein Gott ist, dass er das Opfer nur nach unserem leiblichen Blute abwägt, und dass das Blut der Seele – ihre Tugend, ihr Selbstgefühl, ihr ganzes moralisches Leben und ihre ganze Kraft, die sie im Laufe von Jahren angehäuft hat – nichts wert ist?

 

. Nicht durch Aufopferung wird die Seele grösser, sondern indem sie grösser wird, verliert sie die Aufopferung aus den Augen, wie der Wanderer, wenn er höher steigt, die Blumen des Thales aus den Blicken verliert. Die Aufopferung ist ein schönes Zeichen von Thatlust und Ungeduld, aber man sollte diese Ungeduld nicht um ihrer selbst willen pflegen. Den erwachenden Seelen heisst alles Opfer, aber wenig trägt diesen Namen mehr, wenn die Seele ein Leben gefunden hat, wo Mitleid, Hingebung und Selbstverleugnung nicht mehr unerlässliche Bedingungen, sondern unsichtbare Blüten sind. In Wahrheit empfinden zu viele Wesen das Bedürfnis, ein Glück, eine Liebe, einen Glauben, eine Hoffnung, die ihnen gehören, selbst unnötig zu zerstören, um sich in der Helle der Brandopferflammen leuchten zu sehen. Man möchte sagen, dass sie eine Leuchte tragen, deren Gebrauch sie nicht kennen; und wenn die Nacht sinkt und sie nach Licht lechzen, schütten sie den Inhalt auf ein fremdes Feuer.

Hüten wir uns zu handeln wie der Leuchtturmwärter im Märchen, der den Armen der benachbarten Hütten das Öl der grossen Leuchten austeilte, die den Ozean erhellen sollten. Jede Seele ist in ihrem Umkreise die Wächterin eines mehr oder minder notwendigen Leuchtturmes. Die geringste Mutter, die sich ganz und gar von ihren engsten Mutterpflichten betrüben, verzehren und vernichten lässt, giebt ihr Öl den anderen; und ihre Kinder werden ihr Leben lang darunter leiden, dass die Seele ihrer Mutter nicht so hell war, wie sie sein konnte. Die unstoffliche Kraft, die in unserem Herzen leuchtet, soll vor allem um ihrer selbst willen leuchten. Nur um diesen Preis wird sie auch den anderen leuchten. Und so klein auch deine Leuchte sein mag, gieb nie von dem Öle, das sie nährt, sondern von dem Lichte, das sie krönt!

 

. Es ist gewiss, dass der Altruismus jederzeit das Graviationszentrum der edlen Seelen bleiben wird; aber die schwachen Seelen verlieren sich in den anderen, während die starken sich dort wiederfinden. Das ist der grosse Unterschied. Es giebt etwas Höheres, als seinen Nächsten zu lieben, wie sich selbst, das ist: sich selbst in ihm zu lieben! Es giebt eine Güte, die gewissen Seelen vorausgeht; es giebt eine, die gewissen anderen nachfolgt. Es giebt eine Güte, die erschöpft, und eine andere, welche nährt. Vergessen wir nicht, dass im Austausch der Seelen die, welche immer zu geben meinen, durchaus nicht die grossmütigen sind. Eine starke Seele nimmt ohne Unterlass, auch von den ärmsten, eine schwache Seele giebt immer, auch den reichsten; aber sie hat eine Art zu geben, die nichts als entmutigte Begierde ist; und wenn ein Gott käme und mit uns abrechnete, würden wir vielleicht sehen, dass man im Nehmen giebt und im Geben nimmt. Es kommt oft vor, dass eine mittelmässige Seele erst von dem Tage an zu wachsen anfängt, wo sie eine Seele getroffen hat, die sie ganz ausschöpft.

 

. Warum sich nicht eingestehen, dass es nicht die Pflicht der Pflichten ist, mit allen Weinenden zu weinen, mit allen Leidenden zu leiden und sein Herz dem Vorübergehenden hinzuhalten, damit sie es morden oder liebkosen! Thränen, Leiden und Wunden sind uns nur insoweit heilsam, als sie unser Leben nicht entmutigen. Vergessen wir es nie: was auch unser Beruf auf Erden, der Endzweck unseres Strebens und unserer Hoffnungen, das Ergebnis unserer Schmerzen und Freuden sein mag, – wir sind vor allem die blinden Hüter des Lebens. Dies ist das einzig und allein Gewisse, dies ist der einzige feste Pol der menschlichen Moral. Man hat uns das Leben gegeben, wir wissen nicht warum, aber das scheint klar: nicht, um es zu schwächen oder zu verlieren.

Wir stellen sogar eine ganz besondere Form des Lebens auf diesem Planeten dar, nämlich das denkende und fühlende Leben, und darum ist alles, was geeignet ist, die Glut des Denkens, die Glut der Gefühle herabzumindern, wahrscheinlich unmoralisch. Versuchen wir doch, diese Glut zu schüren, zu verschönern und zu erweitern; vermehren wir vor allem unser Vertrauen in die Grösse, die Macht und das Schicksal des Menschen. Das heisst, ich könnte ganz genau so gut sagen: seine Kleinheit, seine Schwäche und sein Elend. Es ist ebenso begeisternd, in grossartigem Elend, wie in grossartigem Glücke zu leben. Es liegt alles in allem genommen wenig daran, ob der Mensch oder das Weltall uns bewundernswert erscheint, wenn uns nur etwas bewundernswert erscheint und wir das Bewusstsein des Unendlichen in uns erhöhen können. Ein Stern, den wir entdecken, vermehrt die Gedanken, die Leidenschaften und den Mut des Menschen um mehr als einen Strahl. Alles Schöne, was wir in unserer Umgebung wahrnehmen, ist schon in unserem Herzen schön; alles Verehrungswürdige und Grosse, was wir in uns selbst finden, finden wir zugleich in dem anderen. Wenn meine Seele an diesem Morgen erwacht und in ihren Liebesgedanken eine Vorstellung angetroffen hat, die sie einem Gotte, oder, wie ich es vorhin ausgedrückt habe, dem schönsten ihrer Wünsche näher bringt, so sehe ich diese nämliche Vorstellung in dem Armen lebendig, der einen Augenblick später unter meinen Fenstern vorübergegangen ist, und ich liebe ihn fortan mehr, weil ich ihn nun besser kenne.

Glauben wir nicht, dass es unnütz sei, so zu lieben. Dank Einzelnen, die derart tief und tiefer lieben werden, wird der Mensch einst wissen, was er thun soll. Die wahre Moral muss aus bewusster und unendlicher Liebe hervorgehen. Die grosse Menschenliebe, das ist die Veredelung. Aber ich kann keinen anderen veredeln, wenn ich mich selbst nicht zuerst veredelt habe; ich kann andere nicht bewundern, wenn ich in mir selbst nichts Bewundernswürdiges gefunden habe. Wenn ich eine edle That gethan habe, so ist der beste Lohn, den mir diese That gewährt, die immer natürlichere, immer unbezwinglichere Gewissheit, dass andere es ebenso machen können. Jeder Gedanke, der mein Herz erweitert, mehrt in mir die Liebe und Hochachtung gegen die Menschen. In dem Maasse, wie ich steige, steigt auch ihr. Doch wenn ich mir, um euch zu lieben, die Schwingen der Liebe beschneide, weil eure Liebe noch keine Flügel hat, so wird es in der Tiefe des Thales zweimal mehr Thränen und unnütze Klagen geben, aber die Liebe ist dem Gipfel um keinen Schritt näher gekommen. Lieben wir immer auf dem höchsten Gipfel, den wir erreichen können. Lieben wir nie aus Mitleid, wenn man aus Liebe lieben kann; vergeben wir nie aus Güte, wenn man aus Gerechtigkeit vergeben kann; lernen wir nie trösten, wo man achten lernen kann. Und achten wir stets darauf, den Wert der Liebe zu erhöhen, die wir den Menschen schenken. Ein Becher dieser Liebe, auf den Gipfeln geschlürft, wiegt hundert auf, die man aus den stehenden Cisternen der gewöhnlichen Nächstenliebe schöpft. Und wenn ein Mensch, den du nicht mehr aus Mitleid liebst, oder einfach, weil er weint, wenn dieser Mensch bis zuletzt nicht wissen soll, dass du ihn in diesem Augenblicke liebst, weil du ihn zugleich mit dir veredelt hast, – was liegt daran im Grunde? Muss man in diesem Leben nicht stets handeln, wie wenn der Gott, nach dem das höchste Verlangen unseres Herzens steht, uns unablässig betrachtete?

 

. Aber kehren wir zu den grossen unzusammenhängenden Gesetzen zurück. Vor nicht langer Zeit gab das Schicksal bei einer fürchterlichen Katastrophe, dem Brande des Wohlthätigkeitsbazars in Paris am 4. Mai 1897, wieder einmal und vielleicht auf eine sinnfälligere Weise denn je, das kund, was die Menschen seine Ungerechtigkeit, seine Blindheit oder Gleichgiltigkeit nennen. Es schien dort ausdrücklich die einzige Tugend zu strafen, welche die Vernunft uns noch gelassen hat, das ist die Nächstenliebe. Es ist wahrscheinlich, dass einige unvollkommene Gerechte in dem Kreise waren, in den das Schicksal an jenem Abend trat. Es scheint selbst gewiss dass wenigstens ein wahrhaft Gerechter und Selbstloser sich darunter befand. Die fast sichere Anwesenheit dieses Gerechten lässt uns die furchtbare Frage, die wir nicht umhin können, uns zu stellen, in ihrer ganzen Deutlichkeit aufwerfen. Wäre er nicht dagewesen, so könnten wir uns sagen, dass wir nicht wissen, aus welcher Fülle von überlegener Gerechtigkeit eine Ungerechtigkeit besteht, die uns ungeheuer scheint. Wir könnten uns sagen, dass eben das, was man hienieden »Barmherzigkeit« nennt, vielleicht nur die zu kecke Blüte einer fortdauernden Ungerechtigkeit ist. Der Mensch kann sich nicht zu dem Glauben entschliessen, dass er bei allem, was von aussen kommt, nur mit blinden Thatsachen und Kräften, mit Wasser, Feuer, Luft, den Gesetzen der Schwerkraft und einigen anderen, zu rechnen und zu kämpfen habe. Wir bedürfen einer Entschuldigung des Zufalls, und wenn wir ihn förmlich anklagen: sprechen wir ihn damit nicht in Vergangenheit und Zukunft frei, und zwar mit jenem peinlichen Erstaunen, das uns befällt, wenn wir vernehmen, dass ein guter Mensch eine niedrige und gemeine Handlung begangen hat? Wir gefallen uns darin, einen idealen Zufall zu erfinden, der gerechter ist als wir selbst, und wenn er eine nach unseren Begriffen unentschuldbare Ungerechtigkeit begangen hat, so schenken wir ihm, wenn der erste Schrecken vorüber ist, im tiefsten Grunde unseres Herzens doch unser Vertrauen wieder, indem wir uns sagen, dass wir nicht alles wissen, was er weiss, und dass er Gesetzen gehorcht haben muss, in die wir nicht eindringen können. Die Welt schiene uns allzu schwarz, wenn der Zufall nicht moralisch wäre. Dass es keine Gerechtigkeit oder Moral gäbe, die über die unsere wacht, das schiene uns die Verneinung jeder Moral und jeder Gerechtigkeit selbst. Wir wollen nichts mehr von der engen und niederen Moral von Zuckerbrot und Peitsche wissen, welche die positiven Religionen uns bieten; aber wir vergessen, dass, wenn der Zufall das geringste Gerechtigkeitsgefühl besässe, die hohe und selbstlose Moral, von der wir träumen, nicht mehr möglich wäre. Wenn wir nicht überzeugt sind, dass der Zufall absolut ungerecht ist, so haben wir kein Verdienst mehr am Gerecht-Sein. Wir verwerfen das Ideal des Heiligen und sind überzeugt, dass die Erfüllung einer Pflicht in der Hoffnung auf irgend einen Lohn – und wäre dies nur die Befriedigung der erfüllten Pflicht – in den Augen eines weisen Gottes ungefähr denselben Wert haben muss, wie wenn man Böses thut, weil es einem nützt. Wir sagen uns mit Vorliebe, dass Gott, wenn er so hoch ist, wie der höchste Gedanke, den er in die Seele des Besten unter uns gelegt hat, alle Menschen von sich weisen müsste, die ihm haben gefallen wollen, das heisst alle, die das Gute nicht gethan haben, als ob er nicht da wäre, und die die Tugend nicht mehr geliebt haben, als Gott selbst. Aber in Wahrheit entdecken wir beim geringsten Begebnis, dass wir kaum über die Moralbücher der Kinder hinaus sind, wo alle Verbrechen bestraft werden. Wir hätten vielmehr Musterbücher von bestraften Tugenden nötig. Sie wären den wahrhaften Seelen nützlicher und würden den Stolz und die Energie im Guten besser unterhalten. Verlieren wir nie aus den Augen, dass gerade aus der Unsittlichkeit des Zufalls eine schönere Moral entstehen muss. Es ist hier wie überall; je verlassener der Mensch sich fühlt, desto mehr findet er die dem Menschen eigene Kraft wieder. Was uns bei diesen grossen Ungerechtigkeiten beunruhigt, dass ist die Verneinung eines hohen Moralgesetzes; aber aus eben dieser Verneinung entspringt unmittelbar ein höheres Moralgesetz. Mit der Aufhebung von Züchtigung und Belohnung beginnt die Notwendigkeit, das Gute um seiner selbst willen zu thun. Machen wir uns nie Gedanken darüber, wenn ein hohes Moralgesetz zu verschwinden scheint; es entsteht allemal ein grösseres dafür. Alles, was wir der Sittlichkeit des Schicksals andichten, nehmen wir unserem reinsten sittlichen Ideale. Je mehr wir hingegen überzeugt sind, dass das Schicksal nicht gerecht ist, um so mehr läutern und erweitern wir vor uns die Gefilde einer höheren Moral. Bilden wir uns nicht ein, dass die Grundmauern der Tugend einstürzen, weil Gott uns ungerecht erscheint. In der augenscheinlichsten Ungerechtigkeit ihres Gottes würde die menschliche Tugend endlich unerschütterliche Grundlagen finden.

 

. Ergeben wir uns also in die Gleichgiltigkeit der Natur gegen den Weisen. Diese Gleichgiltigkeit scheint uns nur deshalb seltsam, weil wir nicht weise genug sind; denn es gehört zu den Pflichten der Weisheit, sich von der Stellung, welche der Mensch im Weltall einnimmt, möglichst genau und demütig Rechenschaft abzulegen.

Der Mensch scheint gross in seiner Sphäre, wie die Biene auf ihrer Honigzelle gross erscheint; aber es wäre unsinnig, zu hoffen, dass sich auch nur eine Blume mehr auf den Fluren erschliessen wird, weil die Bienenkönigin in ihrem Bienenstocke heldenhaft gewesen ist. Wähnen wir nicht, dass wir uns herabsetzen, indem wir das Weltall vergrössern. Mögen wir es sein, oder die Welt, was uns gross erscheint: das Gefühl des Unendlichen, welches das Blut unserer Tugend ist, wird auf die nämliche Weise in unserer Seele kreisen.

Was ist ein Akt der Tugend, dass wir so ausserordentliche Belohnungen von ihm erwarten? Nicht in den Gesetzen der Schwerkraft, sondern in uns müssen wir diesen Lohn suchen. Nur die, welche nicht wissen, was das Gute ist, fordern eine Vergütung dafür. Vor allem vergessen wir nicht, dass ein Akt der Tugend allemal ein Akt des Glückes ist! Er ist allemal die Blüte eines langen, glücklichen und zufriedenen Innenlebens. Er setzt immer lange Tage und Stunden der Ruhe auf den friedlichsten Gebirgen unserer Seele voraus. Keine nachträgliche Belohnung wiegt die ruhige Zufriedenheit auf, die ihm voranging. Der Gerechte, der in der eben genannten Katastrophe umkam, war nur deshalb dort, weil seine Seele eine Gewissheit und einen Frieden im Guten hatte, den kein Glück, kein Ruhm, keine Liebe ihm hätte geben können. Wenn vor solchen Wesen die Flammen sich aufthäten, die Wasser zurückwichen und der Tod bisweilen anhielte: was wären dann die Helden und die Gerechten? Wohin käme das Glück einer Tugend, die nur deshalb vollkommen glücklich ist, weil sie edel und rein ist, und die nur deshalb edel und rein ist, weil sie keine Belohnung erwartet? Es giebt eine menschliche Freude, Gutes zu thun, indem man einen Zweck verfolgt; es giebt eine göttliche Freude, Gutes zu thun und nichts zu erhoffen. Man weiss im allgemeinen, warum man Böses thut; aber je weniger genau man weiss, warum man Gutes thut, desto reiner wird das Gute sein, das man thut. Um festzustellen, was ein Gerechter wert ist, frage man ihn nur, warum er gerecht sei; wahrscheinlich wird der, welcher am wenigsten zu antworten weiss, der vollkommenste Gerechte sein. Es ist möglich, dass die Gründe, welche eine Seele zur Heldenthat treiben, mit der Ausbreitung des Verstandes abzunehmen scheinen; aber zur selben Zeit wird der Verstand gewahr, dass er kein anderes Ideal mehr hat, als ein immer geheimeres und selbstloseres Heldentum.

Aber wie dem auch sei, wer das Bedürfnis hat, der Tugend aufzuhelfen, indem er ihr die Bestätigung des Schicksals und der Welt beilegt, hat noch kein Gefühl für Tugend. Man handelt nur dann wahrhaft gut, wenn man für sich allein gut handelt, ohne etwas anderes zu erwarten, als das immer bessere Wissen um das Gute. »Ohne andere Zeugen, als sein Herz,« wie Saint-Just sagt. Ohne Zweifel besteht in Gottes Augen ein merklicher Unterschied zwischen der Seele eines Menschen, der sich einbildet, dass die Strahlen einer tugendhaften Handlung vielleicht keine Grenzen finden, und der Seele dessen, der sich sagt, dass diese Strahlen wahrscheinlich nicht dazu gemacht sind, um über die Umfriedung seines Herzens hinauszudringen. Eine Wahrheit, die zu ehrgeizig ist, um nicht zweifelhaft zu sein, kann im Augenblick grössere Kraft verleihen; aber eine demütigere und menschlichere Wahrheit giebt immer eine geduldigere und ernstere Kraft. Soll man der Krieger sein, der überzeugt ist, dass jeder seiner Streiche den Sieg entscheidet, oder der, welcher weiss, wie wenig er in dem grossen Handgemenge ist, und der dennoch mit ebenso festem Mute ficht? Der gute Mensch würde sich Vorwürfe machen, wenn er seinen Nächsten täuschte; aber er ist allzu geneigt, dem Gedanken Raum zu geben, dass sich selbst etwas täuschen eine ideale That ist.

Aber kommen wir auf die Enttäuschungen des Gerechten zurück. Ich glaube, die Besten unter uns würden ein anderes Glück suchen, wenn die Tugend nützlich wäre, und Gott würde ihnen ihren grossen Grund zum Leben nehmen, wenn er sie oft belohnte. Vielleicht ist nichts notwendig, nichts unerlässlich, und wenn die Seele nicht mehr Freude daran hätte, das Gute zu thun, weil es das Gute ist, so würde sie eine andere, reinere Freude finden; aber einstweilen ist dies die schönste, die sie hat; rühren wir nicht ohne Grund daran! Rühren wir nicht zu oft an das Unglück der Tugend, wir möchten sonst an das reinste Wesen ihres Glückes rühren! Die Seelen, welche dieses Glück wahrhaft schmecken, wären ebenso erstaunt, wenn man daran dächte, sie zu belohnen, wie die anderen es wären, wenn man daran dächte, das Unglück zu bestrafen. Nur wer nicht in der Gerechtigkeit lebt, beklagt sich stets darüber.

 

. Die indische Weisheit hat Recht, wenn sie sagt: »Arbeite, wie die, welche ehrgeizig sind. Achte das Leben, wie die, welche danach dürstet. Sei glücklich, wie die, welche der Lebensfreude leben.«

Es ist noch heute der Mittelpunkt der menschlichen Weisheit, so zu handeln, als ob jede Handlung eine ausserordentliche und ewige Frucht trüge, und doch zu wissen, wie wenig eine gerechte Handlung dem Weltall gegenüber bedeutet. Das Gefühl dieses Missverhältnisses zu haben, und nichtsdestoweniger zu wandeln, als ob die Verhältnisse menschlich wären. Die grosse Sphäre nicht aus den Augen zu verlieren, und sich in der kleinen mit dem gleichen Ernst, der gleichen Zuversicht, Überzeugtheit und Zufriedenheit zu bewegen, als ob sie die grosse enthielte.

Bedürfen wir der Illusionen, um unser Verlangen nach dem Guten wach zu erhalten? Wenn dem so wäre, müsste man sich gestehen, dass dieses Verlangen der menschlichen Natur nicht entspricht. Es ist nicht klug, zu wähnen, dass das Herz noch lange an Dinge glaubte, an die der Verstand nicht mehr glaubt. Aber die Vernunft kann an Dinge glauben lernen, die im Herzen liegen. Sie flüchtet sich schliesslich sogar in immer grösserer Einfalt dorthin, jedesmal, wenn die Nacht auf ihr Gebiet fällt. Denn der Verstand steht zum Herzen in demselben Verhältnis, wie eine hellsichtige, aber zu junge Tochter, die der Ratschläge ihrer blinden und lächelnden Mutter oft bedarf. Es kommt ein Augenblick im Leben, wo die sittliche Schönheit notwendiger erscheint, als die geistige. Es kommt ein Augenblick, wo alle Erwerbungen des Geistes sich in die Grösse der Seele ergiessen müssen, wenn sie nicht elendiglich in der Ebene versanden wollen, wie ein Fluss, der das Meer nicht findet.

Doch übertreiben wir nichts, wenn es sich um die Weisheit handelt, und wenn es die Weisheit selbst wäre. Wenn die Kräfte der Aussenwelt vor dem guten Menschen auch nicht immer Halt machen, so sind ihm doch die meisten inneren Gewalten unterthan; und fast alles Glück und Unglück des Menschen kommt von den inneren Gewalten. Wir sagten schon an anderer Stelle, dass der vorübergehende Weise tausend Dramen unterbricht. Er unterbricht thatsächlich durch seine blosse Gegenwart den grössten Teil der Dramen, die aus dem Irrtum oder dem Bösen entstehen. Er unterbricht sie in sich selbst und verhindert, dass sie um ihn entstehen. Leute, die tausend Thorheiten oder Schlechtigkeiten begangen hätten, thun dies nicht, weil sie ein Wesen treffen, das mit einfacher und lebendiger Weisheit begabt ist; denn im Leben sind die meisten Charaktere unselbständige Charaktere, die dem Zufall folgen und sich an die Fährte des Leidens oder des Friedens heften. Um Jean-Jacques Rousseau z. B. seufzt alles, verrät alles, ist alles voller Umschweife und Hintergedanken, scheint alles zu rasen; um Jean Paul ist alles redlich, scheint alles edel und deutlich, wird alles sanftmütig und liebt alles. Was wir in uns beherrschen, das beherrschen wir in Allen, die uns nahe kommen. Um den Gerechten bildet sich ein grosser Kreis des Friedens, der die Pfeile des Bösen allmählich lähmt. Die sittlichen Leiden, die ihn erreichen, hängen nicht mehr von den Menschen ab. Es ist buchstäblich wahr, ihre Bosheit kann uns nur so lange Thränen entlocken, als wir den Wunsch, unsere Feinde weinen zu machen, noch nicht verloren haben. Wenn die Blicke des Neides uns das Herz bluten machen, so hätten wir diese nämlichen Blicke auch schleudern können; und wenn ein Verrat uns Thränen entlockt, so haben wir allemal das Vermögen, zu verraten, in uns. Man kann die Seele nur mit den Angriffswaffen verwunden, die sie selbst noch nicht auf den Scheiterhaufen der Liebe geworfen hat.

 

. Die Tragödien des Guten spielen sich auf einer Bühne ab, die selbst dem Weisen geheimnisvoll bleibt. Wir werden nur ihrer Lösung gewahr, aber wir wissen nicht, in welchem Schatten oder Lichte diese Lösung sich vorbereitet. Der Gerechte kann sich nur das eine vornehmen, dass sein Schicksal ihn bei einem Akte der Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit erreichen soll. Er wird dann nie anders als im Zustande der Gnade betroffen werden, wie die Christen es nennen, das ist im Zustande innerer Glückseligkeit. Und das heisst schon, den bösen inneren Schicksalen alle, und den Zufällen von draussen die meisten Thore verschliessen.

In dem Maasse, wie unsere Vorstellung von Pflicht und Glück sich erhebt, läutert sich auch das Gebiet des sittlichen Leidens; und ist dieses nicht vor allen anderen das tyrannische Gebiet des Schicksals? Unser Glück hängt im grossen und ganzen nur von unserer inneren Freiheit ab. Diese Freiheit wächst, wenn wir Gutes thun. Es ist keine schöne Redensart, sondern etwas sehr Wahres, dass Mark Aurel sich jedesmal befreit, wenn er eine neue Wahrheit in der Nachsicht entdeckt, jedesmal, wenn er verzeiht oder denkt. Es ist noch weniger Redensart, dass Macbeth sich bei jedem seiner Verbrechen selbst kettet. Und alles, was von einem grossen Verbrechen auf einer königlichen Bühne und von einer grossen Tugend in einem Heldendasein wahr ist, gilt gleichermaassen für die kleinsten Fehler und die unbekannten Tugenden des gewöhnlichen Lebens. Rings um uns leben lauter unentwickelte Mark Aurels und Macbeths, die nicht aus ihrem Kämmerlein herauskommen. So unvollkommen unsere Vorstellung vom Guten auch sein mag, sobald wir sie einen Augenblick aufgeben, geben wir uns den böswilligen Kräften der Aussenwelt preis. Eine einfache Lüge gegen mich selbst, die ich in meiner Seele stillschweigend begrabe, kann meiner inneren Freiheit ebenso verhängnisvoll werden, wie ein Verrat auf öffentlichem Platze. Und sobald meine innere Freiheit angetastet ist, nähert das Schicksal sich meiner äusseren Freiheit, wie ein Tiger sich langsam seiner Beute nähert, die er seit langem erspäht hat.

 

. Giebt es ein Drama, in dem ein vollkommen schönes und weises Wesen so tief leiden kann, wie ein Böser? Es scheint ausgemacht, dass das Böse auf dieser Welt seine Züchtigung sicherer nach sich zieht, als die Tugend ihren Lohn. Freilich hat das Verbrechen die Gewohnheit, sich mit grossem Geschrei selbst zu strafen, während die Tugend sich in dem Schweigen belohnt, welches der umfriedete Garten ihres Glückes ist. Das Böse endlich führt sichtbare Katastrophen herbei, aber ein Akt der Tugend ist ein stummes Opfer, das den tiefsten Gesetzen des menschlichen Daseins dargebracht wird. Und darum scheint uns auch die Wage der grossen Gerechtigkeit zweifellos lieber nach der Schattenseite als nach der Lichtseite zu sinken. Aber wenn es wenig wahrscheinlich ist, dass es ein »Glück im Verbrechen« giebt: giebt es darum häufiger ein »Unglück in der Tugend?« Rechnen wir zunächst die physischen Leiden ab, die wenigstens, deren Quelle in den dunkelsten Wäldern des Schicksals verborgen liegt. Es ist selbstverständlich, dass eine Horde von Henkersknechten den Spinoza auf die Folter hätte spannen können, und dass es den schmerzhaftesten Krankheiten unbenommen ist, den Antonius Pius ebenso zu peinigen, wie Regan und Goneril. Aber das ist nicht der menschliche, sondern der animalische Anteil des Schmerzes; wiewohl zu beachten ist, dass die Weisheit ihre jüngste Tochter, die Wissenschaft, alltäglich ausschickt, um im Gebiete des Schicksals just die Zone des physischen Leidens zu begrenzen. Aber wie dem auch sei; es wird in diesem Bezirke stets einen unzugänglichen Winkel geben, wo das Missgeschick Herr bleibt. Es wird immer einige Opfer einer unerklärlichen Ungerechtigkeit geben, und wenn diese uns betrübt, so lehrt sie uns doch zum mindesten, einer wahreren, menschlicheren und stolzeren Wahrheit das beizulegen, was wir einer zu mystischen Wahrheit nehmen.

Wir werden erst an dem Tage wahrhaft gerecht, wo wir darauf angewiesen sind, das Vorbild der Gerechtigkeit in uns allein zu suchen. Zuletzt führt die Ungerechtigkeit des Schicksals den Menschen auf seine Stellung im Weltall zurück. Es ist ihm nicht heilsam, sich unablässig umzusehen, wie ein Kind, das seine Mutter noch sucht. Man glaube nicht, dass aus diesen Enttäuschungen die sittliche Entmutigung hervorgehen müsste. So entmutigend eine Wahrheit auch scheinen mag, so ändert sie doch den Mut derer, die sie aufzunehmen wissen. Auf alle Fälle ist eine entmutigende Wahrheit schon dadurch, dass sie eine Wahrheit ist, stets mehr wert, als die schönste Lüge, die ermutigt. Aber es giebt keine entmutigende Wahrheit, es giebt im Gegenteil manchen Mut, der nicht wahrhaftig ist. Was die Schwachen erschüttert das befestigt die Starken. »Ich denke an den Tag unserer Liebe,« schrieb ein Weib, »wo wir durch ein grosses Fenster auf das Meer sahen und am Rande des Horizontes eine grosse Menge weisser Segelboote erblickten, die alle folgsam näher kamen, um in dem Hafen, der zu unseren Füssen lag, zu landen. Mir ist dieser Tag noch gegenwärtig, als wäre es heute gewesen. Entsinnst du dich noch, dass ein einziges Boot ein fast schwarzes Segel trug, und dass es das letzte war, das in den Hafen einlief? Entsinnst du dich auch, dass es zur Scheidestunde war, und wie schmerzlich uns dies berührte, denn wir wollten erst aufbrechen, wenn das letzte Boot angelegt hätte? Wir hätten in diesem Zufall, dass das letzte Segel schwarz war, einen Grund zur Entmutigung finden können. Aber wie Liebende, die dem Leben gut sind, haben wir es lächelnd hingenommen und uns wieder einmal erkannt.«

So sollte man es auch im Dasein machen. Es ist nicht immer leicht, zu lachen, wenn die schwarzen Segel kommen, aber es ist möglich, etwas im Leben zu finden, das uns beherrscht, ohne uns betrübt zu machen, wie die Liebe jenes Weib beherrschte und es doch nicht betrübte. In dem Maasse, wie Herz und Geist sich erweitern, sprechen wir minder oft von Ungerechtigkeit. Es ist gut, sich zu sagen, dass auf dieser Welt alles zum Besten für uns bestellt ist und dass wir die Früchte der Erde sind. Ein Gesetz des Weltalls, das uns grausam dünkt, muss unserem Wesen dennoch mehr entsprechen, als alle noch so schönen Gesetze, die wir uns ausdenken. Die Zeiten sind vielleicht gekommen, wo der Mensch lernen muss, den Mittelpunkt seines Stolzes und seiner Freuden wo anders als in sich selbst anzusetzen. Jemehr unsere Augen sich öffnen, fühlen wir uns von einer immer gewaltigeren Macht beherrscht, aber wir erlangen zugleich die immer innigere Gewissheit, an dieser Macht teilzuhaben; und selbst, wenn sie uns schlägt, können wir sie bewundern, wie der Knabe Telemach die Kraft des väterlichen Arms bewunderte.

Gewöhnen wir uns allmählich daran, die Unbewusstheit der Natur mit derselben Wissbegierde und demselben zufriedenen und zärtlichen Staunen zu betrachten, mit dem wir bisweilen die unbezwinglichen Regungen unseres eigenen Unbewussten betrachten. Was macht es aus, ob wir mit der kleinen Leuchte unserer Vernunft in dem herumleuchten, was man die Unbewusstheit des Alls nennt, oder in der unseren? Die eine gehört uns so tief an, wie die andere. »Nächst dem Wissen um das, was wir vermögen,« sagt Guyau, »ist eines der höchsten Vorrechte der Menschen die Erkenntnis seiner Ohnmacht, wenigstens als Individuum. Gerade aus dem Missverhältnis zwischen dem Unendlichen, das uns tötet, und dem Nichts, das wir sind, entspringt in uns das Gefühl einer gewissen Grösse; wir wollen lieber von einem Berge, als von einem Stein erdrückt werden, und im Kriege ziehen wir es vor, einer gegen tausend zu fallen. Indem uns der Verstand derart das Unmaass unserer Ohnmacht zeigt, nimmt er uns das Bedauern über unsere Niederlage.«

Wer weiss, es giebt schon Augenblicke, wo das, was uns niederwirft, uns mehr anzugehen scheint, als der Teil von uns, der unterliegt. Nichts wechselt leichter den Brennpunkt, als die Eigenliebe, denn ein Instinkt sagt uns, dass nichts uns weniger zugehört. Die Eigenliebe der Höflinge, die den Thron eines mächtigen Königs umgeben, ist stets bereit, in der Allmacht dieses Königs eine glänzendere Freistatt zu finden, und eine Demütigung, die von einem gefürchteten Throne herab auf ihr Haupt fällt, bricht ihren Stolz um so weniger, aus je grösserer Höhe sie kommt. Die Natur würde, wenn sie minder gleichgiltig wäre, uns nicht mehr ungeheuer genug erscheinen. Unser Unendlichkeitsgefühl bedarf ihrer ganzen Unendlichkeit, um sich voll auszudehnen, und etwas in unserer Seele wird immer vorziehen, in einer Welt ohne Grenzen bisweilen zu weinen, als in einer beschränkten Welt stets glücklich zu sein.

Wäre das Schicksal gegen den Weisen also unveränderlich gerecht, so wäre dies ohne Zweifel wunderschön, eben weil es so wäre. Da es aber gleichgiltig ist, ist es noch besser und vielleicht auch grösser; und jedenfalls wird dem Weltall auf diese Weise die Bedeutung zurückerstattet, die unserer Seele genommen wird. Wir verlieren dabei nichts, denn keine Grösse, mag sie in der Natur oder im Grunde unseres Wesens liegen, ist für den Weisen verloren. Warum sich also über unsere Lage im Unendlichen Gedanken machen? Alles, was einem Wesen davon angehören kann, wird immer nur dem angehören, der es bewundert.

 

. Erinnert man sich des Balzac'schen Romanes »Pierrette« in der Serie der »Célibataires«? Es ist kein Meisterwerk Balzacs, weitgefehlt, auch spreche ich nicht unter diesem Gesichtspunkte davon. Ein zartes und unschuldiges bretonisches Waisenkind wird darin durch seinen Unstern den Grosseltern, die es anbeten, entrissen, um im Schosse einer Provinzialstadt in dem trübseligen Hause eines Onkels und einer Tante gleichsam begraben zu werden. Monsieur Rogron und Mademoiselle Sylvie, seine Schwester, sind Kaufleute, die sich zur Ruhe gesetzt haben, harte und trübe Bourgeois, von thörichter Eitelkeit und Geiz erfüllt, beide ledig und unruhig, mürrisch und instinktiv gehässig.

Kaum ist sie angelangt, so beginnt das Martyrium der wehrlosen und liebenden Pierrette. Es mischen sich schreckliche Geldfragen hinein, Ersparnisse, die flüssig zu machen, Heiraten, die zu vermeiden, ehrgeizige Wünsche, die zu befriedigen sind, Erbschaften, die man sich zuzuwenden sucht, u. s. w. Die Nachbarn und Freunde der Rogrons wohnen der langen und langsamen Hinrichtung des Opfers gemütlich bei, und ihr Instinkt lächelt naturgemäss den Erfolgen der Stärkeren zu. Alles endet mit dem jammervollen Tode Pierrettes, dem Triumphe der Rogrons, des unglaublichen Advokaten Vinet und aller ihrer Helfershelfer. Nichts mehr soll das Glück ihrer Henker stören. Der Zufall selbst scheint sie zu segnen, und Balzac schliesst, durch die Realität der Dinge hingerissen, halb widerwillig mit diesen Worten: »Einigen wir uns darüber, dass die Gesetzlichkeit für alle sozialen Schelmereien ein schönes Ding wäre, wenn Gott nicht lebte.«

Man braucht nach Dramen dieser Art nicht erst in den Romanen zu suchen, da sie sich alltäglich in einer grossen Zahl von Wohnungen abspielen. Auch habe ich diese Geschichte dem Balzac nur deshalb entlehnt, weil die alltägliche Geschichte vom Triumph der Ungerechtigkeit dort bis zum Ende durchgeführt wird. Es giebt nichts Sittlicheres, als dergleichen Beispiele, und vielleicht thut die Mehrheit der Moralisten unrecht, ihre grosse Lehre abzuschwächen, indem sie die Unbilligkeit des Schicksals, wie sie können, zu entschuldigen trachten. Die Einen überlassen Gott die Sorge, die Unschuld zu belohnen; die Anderen werden uns sagen, dass bei diesem Vorfall nicht das Opfer am beklagenswertesten ist. Sie haben zweifellos in mehr als einer Hinsicht Recht. Die kleine verfolgte und unglückliche Pierrette hat ein Glück, das ihre Henker nicht kennen. Sie bleibt liebend, zart und sanftmütig auch in ihren Thränen; und das macht glücklicher, als wenn man in seinem Lächeln hart, selbstsüchtig und gehässig ist. Es ist traurig, zu lieben, ohne wieder geliebt zu werden, aber noch trauriger ist es, garnicht zu lieben. Und wie könnte man die plumpe Genugthuung, die kleinen und niederen Hoffnungen der Rogrons mit der grossen Sehnsucht des Kindes vergleichen, das in seiner Seele das Ende der Ungerechtigkeit erwartet? Nichts sagt uns, dass die blasse Pierrette mehr Geist habe, als ihre Umgebung; aber der Leidenshorizont eines ungerecht Leidenden dehnt sich so weit, dass er sich an gewissen Stellen mit den Freuden eines überlegenen Geistes berührt, wie der Horizont der Erde, auch wenn man nicht auf dem Gipfel eines Berges steht, die Säume des Himmels zu berühren scheint. Die Ungerechtigkeit, die wir begehen, lässt uns an nichts Geschmack finden, als an den kleinen materiellen Freuden, und in dem Maasse, wie wir diese geniessen, beneiden wir unser Opfer um die Fähigkeit, immer lebendiger alles zu geniessen, was wir ihm nicht nehmen können, alles, was wir nicht erreichen können, alles, was nicht unmittelbar die Materie berührt. Ein Akt der Ungerechtigkeit öffnet dem Opfer ganz weit dieselbe Pforte zu seiner Seele, die es dem Henker verschliesst; und der Mensch, der dann leidet, atmet eine reinere Luft, als der, welcher leiden macht. Es ist hundertmal lichter im Herzensgrunde der Verfolgten, als im Herzensgrunde ihrer Verfolger; – und hängt die ganze Gesundheit des Glückes nicht von einer gewissen Klarheit ab, die wir in uns haben? Das menschliche Wesen, das Schmerzen bereitet, löscht in sich mehr Glück aus, als es in dem auslöschen kann, den es überfällt.

Wer von uns, wenn wir wählen müssten, wäre nicht lieber an Stelle der Pierrette als an Stelle der Rogrons? Unser Glücksinstinkt weiss wohl, dass einer, der moralisch Recht hat, nicht unglücklicher sein kann, als einer, der Unrecht hat, selbst dann, wenn er von einem Thron herab Unrecht hätte. Gewiss, die Rogrons wissen vielleicht nichts von ihrer Ungerechtigkeit. Aber was thut das? Man atmet nicht freier, ob man sich des Bösen bewusst ist oder nicht. Im Gegenteil hat der, welcher mit Bewusstsein Böses thut, oft den Wunsch, aus seinem Gefängnis herauszukommen, während der andere darin stirbt, ohne auch nur in Gedanken alles das gekostet zu haben, was ausserhalb der Mauern liegt, die ihm das wahre Schicksal des Menschen traurig verbergen.

 

. Wozu die Gerechtigkeit da suchen, wo sie nicht sein kann? Ist sie wo anders, als in unserer Seele? Die Sprache, die sie spricht, scheint die natürliche Sprache des menschlichen Geistes; aber sobald dieser ins Weltall zu wandern vermag, muss er andere Worte lernen. Es giebt keinen Gedanken, an den das Weltall weniger denkt, als den der Gerechtigkeit. Es kümmert sich um nichts, als um Gleichgewicht; und was wir Gerechtigkeit nennen, ist nur eine menschliche Umwandlung der Gesetze des Gleichgewichtes, ebenso wie der Honig nur eine Umwandlung der Säfte ist, die sich in den Blumen befinden. Ausserhalb des Menschen giebt es keine Gerechtigkeit; aber im Menschen geschieht nie eine Ungerechtigkeit. Der Leib mag schlimm erworbenen Vergnügungen fröhnen; aber die Seele kennt keine andere Befriedigung, als die, welche ihre Tugend verdient hat. Unser inneres Glück wird von einem Richter gewogen, den nichts bestechen kann; denn der Versuch, ihn zu bestechen, würde noch etwas von dem letzten wahren Glück nehmen, das er auf die lichte Waagschale legen wollte. Es ist entschieden herzzerreissend, dass man ein wehrloses Wesen knechten kann, wie die Rogrons es thaten, und dass es möglich ist, ihm einige Jahre des Daseins zu verdüstern, das der Welten-Zufall ihm auf dieser Erde anwies. Aber man sollte von Ungerechtigkeit nur dann reden, wenn die That der Rogrons ihnen ein inneres Glück, einen Frieden, eine Erhebung des Denkens und der Lebensgewohnheiten verschafft hätte, wie sie Spinoza oder gar Mark Aurel durch Tugend, Nachdenken und Liebe erlangte. Bei einer bösen That kann man freilich eine gewisse geistige Befriedigung empfinden; aber das Böse, das man thut, beschränkt notwendig den Geist und kettet ihn an persönliche und vergängliche Dinge. Indem wir eine ungerechte That begehen, zeigen wir, dass wir das Glück, welches der Mensch erreichen kann, noch nicht erreicht haben. Im Grunde genommen sucht der Böse selbst im Bösen einen gewissen Frieden, eine gewisse Entfaltung der Seele, und er kann sich in der Entfaltung, die er darin findet, für glücklich halten; aber würde Mark Aurel, der die andere Entfaltung, die andere Ruhe kannte, darin glücklich sein? Ein Kind, welches das Meer nicht gesehen hat, und das man an das Ufer eines grossen Sees führt, wird sich einbilden, dass es das Meer sieht, in die Hände klatschen und keine höheren Ansprüche machen. Aber das wirkliche Meer besteht darum nicht minder.

Hat jemand in den Augen derer, die anderes erschauten, ein Glück, das er nicht verdient, wenn dieses Glück von tausend kleinen Siegen abhängt, die Neid, Eitelkeit und Gleichgiltigkeit alltäglich davontragen müssen? Begehrt man sein Lebensbewusstsein, die Religion, die seiner Seele genügt, die Vorstellung vom Weltall, die seiner Handlungsweise entspricht? Und doch macht dies alles das mehr oder minder breite, mehr oder minder tiefe Bett des Glückes aus. Er glaubt vielleicht dasselbe, wie der Weise, dass es einen Gott giebt, oder dass es keinen Gott giebt, dass alles mit diesem Leben ein Ende hat, oder dass alles sich im anderen fortsetzt, dass es nur Materie giebt, oder dass es nur Geist giebt. Aber meint man, er glaubte dies auf dieselbe Weise? Hängt das Glück, das wir aus dem Geglaubten schöpfen, das ist die Sicherheit des Lebens, der Friede und die Zuversicht des inneren Daseins, die nicht entsagende, sondern thätige und forschende Beistimmung, die wir den Naturgesetzen zollen, wie ein Kind den Eltern, – nicht mehr von der Weise ab, wie wir glauben, als von dem, was wir glauben? Ich kann auf eine fromme und unendliche Weise glauben, dass kein Gott ist, dass meine Erscheinung keinen Endzweck ausser sich hat, dass das Dasein meiner Seele im Haushalte dieser grenzenlosen Welt nicht notwendiger ist, als die vergänglichen Färbungen einer Blume. Du kannst auf kleinliche Weise glauben, dass ein einziger allmächtiger Gott ist, der dich liebt und vorzieht; ich werde glücklicher und ruhiger sein als du, wenn meine Ungewissheit grösser, ernster und edler ist, als dein Glaube, wenn sie meine Seele inniger befragt hat, wenn sie einen weiteren Horizont umspannt, wenn sie mehr Dinge geliebt hat. Der Gott, an den ich nicht glaube, wird mächtiger und tröstlicher werden, als der, an den du glaubst, wenn anders ich verdient habe, dass mein Zweifel über Gedanken und Gefühlen ruht, die weiter und reiner sind, als deine Gewissheit. Darum noch einmal: es kommt nicht auf Glauben oder Nicht-Glauben an, sondern auf die Redlichkeit, die Weite, Tiefe und Selbstlosigkeit der Gründe, aus denen man glaubt oder nicht glaubt.

 

. Man wählt diese Gründe nicht, man verdient sie wie Belohnungen. Die, welche wir auswählen, sind nur zufällig gekaufte Sklaven; sie scheinen kaum zu leben, schliessen sich an nichts an und erwarten nichts, als eine Gelegenheit, zu entfliehen. Aber die, welche wir verdient haben, spornen unsere Schritte an, wie eine nachdenkliche und treue Antigone. Man bringt diese Gründe nie in eine Seele hinein; sie müssen dort lange Zeit gelebt haben, sie müssen dort ihre Kindheit verbracht haben, mit allen unseren Gedanken, mit allen unseren Handlungen genährt sein, sie müssen tausend Andenken an ein Leben voller Aufrichtigkeit und Liebe dort wiederfinden. Je mehr diese Gründe wachsen, je mehr der Horizont unserer Seele sich erweitert, umso mehr erweitert sich auch der Horizont des Glückes; denn der Raum, den unsere Gefühle und Gedanken einnehmen, ist der einzige, auf dem unser Glück sich bewegen kann. Unser Glück bedarf keines materiellen Raumes; aber der moralische Raum, der sich vor ihm aufthut, kann nie gross genug sein. Man muss ihn stets zu vergrössern trachten, bis der Augenblick kommt, wo unser Glück keine andere Nahrung mehr heischt, als eben den Raum, den es entdeckt, indem es sich erhebt. Dann erst beginnt der Mensch in dem wahrhaft menschlichen und uneinnehmbaren Teile seines Wesens glücklich zu sein, und alles andere Glück ist im Grunde nur ein noch unbewusstes Bruchstück dieses Glückes, das da nachsinnt, betrachtet und keine Grenzen mehr gewahrt, weder in sich, noch in dem, was umher ist.

 

. Dieser Raum beschränkt sich im Bösen alle Tage mehr, weil sich Gedanken und Gefühle notwendigerweise darin beschränken. Aber wenn ein Mensch nur ein wenig gestiegen ist, so thut er nichts Böses mehr, weil es nichts Böses giebt, das im letzten Grunde nicht aus einem engen Gedanken oder mittelmässigen Gefühl entspringt. Er thut nichts Böses mehr, weil seine Gefühle höher und reiner geworden sind, und seine Gedanken werden noch reiner, weil er nichts Böses mehr thun kann. So sind unsere Thaten und Gedanken, indem sie den friedlichen Himmel erobern, wo unser Seelenleben sich ruhig ausdehnen kann, ebenso unzertrennlich wie die beiden Flügel des Vogels; und was für den Vogel noch nichts ist, als ein Gesetz des Gleichgewichtes, wird hier zum Gesetze der Gerechtigkeit.

 

. Wer weiss, ob die klägliche Befriedigung, die man im Bösen findet, der Seele überhaupt fühlbar wird, ehe sich ein unbestimmtes Verlangen hineinmischt, ein Vorsatz oder eine schwache und entfernte Möglichkeit, gut oder barmherzig zu sein?

Der Böse, der sein Opfer frei giebt, hat in seiner Freude wohl nie eine lichtere und minder unnütze Seite entdeckt, als in dem Augenblick, wo er daran denkt, dass er verzeihen könnte. Man möchte meinen, dass die Bosheit bisweilen einen Lichtstrahl von der Güte erborgen muss, um ihrem eigenen Triumphe zu leuchten. Oder vermag der Mensch in seinem Hass zu lächeln, ohne sein Lächeln in der Liebe zu suchen? Freilich wird dieses Lächeln sehr flüchtig sein. Hier giebt es ebensowenig wie anderswo eine innere Ungerechtigkeit. Man kann sagen, dass es keine Seele giebt, deren Glücks-Maassstab nicht genau dieselbe Einteilung trägt, wie der der Liebe oder Barmherzigkeit; denn Barmherzigkeit oder Liebe ist eine Gerechtigkeit, die nur mehr mit Edelsteinen zu rechnen hat. Ein Mensch, der sein Glück im Bösen ernten will, räumt eben hierdurch ein, dass er nicht so glücklich ist, wie der, welcher ihn Böses thun sieht und es missbilligt. Gleichwohl hat er dasselbe Ziel wie der Gerechte. Er sucht das Glück, ich weiss nicht, welchen Frieden oder welche Gewissheit. Wozu ihn bestrafen? Man zürnt dem Armen nicht, weil er kein Schloss bewohnt; er ist unglücklich genug, dass er nur eine Hütte hat. In den Augen eines Wesens, welches das Unsichtbare sähe, besässe auch die Seele des ungerechtesten Menschen die Eigenschaften, die unbefleckten Gewänder und das heilige Thun der Gerechtigkeit. Es sähe sie mit der nämlichen Sorgfalt, wie die Seele des Heiligen, des Helden und des Denkers, den Frieden, die Liebe, das Lebensbewusstsein, das Lächeln der Erde oder des Himmels wägen, und das, wodurch dies Lächeln aufgehoben, herabgewürdigt oder vergiftet wird. Vielleicht thun wir nicht unrecht, uns im Schosse eines Weltalls, das sich garnicht darum kümmert, mit Gerechtigkeit zu befassen, ebensowenig wie die Biene unrecht thut, im Schosse eines Weltalls, das nichts dergleichen aus sich selbst hervorbringt, Honig zu bereiten. Aber wir thun unrecht, eine äussere Gerechtigkeit zu wollen, die es nicht giebt. Die in uns ist, muss uns genügen. Alles wird unaufhörlich in unserem Wesen gewogen und gewertet. Wir werten uns selbst; oder vielmehr wertet uns unser Glück.

 

. Man wird vielleicht sagen, dass das Gute seine Niederlagen und Täuschungen hat, wie das Böse. Aber die Niederlagen und Täuschungen des Guten erleuchten und beruhigen das Denken, statt es zu verdüstern und zu betrüben. Ein Akt der Tugend kann ins Leere fallen; aber gerade dann lehrt er uns die Tiefen der Seele und des Lebens erkennen. Und er fällt oft ins Leere, – ein leuchtenderer Stein, als unsere Gedanken. Wenn ein niederträchtiger Plan der Mademoiselle Rogron an der Unschuld Pierrettes scheitert, so schrumpft ihre Seele noch mehr zusammen, wenn aber eine der Wohlthaten des Titus einen Undankbaren trifft, so lehrt ihn die Nutzlosigkeit der Vergebung oder Liebe, den Blick über Vergebung und Liebe hinauszurichten. Es ist nicht wünschenswert, dass der Mensch sich in irgend etwas einschliesst, und wäre es selbst das Gute. Sei die letzte Gebärde der Tugend immer die eines Engels, der eine Thüre öffnet.

Man sollte diese Niederlagen segnen. Wenn der Zufall wollte, dass unser Feind in jedem Augenblicke, wo wir verzeihen, unser Bruder würde, so würden wir sterben, ohne zu wissen, was eine unvorsichtige Güte, die man nicht bedauert, in uns erleuchtet. Wir stürben, ohne Gelegenheit gehabt zu haben, die Gewalten, die unser Leben umgeben, an der grössten Gewalt, die sich in unserer Seele findet, zu messen. Die Nutzlosigkeit einer guten That, die scheinbare Unwirksamkeit eines erhabenen oder einfach redlichen Gedankens wirft auf eine Menge von Dingen ein Licht von anderer Art, als das, welches alle Nützlichkeit des Guten darauf würfe. Gewiss wäre es höchst erfreulich, wenn man den ausnahmslosen Sieg der Liebe feststellen könnte; aber es ist noch viel erfreulicher, durch diesen Selbstbetrug hindurch bis zur Wahrheit zu dringen. »Der Mensch,« hat ein Denker gesagt, den der Tod uns zu früh entriss, »der Mensch hat seine Würde im Laufe seiner Geschichte nur zu oft in Irrtümer gelegt, und die Wahrheit ist ihm zunächst als eine Beeinträchtigung seiner selbst erschienen. Die Wahrheit wiegt nicht immer den Traum auf, aber sie hat das für sich, dass sie die Wahrheit ist. Im Reiche der Gedanken giebt es nichts, das moralischer ist, als die Wahrheit.«

Und diese Wahrheit that nichts Bitteres; keine Wahrheit ist bitter für den Weisen. Auch er hat wünschen können, dass die Tugend Berge versetzt, und dass eine That der Liebe die Seele aller seiner Brüder mit ewigem Frieden erfüllt. Aber heute lernt er es vorziehen, dass dem nicht so ist. Und dies nicht wegen der Genugthuung, die sein Stolz dabei findet. Er hält sich nicht für besser als das Weltall, sondern er hält sich für minder wichtig darin. Er pflegt die Leidenschaft der Gerechtigkeit, die er in seiner Seele findet, nicht mehr wegen der Geistesfrüchte, die sie trägt, sondern aus Achtung vor allem Seienden und wegen der unerhofften Blumen, die sie in seinem Verstande zeitigt. Er verdammt nicht den Undankbaren; er verdammt nicht einmal die Undankbarkeit; er sagt sich nicht: »Ich bin besser als dieser,« oder: »Ich werde nicht in dieses Laster verfallen.« Aber die Undankbarkeit lehrt ihn, dass es im Wohlthun weitere und unpersönlichere Freuden giebt, die dem allgemeinen Leben mehr entsprechen, als die, welche er von der Dankbarkeit erwartete. Er versucht lieber, Das zu begreifen, was ist, als Das zu glauben, was er wünscht. Er hat lange Zeit wie der Arme gelebt, der plötzlich aus dem Schosse seiner Hütte in einen ungeheuren Palast gebracht ward. Als er erwachte, suchte er in den weiten Sälen voller Ungeduld nach den elenden Angedenken seiner engen Kammer. Wo war nun der Heerd und das Bett, der Tisch, der Essnapf und der Schemel? Er fand zwar noch die armselige Fackel seiner Abende, die an seinem Lager flackerte; aber ihr Schimmer reichte nicht bis an die hohen Wölbungen, und nur der nächste Pfeiler erschien ihm bei dem ohnmächtigen Flattern ihrer kleinen Lichtflügel in schwankenden Umrissen. Aber nach und nach gewöhnen sich seine Augen an die neue Behausung. Er lief durch die unzähligen Säle und freute sich über alles, was der Schein der Fackel nicht erhellte, ebenso tief, wie über das, was sie erleuchtete. Er hätte anfangs die Thüren etwas niedriger und die Treppen weniger breit gewünscht, und dass sich in den Gängen die Blicke nicht verlören. Aber je weiter er ging, desto mehr begriff er die Schönheit und Grösse dessen, was mit seinen Träumen nicht im Einklang stand. Er stellte mit Freuden fest, dass sich nicht alles, wie in seiner Hütte, um Tisch und Bett drehte. Er pries sich glücklich, dass der Palast nicht nach den mittelmässigen Gewohnheiten seines Elends zugeschnitten war. Er wusste zu bewundern, was seinen Wünschen widersprach, indem es seinen Blick erweiterte. Denn Alles, was besteht, tröstet und bestärkt den Weisen, und weise sein heisst, alles, was besteht, zu erforschen und anzunehmen.

 

. Sie lässt selbst die Rogrons zu. Sie nimmt noch mehr Anteil am Leben, als an der Gerechtigkeit oder Tugend, und wenn es vorkommt, dass sich eine zu abstrakte Tugend neben einem Leben befindet, das sich nur zwischen engen Wänden abspielt, so wird sie ihre Aufmerksamkeit lieber dem kleinen Leben zuwenden, als der grossen, unbeweglichen, hochmütigen und einsamen Tugend.

Vor allem missachtet sie nichts; es giebt für sie vielleicht nur ein Ding auf Erden, das gänzlich zu missachten ist, das ist die Missachtung selbst. Die Denker sind nur zu oft geneigt, die zu missachten, die durchs Leben gehen, ohne zu denken. Gewiss ist das Denken von hohem Werte, und man sollte vor allem danach streben, so viel und so gut zu denken, wie möglich. Aber liegt nicht eine gewisse Übertreibung in dem Glauben, dass ein bischen mehr oder weniger Geschicklichkeit in der Handhabung einer gewissen Anzahl allgemeiner Gedanken eine endgiltige Scheidewand zwischen zwei Menschen aufrichtete? Alles in Allem genommen, besteht zwischen dem grössten Denker und dem schlichten Kleinstädter oft kein grösserer Unterschied, als zwischen einer Wahrheit, die bisweilen ihren Ausdruck findet, und einer Wahrheit, die sich nie auf annehmbare Weise formuliert. Dies ist viel; dies ist ein tiefer Graben, aber kein Abgrund. Je mehr der Gedanke sich erhebt, um so willkürlicher und vergänglicher erscheint ihm die Grenze zwischen dem, der noch nicht denkt, und dem, der immer denkt. Der Kleinbürger ist voll von Vorurteilen, scheinbar lächerlichen Neigungen, engen, kleinlichen und oft ziemlich niedrigen Begriffen. Aber man stelle ihn neben den Weisen in die wesentlichsten Lebenslagen, vor den Schmerz, den Tod, die Liebe, das wirkliche Heldentum, und es wird mehr als einmal vorkommen, dass der Weise sich an seinen schlichten Gefährten wie an den Hüter einer Weisheit wendet, die ebenso menschlich, ebenso gewiss ist, wie die seine.

Es giebt Augenblicke, wo der Weise die Eitelkeit seiner geistigen Schätze erkennt, wo er inne wird, dass er von den anderen Menschen kaum durch einige Gewohnheiten und Worte getrennt ist, wo er an dem Werte dieser Worte irre wird. Dies sind die furchtbarsten Augenblicke der Weisheit. Denken heisst oft, sich täuschen, und der Denker, der sich verirrt, muss, um seinen Weg wiederzufinden, oft dorthin zurückkehren, wo die nicht Denkenden um eine schweigsame aber notwendige Wahrheit treulich sitzen geblieben sind. Sie hüten den Heerd der Gattung, die anderen tragen ihre Fackeln herum, und wenn die Fackel in zu dünner Luft zu flackern beginnt, so gebietet die Klugheit, sich dem Heerde wieder zu nähern. Man könnte glauben, dass dieser Heerd nie seinen Platz verändert, das macht, er rückt zugleich mit den Welten vor, und seine kleine Flamme zeigt die wirkliche Stunde der Menschheit an. Man weiss genau, was die träge Kraft dem Denker verdankt, aber man zieht nie in Rechnung, was der Denker der Kraft der Trägheit schuldet. Eine Welt, in der es nur Denker gäbe, würde vielleicht mehr als einer unerlässlichen Wahrheit verlustig gehen. In Wirklichkeit hört der Denker nur dann nicht auf, recht zu denken, wenn er nie die Fühlung mit den nicht Denkenden verliert.

Es ist leicht, gering zu schätzen, es ist weniger leicht, zu begreifen; und doch giebt es für den wahren Weisen nicht eine Geringschätzung, die sich nicht früher oder später in Erkenntnisse umsetzte. Jeder Gedanke, der geringschätzig über die grosse stumme Schaar hinweggeht, jeder Gedanke, der in dieser Schaar nicht tausend schlummernde Brüder und Schwestern erkennt, ist nur zu oft ein verderbliches oder unfruchtbares Hirngespinst. Es ist gut, sich bisweilen zu erinnern, dass in der geistigen wie in der äusseren Atmosphäre ohne Zweifel viel mehr Stickstoff als Sauerstoff vorhanden sein muss, damit sie lebensfähig bleibt.

 

. Ich begreife, dass Denker wie Balzac nichts weiter schildern mögen, als dies kleine Leben. Nichts ist so ewig sich selbst gleich, wie solch ein kleines Leben; und doch verändert sich von Jahrhundert zu Jahrhundert nichts gründlicher, als der Dunstkreis, der es umgiebt. Die gleichen Gebärden unter verschiedenen Himmeln, aber Himmel, die man nicht als verschieden erkennen würde, wenn die Gebärden nicht die gleichen wären. Eine grosse Heldenthat lenkt unsern Blick auf sich selbst, aber unbezeichnende Worte und Bewegungen lenken unsere Aufmerksamkeit auf den Horizont, der sie umgiebt; – und befindet sich der Blickpunkt der menschlichen Weisheit nicht stets am Horizonte? Besieht man sich die Dinge mit dem Gefühl und der Vernunft der Natur, so kann die allgemeine Mittelmässigkeit eines solchen Lebens garnicht wirklich mittelmässig sein, eben weil sie so allgemein ist. Überdies ist es höchst vergeblich, hierauf zu beharren; man kennt eine Seele immer nur bis zu der Höhe, bis zu welcher man die seine kennen gelernt hat; und es giebt kein Wesen, so klein es anfangs auch erscheinen mag, das nicht so weit aus dem Schatten tritt, als der Schatten um uns abnimmt. Nicht was man sieht, muss man vergrössern, um es zu lieben; sondern was man nicht liebt, muss man beleuchten, indem man die Flamme hebt, bis man auf gleiche Höhe mit der Liebe kommt. Dass jeden Tag ein Strahl aus unserer Seele tritt, das ist alles, was wir wünschen können. Er wird sich, gleichgiltig auf was, legen. Es giebt kein Ding, auf das ein Blick, ein Gedanke sich senken könnte, das nicht mehr Schätze enthält, als diese erleuchten können; kein Ding auf dieser Erde ist so klein, dass es nicht viel grösser wäre, als alles Licht, das eine Seele ihm geben kann.

 

. Das Wesen des Menschengeschickes, liegt es im gewöhnlichen Schicksal, das keine verwirrende Fülle von Einzelheiten hat, nicht am klarsten zu Tage? Ein grosses moralisches Ringen auf den Höhen ist ein schönes Schauspiel, und der aufmerksame Beobachter wird lange einen wunderbaren Baum auf kahler Hochfläche bewundern, aber am Schlusse seiner Betrachtung wird er in den Wald zurückkehren, wo die Bäume nicht wunderbar, aber unzählig sind. Möglich, dass der unermessliche Wald nur aus mittelmässigen Ästen und Stämmen besteht; aber ist er nicht tief, und hat er nicht Recht, weil er der Wald ist? Das letzte Wort wird nie den Ausnahmen gehören; und das sogenannte Erhabene sollte nur ein deutlicheres und durchdringenderes Bewusstsein des Normalen sein. Es ist heilsam, sich oftmals die auf den Höhen Kämpfenden anzusehen; aber ebenso nötig ist es, die, welche im Thale zu schlummern scheinen, nicht zu vergessen. Indem man sieht, was denen zustösst, die da schlafen, indem man sieht, wieviel man selbst gekämpft haben muss, um ihr enges Glück vom Glücke der einsam Kämpfenden zu unterscheiden, legt man dem Kampfe vielleicht weniger Bedeutung bei, aber man liebt ihn mehr. Je verschwiegener die Belohnung ist, desto wünschenswerter ist sie. Nicht, als ob man, wie ein unaufrichtiger Höfling, die Gunst des Glückes im geheimen lieber genösse, sondern weil die Freuden, die es uns derart gewährt, ohne dass die Anderen es merken, vielleicht die einzigen sind, die es dem Anteil unserer Brüder nicht entzieht. Dann sieht man nicht mehr auf jene Geringsten herab, um sich zu sagen: »Wie bin ich diesen Menschen doch überlegen,« sondern man kann sich endlich in aller Einfalt eingestehen: »In dem Maasse, wie ich mich erhebe, scheint es mir, dass ich mich weniger von meinen zahlreichen geringeren Gefährten entferne, und ich zähle die Schritte, die ich nach einem ungewissen Ideal mache, an den Schritten, welche mich denen näher bringen, die ich in der Unwissenheit und Eitelkeit der ersten Tage missachtet hatte.«

 

. Was ist im Grunde ein kleines Leben? Wir nennen so ein Leben, das nichts von sich weiss, ein Leben, dass sich zwischen vier oder fünf Personen auf der Stelle abspielt, ein Leben, dessen Gedanken, Gefühle, Leidenschaften und Wünsche sich um unbedeutende Dinge drehen. Doch für jeden, der es betrachtet, wird – eben dadurch, dass er es betrachtet – jedes Leben gross. Ein Leben ist an sich weder gross noch klein; es wird mehr oder weniger gross gesehen, das ist alles. Und ein Dasein, das allen Menschen hoch und weit erscheint, ist ein Dasein, das die Gewohnheit angenommen hat, sich selbst mit weitem Blick zu messen. Wenn man sich nie leben sieht, wird man notwendig in der Enge leben; aber der, welcher uns so leben sieht, wird gerade in der Mittelmässigkeit des Winkels, in dem wir leben, die Elemente eines Horizontes und einen festeren Stützpunkt finden, von dem sich sein Denken mit menschlicherer und gewisserer Kraft aufschwingen wird.

Auf den ersten Blick scheint es ringsum nur eingeschnürte, verschlossene und eintönige Wesen zu geben; nichts scheint das Leben einer alten Jungfer, eines Beamten von beschränktem Geiste, eines von seinem Gelde besessenen Geizhalses, mit unserer Seele, einem ewigen Gefühle, einem höheren Interesse und einer unerschöpflichen Menschlichkeit zu verknüpfen. Aber es braucht nur einer wie Balzac mit offenen Augen und gespanntem Ohre unter sie zu treten, und das Gefühl, das in einer armseligen »guten Stube« der Kleinstadt entsteht, wird sich so weit ausdehnen, wird das ganze Menschenleben bis zu so tiefen und so mächtigen Quellen aufwühlen, wie die erhabenste Leidenschaft, die in der Geschichte eines grossen Herrschers vom Thron herniederstrahlt. »Es giebt solche kleinen Stürme,« sagt in dieser Hinsicht Balzac in der trefflichsten seiner Kleine-Leute-Geschichten, dem »Pfarrer von Tours«, »es giebt solche kleinen Stürme, die in der Seele ebensoviel Leidenschaften entfesseln, als es bedurft hätte, um die grössten sozialen Interessen zu lenken. Ist es nicht ein Irrtum, zu glauben, dass die Zeit nur für solche Herzen schnell liefe, die, von mächtigen Plänen erfüllt, das Leben aufwühlen und anfachen? Die Stunden des Abtes Troubert verliefen ebenso lebensvoll, entflohen mit ebenso sorgenvollen Gedanken, wogten in ebenso tiefen Hoffnungen und Enttäuschungen auf und ab, wie die grausamsten Stunden des Ehrgeizigen, des Spielers und des Liebenden. Gott allein weiss um die Energie, welche uns die Triumphe kosten, die wir gegenwärtig über Menschen, Dinge und uns selbst davontragen. Und wenn wir nicht immer wissen, wohin wir gehen, so kennen wir doch die Ermüdung der Reise. Zum wenigsten wird – wenn es dem Historiker erlaubt ist, das Drama zu verlassen, das er erzählt, um einen Augenblick die Rolle des Kritikers zu übernehmen, wenn er dazu einladet, einen Blick auf das Dasein dieser alten Jungfern und zwei Äbte zu werfen, um darin den Grund des Unglücks zu suchen, das sie in ihrem Wesen verdarb, – so wird daraus vielleicht hervorgehen, dass es dem Menschen nötig ist, gewisse Leidenschaften zu empfinden, um Eigenschaften in sich zu entwickeln, die seinem Leben Adel geben, seinen Gesichtskreis erweitern und die allen Wesen natürliche Selbstsucht betäuben.«

Er spricht wahr. Man muss das Licht nicht immer um seiner selbst willen lieben, sondern darum, weil es leuchtet. Ein grosses Feuer auf den Gipfeln ist trefflich, aber es giebt wenig Menschen auf den Gipfeln, und eine kleine Flamme inmitten einer Menge wird oftmals von grösserem Nutzen sein. Zuletzt sehen auch die Grossen ihr eigenstes Wesen am besten in den kleinen Existenzen, und wenn man sich die engen Gefühle betrachtet, lernt man die seinen erweitern. Nicht als ob die engen Gefühle ein abstossendes Aussehen annähmen, sondern weil sie mit der Grösse der Wahrheit, die uns durchdringt, immer weniger im Einklang zu stehen scheinen. Es ist erlaubt, ein besseres Leben als das gewöhnliche zu erträumen; aber es ist, denke ich, nicht erlaubt, dieses Leben mit Grundsteinen aufzuführen, die sich nicht im gewöhnlichen Leben vorfinden. Man behauptet, dass es gut sei, über das Leben hinwegzusehen; aber vielleicht ist es noch besser, seine Seele daran zu gewöhnen, gerade vor sich hin zu blicken und nicht auf andere Gipfel zu zählen, auf die man seine Wünsche und Träume setzen kann, als auf solche, die sich deutlich von den Wolken unterscheiden, die am Horizonte leuchten.

 

. Dies alles führt uns auf den Punkt zurück, den wir seit langem verliessen. Wir hatten uns bei dem äusseren Schicksal aufgehalten; aber es giebt andere Thränen, als die, welche uns die äusseren Schmerzen entlocken. Der Weise, den wir lieben, soll inmitten aller menschlichen Leidenschaften stehen; denn die Leidenschaften unseres Herzens sind die einzige Nahrung, von der sich die Weisheit lange und gefahrlos ernähren kann. Unsere Leidenschaften sind die Werkleute, welche die Natur uns schickt, um uns beim Bau unseres Bewusstsein-Gebäudes – das ist unseres Glückes – behilflich zu sein; und ein Mensch, der die Werkleute nicht zulässt und vermeint, er könnte alle Steine des Daseins selbst heben, wird seiner Seele immer nur eine enge, kalte und nackte Zelle zum Obdach bieten.

Weise sein heisst durchaus nicht, keine Leidenschaften haben, sondern die zu läutern wissen, die man hat. Alles hängt von der Stelle ab, die man auf der Stufenleiter der Tage einnimmt. Dem einen sind die moralischen Schäden und Krankheiten Stufen zum Abwärtssteigen, dem anderen Sprossen zum Aufwärtssteigen. Es ist möglich, dass der Weise noch viele Dinge thut, die auch der Unweise thut; aber diesen lassen die Leidenschaften immer mehr im Instinkte untergehen, während die des Weisen allemal damit enden, einen verlorenen Winkel seines Bewusstseins zu erhellen. Er braucht nicht etwa wie ein Toller zu lieben, aber wenn er wie ein Toller liebt, wird er wahrscheinlich weiser werden, als wenn er immer nur verständig geliebt hätte. Nicht die Weisheit, sondern der Hochmut unter seiner unnützesten Form ist es, der im Unbeweglichen und Leeren gedeiht. Es genügt nicht, zu wissen, was zu thun ist, oder mit Gewissheit vorauszusehen, was die Helden gethan hätten. Das lässt sich äusserlich in einigen Stunden lernen. Es genügt nicht, die Absicht zu hegen, ein edles Leben zu führen, und sich dann in sein Kämmerlein zurückzuziehen, um dort diese Absicht zu pflegen. Die Weisheit, die man so erwirbt, wird nicht besser imstande sein, unsere Seele wirklich zu leiten oder zu verschönern, als die Ratschläge Anderer dazu imstande sind. »Man muss«, sagt ein indisches Sprichwort, »die Blume suchen, die sich in der Stille nach dem Sturm erschliesst, nicht vorher.«

 

. Man glaubt an die Wahrheit, Schönheit und Tiefe der schlichtesten und alltäglichsten Lebensgesetze, umsomehr, je weiter man auf den Pfaden des Daseins mit redlichem Sinne vordringt. Man lernt sie bewundern, eben weil sie so allgemein, so gleichförmig, so alltäglich sind. Man sucht und erwartet immer weniger das Ausserordentliche, denn man erkennt bald, dass das Ausserordentlichste in der ungeheuren friedlichen und einförmigen Bewegung der Natur die kindlichen Ansprüche unserer Unwissenheit und Eitelkeit sind. Man verlangt von den enteilenden Stunden nicht mehr seltsame und wunderbare Ereignisse, denn die wunderbaren Ereignisse begegnen nur denen, die noch keine Zuversicht in sich und in das Leben haben. Man erwartet nicht mehr mit gekreuzten Armen die Gelegenheit zu einer übermenschlichen That, denn man weiss, dass man in allen menschlichen Handlungen lebt. Man verlangt nicht mehr, dass Liebe, Freundschaft und Tod sich uns anbieten, mit erträumtem Zierrat geschmückt, von wunderbaren Verkettungen und Vorzeichen begleitet; man weiss sie in ihrer wirklichen Einfachheit und Nacktheit aufzunehmen. Man überzeugt sich endlich, dass man für Heldentum und alles, was in den Augen der schwachen, unbewussten und ungeduldigen Geister das Erhabene und Ausnahmsweise ausmacht, in der tapferen und vollkommenen Annahme des Daseins vollen Ersatz finden kann. Man hält sich nicht mehr für den einzigen vorgezogenen Sohn des Weltalls, aber man mehrt sein Bewusstsein, man verklärt sein Lächeln und seine Heiterkeit mit allem, was man seinem Hochmut nimmt.

Wenn wir an diesem Punkte angelangt sind, so erscheinen uns die wunderbaren Abenteuer einer heiligen Therese oder eines Jean de la Croix, die Verzückungen der Mystiker, die übernatürlichen Zwischenfälle sagenhafter Liebschaften, der Stern eines Alexander oder Napoleon, als sehr kindliche Einbildungen im Vergleich zu der guten und gesunden Rechtschaffenheit einer menschlichen und aufrichtigen Weisheit, die sich nicht über die Menschen zu erheben trachtet, um zu empfinden, was sie nicht empfinden, sondern die in dem, was alle jederzeit empfinden, zu finden weiss, was notwendig ist, um Herz und Geist zu erweitern. Nicht dadurch, dass man etwas anderes sein will, als ein Mensch, wird man ein wahrhafter Mensch. Wie viele Wesen vergeuden derart ihr Leben in der Erwartung eines unwahrscheinlichen Kometen und denken nie daran, die anderen Sterne zu betrachten, weil sie von allen gesehen werden und unzählig sind! Das Verlangen nach dem Ausserordentlichen ist nur zu oft das grosse Übel der gewöhnlichen Seelen. Man müsste sich im Gegenteil sagen: je mehr uns das, was uns zustösst, normal, allgemein und gleichförmig erscheint, je mehr wir dahinter kommen, die Tiefen und Freuden des Lebens in eben dieser Allgemeinheit zu erkennen und zu lieben, desto mehr werden wir uns der Ruhe und Wahrheit der grossen Kraft nähern, die uns belebt. Es giebt nichts weniger Ausserordentliches als zum Beispiel das Weltmeer, das zwei Drittel unseres Erdballs bedeckt; und doch giebt es nichts, das ungeheurer wäre. Es giebt im Menschen nicht einen Gedanken, nicht ein Gefühl, nicht einen Akt der Schönheit oder Grösse, der nicht in der Schlichtheit des normalsten Daseins seine Bestätigung finden kann; und Alles, was dort nicht statthaben kann, gehört noch zu den Lügen der Trägheit, Unwissenheit oder Eitelkeit.

 

. Heisst dies, der Weise soll vom Leben nicht mehr erwarten, als die anderen Menschen, er soll, aus Furcht, nicht glücklich zu sein, die Mittelmässigkeit lieben, sich mit Wenigem zufrieden geben, seine Wünsche einschränken und sein Glück begrenzen? Im Gegenteil; eine Weisheit, die zu leicht auf eine menschliche Hoffnung verzichtet, ist eine krankhafte und lahme Weisheit. Der Mensch hat mehr als ein berechtigtes Verlangen, das gleichwohl der Billigung einer zu strengen Vernunft entbehrt. Aber man muss sich nicht für unglücklich halten, solange man nur ein solches Glück besitzt, das unserer Umgebung nicht ausserordentlich erscheint. Je weiser man ist, desto leichter überzeugt man sich, dass man ein Glück hat. Es ist gut, sich davon zu überzeugen, dass das Beneidenswerteste am menschlichen Glücke die einfachsten Augenblicke sind. Der Weise lernt das schweigende Sein des Lebens beleben und lieben. Es giebt keine aufrichtige Freude, ausser in diesem schweigenden Sein; und niemals wagen es die ausserordentlichen Glücksfälle, unsere Schritte bis zum Grabe zu begleiten. Man muss einen Tag, der ohne ungewöhnliche Gebärden der Freude oder Hoffnung kommt und geht, ebenso brüderlich empfangen und umarmen wie die anderen. Er hat, um bis zu uns zu kommen, dieselben Weltenräume durchlaufen, wie ein Tag, der uns auf einem Throne oder auf dem Lager einer grossen Liebe findet. Vielleicht verbirgt er unter seinem Mantel Stunden, die weniger glänzend, doch dem Leben demütiger ergeben sind. Man zählt dieselbe Zahl von ewigen Minuten in einer Woche, die lautlos verläuft, und in einer, die mit lautem Lärm vorübergeht. Im Grunde sagen wir es uns selbst, was eine Stunde uns zu sagen scheint. Die Stunde ist ein zögernder und ängstlicher Wanderer, der sich freut oder grämt, je nach dem lächelnden oder trüben Blicke des Wirtes, der ihn empfängt. Nicht sie soll unser Glück bringen; es ist unsere Sache, die Stunde, die in unserer Seele Zuflucht sucht, glücklich zu machen. Weise ist, wer ihr jederzeit etwas Friedfertiges auf der einfachen Schwelle zu sagen hat. Man muss einen Vorrat von einfachen Anlässen zum Glück in sich anhäufen. Und darum dürfen wir keine Gelegenheit zum Glücklichsein verabsäumen. Versuchen wir zunächst, das Glück zu empfinden, wie die Menschen es thun, um ihm hernach, in Kenntnis der Ursache, das Glück, wie wir es empfinden, vorzuziehen. Es ist hiermit, wie es mit der Liebe sein soll. Man muss tief geliebt haben, um zu wissen, auf welche Weise man zu lieben hätte, wenn man nicht mehr liebt. Es ist manchmal gut, auf sichtbare Weise glücklich zu sein, um zu lernen, wie man auf unsichtbare Weise glücklich ist; es ist nur deshalb notwendig, sein Ohr den Stunden zu leihen, die in ihrer Trunkenheit laut reden, um nach und nach die Sprache derer zu lernen, die immer nur mit leiser Stimme reden. Sie allein sind zahlreich, unerschöpflich, unfähig zu täuschen, oder – weil sie so zahlreich sind – davonzufliegen; und der Weise sollte nur auf sie zählen. Glücklich sein, heisst sich üben, das verborgene Lächeln und den geheimnisvollen Schmuck der unberechenbaren und namenlosen Stunden zu sehen; und dieser Schmuck lässt sich nur in uns selbst finden.

 

. Aber nichts würde der Weisheit, von der wir hier sprechen, mehr widersprechen, als eine niedrige Klugheit, und besser noch wäre es, sich um ein beliebiges Glück unnütz zu bemühen, als im Heerdwinkel schlafend ein ideales Glück zu erwarten, das doch niemals kommen wird. Wer nie sein Haus verlässt, auf dessen Dach senken sich immer nur solche Freuden herab, von denen keiner etwas hat wissen wollen. Darum auch nennen wir den nicht weise, der im Bereiche des Gefühls nicht unendlich weit über das hinausgeht, was die Vernunft ihm erlaubt, oder die Erfahrung zu erwarten anrät. Auch nennen wir den Freund nicht weise, der sich dem Freunde nicht gänzlich mitteilt, weil er das Ende der Freundschaft voraussieht, oder den Liebenden, der sich nicht ganz und gar hingiebt, aus Furcht, sich in der Liebe zu verlieren.

Man muss sich sagen, dass zwanzig Ereignisse dieser Art der Energie unseres Glückes nur ihren vergänglichen Teil nehmen; und man kann sich gestehen, dass jede Weisheit im ganzen genommen nichts ist, als eine Art geläuterter Energie des Glückes. Weise sein, das heisst vor allem lernen, glücklich zu sein, um dadurch zu lernen, dem, was das Glück an sich ist, eine immer geringere Bedeutung beizulegen. Der Mensch sollte möglichst lange möglichst glücklich sein; denn wer durch die Pforte des Glückes endlich aus sich selbst herauskommt, ist tausendmal freier, als wer aus der des Schmerzes tritt. Die Freude des Weisen erleuchtet zugleich sein Herz und seine ganze Seele, wogegen die Trübsal oft nur das Herz erleuchtet. Ein Mensch, der nicht glücklich gewesen ist, gleicht ein wenig dem Wanderer, der nur bei Nacht gewandert ist.

Und dann findet man im Glück eine tiefere und edlere, reinere und weitere Demut, als im Unglück. Es giebt eine Demut, die man unter die Zahl der Schmarotzer-Tugenden versetzen soll, mitsamt der unfruchtbaren Verneinung, der blinden Verzichtleistung, der finsteren Unterwerfung, dem Büssergeiste und so vielen anderen, welche die lebendigen Wasser der menschlichen Moral schon so lange in einen schlafenden Teich abgelenkt haben, den alle unsere Erinnerungen noch umschweifen. Ich spreche hier nicht von jener niedrigen Demut, die nur zu oft eine Berechnung oder bestenfalls eine Feigheit des Hochmuts und eine Art von Wucherzins ist, den die Eitelkeit von heute der von morgen entrichtet. Aber selbst der Weise bildet sich bisweilen ein, dass es heilsamer sei, sich in seinen eigenen Augen ein wenig herabzusetzen, als sich die Verdienste einzugestehen, die er sich zuzuerkennen oft das Recht hat, wenn er sich mit anderen Menschen vergleicht. Eine solche Demut – wiewohl sie aufrichtig sein mag – nimmt unserer inneren Rechtschaffenheit, die man stets über alles setzen soll, was sie der Sanftmut unseres äusseren Wesens beilegen kann. Jedenfalls verrät sie eine gewisse Furchtsamkeit des Gewissens, und das Gewissen des Weisen soll keinerlei Scham und Furchtsamkeit kennen.

Aber neben dieser allzu persönlichen Demut giebt es eine allgemeine, hohe und feste Demut, die sich von Allem nährt, was unser Geist, unsere Seele und unser Herz lernen; eine Demut, die uns genau anzeigt, was der Mensch erwarten und hoffen kann; eine Demut, die uns selbst nur verkleinert, um Alles, was wir sehen, grösser zu machen; eine Demut, die uns lehrt, dass der Wert eines Menschen nicht in dem liegt, was er ist, sondern in dem, was er wahrnehmen kann, was er zu bejahen und zu begreifen trachtet. Gewiss erschliesst uns auch der Schmerz das Reich dieser Demut, aber er thut es nur, um uns geraden Weges zu irgend einem Thore der Hoffnung zu führen, auf dessen Schwelle wir manchen Tag verlieren; wogegen das Glück, das nach Verlauf einiger Stunden nichts anderes zu thun hat, uns ihre unzugänglichsten Pfade schweigend beschreiten lässt. Nur wenn der Weise so glücklich ist wie möglich, wird er so wenig anspruchsvoll und hochmütig werden, wie man es sein soll. Erst wenn er weiss, dass er nun endlich Alles besitzt, was dem Menschen zu besitzen verstattet ist, beginnt er einzusehen, dass der Wert dessen, was er besitzt, nur in der Art und Weise liegt, in der er das ansieht, was der Mensch nie wird besitzen können. Und darum erlangt man auch nur im Schosse eines langen Glückes eine unabhängige Lebensanschauung. Man soll nicht glücklich sein wollen, um glücklich zu sein, sondern um Das deutlich sehen zu lernen, was uns eine vergebliche und thatlose Erwartung des Glückes immerdar verborgen hätte.

 

. Aber verlassen wir diesen Gegenstand, um uns wieder dem zuzuwenden, was wir vorhin gesagt haben. Auf dem Gebiete des Herzens, welches für die meisten Menschen das Gebiet ist, auf dem der Grundstoff des Lebens gewonnen wird, giebt es keine unnütze Bewirtschaftung. Es wäre besser, nichts darauf zu thun, als die Dinge nur halb zu thun, und ganz gewiss verliert man immer das, was man nicht gewagt hat hinzugeben. Eine Leidenschaft nimmt uns in Wahrheit nur das, was wir ihr zu rauben wähnen; und wir werden allemal um den Teil gekürzt, den wir für uns zurückzubehalten meinen. Überdies giebt es in unserer Seele gewisse Zufluchtsstätten, die so tief sind, dass allein die Liebe sich ihre Stufen hinabwagt, und die Liebe ist es auch, die jene ungeahnten Kleinodien daraus zurückbringt, deren Glanz wir nur in den kurzen Augenblicken wahrnehmen, wo unsere Hände sich aufthun, um sie heissgeliebten Händen darzureichen. Man könnte fürwahr sagen, dass unsere Hände, wenn sie sich zum Geben aufthun, bisweilen einen besonderen Glanz ausstrahlen, der noch dunklere Körper durchdringt, als die geheimnisvollen Strahlen, die man vor kurzem entdeckt hat.

 

. Wozu sich lange Zeit über seine Irrtümer oder Verluste grämen? Was sich auch zutragen mag, in den letzten Minuten der traurigsten Stunde, am Ende der Woche, am Schlusse des Jahres giebt es für den Menschen von guter Absicht allemal ein Lächeln, wenn er in sich selbst zurückkehrt. Er lernt nach und nach ohne Thränen bereuen. Er ist wie der Hausvater, der am Abend nach beendigtem Tagewerk heimkehrt. Möglich, dass die Kinder weinen, zerstörerische oder gefährliche Spiele spielen, den Hausrat in Unordnung gebracht, ein Glas zerbrochen, eine Lampe umgeworfen haben; – wird er darum verzweifeln? Sicherlich wäre es unter dem Gesichtspunkte der theoretischen Moral besser gewesen, sie hätten sich ganz ruhig verhalten, hätten Lesen oder Schreiben gelernt; aber welcher vernünftige Vater wird mitten in seinen lebhaftesten Vorwürfen umhin können, den Kopf lächelnd abzuwenden? Er betrauert diese etwas thörichten Kundgebungen des Lebens nicht. Nichts ist verloren, so lange er heimkehren kann, so lange er den Schlüssel des schützenden Heims bei sich trägt. So liegen auch die Wohlthaten unserer Rückkehr in uns selbst viel weniger in der Prüfung, die unsere Seele, unser Geist, unser Herz während unserer Abwesenheit versucht oder bestanden haben, als in dieser Einkehr selbst. Und wenn die Stunden vorübergegangen sind, ohne ihren geheimnisvollen Gürtel auf unserer Schwelle zu lösen, wenn die Säle leer sind, wie am Tage des Abschiedes, wenn keiner von denen, die zu arbeiten hatten, eine Hand gerührt hat, so sagt uns der helle Schall der Tritte bei der Heimkehr doch jedenfalls etwas über die Geräumigkeit, die Erwartung und die Treue im Hause.

 

. Mittelmässige Tage gibt es nur in uns selbst, aber es wäre in den mittelmässigsten Tagen jederzeit Platz für das höchste Schicksal, denn ein solches Schicksal wickelt sich viel vollständiger in uns als auf der Oberfläche Europas ab. Der Tummelplatz eines Schicksals, das ist nicht die Ausdehnung eines Reiches, sondern die Ausdehnung einer Seele. Unser wahres Schicksal liegt in unserer Lebensauffassung, in dem Gleichgewichte, das schliesslich zwischen den unlösbaren Fragen des Himmels und den ungewissen Antworten unserer Seele eintritt. In dem Maasse, wie diese Fragen an Umfang gewinnen, werden sie friedlicher, und alles, was dem Weisen begegnet, vergrössert diese Fragen und besänftigt diese Antworten.

Man rede nicht von Schicksal, so lange die Ereignisse uns Freude oder Gram bereiten, ohne etwas in der Art und Weise zu ändern, wie wir das Weltall aufnehmen. Das Einzige, was uns nach der Liebe, dem Ruhme, den Abenteuern und allen menschlichen Leidenschaften noch bleibt, ist ein immer tieferes Gefühl des Unendlichen; und wenn uns dieses nicht geblieben ist, bleibt uns nichts. Ich meine ein Gefühl, und nicht nur eine Sammlung von Gedanken, denn die Gedanken bilden hierbei nur die unzähligen Stufen, die uns allmählich zu dem genannten Gefühle führen. Es liegt kein Glück im Glücke selbst, solange es uns nicht dazu verhilft, an etwas anderes zu denken, und gewissermaassen das Glück zu begreifen, welches das All in seinem Dasein empfindet.

Den Weisen, der auf einer gewissen Höhe angelangt ist, wird jedes Ereignis befriedigen, denn ein Ereignis, das ihn nach Menschenart anfangs betrübt, vermehrt zuletzt, so gut wie die anderen, das grosse Lebensgefühl um sein Gewicht. Es ist sehr schwer, jemandem eine Befriedigung zu nehmen, wenn er gelernt hat, jedes Ding in einen Anlass zu selbstlosem Staunen zu verwandeln; es ist sehr schwer, ihm eine Befriedigung zu rauben, ohne dass die Vorstellung, dass er sich dieser Befriedigung entschlagen könnte, unmittelbar einen höheren Gedanken hervorruft, der ihn in schützendes Licht hüllt. Das nenne ich ein schönes Schicksal, wo nicht ein glückliches oder unglückliches Ereignis stattgefunden hat, ohne uns nachdenken zu lehren, ohne den Wirkungskreis unserer Seele zu erweitern, ohne die getroste Zuversicht, mit der wir am Leben hängen, zu mehren. Darum kann man auch sagen, dass unser Schicksal viel wirklicher in der Art und Weise liegt, wie wir eines Abends den Himmel und seine gleichgiltigen Gestirne, die Menschen, die uns umgeben, das Weib, das uns liebt, und die tausend Gedanken, die sich in uns regen, anzusehen vermögen, als in dem Zufall, der uns unsere Liebe entreisst, uns einen glänzenden Triumph bereitet oder uns auf einen Thron erhebt.

 

. Eines Tages sagte jemand zu einem Weibe, das ihm das bewundernswerteste Wesen dünkte und mit den mannigfachsten Gaben, die man finden konnte, einschliesslich der Jugend und Körperschönheit, überhäuft schien: »Was willst du beginnen? Wen kannst du lieben? Ich sehe keinen Ausweg, und es giebt kein Schicksal, das auf der Höhe einer Seele wie der deinen steht.« – Was wusste er davon? Nicht das Schicksal, sondern die Seele muss Höhe haben. Ohne Zweifel dachte er nach menschlicher Gepflogenheit an einen Thron, an Triumphe, an wunderbare Abenteuer. Aber wem diese Dinge das Schicksal eines Wesens darstellen, der hat nicht den geringsten Begriff davon, was ein Schicksal ist. Und zunächst: warum das Heute herabwürdigen? Das Heute verachten, heisst sich für einen Fremdling erklären; und was hofft man in dieser Welt zu thun, wenn man wie ein Fremder durch das Leben geht? Das Heute hat vor dem Gestern, das nicht mehr ist, den Vorzug, dass es da ist und für uns gemacht ist. Das Heute, wie es auch sei, weiss mehr als das Gestern und ist darum auch tiefer und schöner.

Glaubt man, das Weib, von dem ich sprach, hätte in Venedig, Florenz oder Rom ein schöneres Geschick gehabt? Es hätte dort glänzenden Festen beigewohnt und seine Schönheit hätte sich in vollkommenen Landschaften ergangen. Es hätte dort vielleicht Fürsten und Könige und eine auserlesene Schaar zu seinen Füssen gesehen; und vielleicht hätte es durch sein Lächeln das Glück eines grossen Volkes veredeln oder versüssen können. Heute wird sein ganzes Leben wahrscheinlich zwischen vier oder fünf Seelen verfliessen, welche die seine kennen und lieben. Möglich, dass es nicht aus seinem Hause tritt, und dass sein Dasein, sein Denken und seine Kraft keine deutliche und bleibende Spur unter den Menschen zurücklässt. Möglich, dass alle seine Schönheit, alle seine Macht, alle seine sittliche Energie in ihm begraben bleibt, und in den Herzen einiger von denen, die ihm nahe kamen. Möglich auch, dass seine Seele einen Ausweg findet. In unseren Tagen bewegen sich die grossen Thore, die den Zutritt zu einem nutzbringenden und denkwürdigen Dasein gewähren, nicht mehr mit demselben Lärm wie ehedem in ihren Angeln. Sie sind vielleicht weniger grossartig, aber ihre Zahl ist grösser, und sie gehen auf Pfade, die schweigsamer sind, weil sie weiter führen.

Aber gesetzt auch, dass alles im Schatten bliebe: wird dieses Weib sein Geschick wohl verfehlt haben, weil kein Strahl über die Schwelle seiner Wohnung hinausgedrungen ist? Kann ein Geschick nicht schön und vollkommen in sich selbst sein? Wird eine wahrhaft starke Seele, die einen Blick hinter sich wirft, bei Triumphen stehen bleiben, deren Gegenstand sie war, wenn diese Triumphe ihr nicht dazu verholfen haben, über das Leben nachzudenken, die edle Demut des Menschendaseins zu mehren und jenes Schweigen und Sinnen zu lieben, in dem man die Früchte erntet, die in der Hitze der Leidenschaften, welche Ruhmsucht, Liebe und Begeisterung entfacht haben, in wenigen Stunden reiften? Was wird ihr am Ende dieser Feste und heldischen, wohlthätigen oder harmonischen Thaten bleiben, wenn nicht ein paar Gedanken und Andenken, kurz ein wenig mehr Bewusstsein und ein beruhigteres, und weil es sich über viele Dinge hat verbreiten müssen, auch ausgedehnteres Gefühl der Stellung, die der Mensch auf dieser Erde hat? Wenn die Ruhestunde kommt, wo die glänzenden Gewänder der Liebe, der Macht oder des Ruhmes ringsum fallen: – und schlägt diese Stunde nicht jeden Abend, und jedesmal, wenn wir allein sind? – was bringen wir dann in dieses Asyl mit, wo jedes Lebensglück zuletzt mit dem Gewichte des Denkens, der erlangten Zuversicht, des Bewusstseins gewogen wird? Liegt unser wahres Schicksal in dem, was um uns vergeht, oder in dem, was in uns bleibt? »Wie mächtig der Ruhm, oder die Macht, deren ein Mensch sich erfreut, auch erstrahlen mögen,« sagt ein Denker, »seine Seele hat die Gefühle, die er der äusseren Thätigkeit verdankt, bald gerichtet, und er wird alsbald seines baren Nichts gewahr, wenn er in der Bethätigung seiner physischen Fähigkeiten nichts verändert, nichts neu, nichts grösser findet. Hätten die Könige auch die ganze Welt für sich, sie sind dazu verdammt, wie andre Menschen in einem kleinen Kreise zu leben, dessen Gesetzen sie sich unterziehen, und ihr Glück hängt von den Eindrücken ab, die sie dort empfangen.«

Die sie dort empfangen und – fügen wir hinzu – deren sie sich erinnern, weil sie dadurch gebessert worden sind, denn die Seelen, mit deren Lebensschicksalen wir uns hier befassen, behalten immer nur diejenigen, die sie ein wenig grösser, ein wenig besser machen. Können wir denn nicht auch, gleichgiltig wo, gleichgiltig, in welchem Schweigen, das einzig Unveränderliche finden, das im Bette des edelsten äusseren Lebenslaufes auf dem Grunde zurückbleibt? Und wird es uns, da wir ein Ding nur insoweit besitzen, als es uns in der Finsternis und im Schweigen begleitet, in ihnen minder treu sein, weil es darin entstand?

Aber gehen wir nicht weiter auf diesen Wegen, die uns zu einer allzu theoretischen Weisheit führen könnten! Wenn ein schönes äusseres Loos nicht unerlässlich ist, wenn es an sich wenig genug vorstellt, so muss man es nichtsdestoweniger erhoffen und alles thun, was man kann, um es zu erlangen, gleich als ob man ihm die grösste Wichtigkeit beilegte. Die erste Pflicht des Weisen ist, an allen Tempeln, allen Wohnsitzen des Ruhmes, der Thätigkeit, des Glückes und der Liebe anzuklopfen. Wenn sich auch nach heissem Bemühen, nach langem Warten nichts öffnet, so findet er doch in diesem Bemühen und Warten selbst Ersatz für die Klarheit und die Empfindungen, die er suchte. »Handeln« – sagt Maurice Barrès irgendwo – »das heisst, unserem Nachdenken weitere Erfahrungsgebiete angliedern.« Handeln – könnten wir hinzufügen – das heisst, schneller und vollständiger denken als der Gedanke. Handeln – das heisst, nicht mehr mit dem Gehirn allein denken, das heisst, das ganze Wesen denken lassen. Handeln – das heisst, die tiefsten Quellen des Denkens im Traume verschütten, um sie in der Wirklichkeit zu eröffnen. Aber Handeln ist nicht notwendig Triumphieren. Handeln – das ist auch versuchen, warten, sich gedulden. Handeln – das ist auch hinhören, sich sammeln, schweigen.

Freilich hätte es für das Weib, von dem wir sprachen, in Athen, Florenz oder Rom gewisse Anlässe zu Begeisterung, gewisse Gelegenheiten zu Schönheit oder Heldentum gegeben, die es heutzutage nicht mehr finden wird. Auch wäre ihm die Anstrengung und die Erinnerung an seine Thaten verblieben; wahrlich eine lebendige und köstliche Kraft, denn die Erinnerung an das, was wir gethan haben, verwandelt in uns oft mehr Dinge, als das höchste Denken, das moralisch oder geistig tausend dieser Erinnerungen wert ist. Ja, und dies allein sollte man einem bewegten und glänzenden Lebensschicksal neiden, dass es eine gewisse Zahl von Gefühlen und Energieen erweckt und erweitert, die sonst nie aus ihrem Schlummer oder aus der Beschränkung eines zu friedlichen Daseins herausgekommen wären. Aber zu wissen oder zu ahnen, dass diese Gefühle oder Energieen in uns schlafen – heisst das nicht schon, das Beste in ihnen erwecken und das schöne äussere Geschick einen Augenblick von Höhen aus betrachten, auf die es erst am Ende seiner Tage kommen wird? Und die Blume einer Ernte vorwegnehmen, die jenes Geschick erst nach vielen Stürmen pflücken wird?

Gestern Abend las ich wieder einmal im Saint-Simon, wo es einem dünkt, als ob man von einem Turm herab hunderte von menschlichen Schicksalen in der Ebene sich bewegen sieht, und ich begriff, was der menschliche Instinkt ein schönes Geschick nennt. Vielleicht weiss Saint-Simon selbst nicht, was ihm an einigen der Helden, die er mit einer Art entsagender und unbewusster Hochachtung umgiebt, so lieb und bewundernswert ist. Tausend Tugenden, die er verehrte, sind tot, und viele Eigenschaften, die er an seinen grossen Menschen pries, erscheinen uns heute sehr klein. Aber ohne dass er sich besonders mit ihnen beschäftigte, und wiewohl er im Grunde den Gedanken missbilligt, der sie beseelt, ziehen vier oder fünf ernste, wohlwollende und bewundernswerte Gesichter schier ohne sein Wissen in der glänzenden Menge vorüber, die um den Thron des Sonnenkönigs einherflutet. Es ist Fénélon, es sind die Herzöge von Chevreuse und Beauvilliers, es ist der Herr Dauphin. Sie sind nicht glücklicher, als die Mehrzahl der Menschen. Sie tragen keinen endgiltigen Erfolg davon, keinen weitschallenden Ruhm. Sie leben wie die anderen in der Unruhe und Erwartung dessen, was sich das Glück nur darum nennt, weil man es noch erwartet. Fénélon zieht sich die Ungnade jenes Geistes zu, der zwar ziemlich mittelmässig, aber doch misstrauisch und scharfblickend genug, der stolz, finster und feierlich, der gross in kleinen und klein in grossen Dingen war und sich Ludwig XIV. nannte. Er wird verurteilt, verfolgt, verbannt. Die Herzöge von Chevreuse und Beauvilliers leben am Hofe trotz ihrer bedeutenden Ämter in einer Art vorsichtiger und freiwilliger Zurückgezogenheit. Der Herr Dauphin erfreut sich der Gunst des Königs nicht. Er ist den Ränken einer mächtigen und neidischen Hofpartei ausgesetzt, der es gelingt, seinem jungen Kriegsruhm ein rasches Ziel zu setzen. Er ist umringt von Ungunst, Widerwärtigkeiten und Missgeschicken, die an diesem eitlen und knechtischen Hofe scheinbar nicht wieder gut zu machen sind, denn Ungunst und Missgeschick nehmen den Umfang an, den die Sitten des Tages ihnen zugestehen. Er stirbt endlich, einige Tage nach der Frau Dauphine, die er einzig und heiss geliebt hatte. Er stirbt – vielleicht vergiftet – wie sie, und fällt, gewissermaassen wie vom Blitz getroffen, zu der Stunde, wo die ersten Strahlen einer nicht mehr erhofften Gunst die Schwelle seines Palastes vergolden sollten.

Das sind die Trübsale, Verrechnungen, Enttäuschungen und Wirrsale, welche diese Menschen durchmachten. Und doch scheint es uns, wenn man ihre schweigende und einmütige Gruppe inmitten des wechselnden und launenhaften Glückes der anderen betrachtet, als wären diese vier Schicksale wahrhaft schön und beneidenswert. Ein gemeinsames Licht begleitet sie bei allen ihren wechselnden Geschicken. Es geht aus der grossen Seele Fénélons hervor. Fénélon hält treu zu den hohen Gedanken der Bewunderung, Heiligkeit, Gerechtigkeit, Sanftmut und Liebe; und die anderen drei halten treu zu ihrem Freund und Meister.

Was thut es dabei, dass die mystischen Vorstellungen Fénélons nicht mehr die unseren sind; was thut es, dass die Gedanken, die wir für die besten und tiefsten halten, und auf die wir unser sittliches Glück und alle Gewissheiten unseres Lebens bauen, hinter uns in Trümmer sinken und dermaleinst das Lächeln derer erwecken werden, die – wie sie sich einbilden – menschlichere und endgiltigere Gedanken gefunden haben? Worauf es ankommt, was unser Leben veredelt und verklärt, das sind viel weniger unsere Gedanken, als die Gefühle, die sie in uns erwecken. Der Gedanke ist vielleicht der Zweck; aber es ist mit diesem Zwecke, wie mit dem mancher Reise: die Fahrt, die einzelnen Abschnitte, das, was man auf der Strasse antrifft, was uns zufällig begegnet, sagt uns am meisten zu. Und was Bestand hat, ist hier, wie in allen Dingen, die Aufrichtigkeit eines menschlichen Gefühls. Wir wissen nie, ob ein Gedanke uns nicht täuscht; aber die Liebe, mit der wir ihn geliebt haben, wird auf uns zurückfallen, ohne dass ein Tropfen ihrer Klarheit oder Kraft sich im Irrtum verlöre. Das Idealwesen, das jeder von uns in sich selbst zu bilden bemüht ist, findet seine Verwirklichung und seine Nahrung nicht sowohl in der Gesamtheit der Vorstellungen, die seine Umrisse andeuten, als in der lauteren Leidenschaft, Redlichkeit und Selbstlosigkeit, mit der wir diese Vorstellungen umgeben. Die Art und Weise, wie wir ein Ding lieben, das wir für eine Wahrheit halten, hat mehr Bedeutung, als die Wahrheit selbst. Wird man durch Liebe nicht besser als durch Denken? Einen grossen Irrtum redlich lieben, ist mehr wert, als einer grossen Wahrheit kleinlich dienen.

Diese Leidenschaft und diese Liebe kann überdies fast ebenso leicht im Zweifel wie im Glauben liegen. Es giebt Zweifel, die ebenso leidenschaftlich, ebenso hochherzig sind, wie die schönsten Überzeugungen. Das Beste an einem Gedanken, der uns sehr hoch, sehr rein oder von Grund aus ungewiss erscheint, ist, dass er uns die Gelegenheit bietet, ein Ding ohne Rückhalt zu lieben. Ob ich mich einem Gotte, einem Menschen, einem Vaterlande, einem Weltall oder einem Irrtum hingebe: das kostbare Metall, das man eines Tages in der Asche der Liebe finden wird, geht nicht aus dem Gegenstande der Liebe, sondern aus der Liebe selbst hervor. Was eine unauslöschliche Spur zurücklässt, das ist die Einfalt, die Inbrunst und Festigkeit einer aufrichtigen Hingabe. Alles vergeht, alles verwandelt und verliert sich vielleicht, nur nicht die Strahlen dieser Tiefe, dieser Festigkeit, dieser Fruchtbarkeit unseres Herzens.

 

. Nie besass ein Mensch seine Seele so in Frieden, wie er, sagt Saint-Simon von dem einen unter ihnen, der von Ränken, Groll und Fallen umringt ist. Und weiterhin ist es die »weise Gemütsruhe« eines Anderen, und diese »weise Gemütsruhe« durchdringt Alles, was er »das ganze kleine Häuflein« nennt. In der That ist es das kleine Häuflein der Treue gegen die besten Gedanken, das kleine Häuflein der Freundschaft, Redlichkeit, Selbstachtung und inneren Zufriedenheit, das in einem einfachen und friedlichen Lichte mitten durch die Eitelkeiten, Ehrsüchte, Lügen und Ränke von Versailles hindurchgeht.

Sie sind keine Heiligen im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Sie haben sich nicht in die Tiefe von Wüsten und Wäldern zurückgezogen; sie haben kein selbstsüchtiges Obdach in engen Zellen gesucht. Es sind Weise; sie verlassen das Leben nicht; sie bleiben in der Wirklichkeit. Man glaube nicht, dass ihre Frömmigkeit sie rettet, und dass die Zuflucht ihrer Seele nur in Gott liegt. Es genügt nicht, Gott zu lieben und ihm so gut zu dienen, wie man kann, um die Seele zu stärken und zu beruhigen. Man wird Gott nur mit dem Verstande und den Gefühlen lieben lernen, die man in der Berührung mit den Menschen erworben und fortentwickelt hat. Die menschliche Seele bleibt tief menschlich, was man auch dagegen sagen mag. Man kann sie lehren, viele unsichtbare Dinge zu lieben; aber eine Tugend, ein Gefühl von vollkommener, einfacher Menschlichkeit wird sie stets wirksamer ernähren, als die göttlichste Leidenschaft oder Tugend. Wenn wir eine wirklich ruhige und gesunde Seele antreffen, so können wir sicher sein, dass sie ihre Gesundheit und Gemütsruhe menschlichen Tugenden verdankt. Wenn es uns verstattet wäre, im Geheimnis der Herzen zu lesen, die nicht mehr sind, so würde man vielleicht sehen, dass der Born des Friedens, aus dem Fénélon in seiner Verbannung allabendlich schöpfte, viel eher in seiner Treue gegen die unglückliche Madame Guyon und in seiner Liebe zu dem verkannten und verfolgten Dauphin, als in der Erwartung eines ewigen Lohnes, viel eher in seinem menschlich zarten, menschlich redlichen, menschlich untadelhaften Gewissen, als in seinen christlichen Hoffnungen lag.

 

. O wundervolle Sicherheit des »kleinen Häufleins«! Keine Tugend zündet hier leuchtende Feuer auf den Bergen an; alle Flammen bleiben in Herz und Seele. Und kein anderes Heldentum, als das der Zuversicht, der Aufrichtigkeit und Liebe, die sich erinnern und gedulden. Es giebt Wesen, deren Tugend in gewissen Augenblicken mit einem Lärm hervortritt, als ob grosse Thüren sich öffneten und schlössen. Es giebt deren andere, bei denen sie wie eine schweigsame Magd ist, die nie das Haus verlässt; und wer von draussen kommt und friert, findet sie allezeit emsig und achtsam im Winkel am Herde.

Vielleicht bedarf es zu einem schönen Leben weniger der heldischen Stunden, als der ernsten, einförmigen und lauteren Wochen. Vielleicht ist eine rechtschaffene und völlig gerechte Seele wertvoller als eine zärtliche und hingebende Seele. Wenn man auch bei den aussergewöhnlichen Ereignissen des Lebens etwas weniger Hingabe, etwas weniger Begeisterung von ihr erwarten kann, so kann man sich doch unter gewöhnlichen Umständen mit mehr Zuversicht und Gewissheit auf sie verlassen; und welcher Mensch verbringt sein Leben, wie seltsam, verworren und glorreich es auch sein mag, im ganzen genommen nicht ganz und gar unter gewöhnlichen Umständen? Welches sind, wenn man darüber nachsinnt, und besonders, wenn man sich darin befindet, die entscheidenden Augenblicke der glänzendsten Ereignisse? Wundert man sich nicht, im grossen Wirbelsturm der erhabensten Stunden alle Gepflogenheiten und Gedanken der stillsten Stunden sich entwickeln zu sehen? Man muss stets auf ein normales Leben zurückgreifen; dort ist fester Boden und Urgestein. Man hat mich nicht jeden Tag dem Tode, der Unehre, der Verzweiflung zu entreissen, aber vielleicht ist es unumgänglich, dass ich mir in jeder trüben Stunde und an jedem Tage sagen kann, dass eine Seele, die sich der meinen genähert hat, irgendwo am Leben ist, eine Seele, die schweigsam, treu und unempfänglich für alles ist, was ihr mit der Wahrheit nicht im Einklang zu stehen scheint, eine Seele, die unveränderlich und unerschütterlich ist.

Es ist gewiss vortrefflich, hier und dort eine heldenhafte oder aussergewöhnlich hochherzige That zu thun. Aber es ist noch lobenswerter und erheischt eine beständigere Kraft, sich nie durch einen niedrigen Gedanken versuchen zu lassen, und ein weniger hochmütiges, aber gleichmässigeres und gewisseres Leben zu führen. Stellen wir unser Verlangen nach moralischer Vervollkommnung in unseren Gedanken bisweilen auf eine Stufe mit der Wahrheit des Alltags, um zu erkennen, dass es leichter ist, hin und wieder etwas sehr Gutes zu thun, als nie das geringste Böse zu thun, und leichter, zuweilen ein Lächeln, als nie Thränen hervorzurufen.

 

. Sie hatten in einander, sie hatten vor allem in sich selbst ihre Zuflucht, »ihren festen Fels«, wie Saint–Simon sagt, und der unerschütterliche Teil dieses Felsens hatte genau den Umfang, den das Untadelhafte in ihrer Seele hatte.

Tausend Dinge bilden die Lehnen des »festen Felsens«, aber liegt seine mittlere Hochfläche nicht allemal in dem, was wir in uns für makellos erachten? Das Gefühl für Makellosigkeit ist zwar oft sehr grob, und es giebt keinen Verbrecher, der nicht allabendlich auf elende Trümmer stiege, die er für makellos hält. Aber ich spreche hier von einer Tugend, die ein wenig höher ist, als die einfach notwendige; und das gewöhnlichste Wesen weiss sehr wohl, was eine Tugend ist, die nicht gewöhnlich ist. Es ist auch der unerwartetesten moralischen Schönheit eigen, dass der beschränkteste Mensch nie aufrichtig behaupten kann, er fasste sie nicht; und die erhabenste That ist auch die, welche man am leichtesten versteht. Es ist vielleicht nicht unerlässlich, uns bis zur Höhe dessen zu erheben, was uns zu bewundern gegeben ist; aber es ist notwendig, nie in den Tiefen dessen einzuschlafen, was man zu tadeln nicht umhin kann.

Indessen kehren wir zur Zufluchtsstätte unserer Weisen zurück. Im Leben verdankt man viel Glück und Unglück nur dem Zufall; aber der innere Frieden hängt nie vom Zufall ab. Ich weiss, dass es aufbauende Seelen giebt, wieder andere, die Trümmer lieben, und endlich solche, die ihr Leben lang von Obdach zu Obdach unter fremdem Dache irren. Aber wenn es auch schwierig ist, den Instinkt einer Seele umzubilden, so ist es doch nicht unnütz, wenn die, welche nicht bauen, die Freude kennen lernen, welche die Anderen empfinden, indem sie unablässig Stein auf Stein schichten. Gedanken, Zuneigungen, Liebe, Überzeugungen, Täuschungen und selbst Zweifel, alles dient ihnen; und was das Unwetter zerbricht und fortreisst, wird ein wenig weiter bequemer zur Hand sein, um ein minder stolzes Gebäude aufzuführen, das den Anforderungen des Lebens besser entspricht.

Welche Trübsal, welche Reue, welche Enttäuschungen können noch das Haus eines Menschen erschüttern, der, als er die Bausteine seiner Behausung auswählte, das Weise und Dauerhafte, das in der Trübsal, Reue und Enttäuschung liegt, nicht verworfen hat. Und ist es ferner nicht wahr, um sich eines anderen Bildes zu bedienen, dass es sich mit den Wurzeln des inneren Glückes verhält, wie mit den Baumwurzeln? Die Eichen, die der Wind am meisten rüttelt, hängen schliesslich mit den mächtigsten und nährkräftigsten Banden an dem ewigen Grunde; und das Schicksal, das ungerecht schüttelt, weiss nicht besser, was in der Seele stattfindet, als der Wind ahnt, was unter der Erde vorgeht.

 

. Es ist sehr anziehend, die mystische Macht und Anziehungskraft des wahren Glückes hier zu belauschen. Wenn einer von denen, die dem »kleinen Häuflein« angehören, durch die glückliche und triumphierende Menge schreitet, welche die Marmorstufen und grossartigen Gemächer von Versailles mit Ränken, Begrüssungen, Liebeleien und kleinen Siegen erfüllt, so entsteht zuweilen eine Art von Stillschweigen in dem bewegten Berichte Saint-Simons. Ohne dass es einer Aufforderung von seiner Seite bedarf, misst man, so scheint es, diese dürftigen Eitelkeiten, diese glänzenden, aber vergänglichen Befriedigungen, diese Lügen, die laut sprechen, aber im Dunkeln zittern, einen Augenblick an der Durchschnittshöhe einer ruhigen und starken Seele. Es geschieht ungefähr dasselbe, was unter Kindern geschieht, wenn sie verbotene Spiele spielen, Blumen abreissen oder zerpflücken, sich anschicken, Früchte zu stehlen, oder ein wehrloses Tier zu quälen, und ein Priester oder Greis kommt daher, ohne jedoch daran zu denken, sie zu schelten. Die Spiele werden hastig unterbrochen; das Bewusstsein erwacht jählings, und die beschämten Blicke richten sich wider Willen auf die Pflicht, die Wirklichkeit und die Wahrheit.

Zwar verweilen die Menschen für gewöhnlich nicht länger dabei, als die Kinder, dem Weisen, dem Priester, oder dem Nachdenken, das sich entfernt, mit den Augen zu folgen. Doch das thut nichts, sie haben gesehen; denn die menschliche Seele ist den Augen zum Trotze, die sich nur zu gerne abwenden oder schliessen, edler, als die Mehrzahl der Menschen es für ihre Gemütsruhe wünscht, und begreift ohne weiteres, was dem unnützen Augenblick überlegen ist, an dem man sie zu beteiligen versucht. Man flüstert vergebens die Strasse entlang, auf welcher der Weise verschwindet; er hat, ohne es zu wissen, in die Eitelkeiten und Irrtümer eine Furche gezogen, die weniger leicht verschwinden wird, als man vermeint. Sie wird vornehmlich in der unerwarteten Stunde der Thränen wieder aufbrechen. Eine Seele, die etwas reiner, etwas lebendiger ist, als die anderen, weint in dem Bericht Saint-Simons sehr selten, ohne bei einem von denen zu weinen, die sie derart in dem unruhigen Schweigen und schier böswilligen Staunen dahingehen sah, welches die Schritte eines makellosen Wesens auf dieser Welt begleitet.

Man befragt sich niemals über das Glück, so lange man sich glücklich glaubt; aber kommt der Augenblick des Leidens, so erinnert man sich leicht des Fleckes, wo sich ein Friede birgt, der nicht von einem Sonnenstrahle, einem verweigerten Kusse oder einer königlichen Missbilligung abhängt. Man geht darnach nicht zu denen, die auf solche Weise glücklich sind, wie wir es waren, man weiss endlich, was von diesem Glücke übrig bleibt, wenn der Zufall die geringste Gebärde der Ungeduld macht. Will man erfahren, wo das sicherste Glück sich birgt, so verliere man die Schritte der Elenden, die Trost suchen, nicht aus den Augen. Der Schmerz gleicht der Wünschelrute, deren sich früher die Sucher von Schätzen oder Lebenswassern bedienten: er zeigt dem, der ihn trägt, den Eingang der Zufluchtsstätte an, die den tiefsten Frieden atmet. Und dies ist so wahr, dass wir uns bisweilen fragen sollten, ob wir in das Wesen unserer Gemütsruhe, in den Seelenfrieden und die Aufrichtigkeit, mit denen wir die grossen Gesetze des Daseins bejahen, in die Beständigkeit unserer Freude Vertrauen setzen können, so lange die Betrübten durch ihren Instinkt nicht getrieben werden, an unsere Thür zu klopfen, so lange sie den festen und friedlichen Lichtstrahl der ewigen Lampe, der auf unserer Schwelle schläft, nicht zu erkennen scheinen.

Ja, die allein haben vielleicht das Recht, sich in Sicherheit zu glauben, zu denen alle Weinenden kommen möchten, um zu weinen. Es giebt derart durch alle Welt hin Wesen, deren inneres Lächeln wir erst von dem Augenblick an gewahren, wo die Thränen, die unsere Blicke bis in ihre geheimsten Quellen waschen, uns gelehrt haben, die Anwesenheit eines Glückes wahrzunehmen, das nicht aus dem Wohlwollen oder dem Glänze einer Stunde entspringt, sondern aus einer erweiterten Auffassung des Lebens. Hier wie in vielen Dingen sind es die Begierde und Notwendigkeit, die unsere Sinne schärfen. Die Biene, welche Hunger hat, findet den verborgenen Honig in den tiefsten Höhlen; und eine Seele, die immerdar weint, nimmt auch die Freude wahr, die sich im unnahbarsten Versteck und Schweigen birgt.

 

. Sobald das Bewusstsein in einem Wesen erwacht und zu leben beginnt, fängt sein Schicksal an. Es handelt sich hier nicht um das verarmte und passive Bewusstsein der meisten Seelen, sondern um das thätige Bewusstsein, das die Ereignisse annimmt, welcher Art sie auch sein mögen, wie eine Königin, selbst wenn man sie ins Gefängnis geworfen hat, eine Gabe anzunehmen weiss. Wenn einem nichts zustösst, kann das Bewusstsein schon ein grosses Ereignis schaffen, indem es den Mangel jedes Ereignisses auf gewisse Weise feststellt. Aber vielleicht giebt es keinen Menschen, dem nicht mehr Dinge begegnen, als er zur Ernährung des begierigsten und unermüdlichsten Bewusstseins bedarf.

Ich habe in diesem Augenblicke die Lebensbeschreibung einer jener mächtigen und leidenschaftlichen Seelen vor mir, an der alle Zufälle, die das Glück oder Unglück der Menschen ausmachen, vorübergegangen zu sein scheinen, ohne das Haupt umzuwenden. Es handelt sich um eine der seltsamsten und unstreitig genialsten Frauen aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts: Emily Bronté. Sie hat uns nur ein Buch hinterlassen, einen Roman mit dem Titel: »Wuthering Heights«. Ein bizarrer Titel, den man vielleicht mit »Stürmische Höhen« übersetzen könnte.

Emily war die Tochter eines englischen Clergyman, des Reverend Patrick Bronté, des nichtigsten, leblosesten, anspruchvollsten und selbstsüchtigsten Wesens, das man sich denken kann. Zwei Dinge schienen ihm wichtig im Leben, die Reinheit seines griechischen Profils und die Sicherheit seiner Verdauung. Was Emilys arme Mutter angeht, so schien sie ganz und gar in der Bewunderung dieses Profils und im Respekt vor dieser eheherrlichen Verdauung zu leben. Wozu übrigens ihr Dasein hier erwähnen, da sie zwei Jahre nach Emilys Geburt starb? Gleichwohl sei hinzugefügt – und wäre es nur, um wieder einmal zu erhärten, dass im Durchschnittsleben das Weib dem Manne, den es hat nehmen müssen, fast immer überlegen ist, es sei also hinzugefügt – dass lange nach dem Tode der geknechteten Frau des eitlen und stumpfsinnigen Clergyman sich ein Päckchen Briefe fand, worin sie, die sich immer ausgeschwiegen, die Gleichgiltigkeit, Abgeschmacktheit und Selbstsucht ihres Gatten sehr richtig beurteilte. Freilich braucht man, um einen Fehler bei anderen wahrzunehmen, nicht frei davon zu sein, während man, um eine Tugend zu entdecken, vielleicht deren Keim besitzen muss. – Derart waren Emilys Eltern. Mit ihr sahen vier Schwestern und ein Bruder dieselben einförmigen Stunden ernst dahinfliessen. Die ganze Familie lebte und das ganze Dasein Emilys verging in dem düsteren, trostlosen, einsamen, elenden und unfruchtbaren kleinen Dorfe Haworth mitten in der Haide von Yorkshire.

Es gab nie eine verlassenere, trübseligere, eintönigere Kindheit und Jugend als die Emilys und ihrer vier Schwestern. Nicht einer jener kleinen, glücklichen oder ein wenig unerwarteten Zufälle, die von den Jahren dann vergrössert und verschönt werden und auf dem Grunde der Seele den einzigen unerschöpflichen Schatz der lächelnden Lebenserinnerungen bilden. Vom ersten Tage bis zum letzten Aufstehen, Haushaltungssorgen, Unterricht, Arbeiten an der Seite einer alten Tante, Mahlzeiten und fast immer wortlose Spaziergänge, welche die ernsten kleinen Mädchen Hand in Hand über das blühende oder schneebedeckte Haideland unternahmen. Zu Hause die absolute Gleichgiltigkeit eines Vaters, der sich fast nie sehen liess, seine Mahlzeiten auf seinem Zimmer einnahm und nur des Abends herunterkam, um in dem gemeinsamen Wohnzimmer des Pfarrhauses die überwältigenden Debatten des englischen Parlaments mit lauter Stimme vorzulesen. Draussen das Schweigen des Kirchhofs, der das Haus umgab, die grosse Öde ohne Bäume, und die Hügel, die der furchtbare Nordwind vom Frühjahr bis zum Winter umtoste.

Die Zufälle des Lebens – denn es giebt kein Leben, in dem die Zufälle nicht etliche Anstrengungen machen – entrissen Emily drei- oder viermal dieser Einöde, die sie zu lieben, und wie es Allen geht, die zu lange an einem Orte weilen, als den einzigen Fleck anzusehen gelernt hatte, wo der Himmel, die Erde, die Pflanzen wirklich und bewundernswert waren. Aber schon in den ersten Wochen nach ihrer Abreise ward sie matt, ihre schönen glühenden Augen erloschen und die eine oder andere ihrer Schwestern musste sie schleunigst nach dem einsamen Pfarrhause zurückholen.

Im Jahre 1843 – sie war damals 25 Jahre alt – kehrte sie noch einmal zurück, um nur im Tode wieder zu scheiden. Kein Ereignis, kein Lächeln, keine Hoffnung auf Liebe vor dieser endgiltigen Heimkehr. Nicht einmal die Erinnerung an einen jener Unglücksfälle, eine jener Täuschungen, die so vielen zu schwachen, oder mit zu wenig Ansprüchen an das Leben herantretenden Wesen die Einbildung gestatten, dass die thatlose Treue gegen das, was sich selbst zerstört hat, ein Akt der Tugend ist, dass die Unthätigkeit in Thränen eine Entschuldigung der Unthätigkeit ist, und dass man alles gethan hat, was sich thun liess, wenn man aus seinem Leiden jede Traurigkeit und jede Entsagung geschöpft hat, die sich darin finden liess.

Hier gab es nichts, was die Erinnerung oder Entsagung an die jungfräulichen und glatten Wände dieser Seele ohne Vergangenheit heften konnte. Nichts vor dieser letzten Zeit, nichts nachher, ausser armen und trostlosen Krankenpflegerdiensten bei einem Bruder, dessen Dasein durch seine Trägheit und eine grosse, unglückliche Leidenschaft gebrochen ward, einem Bruder, der nahezu verrückt, unrettbar trunksüchtig und Opiumesser war. Als sie ihr neunundzwanzigstes Jahr fast vollendet hatte und an einem Dezember-Nachmittag, im kalkgetünchten Wohnzimmer des Pfarrhauses am Kamin sitzend, ihr langes, schwarzes Haar kämmte, fiel der Kamm ins Feuer; sie hatte nicht die Kraft, ihn aufzuheben, und der Tod kam, schweigsamer noch als ihr Leben, und entriss sie sanft den bleichen Umschlingungen ihrer zwei Schwestern, die das Loos ihr gelassen hatte.

 

. Ich ersehe für die auf den grossen Knieen des Schicksals weder ein Zeichen der Liebe, noch einen Funken Ruhm, noch eine lächelnde Stunde! ruft in schöner Wallung der Trauer Miss Mary Robinson aus, die uns dieses Dasein erzählt. In der That giebt es, von aussen gesehen, kein trüberes, farbloseres, leereres, eisigeres Dasein als das der Emily Bronté.

Aber von welcher Seite soll man das Leben ansehen, um seine Wahrheit zu entdecken, um es zu beurteilen, zu billigen und zu lieben? Wenn wir einen Augenblick die Blicke von dem kleinen, in der Haide verlorenen Pfarrhause ablenken, um sie der Seele unserer Heldin zuzuwenden, so sehen wir ein anderes Schauspiel. Es ist selten, dass man das Leben einer Seele in einem Körper, der keine Erlebnisse hatte, derart belauschen kann, aber es ist minder selten, als man denkt, dass eine Seele ein persönliches Leben hat, das, von den Einflüssen der Woche oder des Jahres nahezu unabhängig ist. Es liegt in »Wuthering Heights«, denn dies ist das Gemälde der Leidenschaften, Wünsche und Verwirklichungen, der Gedanken und Ideale dieser Seele, kurz, ihre wahre Geschichte, mehr Energie, mehr Leidenschaft, Eifer, Liebe und Erlebnis, als nötig wäre, um nacheinander zwanzig heroische, zwanzig glückliche oder unglückliche Schicksale zu erfüllen und zu befriedigen.

Kein Ereignis machte an der Schwelle ihrer Wohnung halt, und doch giebt es kein Ereignis, auf das sie ein Recht hatte, das in ihrem Herzen nicht mit einer Kraft, einer Schönheit, einer Bestimmtheit und einer Umfänglichkeit ohne gleichen stattgefunden hätte. Es begegnet ihr scheinbar nichts, und doch begegnet ihr alles viel persönlicher und wahrer als der Mehrzahl der Wesen, weil alles, was um sie vorgeht, alles, was sie hört und sieht, sich bei ihr in Gedanken, in Gefühle, in nachsichtige Liebe, in Anbetung und Bewunderung des Lebens verwandelt.

Was liegt daran, ob ein Ereignis auf unser Dach oder auf das des Nachbars fällt? Das Wasser, das eine Wolke spendet, gehört dem, der es auffängt, und das Glück, die Schönheit, die heilsame Ungeduld, oder der Friede, der in einer Gebärde des Zufalls liegt, gehört nur dem, der gelernt hat nachzudenken. Sie lernte nie die Liebe kennen, sie vernahm nicht ein einziges Mal den wundersamen Schall der Schritte des Geliebten, und doch hat sie, die als Jungfrau von neunundzwanzig Jahren starb, die Liebe gekannt, von der Liebe gesprochen und ihre unglaublichsten Geheimnisse derart durchschaut, dass jemand, der sehr geliebt hat, sich zuweilen fragen muss, welchen Namen er noch seiner Leidenschaft geben soll, wenn er von ihr die Worte, den Schwung, die Geheimnisse einer Liebe vernimmt, neben der alles andere zufällig und abgeblasst erscheint.

Wo hat sie, wenn nicht in ihrem Herzen, jene unvergleichlichen Worte der Liebenden vernommen, die sie zu ihrer Amme sagt, wenn sie von ihm spricht, den alle rings verfolgen und verabscheuen und den sie allein anbetet? »Mein grosses Elend auf dieser Welt ist sein Elend gewesen. Alles und jedes habe ich von Anfang an mit- und nachempfunden. Mein Denken, wenn ich lebe, ist nur er. Wenn alles übrige verginge und er allein bliebe, würde ich fortfahren zu leben; und wenn alles übrige bliebe und er zunichte würde, wäre die Welt für mich nur noch eine ungeheure Fremde und ich hätte keinen Teil mehr daran. Meine Liebe für den Anderen, von dem du sprichst, ist wie das Laub im Walde; die Zeit wird sie verändern, wie der Winter die Bäume verändert; aber meine Liebe für ihn gleicht den ewigen, unterirdischen Felsen. Sie sind die Quelle von wenigen sichtbaren Befriedigungen, aber sie sind notwendig. – Ich bin er. Er ist stets und stets in meinen Gedanken, nicht wie ein Vergnügen, nicht mehr, als ich mir selber immer ein Vergnügen bin. Ich liebe ihn nicht, weil er mir schön erscheint, sondern weil er mehr ich ist als all mein Ich, und aus welchem Stoffe unsere Seelen auch gemacht sein mögen, seine und meine Seele sind nur eine und dieselbe Seele ...«

Sie geht um die äusseren Thatsachen der Liebe mit einer Unschuld herum, die uns lächeln machen kann; aber woher hat sie diese inneren Thatsachen, die all das Tiefste, Unlogischeste, Unerwarteteste, Unwahrscheinlichste und Ewig-Wahrste berühren, was die Leidenschaft besitzt? Es scheint, man hätte dreissig Jahre lang in den glühendsten Fesseln der glühendsten Küsse schmachten müssen, um das zu wissen, was sie wusste, um uns mit dieser Gewissheit, mit dieser untrüglichen Genauigkeit, den Liebeswahnsinn der beiden vom Schicksal vorherbestimmten Liebenden der »Wuthering Heights« zu schildern, diesen Wahnsinn mit all seinen widersprechenden Regungen der Sanftmut, die leiden machen will, und der Grausamkeit, die beglücken möchte, der Glückseligkeit, die den Tod verlangt, und der Trostlosigkeit, die sich an das Leben klammert, der Abweisung, die da begehrt, und des trunkenen Begehrens nach Abweisung, der hasserfüllten Liebe und des Hasses, der unter der Last der Liebe wankt ...

 

. Aber doch wissen wir – denn es ist nichts verborgen in diesem armen Leben – dass sie niemanden liebte und dass niemand sie liebte. Es ist also wahr, dass das letzte Wort eines Daseins das Wort ist, welches das Schicksal im geheimsten Grunde unseres Herzens flüstert! Es ist also wahr, dass es ein inneres Leben giebt, das so wirklich, so erprobt, so ausführlich ist, Wiedas Leben da draussen! Es ist also wahr, dass man auf einer Stelle leben kann, dass man lieben, dass man hassen kann, ohne dass man jemanden abzuweisen oder zu erwarten hätte! Es ist also wahr, dass die Seele zu allem genügt, dass es in einer gewissen Höhe allemal sie ist, die den Ausschlag giebt! Es ist also wahr, dass die Umstände nur für die trüb und unfruchtbar sind, deren Bewusstsein noch schläft!

Gab sich nicht alles, was wir auf der Strasse suchen, Liebe, Glück, Schönheit, Erlebnisse, in Emilys Herzen ein Stelldichein? Nicht ein Tag brachte ihr eine jener Freuden, eine jener Wallungen oder ein Lächeln, das die Augen sehen, die Hände fassen können: und doch hatte sie ein vollkommenes Geschick; nichts schlief in ihr, stets war Klarheit, schweigende Heiterkeit, Vertrauen, Wissbegierde, Leben und Hoffnung in ihrem Herzen.

Sie war glücklich, es ist nicht erlaubt, daran zu zweifeln. Wenn sie uns ihre Seele aufthut, kann sie uns dieselbe unvergängliche Ernte aufweisen, wie die Besten unter den Menschen, die das mannigfachste, längste, lebhafteste und vollkommenste Glück besassen. Wenn sie nichts von dem besass, was mit der Liebe, dem Schmerze, der Herzensangst, der Leidenschaft oder Freude vergeht, so hatte sie doch alles, was von menschlichen Regungen bleibt, wenn jene nicht mehr sind. Welcher von beiden wird wirklich etwas besessen haben, der Blinde, der ein Feenschloss bewohnt, oder der, welcher nur ein einzigesmal in diesen Palast gekommen ist, aber mit offenen Augen?

»Leben oder nicht leben« – lassen wir uns durch die Worte nicht irre führen. Es ist vollständig möglich, ohne Denken zu existieren, aber es ist nicht möglich, zu denken, ohne zu leben. Das glückliche oder unglückliche Wesen eines Ereignisses liegt in der Vorstellung, die man daraus schöpft: für die Starken in der, die sie selbst daraus schöpfen, für die Schwachen in der, welche die anderen daraus schöpfen. Es ist möglich, dass tausend physische Ereignisse dir auf deinem Wege zum Grabe entgegenkommen, und dass keines davon die Kraft findet, deren es bedürfte, um sich in ein moralisches Ereignis umzuwandeln. Dann allein kann der Mensch sich sagen: »Ich habe vielleicht nicht gelebt«.

 

. Also können wir sagen, dass das innere Glück unserer Heldin, wie das eines jeden Wesens, sich in seiner Moral und Weltanschauung ganz genau wiederspiegelt. Dies ist die Lichtung im Walde der Zufälle, die man am Ende jedes Lebens messen sollte, um die Ausdehnung seines Glückes zu schätzen. Und wer könnte noch jene kleinen Thränen über die Täuschungen, Unruhe und Trübsale des Alltags vergiessen, die allein schmerzlich sind, da sie, statt zu erfrischen, den Blick vergrämen, wer könnte sie noch vergiessen auf den Höhen der Erkenntnis und Befriedigung, zu denen sich die Seele der Emily Bronte aufschwang?

Man begreift danach, dass sie nicht geweint hat, wie die Mehrzahl der Frauen, die ihr Leben lang von kleinen zerbrochenen Freuden zu kleinen zerbrochenen Freuden taumeln. Eine zerbrochene Freude drückt uns nur dann nieder, wenn man sie ohne Sinn und Verstand mit sich herumträgt, wie ein Holzfäller, der seine tote Holzlast nie ablegt. Aber das tote Holz ist nicht dazu da, um auf unseren Schultern herumgetragen zu werden; es ist da, um angezündet und in leuchtende Flammen verwandelt zu werden. Und wenn man die Flammen sieht, die in Emilys Seele lodern, denkt man nicht länger als sie selbst an die Trübsale des toten Holzes. Es giebt kein Unglück ohne Horizont, es giebt keine unheilbare Trübsal für einen Menschen, der, wenn er leidet und betrübt ist wie die anderen, der grossen Gebärde der Natur, welche die einzig wirkliche Gebärde ist, bis auf den Grund der Trübsal und des Unglücks nachzufolgen weiss. »Der Weise kann nie ganz sagen, dass er leide, denn er steht über seinem Leben,« schrieb ein bewunderungswürdiges Weib, das viel gelitten hatte; »er beurteilt es aus der Vogelschau, und wenn er heute leidet, so hat er sein Denken dem unvollendeten Teile seiner Seele zugewandt.«

Emily entfesselt vor unseren Augen neben Liebe, Güte und Redlichkeit auch Bosheit, Hass und Rache von grösster Hartnäckigkeit und die berechnendste Niedertracht, und sie hat es doch nicht einmal nötig, zu vergeben, denn vergeben heisst, erst zur Hälfte verstehen. Sie betrachtet, sie lässt zu und sie liebt. Sie liebt und lässt das Gute wie das Böse zu, denn das Böse ist alles in allem genommen das Gute, das sich täuscht. Sie lehrt uns – nicht in willkürlichen Moralformeln, sondern auf die Weise, auf welche uns Jahre und Menschen die Wahrheiten lehren, die wir aufzunehmen im stande sind – die schliessliche Ohnmacht der Bosheit vor dem Leben, das Zur-Ruhe-Kommen aller Dinge in der Natur und im Tode, »der nichts ist als der Triumph des Lebens über eine seiner besonderen Formen«. Sie zeigt uns die Nutzlosigkeit der gewandtesten, kraftvollsten und genialsten Lügen vor der schwächsten und unwissendsten Wahrheit, und die Selbsttäuschungen des Hasses, der die Zukunft zu verwüsten wähnt und dabei Glück und Liebe sät. Sie ist vielleicht die Erste, die uns von dem grossen Gesetze der Erblichkeit spricht, um uns zur Duldsamkeit anzuhalten; und wenn sie am Ende ihres Werkes auf den Dorfkirchhof geht, um die ewige Ruhestätte ihrer Helden zu besuchen, so ist das Gras auf dem Grabe des Henkers ebenso grün, wie auf dem des Märtyrers, und sie wundert sich, wie jemand sich einbilden könnte, ein böswilliger Traum könnte die Ruhe derer stören, die so im Schosse der gleichgiltigen und friedlichen Erde schlafen.

Ich weiss wohl, dass es sich um ein Genie handelt, aber solche Wesen zeigen uns nur mit etwas mehr Glanz, was in allen Wesen stattfinden kann und in allen Wesen stattfindet; wo nicht, ist es nicht mehr Genie, sondern Übertreibung oder Wahnsinn. Je weiter man kommt, desto mehr sieht man ein, dass im Ausserordentlichen durchaus kein Genie liegt, und dass die wahre Überlegenheit aus Elementen besteht, die sich alle Tage allen Menschen darbieten. Zudem handelt es sich in diesem Augenblick nicht um Litteratur. Nicht ihre Litteratur, sondern ihr inneres Leben tröstet Emily; denn es kann eine sehr blendende Litteratur geben, ohne dass sich die geringste moralische Bethätigung darin finden lässt. Emily hätte schweigen können, hätte nie eine Feder zur Hand nehmen brauchen, und die Macht, die Lebenskraft, der Überfluss an Liebe, das innere Lächeln des Wesens, das zu wissen scheint, wohin es geht, dieselbe erweiterte Gewissheit der Seele, die mit den grossen Ungewissheiten und Jammerseligkeiten dieser Welt ihren Frieden auf den Höhen zu machen gewusst hat, – wären dieselben geblieben. Wir hätten nichts davon erfahren, das ist alles.

Dieses bescheidene Leben lehrt uns mehr als ein Ding. Das heisst nicht, man sollte es denen zum Vorbild setzen, die Neigung zur Entsagung haben; sie würde es irre führen. Es scheint ganz und gar im Warten zu verfliessen; und es hat nicht alle Welt das Recht zu warten. Emily starb als Jungfrau von neunundzwanzig Jahren, und man thut unrecht, als Jungfrau zu sterben. Ist es nicht die erste Pflicht jedes Wesens, seinem Geschick alles darzubieten, was man einem menschlichen Geschick darbieten kann? Ein unvollendetes Werk ist besser, als ein unvollkommenes Leben. Es ist gut, die eitlen oder unnützen Befriedigungen zu vernachlässigen, aber es ist nicht weise, den hauptsächlichsten Gelegenheiten zu wesentlichem Glücke fast absichtlich aus dem Wege zu gehen. Es ist der edlen Seele nicht untersagt, edle Reue zu nähren. Eine etwas weitere Ansicht von der Trübsal seines Daseins haben, heisst die Flügel, die uns eines Tages helfen werden, über dieser ganzen Trübsal zu schweben, schon im Schatten erproben.

Vielleicht fehlte in Emilys Leben der Schwung. Sie hatte in ihrer Seele alle Kühnheit, alle Leidenschaft, alle Unabhängigkeit, aber in ihrem Leben alle Ängstlichkeit, alles Stillschweigen, alle Unthätigkeit, alle Beschränkungen, alle Enthaltsamkeiten und Vorurteile, die sie in ihrem Denken verachtete. Dies ist sehr oft die Geschichte der zu nachdenklichen Seelen. Es ist sehr schwer, ein Dasein in sich zu beurteilen, und namentlich bei Emily Bronté wäre viel zu sagen über die Hingebung, mit der sie die besten Jahre ihrer Jugend einem unglücklichen, aber unwürdigen Bruder opferte. Man kann hier nur ganz allgemein reden, aber wie lang, wie schmal ist doch bei fast allen Wesen der Weg, der von ihrer Seele zu ihrem Leben führt! Es ist mit unseren Gedanken von Kühnheit, Gerechtigkeit, Redlichkeit und Liebe, wie mit den Eicheln im Walde; tausend und abertausend werden zerstreut und verfaulen im Moose, ehe ein Baum entsteht. »Sie hatte«, sagte von einem anderen Weibe die Frau, von der ich soeben schon ein Wort erwähnt habe, »sie hatte eine schöne Seele, einen schönen Verstand, ein empfindsames Herz, aber alles dieses trat erst ins Leben, nachdem es durch einen engen Charakter hindurchgegangen war. Ich bemerke fast immer denselben Mangel an Hellsichtigkeit, und vor allem denselben Mangel an Selbstbesinnung. Wenn ein Wesen uns sein Leben erzählen will, fängt es damit an, uns seine Art, zu sehen, zu begreifen, zu empfinden, mitzuteilen; man ersieht daraus eine edle Natur seiner Seele. In dem Maasse, wie man mit ihm in sein Dasein eindringt, zählt es uns dann seine Thaten, seine Schmerzen und Freuden auf, und in alledem ist keine Spur mehr von der Seele, die man zwischen Grundsätzen und Vorstellungen hindurch einen Augenblick erschaut hatte. Sobald es ans Handeln geht, kommen die Instinkte dazwischen, macht der Charakter sich geltend, und die Seele, das ist der höhere Teil eines Wesens, scheint uns zu nichte geworden, wie eine Prinzessin lieber in bettelstolzer Armut lebt, als ihre Hände in gewöhnlichen Verrichtungen zu härten.«

 

. Doch wahrhaftig! Nichts ist gethan, so lange man nicht gelernt hat, seine Hände zu härten, so lange man nicht gelernt hat, das Gold und Silber seiner Gedanken in einen Schlüssel umzuschmelzen, der nicht mehr den Elfenbeinturm unserer Träume, sondern die Thür unseres Hauses aufschliesst. Oder in einen Becher, der nicht allein das Wunderwasser unserer Träume auffängt, sondern auch das sehr wirkliche Wasser, das auf unser Dach fällt, nicht davonlaufen lässt; in eine Wage, die es nicht dabei bewenden lässt, das, was wir in der Zukunft vorhaben, unbestimmt abzuwägen, sondern die uns genau das Gewicht dessen anzeigt, was wir heute gethan haben. Das höchste Ideal ist nur etwas Vorläufiges, so lange es nicht geläufig durch alle unsere Glieder rinnt, so lange es nicht Mittel und Wege weiss, uns gleichsam bis in die Fingerspitzen zu durchdringen. Es giebt Wesen, deren Selbstbesinnung nur ihrem Verstande von Nutzen ist. Es giebt andere, bei denen dieselbe innere Sammlung immer etwas zu ihrem Charakter hinzufügt. Die einen sind hellsichtig, so lange es sich nicht um sie handelt, so lange es nicht darauf ankommt, zu handeln; die Augen der anderen leuchten vornehmlich dann auf, wenn es gilt, in die Wirklichkeit einzugreifen, wenn es sich um eine That handelt. Man könnte sagen, dass es ein intellektuelles Bewusstsein giebt, das ewig auf unbeweglichem Throne sitzt und mit dem Willen nur durch eine Reihe von ungetreuen oder saumseligen Botschaftern verkehrt, und ein moralisches Bewusstsein, das stets auf beiden Füssen steht und jederzeit bereit ist, auszuschreiten. Zwar hängt das letztere vielleicht von dem ersteren ab, ja, es ist vielleicht nur das erstere, das der langen Ruhe überdrüssig wird, in der es alles gelernt hat, was es lernen konnte, und sich entschliesst, endlich aufzustehen, die Stufen der Unthätigkeit hinabzusteigen und ins Leben zu treten. Alles geht gut, vorausgesetzt, dass es sich bis zu dem Tage, wo seine Glieder es nicht mehr tragen können, nicht aufhält.

Wer will uns sagen, ob es nicht vorzuziehen sei, manchmal gegen sein Denken zu handeln, als nie zu wagen, nach seinem Denken zu handeln? Der thätliche Irrtum ist fast nie unheilbar; Menschen und Dinge pflegen ihn bald wieder zu berichtigen; aber was vermögen sie gegen den unthätigen Irrtum, der jede Berührung mit der Wirklichkeit meidet? Übrigens soll mit alledem nicht gesagt werden, dass man sein intellektuelles Bewusstsein einschränken und sich fürchten müsste, es zu gut zu ernähren, während man seines moralischen Bewusstseins harrt. Fürchten wir niemals, unser Ideal sei zu wunderbar, als dass es sich dem Leben anpassen könnte. Es bedarf eines Stromes von gutem Willen, um die geringste That der Gerechtigkeit oder Liebe flott zu machen. Unsere Ideen müssen unserer Lebensführung zehnmal überlegen sein, damit diese einfach rechtlich wird. Man muss ausnehmend viel Gutes wollen, um ein wenig das Böse zu meiden. Keine Kraft der Welt erleidet zahlreichere Verluste, als eine Idee, die ins tägliche Leben herabsteigen soll; und darum muss man in seinen Gedanken heroisch sein, um höchstens annehmbar und unanstössig zu sein in seinen Thaten.

 

. Nähern wir uns zum letzten Male den dunklen Schicksalen. Sie lehren uns, dass selbst im Schosse des grössten physischen Unglückes nichts unheilbar ist, und wenn man über das Schicksal klagt, dass man damit über die Dürftigkeit seiner eigenen Seele klagt.

Man findet in der römischen Geschichte folgende Erzählung. Ein gallischer Senator, Julius Sabinus, hatte sich gegen den Kaiser Vespasian empört und war unterlegen. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, zu den Germanen zu fliehen, aber da er sein junges Weib Eponine nicht mitnehmen konnte, hatte er nicht das Herz, es zu verlassen. Es scheint, dass man in den Tagen der Angst und des Unglücks endlich den einzigen und wahrhaften Wert des Lebens erkennt; er verzichtete also nicht auf das Leben. Er besass eine Villa mit riesigen Kellerräumen, die nur ihm und zwei Freigelassenen bekannt waren. Diese Villa liess er in Brand stecken, und das Gerücht verbreitete sich, dass er sich vergiftet hätte und sein Körper von den Flammen verzehrt worden wäre. Selbst Eponine liess sich dadurch täuschen, sagt Plutarch, dem ich diese Erzählung entnehme, so wie sie von dem Historiker der Antonine, dem Grafen von Champagny, vervollständigt ist; und als der Freigelassene Martialis ihr den Selbstmord ihres Gatten verkündete, blieb sie drei Tage und drei Nächte am Boden liegen und verweigerte jede Nahrung. Als Sabinus von diesem Schmerz vernahm, hatte er Mitleid mit Eponine und liess ihr sagen, dass er lebte. Und sie fuhr fort, am Tage um ihren Gatten zu trauern und ihn öffentlich zu beweinen, als ob sie ihn verloren hätte, aber des Nachts besuchte sie ihn in seinem Versteck. Sieben Monate lang stieg sie Nacht für Nacht in die Unterwelt herab, um ihren Gatten dort wiederzufinden. Sie versuchte sogar, ihn daraus zu befreien, schnitt ihm Bart und Haare ab, umwickelte seinen Kopf mit Binden, verkleidete ihn und liess ihn in einem Kleiderbündel versteckt in seine Vaterstadt zurückbringen. Aber bald schien ihr dieser Aufenthalt zu gefährlich und sie musste ihren Gatten in den Keller zurückbringen. Sie wohnte abwechselnd auf dem Lande, wo sie ihre Nächte mit ihm verbrachte, bald kehrte sie zur Stadt zurück und liess sich unter ihren Freundinnen sehen. Sie wurde schwanger, aber dank einer Salbe, mit der sie sich salbte, bemerkte nie ein Weib, selbst bei den gemeinsamen Bädern nicht, dass sie schwanger war. Als der Augenblick der Geburt gekommen war, begab sie sich in die unterirdischen Räume und brachte allein, ohne eine Wehefrau, wie die Löwin, die in ihrer Höhle wirft, ein paar Zwillinge zur Welt. Sie nährte sie mit ihrer Milch; sie sah sie heranwachsen; sie unterhielt ihren Gatten neun Jahre lang in diesem finsteren Versteck. Trotzdem ward Sabinus entdeckt und nach Rom gebracht. Er verdiente wahrlich Vespasians Gnade; Eponine stellte dem Kaiser ihre beiden Söhne vor, die sie unterirdisch grossgezogen, und sagte: »Ich habe sie zur Welt gebracht und erzogen, damit wir zahlreicher wären, um deine Gnade anzuflehen.« Die Anwesenden weinten, aber der Kaiser war unbeugsam, und es blieb der mutigen Gallierin nichts übrig, als darum zu bitten, mit ihrem Gatten sterben zu dürfen. »Ich habe«, sagte sie, »mit ihm im Finstern glücklicher gelebt, als du, o Cäsar, im Antlitz der Sonne und im Glanze deines Reiches je gewesen bist!«

 

. Welches Herz wagte daran zu zweifeln? Welches Herz würde zaudern, in einem Dunkel zu lieben, das solche Liebe erleuchtet? Ohne Zweifel ging ihnen mehr als eine furchtbare oder elende Stunde in ihrer Höhle vorüber; aber wer – selbst unter denen, die nur die kleinsten Befriedigungen des Daseins schätzen, – würde es nicht vorziehen, in einer Art von Grab mit solcher Glut zu lieben, als in der Wärme und im Licht der Sonne immer nur lau zu lieben? Der bewundernswerte Ausruf Eponinens ist der Ausruf aller, deren Seele mit Anteil oder Wissbegier, Hoffnung oder Pflicht am Leben hängt. Die Flamme, die sie in der Tiefe ihres finstern Kellers belebte, ist die gleiche, die den Weisen im Schosse der gleichmässigen Stunden belebt. Die Liebe ist die unbewusste Sonne unserer Seele, aber die reinsten, wärmsten und beständigsten Strahlen dieser Sonne sind denen erstaunlich ähnlich, die eine für Gerechtigkeit, Grösse, Schönheit und Wahrheit begeisterte Seele in sich zu mehren bestrebt ist. Lässt sich das Glück, das dort im Herzen Eponines zufällig entstand, nicht in jedes Herz von gutem Willen senken? Alles Tröstlichste in ihrer Liebe, das Selbstvergessen, das Umwandeln der Seufzer in Lächeln, der Freuden, denen man entsagt, in Glück, das im Herzen ewig wird, der Anteil, den man am bleichsten Schimmer jedes Tages nimmt, wenn er etwas erleuchtet, das man bewundert, das Eintauchen in ein Licht und eine Heiterkeit, die wir nach Belieben mehren können – denn man braucht nur mehr anzubeten, um sie zu mehren –: liesse sich dies alles und tausend ebenso sanfte, ebenso hilfreiche Kräfte nicht auch im glühenderen Leben unseres Herzens, unserer Seele und unseres Denkens finden? War die Liebe der Eponine etwas anderes, als ein ungewolltes, unerwartetes, unverdientes Aufleuchten dieses Lebens? Die Liebe denkt nicht immer; oft bedarf sie gar keines Nachdenkens, gar keiner Selbstbesinnung, um all das Beste zu geniessen, was im Denken liegt; aber das Beste, was die Liebe hat, ist dem Besten, was im Denken liegt, darum nicht minder gleich. Eponine sah, weil sie liebte, nur das lichte Antlitz ihrer Leiden; aber wenn man über seine Notdurft hinausblickt, überlegt und nachdenkt, wenn man freudiger handelt, als man es nach der Lage seines Schicksals nötig hätte, heisst das nicht, aus freien Stücken und mit Bewusstsein thun, was die Liebe nur unbewusst und infolge eines schönen Zufalls thut? Jedes Leiden der Eponine zündete in den Kellerhöhlen eine Fackel an; – und einer Seele, die an die Zurückgezogenheit gewöhnt ist, sollte nicht jeder Schmerz, der sie zur Selbsteinkehr zwingt, das Licht einer grossen Tröstung entzünden? Und da wir, wie unsere edle Eponine, in den Zeiten der Verfolgungen leben, so könnte man wohl auch sagen, dass mancher Schmerz jenem heidnischen Folterknecht gleicht, der mitten in den Qualen, die er seinem Opfer zufügt, von Bewunderung oder Erbarmen ergriffen wird und sich ihm plötzlich zu Füssen wirft, es liebevoll ermutigt, mit ihm leiden will und es schliesslich im Kusse bittet, ihm den Weg zu seinem Himmel zu zeigen?

 

. Wohin wir auch immer gehen mögen, überall unter dem Himmel fliesst der Strom des Lebens verschwenderisch reich. Er strömt am Fusse eines Palastes voller Glück und Ruhm; er strömt zwischen den Wänden eines Kerkers, wenn auch die Sonne nicht durch seine Fluten glüht. Was für uns wichtig ist, das ist nicht die Tiefe, Breite oder Gewalt des Flusses, der allen gehört und überall strömt, sondern die Reinheit und das Fassungsvermögen der Schale, die wir hineintauchen. Alles, was wir aus dem Lebensstrome schöpfen, nimmt notwendigerweise die Form dieser Schale an, und sie ist wiederum auf unseren Gefühlen und Gedanken, kurz, auf dem Busen unseres inneren Schicksals geformt worden, wie die Schale des alten Künstlers auf dem Busen einer Göttin geformt wurde. Man hat die Schale, die man sich gemacht hat, und man hat fast immer die, nach der man trachten lernte. Wir könnten uns über das Schicksal nur in einer Hinsicht beklagen, das ist, dass es uns nicht den Gedanken an eine weitere, vollkommenere Schale eingegeben hat. Ja, nur im Verlangen liegt die Ungleichheit, aber diese Ungleichheit kommt uns erst in dem Augenblicke zu Bewusstsein, wo sie zu verschwinden beginnt. Wenn man erkennt, dass unser Verlangen schöner sein könnte, heisst das nicht schon, es verschönern? Heisst das nicht, den Busen unseres Schicksals mit neuem Atem heben und eben dadurch die Form des bildsamen Idealbechers erweitern, dessen Metall erst zur kalten, unbeugsamen Todesstunde erstarrt?

Es hat sich keiner zu beklagen, der ein glühenderes, hochherzigeres Gefühl erwartet. Es hat sich keiner zu beklagen, der das Verlangen nach ein wenig mehr Glück, ein wenig mehr Schönheit, ein wenig mehr Gerechtigkeit erwartet. Es ist damit, wie es mit der Seligkeit der Auserwählten sein soll. Jeder von ihnen ist in Heiterkeit gekleidet, und jeder hat das Kleid, das seinem Wuchs entspricht. Er kann keine grössere Glückseligkeit wünschen, als die, welche er besitzt, denn eben dadurch, dass er sie wünschte, würde er sie besitzen. Wenn ich voll edlen Neides auf das Glück derer bin, die imstande sind, ein funkelnderes und schwereres Gefäss in die lichteste Stelle des grossen Flusses einzutauchen, so habe ich, ohne dass ich es weiss, einen hervorragenden Anteil an allem, was sie dort schöpfen, und meine Lippen legen sich neben den ihren an den Rand des Bechers.

 

. Wen wirst du lieben können? fragte man vor diesen Abschweifungen die Frau, deren man sich vielleicht noch entsinnt. Man hätte dieselbe Frage der Emily Bronté vorlegen können, und vielen anderen; und es giebt auf der ganzen Welt eine Menge von Seelen mit gutem Willen, die ihre besten Lebensjahre damit verbringen, sich derartige Fragen über ihr Herzensschicksal zu stellen.

Überhaupt drängen sich im Bereiche des Schicksals die meisten Klagen, Reuegefühle, müssigen Erwartungen, eitlen Befürchtungen und unverhältnismässigen Hoffnungen um das Bild der Liebe. Alledem liegt viel Dünkel, viel falsche Poesie, viel Lüge zu Grunde. Im allgemeinen findet man unter den Seelen, die am wenigsten darnach gestrebt haben, sich zu begreifen, die meisten unverstandenen Seelen. Im allgemeinen nährt sich das schwächlichste, engste und willkürlichste Ideal am ausgiebigsten von Befürchtungen, Enttäuschungen, Ansprüchen und kleiner Verachtung. Wir fürchten überhaupt am meisten die Zerknitterung oder Verkennung der Tugenden, Gedanken, Eigenschaften und moralischen Schönheiten, die wir noch nicht besitzen, ausser in unserer Vorstellung. Es ist mit Verdiensten dieser Art wie mit materiellen Gütern; die Hoffnung hängt sich immer am hartnäckigsten an die, welche zu erwerben man wahrscheinlich nie die Kraft haben wird. So ist der Schurke, der die Absicht hegt, sich zu bessern, höchst erstaunt, dass man der Redlichkeit, die einen Augenblick in seinem Herzen erwacht, nicht sofort eine ausbündige Ehre anthut. Wenn wir aber wahrhaft lauter, selbstlos und aufrichtig sind, wenn unsere Gedanken sich gewohnheitsmässig und einfältig über die Eitelkeit oder Selbstsucht des Instinktes erheben, so kümmern wir uns viel weniger darum, ob die, welche um uns sind, uns Recht geben, uns verstehen, uns bewundern, oder nicht. Epiktet, Mark Aurel und Antoninus Pius haben sich nie beklagt, unverstanden zu sein. Sie wähnten nicht, etwas Unerhörtes und Unbegreifliches in sich zu haben. Im Gegenteil glaubten sie, dass ihrer Tugend Bestes just in dem läge, was alle ohne Mühe einsehen konnten. Was man verkennt – und dies nicht ohne Grund, denn es liegt fast immer ein höherer Grund in der allgemeinen Trägheit eines Gefühls – was man verkennt, das sind die kränklichen Tugenden, denen wir zu viel Wert beimessen; und jede Tugend, der wir einen grossen Wert beimessen und für die wir eine ehrfürchtige Beachtung fordern, ist kränklich. Eine kränkliche Tugend ist oft verhängnisvoller als ein gesundes Laster, und jedenfalls ist sie der Wahrheit nicht so nahe; aber fern von der Wahrheit ist nichts zu hoffen. Je mehr unser Ideal sich verbessert, desto grösser ist die Zahl der Realitäten, die es zulässt; und je mehr unsere Seele wächst, desto weniger fürchtet sie, keine andere Seele ihres Schlages zu treffen. Denn eine Seele, die wächst, ist eine Seele, die sich der Wahrheit nähert, und unweit der Wahrheit nimmt Alles an der Grösse der Wahrheit selbst teil.

Mitten unter den himmlischen Lichtern in ihrem einförmigen, blendenden Glanze, beim Eintritt in die letzte Sphäre, fragt sich Dante plötzlich, weil er rings umher nichts mehr sich rühren sieht, ob er still stände oder sich dem Sitze Gottes noch näherte. Dann sieht er Beatrice an, und als sie ihm schöner erscheint, erkennt er, dass er seinem Ziele nahe ist. Und auch wir können an dem Zuwachs von Wissbegierde, Liebe, Ehrfurcht und Bewunderung für Alles, was uns im Leben begleitet, die Schritte zählen, die wir der Wahrheit entgegen gemacht haben.

 

. Gewöhnlich verlässt der Mensch sein Haus, um auf die Suche nach Freude, Schönheit, Wahrheit und Liebe auszugehen, und er kehrt nur dann vollbefriedigt heim, wenn er seinen Kindern sagen kann, dass er Nichts getroffen habe. Es liegt viel Hochmut in der Unzufriedenheit, und die meisten klagen Leben und Liebe nur an, weil sie sich einbilden, dass Leben und Liebe ihnen mehr schulden, als sie denselben zugestehen können. Freilich bedarf es zur Liebe, wie zu allen anderen Dingen, eines so hohen Ideals wie möglich; aber jedes Ideal, das keiner starken inneren Realität entspricht, ist nichts als eine müssige, unfruchtbare und bequeme Lüge. Es bedarf nur zweier oder dreier unerfüllbarer Ideale, um ein Leben zu lähmen. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass der Maassstab für die Höhe einer Seele in ihren Bestrebungen und Träumen liege. Die Schwachen haben im allgemeinen viel schönere und zahlreichere Träume, denn alle ihre Thatkraft und Thätigkeit verbraucht sich in den Träumen. Die Höhe eines zur Gewohnheit gewordenen Traumes zählt, wenn es sich darum handelt, unsere sittliche Höhe zu bewerten, nur insofern mit, als dieser Traum etwa der verlängerte Schatten eines früheren Lebens und Willens von sehr grosser Festigkeit, Bewährtheit und Menschlichkeit ist. Nur dann ist es erlaubt, ihn einen Augenblick inmitten der Ebene aufzurichten, die von der Sonne der äusseren Realitäten überflutet wird, wie man eine Stange neben einem ewigen Turme aufpflanzt, um ihn an seinem Schatten zu messen, indem man das Verhältnis zwischen dem Schatten der Stunde und dem ewigen Turme feststellt.

 

. Es scheint natürlich, dass ein edles Herz eine grosse Liebe erwartet, aber noch weit natürlicher ist es, dass es in der Erwartung liebt, und dass es in der Liebe nicht zu warten vermeint. In der Liebe wie im Leben ist es fast immer sehr unnützlich, zu warten; indem man liebt, lernt man warten, und mit den sogenannten Enttäuschungen der kleinen Liebschaften wird man am einfachsten und sichersten die unerschütterliche Flamme der grossen Liebe nähren, die vielleicht den Rest unseres Lebens erleuchten wird.

Man ist oft ungerecht gegen Enttäuschungen. Man giebt ihnen ein grämliches, blasses, entmutigtes Aussehen, und doch sind sie das erste Lächeln der Wahrheit. Du bist ein Mensch voll guten Willens, du strebst danach, gerecht, nützlich, weise und glücklich zu sein; wenn aber eine Enttäuschung dich betrübt: geschieht dies aus Reue über die Lüge, in der du lebtest? Oder lebst du lieber in der Welt deiner Irrtümer und Träume, als in der Wirklichkeit? Die besten Stunden gehen beim besten Willen nur zu oft verloren, und zwar im Kampfe eines schönen Traumes gegen ein unvermeidliches Gesetz, dessen Schönheit man erst gewahrt, wenn der schöne Traum einem die Kräfte erschöpft hat. Wenn dich zum Beispiel die Liebe betrogen hat, meinst du, es wäre dir heilsam gewesen, dein Leben lang zu glauben, die Liebe sei das, was sie nicht ist, was sie nicht sein kann? Glaubst du nicht, dass eine Selbsttäuschung dieser Art deine wichtigsten Handlungen fälscht und lange Zeit einen Teil der Wahrheit verschleiert, die du erreichen willst? Und wenn du hofftest, etwas Grosses zu vollbringen, und die Enttäuschung weist dir deinen Platz unter Dingen zweiten Ranges an: ist es dann redlich, bis zum Ende der Tage die Botin der Wahrheit zu verwünschen? Ist es nicht, alles in allem gerechnet, die Wahrheit selbst, die deine Selbsttäuschung suchte, wenn anders sie aufrichtig war? Man muss lernen, sich aus seinen Enttäuschungen eine Schaar geheimnisvoller und treuer Freundinnen und unbestechlicher Ratgeberinnen zu bilden. Wenn eine darunter, grausamer als die anderen, dich im Augenblicke niederschmettert, so sage nicht schluchzend: »Ach! das Leben ist nicht so schön wie mein Traum!« Sage dir: »Meinem« Traume fehlte etwas, denn er hat die Billigung der Wirklichkeit nicht gefunden.« Zuletzt besteht die ganze, so gerühmte Kraft der starken Seelen nur aus wohl aufgenommenen Enttäuschungen. Jede Enttäuschung, jede verkannte Liebe, jede vernichtete Hoffnung vermehrt das Gewicht deiner Wahrheit um das ihre, und je mehr Selbsttäuschungen um dich fallen, desto edler, desto gewisser erscheint die grosse Wirklichkeit, wie die Sonne zwischen den entlaubten Ästen des winterlichen Waldes desto deutlicher sichtbar ist.

 

. Meinst du, wenn du eine grosse Liebe suchst, es sei möglich, eine Seele zu finden, die so schön ist, wie deine Träume, wenn deine Träume allein nach ihr suchen gehen? Ist es redlich, nur Wünsche, Sehnsüchte und Träume ohne Gestalt zu bieten, und dafür bestimmte Worte und endgiltige Handlungen zu verlangen? Und doch thun wir dies fast alle. Und wenn ein Zufall, der zu glücklich war, um nicht unverhofft zu sein, uns endlich das Wesen zuführte, das unser Ideal aufs Genaueste verkörpert: hätten wir dann das Recht, uns einzubilden, dass unsere trägen und wirren Strebungen mit seiner thätigen und wohlbegrenzten Wirklichkeit lange im Einklang geblieben wären?

Man hat nur dann die Möglichkeit, sein Ideal ausser sich zu finden, wenn man es so oft wie möglich in sich erfüllt hat. Oder hofft man, eine redliche, tiefe, liebende, treue, unerschöpfliche Seele, eine weite, lebendige, freiwillige, selbständige, mutige, wohlwollende und hochherzige Seele zu erkennen und zu fesseln, wenn man nicht ebenso gut wie sie weiss, was Redlichkeit, Liebe, Treue, Denken, Leben, freier Wille, Selbständigkeit, Mut, Hochherzigkeit und Grossmut sind? Und woher diese wissen, wenn man diese Dinge nicht geliebt und lange unter ihnen gelebt hat, wie jene sie geliebt und mit ihnen gelebt hat?

Es giebt nichts Anspruchvolleres, Ungeschickteres und Blinderes als sittliche Güte, Schönheit und Vollkommenheit im Zustande des Wollens. Will man die ideale Seele finden, so fange man damit an, dem gesuchten Ideale sich selbst ähnlich zu machen. Es giebt kein anderes Mittel, es zu erlangen. Je näher man diesem Ideale wirklich kommt, desto mehr wird man einsehen, wie gerecht und glücklich es ist, dass es von dem, was unsere unbestimmten Hoffnungen erwarteten, fast immer verschieden ist. Je mehr unser Ideal bei Berührung mit dem Leben sich verwirklicht, desto weiter, besänftigter, gefügiger und besser wird es werden. Dann wird man das wahrhaft Schöne, das erprobte Gute und ewig Wahre, das in einem selbst ist, ohne Mühe auch in dem erkennen, was man liebt, denn nichts öffnet uns die Augen für das Gute, das uns umgiebt, wenn nicht das Gute, das in unserem Herzen ist. Dann endlich legt man auch den Unvollkommenheiten, die nicht mehr die eigene Eitelkeit, Selbstsucht oder Unwissenheit verletzen, das ist den Unvollkommenheiten, die den unseren nicht mehr gleichen, geringere Bedeutung bei; denn es ist das Schlechte in uns, was das Schlechte an anderen mit der wenigsten Geduld erträgt.

 

. Haben wir Vertrauen zu der Liebe, wie wir Vertrauen zum Leben haben; denn wir sind dazu gemacht, Vertrauen zu haben, und bei allem und jedem ist der Gedanke der verhängnisvollste, der dazu neigt, der Wirklichkeit zu misstrauen. Ich habe mehr als ein Leben durch die Liebe zerbrechen sehen, aber wenn es nicht die Liebe gewesen wäre, so würde wahrscheinlich die getäuschte Freundschaft, die Gleichgiltigkeit, die Unsicherheit, die Teilnahmlosigkeit und Unthätigkeit dasselbe Leben gebrochen haben. Die Liebe bricht in einem Herzen nur zerbrechliche Dinge, und wenn sie alles darin bricht, so war alles darin zu zerbrechlich. Es giebt keinen Menschen, der nicht mehr als einmal hätte glauben können, sein Leben zerbräche; aber wenn es wirklich zerbricht, so verdankt man sein Unglück zumeist irgend einer Eitelkeit der Trümmer.

Gewiss giebt es in der Liebe, wie in unserem übrigen Schicksal, viele Zufälle glücklicher oder unglücklicher Art. Es ist möglich, dass ein Wesen, dessen Herz und Geist von allen edlen Kräften, allen Zärtlichkeiten, allen guten menschlichen Strebungen erfüllt ist, beim ersten Schritt ins Leben ungesucht die Seele findet, die alle Wünsche der Liebe in der Trunkenheit eines dauernden Glückes verwirklicht, die höchsten wie die bescheidensten, die ungeheuersten zugleich wie die zartesten, die ewigsten und die flüchtigsten, die gewaltigsten und die sanftesten. Es kann geschehen, dass es unmittelbar das Herz trifft, dem es sein Bestes unaufhörlich geben, das sein Bestes unaufhörlich empfangen kann. Es kann geschehen, dass es im Sturme die vielleicht einzige, stets an Wünschen reiche Seele erobert, die bis zum Grabe tausendmal mehr empfangen kann, als alles, was man ihr giebt, und die immer tausendmal mehr wiedergeben wird, als alles, was sie empfangen hat. Denn die Liebe, welche den Jahren widersteht, besteht aus diesem köstlich ungleichen Austausch, und was man da giebt, das besitzt man endlich; was man da empfängt, das besitzt man nicht mehr allein.

 

.Es giebt zuweilen so vollkommen glückliche Schicksale; wenn aber jedermann mehr oder minder das Recht hat, ein solches zu erhoffen, so thäte er doch Unrecht, sein Leben in diese Hoffnung einzukerkern. Er kann sich nur darauf vorbereiten, einer derartigen Liebe eines Tages würdig zu sein; und in dem Maasse, wie er sich darauf vorbereitet, wird seine Erwartung geduldiger werden. Es hätte ebenso möglich sein können, dass das Wesen, von dem wir soeben sprachen, von seiner Jugend bis zum Alter längs der Mauer hin und herginge, hinter der sein Glück in einem zu tiefen Schweigen seiner harrte. Aber folgt daraus, dass sein Glück sich jenseits der Mauer befand, dass es auf der anderen nur Unglück und Verzweiflung gäbe? Ist es nicht schon ein Glück, das Recht erworben zu haben, so an der Seite des Glückes einher zu schreiten? Ist es nicht besser, zwischen sich und der grossen Liebe, die man erhofft, nur eine Art von – ich möchte sagen – durchsichtigem und vielleicht zerbrechlichem Zufall zu wissen, als immer davon getrennt zu sein durch alles Unmenschliche, Unnütze und Unwürdige in uns selbst? Glücklich, wer die Blume pflücken und davontragen kann, aber nicht so zu beklagen, wie man vermeint, ist der, welcher bis zum Abend im edlen Dufte der unsichtbaren Blume schreitet. Ist ein Leben verfehlt, hat es allen Wert und Zweck verloren, weil es nicht so glücklich ist, wie es hätte sein können? Hättet ihr nicht alles mitgebracht, was in der vermissten Liebe hätte besser sein können; und wenn die Seele, wie ich vorhin sagte, zuletzt nur das besitzt, was sie geben kann: heisst es nicht schon etwas besitzen, wenn man unaufhörlich die Gelegenheit zum Geben erspäht? Ja, auf mein Wort, es giebt auf dieser Erde kein wünschenswerteres Glück, als eine bewundernswerte und lange Liebe, und wenn man diese Liebe nicht findet, so ist doch das, was man gethan hat, um sich ihrer würdig zu machen, für den Frieden in unserer Brust, für die beherztere und reinere Seelenruhe unseres übrigen Lebens nicht verloren.

 

. Auch kann man immer lieben. Liebe bewundernswert, und du wirst fast alle Freuden einer bewundernswerten Liebe haben. Auch in der vollkommensten Liebe ist das Glück der einmütigsten Liebenden nicht genau das gleiche; und ganz gewiss ist der Beste der, welcher am besten liebt, und der, welcher am besten liebt, ist auch der Glücklichste. Weniger um des fremden als um des eigenen Glückes willen muss man sich der Liebe würdig machen. Man wähne ja nicht, dass es in den unglücklichen Stunden einer ungleichen Liebe der Weisere, Gerechtere, Grossmütigere und am edelsten Entflammte ist, der am meisten zu leiden hat. Der Bessere ist fast nie das Opfer, das zu beklagen ist. Man ist nur dann völlig Opfer, wenn man das Opfer seiner eigenen Fehler, seines eigenen Unrechts, seiner eigenen Ungerechtigkeit ist. Wie unvollkommen auch einer sei, er kann doch der Liebe eines wunderbaren Wesens genügen; aber das wunderbarste Wesen kann seiner Liebe nicht genügen, wenn er nicht ganz vollkommen ist. Es ist zu wünschen, dass das Glück eines Tages in dein Heim das mit allen Gaben des Herzens und Verstandes begabte Weib einführt, das du zu bewundern Gelegenheit gehabt hast, als du die grossen Heldinnen des Ruhmes, des Glückes und der Liebe der Geschichte an deinen Augen vorüberziehen liessest; aber du wirst nichts davon merken, wenn du nicht gelernt hast, diese Gaben im wirklichen Leben zu erkennen und zu lieben; – und was ist doch im Grunde für jeden das wirkliche Leben, wenn nicht sein eigenes? Das Redliche, was in dir ist, wird in der Redlichkeit der Geliebten aufblühen; das Wahrhafte, was in deiner Seele ist, wird in ihrer Wahrheit Ruhe finden, und nur was in deinem Charakter stark ist, wird sich der Stärke des ihren erfreuen. Aber eine Tugend des geliebten Wesens, die auf der Schwelle unseres Herzens keine Tugend antrifft, die ihr ein wenig gleicht, weiss nicht, welchen Händen sie die Seligkeit, die sie mitbringt, anvertrauen soll.

 

. Doch was auch immer dein Herzensschicksal sein mag, verliere den Mut nicht! Vor allem glaube nicht, wenn du das Glück der Liebe nicht erfahren hast, dass du das grosse Glück des menschlichen Daseins nie empfinden wirst. Mag dein Glück die Gestalt eines Stromes, eines unterirdischen Flusses, eines Giessbaches oder Sees annehmen: seine Quelle in den verborgenen Kammern deines Herzens ist doch die nämliche, und der unglücklichste Mensch kann sich eine Vorstellung von dem grössten Glücke machen.

Es giebt in der Liebe freilich eine Trunkenheit, die er nie kennen lernen wird, aber diese Trunkenheit würde in einem ernsthaften und aufrichtigen Herzen nur eine grosse Schwermut zurücklassen, wenn man in der wahren Liebe nicht etwas Gewisseres, Tieferes und Unerschütterlicheres fände, als diese Trunkenheit, und das Gewisseste, Tiefste und Unerschütterlichste in der Liebe ist das nämliche, wie in einem edlen Leben.

Es ist nicht jedermann gegeben, in den äusseren Dingen heldenmütig, bewundernswert, siegreich, genial oder einfach glücklich zu sein; aber auch der mindest Begünstigte unter uns kann gerecht, redlich, sanftmütig, brüderlich und hochherzig sein; auch der mindest Begüterte kann sich gewöhnen, ohne Übelwollen, Neid, Rachsucht und Gram um sich zu blicken: der Enterbteste kann irgend einen schweigsamen und nicht immer den schlechtesten Anteil an der Freude seiner Umgebung nehmen; der Ungeschickteste kann wissen, bis zu welchem Punkte er eine Beleidigung verzeihen, einen Irrtum entschuldigen, ein Wort und eine That als menschlich bewundern kann; und der Ungeliebteste kann die Liebe achten und lieben.

Dann beugt auch er sich über die Quelle, über die sich die Glücklichen – öfter als man meint – in den heissesten Stunden ihres Glückes beugen, um sich zu vergewissern, dass sie wahrhaft glücklich sind. Tief im Grunde der Glückseligkeiten der Liebe wie auf dem Grunde des schlichten Lebens des Gerechten, dem der Zufall nicht hat lächeln wollen, ist nichts unveränderlich und unbeweglich, als Gerechtigkeit, Zuversicht, Wohlwollen, Aufrichtigkeit und Hochherzigkeit. Die Liebe giebt diesen lichten Punkten ein wenig mehr Glanz; und darum soll man die Liebe aufsuchen. Der grösste Vorteil der Liebe ist der, dass sie uns für einige friedliche und sanftmütige Wahrheiten die Augen öffnet. Der grösste Vorteil der Liebe ist der, dass sie uns Gelegenheit giebt, in einem einzigen Gegenstande zu bewundern, was in tausend zerstreuten Gegenständen zu bewundern uns weder eingefallen wäre noch die Kraft hingereicht hätte, und dass sie uns dadurch das Herz für die Zukunft weitet. Aber auch auf dem Grunde der wunderbarsten Liebe giebt es immer nur eine sehr einfache Glückseligkeit, eine sehr fassliche Zärtlichkeit und Anbetung, eine sehr erreichbare Sicherheit, Aufrichtigkeit und Zuversicht, eine sehr menschliche Bewunderung und Hingebung, die ein Mensch mit gutem Willen, aber ohne Liebesglück, in seinem trüben Dasein gleichfalls kennen lernen könnte, wenn er etwas weniger Bitterkeit und Ungeduld, etwas mehr Thatlust und Thatkraft besässe.

Ende

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