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V. Der Hochzeitsausflug

Sehen wir indessen zu, auf welche Weise sich die Befruchtung der Bienenkönigin vollzieht. Auch hier hat die Natur ausserordentliche Massregeln ergriffen, um die Vereinigung der beiden Geschlechter aus verschiedenen Stöcken zu begünstigen, ein seltsames Gesetz, zu dem sie durch nichts gezwungen wird, eine Laune vielleicht oder Unachtsamkeit, deren Wiederausgleichung die wundervollsten Kräfte ihrer Wirksamkeit verschlingt. Es ist höchst wahrscheinlich, dass, wenn sie zur Erhaltung des Lebens, zur Milderung des Leidens, zur Herbeiführung eines sanfteren Todes, zur Fernhaltung der schrecklichsten Zufälle halb so viel Geist aufgewandt hätte, als sie für die kreuzweise Befruchtung und einige andere willkürliche Einfälle vergeudet, das Rätsel des Daseins uns minder unbegreiflich und erbarmungswürdig erschienen wäre, als so, wie es sich jetzt unserer Wissbegier darstellt. Doch wir dürfen unser Bewusstsein und den Anteil, den wir am Dasein nehmen, nicht aus dem schöpfen, was vielleicht hätte sein können, sondern aus dem, was ist.

Die jungfräuliche Königin lebt also in der kribbelnden Enge des Bienenstockes mit einigen hundert sie umschwärmenden Drohnen oder männlichen Bienen, die voller Übermut in stetem Honigrausche leben und keinen anderen Daseinsgrund haben, als die Vollziehung eines Aktes der Liebe. Aber trotz der ewigen Berührung der beiden Geschlechter, die überall wo anders alle Widerstände überwinden, findet die Begattung niemals im Bienenstock statt, und es ist noch nie gelungen, eine eingesperrte Königin zu schwängern. Es ist dem Professor McLain kürzlich gelungen, einige Königinnen künstlich zu befruchten, aber nur mit Hilfe von komplizierten und schwierigen chirurgischen Operationen. Übrigens war die Fruchtbarkeit dieser Königinnen nur beschränkt und vorübergehend. Die sie umringenden Drohnen kennen sie nicht, so lange sie in ihrer Mitte weilt. Sie fliegen aus und suchen sie im Luftraum, in den verborgensten Winkeln des Horizontes, ohne zu ahnen, dass sie sie eben verlassen haben, dass sie mit ihr auf derselben Wabe schliefen und sie bei ihrem ungestümen Aufbruche vielleicht angerannt haben. Man möchte sagen, ihre prachtvollen Augen, die ihren ganzen Kopf mit einem blinkenden Helme bedecken, erkennen sie und verlangen nur dann nach ihr, wenn sie im blauen Äther schwebt. Jeden Tag von Mittag bis um drei Uhr, wenn die Sonne am höchsten steht, fliegt ihre federgeschmückte Horde zur Eroberung der Gattin aus, die königlicher und unvergleichlicher ist, als die unerreichbarste Märchenprinzessin, denn zwanzig oder dreissig Stämme sind von allen Stöcken der Nachbarschaft herbeigeströmt und umschwärmen sie: ein Gefolge von mehr als zehntausend Freiern, von denen ein einziger zu einer einzigen minutenlangen Umarmung auserkoren wird, die ihn dem Glücke, aber auch dem Tode vermählt, während alle anderen das engverschlungene Paar als unnütze Begleitung umschwirren und bald darauf umkommen werden, ohne das schicksalsvolle Zauberbild wiedergesehen zu haben.

 

Diese erstaunliche, unsinnige Verschwendung der Natur ist keineswegs übertrieben. In den volkreichsten Stöcken zählt man gewöhnlich vier- bis fünfhundert Drohnen. In entarteten oder schwächeren Stöcken findet man deren oft vier- oder fünftausend, denn je mehr ein Bienenvolk dem Verfall entgegenneigt, desto mehr Drohnen bringt es hervor. Man kann sagen, dass ein Bienenstand von zehn Kolonien im Durchschnitt ein Volk von zehntausend Drohnen in die Luft schickt, von denen höchstens zehn bis fünfzehn Gelegenheit haben werden, den einzigen Akt, zu dem sie da sind, zu vollziehen.

Derweilen erschöpfen sie die Vorräte des Volkes, und die unermüdliche Arbeit von fünf bis sechs Arbeitsbienen reicht kaum hin, um einen dieser anspruchsvollen und gefrässigen Schmarotzer, die nur mit dem Munde fleissig sind, zu erhalten. Aber die Natur ist stets verschwenderisch, wo es sich um die Funktionen und Privilegien der Liebe handelt. Sie knausert nur bei den Organen und Werkzeugen der Arbeit. Sie ist parteiisch und hart gegen alles, was die Menschen Tugend nennen. Dagegen spart sie die Diamanten und Gunstbeweise nicht, die sie auf den Weg der gleichgültigsten Liebenden ausstreut. Sie ruft überall: »Vereinigt und vermehrt Euch, es giebt kein anderes Gesetz und Ziel als die Liebe«, – um dann halblaut hinzuzufügen: »und erhaltet Euch nachher, wenn Ihr es vermögt, das geht mich nichts weiter an.« Umsonst, etwas anderes zu thun, etwas anderes zu wollen, man findet überall dieselbe Moral, die der unseren so zuwiderläuft. Man beobachte nur an denselben kleinen Wesen ihren ungerechten Geiz und ihre sinnlose Verschwendung. Die pflichttreue Arbeitsbiene muss von der Wiege bis zum Grabe hinaus in die dichtesten Wälder, muss tausend versteckte Blüten befliegen, muss im Labyrinth der Honigbehälter, in den verborgenen Schächten der Staubgefässe Honig und Pollen entdecken. Trotzdem sind ihre Augen und Geruchsorgane im Vergleich zu denen der Drohnen verkümmert. Diese könnten fast blind und ohne Geruchssinn sein, ohne darunter zu leiden, kaum ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie haben nichts zu thun, keine Beute zu verfolgen, ihre Nahrung wird ihnen fertig zugetragen, und ihr Dasein ist ein ununterbrochenes Honigfest. Aber sie sind die Vollstrecker der Liebe, und die ungeheuersten und unnützesten Geschenke werden mit vollen Händen in den Abgrund der Zukunft geworfen. Einer von tausend unter ihnen wird einmal in seinem Leben das Bild der königlichen Jungfrau im Azurblau erblicken. Einer von tausend wird im Luftraum einen Augenblick der Spur des Weibes folgen, das nicht flieht. Das genügt. Die parteiische Macht hat ihre unerhörten Schätze bis zum Übermass und Wahnsinn aufgethan. Jedem dieser unwahrscheinlichen Liebhaber, von denen 999 einige Tage nach der Todeshochzeit des tausendsten geschlachtet werden, hat sie 13 000 Augen auf jeder Kopfseite gegeben, während die Arbeitsbiene nur 6000 hat. Jeden ihrer Fühler hat sie, nach den Berechnungen von Cheshire, mit 37 800 Geruchshöhlen versehen, gegen 5000, welche die Arbeitsbiene auf beiden Seiten hat. Wer den Charakter der Natur schildern wollte, so wie er sich aus derartigen Zügen ergiebt, der müsste eine ganz ungewöhnliche, unserem Ideal ganz unähnliche Gestalt entwerfen, obschon dieses Ideal doch auch von ihr stammen muss. Aber der Mensch weiss zu wenig, um ein solches Bild zu malen, er könnte nur einen grossen Schatten hinzeichnen und zwei oder drei ungewisse Lichter daraufsetzen.

 

Ich glaube, es sind sehr wenige, die das Hochzeitsgeheimnis der Bienenkönigin belauscht haben, denn diese Hochzeit vollzieht sich in dem unendlichen, blendenden Brautbett des Sommerhimmels. Aber man kann den Aufbruch der Braut und die todkündende Rückkehr der Gattin unter Umständen beobachten.

Trotz ihrer Ungeduld wartet sie im Schatten ihrer Thore Tag und Stunde ab, bis ein wundervoller Morgen sich aus der Tiefe der azurenen Himmelsurne in den hochzeitlichen Raum ergiesst. Sie liebt den Augenblick, wo noch ein Rest von Tau auf Blatt und Blüten schimmert, wo die letzte Frische der sinkenden Morgenröte noch gegen die Glut des Tages anringt, wie eine Jungfrau in den Armen eines Kriegsmannes, und die krystallenen Laute des Morgens in dem Schweigen des nahenden Mittags noch nicht ganz verhallt sind.

Dann erscheint sie auf der Schwelle, unbeachtet von den Arbeitsbienen, die ihren Geschäften obliegen, oder auch von ihren bethörten Töchtern umringt, je nachdem sie Schwestern im Stocke zurücklässt oder nicht mehr ersetzt werden kann. Sie fliegt zuerst rückwärts, lässt sich zwei bis dreimal auf das Flugbrett nieder, und erst, wenn sie Lage und Anblick ihres Königreiches, das sie noch nie von aussen gesehen hat, genau in ihren Geist aufgenommen hat, fliegt sie in gerader Linie scheitelwärts ins Blaue, und erreicht so Höhen und eine Lichtzone, zu denen die anderen Bienen sich nie in ihrem Leben aufschwingen. Die Drohnen drunten, die sich träge auf den Blumen wiegen, haben die Erscheinung gesehen und den magnetischen Duft eingesogen, der sich alsbald bis zu den nachbarlichen Bienenstöcken verbreitet. Sofort sammeln sich die Horden und tauchen, ihrer Fährte folgend, in das Meer der Heiterkeit, dessen krystallene Grenzen sich immer weiter verschieben. Freudetrunken über den Gebrauch ihrer Flügel und dem herrlichen Gesetze der Art getreu, das ihr den Liebsten zuführt und nur den stärksten allein in ihre ätherferne Einsamkeit hinaufdringen lässt, steigt sie immerfort, und die blaue Morgenluft strömt zum ersten Male in ihre Luftgefässe und braust wie ein himmlisches Blut in den tausend strahlenförmigen Luftröhren ihrer beiden Lungen, welche die Hälfte ihres Körpers einnehmen und sich vom weiten Raume nähren. Sie steigt immerfort, bis sie eine öde Zone erreicht, wo kein Vogel ihr Mysterium mehr stört. Sie steigt immerfort, und schon zerteilt und vermindert sich der ungleiche Schwarm unter ihr. Die Schwachen und Kranken, die Greise und Missratenen, die schlecht Ernährten der kraftlosen und heruntergekommenen Völker stehen von ihrer Verfolgung ab und verschwinden im Leeren. Nur eine kleine Schar von Unermüdlichen schwebt noch im unendlichen Raume. Noch eine letzte Anspannung der Flügel, und der Auserwählte der unbegreiflichen Mächte hat sie eingeholt, umarmt und durchdrungen, und von doppeltem Schwunge beflügelt, kreist das eng verschlungene Paar einen Augenblick im tötlichen Delirium der Liebe.

 

Die Mehrzahl der Wesen hat das dunkle Gefühl, dass Tod und Liebe nur durch eine durchsichtige Haut von einander getrennt sind. Sie meinen, die Natur wolle streng genommen, dass man in dem Augenblick, wo man neues Leben hervorruft, das seine lässt. Wahrscheinlich ist es diese angeerbte Furcht, die der Liebe solche Bedeutung verleiht. Hier wenigstens offenbart sich diese Absicht der Natur in ihrer primitiven Einfachheit, die ihren Schatten noch auf den Kuss zweier Menschen wirft. Sobald die Vereinigung stattgefunden hat, platzt der Leib der Drohne auf, das Werkzeug der Zeugung löst sich ab und zieht die ganzen Eingeweide nach; die Flügel erschlaffen, und der entleerte Körper stürzt, vom hochzeitlichen Blitze getroffen, kreiselnd in den Abgrund. Dieselbe Absicht, die in der Parthenogenesis die Zukunft des Bienenstockes durch die ungewöhnliche Vermehrung der Drohnen aufs Spiel stellte, opfert hier die Drohnen der Zukunft des Bienenstockes. Sie setzt immer in Erstaunen, diese Absicht; je mehr man in sie einzudringen sucht, desto ungewisser wird sie, und Darwin, um einen Forscher zu nennen, der sie von allen Menschen am leidenschaftlichsten und methodischsten studiert hat, Darwin verliert auf Schritt und Tritt die Fassung und weicht vor dem Unerwarteten und Unvereinbaren zurück. Man sehe nur zu – wenn anders man dem erhebend demütigenden Schauspiel des menschlichen Geistes im Ringen mit dem Unendlichen zusehen will – man sehe nur zu, wie er die seltsamen, unglaublich geheimnisvollen und zusammenhangslosen Gesetze der Unfruchtbarkeit und Fruchtbarkeit der Bastarde, oder die der Variabilität der Art- und Gattungscharaktere zu entwirren sucht. Kaum hat er ein Prinzip formuliert, so drängen sich schon zahllose Ausnahmen auf, und bald ist das bedrängte Prinzip froh, in einem Eckchen ein Obdach zu finden und als Ausnahme einen Rest von Dasein zu fristen.

Bei der Bastardierung wie bei der Variabilität (namentlich bei den gleichzeitigen Variationen, die man Korrelation des Wachstums nennt), beim Instinkt, wie bei den Vorgängen des Kampfes ums Dasein, bei der Auslese, der geologischen Aufeinanderfolge und geographischen Verteilung der organischen Wesen, bei den Verwandtschaften unter einander, kurz überall, ist die Natur tastend und nachlässig, sparsam und verschwenderisch, weitblickend und unaufmerksam, unbeständig und unerschütterlich, lebendig und regungslos, ein- und tausendfältig, grossartig und niedrig in demselben Augenblick und derselben Erscheinung. Da sie das unendliche, jungfräuliche Land der Einfachheit vor sich hatte, bevölkert sie es mit kleinen Irrtümern, kleinen, sich widersprechenden Gesetzen und kleinen schwierigen Problemen, die sich ins Dasein verlaufen, wie blinde Herden. Freilich ist das nur in unseren Augen so, die nur das von der Realität widerspiegeln, was sich uns und unseren Bedürfnissen angepasst hat, und nichts berechtigt uns zu dem Glauben, dass die Natur ihre Ursachen und Wirkungen, die sich verlaufen haben, aus den Augen verlöre.

Jedenfalls gestattet sie ihnen selten, so weit zu gehen, dass sie widersinnig und gefährlich werden. Sie verfügt über zwei Kräfte, die stets Recht haben, und wenn die Erscheinungen gewisse Grenzen überschreiten, winkt sie dem Leben oder dem Tode, und diese stellen die Ordnung wieder her und zeichnen den Weg, der fürderhin zu beschreiten ist, gleichgültig vor.

 

Sie entschlüpft uns überall, sie missachtet die meisten unserer Regeln und durchbricht alle unsere Masstäbe. Rechts von uns steht sie weit unter unserem Denken, doch zur Linken überragt sie es plötzlich wie ein Gebirge. Sie scheint sich fortwährend zu irren, sowohl in der Welt ihrer ersten Versuche, wie in der der letzten, will sagen, in der Menschenwelt. Sie heiligt hier den Instinkt der dunklen Masse, die unbewusste Ungerechtigkeit der Zahl, die Niederlage von Verstand und Tugend, die flache Durchschnittsmoral, die den grossen Strom der Gattung lenkt und offenbar viel niedriger steht, als die Moral, wie sie ein Geist erhofft und versteht, der sich dem kleinen, klareren Strome anschliesst, welcher dem grossen entgegenläuft. Trotzdem fragt derselbe Geist sich vielleicht nicht mit Unrecht, ob es nicht seine Pflicht sei, alle Wahrheit, folglich auch die moralischen Wahrheiten, in dieser Masse und nicht in sich selbst zu suchen, wo sie verhältnismässig so klar und bestimmt zu Tage liegen.

Es fällt ihm nicht ein, die Vernünftigkeit und Tugendhaftigkeit seines Ideals, das so viele Helden und Weise geheiligt haben, zu verneinen, aber bisweilen sagt er sich doch, dass dieses Ideal sich vielleicht abseits von der grossen Masse gebildet hat, deren gestaltlose Schönheit er zu verkörpern wähnt. Er hat bisher mit gutem Grunde fürchten können, dass er durch Anpassung seiner Moral an die der Natur gerade das, was ihm die Krone der Natur zu sein dünkte, vernichten würde, aber heute, wo er sie etwas besser kennt und aus einigen noch dunklen, aber von unerwarteter Grösse zeugenden Antworten erkannt hat, dass ihre Pläne und ihre Vernunft ungeheuerer sind, als alles, was er in seiner Selbstbeschränkung hätte denken können, fürchtet er sie minder und bedarf darum nicht mehr so unbedingt der Zuflucht zu seiner Sondertugend und Vernunft. Er sagt sich, dass etwas, das so gross ist, keinen erniedrigenden Einfluss haben kann. Er möchte wissen, ob nicht der Augenblick gekommen ist, wo er seine Gewissheiten, Prinzipien und Träume einer gründlicheren Prüfung unterwerfen soll.

Ich wiederhole es: er denkt nicht daran, sein menschliches Ideal aufzugeben. Gerade das, was dieses Ideal zuerst widerrät, lässt ihn schliesslich darauf zurückkommen. Die Natur kann kein schlechter Ratgeber sein für einen Geist, dem jede Wahrheit, die nicht wenigstens auf der Höhe seines eigenen Strebens steht, nicht hoch genug erscheint, um endgültig und des grossen Planes würdig zu sein, den er aufzudecken trachtet. Nichts wechselt seinen Platz in seinem Leben, ohne mit ihm zu steigen, und er wird sich noch lange sagen, dass er steigt, wenn er sich dem alten Bilde des Guten nähert. Aber in seinem Denken wandelt sich alles mit grösserer Freiheit, und er kann in seiner leidenschaftlichen Betrachtung ungestraft bergab steigen, bis er die grausamsten und unsittlichsten Widersprüche des Lebens wie Tugenden schätzt, denn er fühlt im voraus, dass eine Menge von Thälern nach einander zu der ersehnten Hochfläche führen. Diese Betrachtung und diese Leidenschaft hindern ihn nicht daran, im Suchen nach dieser Gewissheit, selbst wenn dies Suchen ihn zum Gegenteil dessen führt, was er liebt, sein Verhalten nach der menschlich schönsten Wahrheit zu regeln und sich an das am höchsten stehende Vorläufige zu halten. Alles, was die wohlthätige Tugend mehrt, geht unmittelbar in sein Leben auf; alles, was sie schmälern würde, bleibt ungelöst darin, wie eines jener unlöslichen Salze, die sich erst zur Stunde des entscheidenden Experimentes rühren. Er kann eine niedrige Wahrheit annehmen, aber um danach zu handeln, wird er – vielleicht Jahrhunderte lang – warten, bis er erkannt hat, welche Beziehungen zwischen dieser Wahrheit und denen bestehen, die unendlich genug sind, um alle anderen einzubegreifen und zu überschatten.

Mit einem Worte, er wird die moralische Weltordnung von der intellektuellen trennen und in die erstere nur das aufnehmen, was grösser und schöner ist als ehedem. Und wenn es tadelnswert ist, diese beiden Ordnungen zu trennen, wie man es oft genug im Leben thut, um schlechter zu handeln, als man denkt, und das Bessere zu erkennen, aber dem Schlechteren zu folgen, so ist es doch immer heilsam und vernünftig, das Schlechtere zu erkennen, aber dem Besseren zu folgen und über seine Gedanken hinaus zu handeln, denn die menschliche Erfahrung giebt uns täglich mehr Hoffnung, dass der höchste Gedanke, den wir erfassen können, noch lange unter der geheimnisvollen Wahrheit stehen wird, nach der wir trachten. Und wenn von alledem auch nichts wahr wäre, so wird er doch von einem vertrauteren Gedanken und Gefühl geleitet. Je mehr Kraft nach seiner Meinung den Gesetzen innewohnt, die zur Selbstsucht, Ungerechtigkeit und Grausamkeit einzuladen scheinen, desto mehr bestärkt er jene anderen, die Grossmut, Mitleid und Gerechtigkeit lehren, denn indem er den Anteil des Weltalls und der eigenen Person gleichzusetzen und methodischer abzugrenzen beginnt, findet er in der letzteren etwas ebenso tief Natürliches.

 

Indessen kehren wir zu der tragischen Hochzeit der Bienenkönigin zurück. In dem uns beschäftigenden Falle will die Natur also in Anbetracht der kreuzweisen Befruchtung, dass Königin und Drohne sich nur im weiten Raume begatten. Aber ihre Pläne verstricken sich wie ein Netz, und ihre liebsten Gesetze müssen unaufhörlich durch die Maschen von anderen hindurch, und diese im nächsten Augenblick wieder durch die der ersteren. Da sie denselben Himmel mit ungezählten Gefahren bevölkert hat, mit kalten Winden, stürmischen Luftströmungen, Vögeln, Insekten und Wassertropfen, die auch unbeugsamen Gesetzen gehorchen, muss sie dafür sorgen, dass diese Paarung sich so schnell wie möglich vollzieht. Dies geschieht durch den blitzhaften Tod der Drohne. Eine Minute genügt, und der Rest der Befruchtung vollzieht sich in den Weichen der Gattin.

Diese kehrt von den blauen Höhen schnell in den Stock zurück und schleppt die langgezogenen Gedärme ihres Buhlen wie eine Oriflamme nach. Einige Bienenkenner behaupten, dass sie bei dieser hoffnungsschwangeren Rückkehr eine grosse Freude offenbarte. U. a. entwirft Büchner eine ausführliche Schilderung davon. Ich habe diese hochzeitliche Heimkehr nun oft genug belauscht, aber ich muss gestehen, dass ich nie eine ungewöhnliche Aufregung beobachtet habe, ausser wenn es sich um eine junge Königin handelt, die an der Spitze eines Schwarmes aufgebrochen ist und die einzige Hoffnung einer neu gegründeten, noch öden Stadt bildet. In diesem Falle stürzen alle Arbeitsbienen ihr wie bethört entgegen, um sie zu empfangen. Doch für gewöhnlich scheinen sie sie zu vergessen, obwohl die Zukunft des Volkes oft keine kleinere Gefahr läuft. Sie haben eben alles bedacht, bis dahin, wo sie den Mord der jungen Prinzessinnen zuliessen, aber weiter geht ihr Instinkt nicht; es ist wie ein Loch in ihrer Voraussicht. Sie machen also einen ziemlich gleichgültigen Eindruck. Sie heben den Kopf, erkennen vielleicht auch das mörderische Wahrzeichen der Befruchtung, aber immer noch misstrauisch, wie sie sind, verraten sie nichts von der Heiterkeit, die wir von ihnen erwarten. Als positive, wenig illusionsfähige Wesen erwarten sie, bevor sie sich freuen, wahrscheinlich noch andere Beweise. Wir thun unrecht, wenn wir alle Gefühle dieser kleinen Geschöpfe, die uns so unähnlich sind, vermenschlichen und logisch machen wollen. Bei den Bienen, wie bei allen anderen Tieren, die einen Abglanz unseres Verstandes in sich tragen, kommt man selten zu so bestimmten Ergebnissen, wie sie in den Büchern geschildert werden. Es bleiben zu viele Umstände, die uns nicht bekannt sind. Warum soll man sie vollkommener machen, als sie sind, und etwas sagen, was nicht wahr ist? Wenn manche wähnen, dass sie bedeutsamer wären, wenn sie uns glichen, so haben sie noch keinen richtigen Begriff davon, was einem aufrichtigen Geiste bedeutsam erscheinen muss. Das Ziel des Beobachters ist nicht, in Erstaunen zu setzen, sondern zu verstehen, und es ist anziehender, die Lücken eines Verstandes und alle Anzeichen eines von dem unseren abweichenden Zerebralsystems aufzuzeigen, als Wunder davon zu erzählen.

Trotzdem ist die Gleichgültigkeit nicht allgemein, und sobald die Königin atemlos auf dem Flugbrett landet, bilden sich einige Gruppen und geleiten sie in die Vorhalle, in welche die Sonne, der Held aller Feste des Bienenstockes, mit kleinen, furchtsamen Schritten hineindringt, um die Wachswände und Honigguirlanden mit goldbraunem Helldunkel zu zieren. Übrigens regt die junge Gattin sich nicht mehr und nicht weniger auf, als ihr Volk; es ist nicht viel Raum für unnötige Wallungen in dem engen Hirn der praktischen Barbarenkönigin. Sie hat nur ein Verlangen, nämlich: sich sobald wie möglich von dem lästigen Angedenken an ihren Gatten zu befreien, das sie am Gehen hindert. Sie hockt auf der Schwelle nieder und entledigt sich sorgfältig der unnützen Organe, die alsbald von den Arbeitsbienen aus dem Stocke geschafft werden, denn die Drohne hat ihr alles gegeben, was sie besass, und weit mehr, als nötig war. Sie behält nichts bei sich, als in ihrer Samentasche die Samenflüssigkeit, in der Millionen Keime schwimmen, die einer nach dem andern beim Vorbeigleiten der Eier im Dunkel ihres Leibes die geheimnisvolle Vereinigung des männlichen und weiblichen Elementes vollziehen werden, aus der die Arbeitsbienen entstehen. Es ist eine seltsame Umkehrung der Dinge, dass sie das männliche Prinzip liefert und die Drohne das weibliche. Zwei Tage nach der Begattung legt sie ihre ersten Eier, und alsbald umgiebt das Volk sie mit peinlicher Fürsorge. Sie ist fortan zweigeschlechtig und ihr eigentliches Dasein nimmt jetzt seinen Anfang. Sie verlässt nie mehr den Stock, sieht nie mehr das Licht, ausser bei Begleitung eines Schwarmes, und ihre Fruchtbarkeit erlahmt erst bei ihrem Tode.

 

Eine seltsame Hochzeit! Die märchenhafteste vielleicht, die sich träumen lässt, voller Himmelsbläue und Trauerspiel, ein Aufschwung des Verlangens über das Leben hinaus, blitzhaft und unvergänglich, kurz und blendend, einsam und unendlich. Eine erhabene Trunkenheit, ein Tod im Reinsten und Schönsten, was es auf dieser Erde giebt. Im jungfräulichen, unendlichen Raume, in der majestätischen Klarheit des offenen Himmels schwebt der Augenblick der Wonne; im keuschen Lichte läutert sich alles Unreine, was der Liebe anhaftet, wird die unvergessliche Umarmung vollzogen und für eine lange Zukunft einem und demselben Leibe das doppelte Vermögen beider Geschlechter unzertrennlich verliehen.

Die tiefere Wahrheit hat freilich nichts von dieser Poesie; sie besitzt eine andere, für die wir weniger empfänglich sind, obwohl wir sie vielleicht dereinst auch begreifen und lieben werden. Die Natur hat keine Anstalten getroffen, um diesen beiden »Abkürzungen der Elemente«, wie Pascal sagen würde, eine glänzende Hochzeit, einen Augenblick idealen Glücks zu bescheren. Sie hat, wir haben es schon gesagt, nichts im Sinne, als die Verbesserung der Art durch die Befruchtung über Kreuz, und um diese sicherzustellen, hat sie das Organ der Drohne so eingerichtet, dass es keinen anderen Gebrauch zulässt, als im weiten Raume. Die Drohne muss durch andauerndes Fliegen ihre beiden grossen Luftsäcke vollständig ausdehnen, damit diese beiden luftgefüllten Gefässe den Unterteil des Hinterleibes herausdrücken, wodurch die Befruchtung stattfindet. Das ist das ganze physiologische Geheimnis – »wie trivial«, werden die einen sagen, »fast peinlich«, die anderen – des wunderbaren Liebesfluges, der blendenden Verfolgung und der seltsamen Hochzeit.

 

Und wir, fragt ein Poet, sollen wir unsere Freude denn stets über der Wahrheit suchen?

Ja, bei jeder Gelegenheit, in jedem Augenblick, in allen Dingen wollen wir unsere Freude stets zwar nicht über der Wahrheit suchen, was unmöglich ist, denn wir wissen nicht, wo sie zu suchen ist, wohl aber über den kleinen Wahrheiten, die wir erkennen. Wenn ein Gegenstand durch irgend welchen Zufall, eine Erinnerung, eine Illusion, eine Leidenschaft oder irgend einen Anlass sich unseren Augen schöner darstellt als den anderen, sei uns dieser Anlass zunächst lieb und teuer! Vielleicht ist es nur ein Irrtum, aber der Irrtum verhindert nicht, dass der Augenblick uns den Gegenstand am schönsten erscheinen lässt, wo wir nahe daran sind, seine Wahrheit zu erkennen. Die Schönheit, die wir ihm verleihen, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf seine wirkliche Grösse und Schönheit, die durchaus nicht leicht zu entdecken sind und in den Beziehungen aller Dinge zu den allgemeinen, ewigen Gesetzen und Kräften liegen. Die Fähigkeit zu bewundern, die wir an einer Illusion erprobt haben, ist für die Wahrheit, die ihr später oder früher folgt, unverloren. Mit Worten und Gefühlen der Vergangenheit, mit der Glut, die alte, imaginäre Schönheiten entfesselt haben, nimmt die Menschheit heute Wahrheiten auf, die vielleicht nie geboren wären, noch günstigen Boden gefunden hätten, wenn diese längst geopferten Illusionen das Herz und den Verstand, auf welche diese Wahrheiten sich herablassen wollen, nicht erfüllt und bestärkt hätten. Glücklich die Augen, die keiner Illusion bedürfen, um die Grösse des Anblickes zu ermessen! Die anderen lernen eben durch die Illusion aufschauen, bewundern und sich freuen. Und so hoch sie auch aufschauen mögen, sie werden nie zu hoch blicken. Je näher man der Wahrheit kommt, desto mehr erhebt sie sich, und je mehr man sie bewundert, desto näher kommt man ihr. Und so hoch sie sich auch freuen mögen, sie werden sich nie im Leeren freuen, noch über der unbekannten ewigen Wahrheit, die über allen Dingen wie eine unbestimmte Schönheit schwebt.

 

Heisst das, wir sollen uns der Lüge befleissigen, einer willkürlichen, unwirklichen Poesie nachtrachten und uns in Ermangelung eines Besseren an dieser erfreuen? Sollen wir etwa in dem vorliegenden Falle, der an sich nichts bedeutet, aber für tausend ähnliche Fälle und unsere ganze Stellung zu gewissen Thatsachenreihen typisch ist – sollen wir in diesem Falle etwa die physiologische Erklärung unterlassen und uns nur an die Empfindung halten, die uns dieser Hochzeitsausflug hinterlässt, der, was auch seine Ursache sein mag, immerhin einer der schönsten lyrischen Vorgänge jener selbstverleugnenden und unwiderstehlichen Gewalt bleibt, der alle Lebewesen gehorchen und die man Liebe nennt? Nichts wäre kindlicher, nichts wäre auch unmöglicher, dank den trefflichen Gewohnheiten, denen heute alle redlichen Geister huldigen.

Die kleine Thatsache, dass die Befruchtung durch die Drohne nur dann stattfindet, wenn die Luftsäcke aufgeschwellt sind, wollen wir mit Freuden aufnehmen, da sie unbestreitbar ist. Aber wenn wir uns damit begnügten, wenn wir nicht darüber hinausblickten, wenn wir daraus folgerten, dass jeder zu hoch fliegende oder zu weitgehende Gedanke notwendigerweise Unrecht hat, und dass die Wahrheit sich allemal in materiellen Kleinigkeiten befindet, wenn wir nicht irgendwo, vielleicht in Ungewissheiten, die von grösserer Tragweite sind, als die, welche durch die kleine Erklärung nun aufgehellt sind, z. B. in dem seltsamen Mysterium der kreuzweisen Befruchtung, der Fortdauer der Art und des Lebens, im Weltplan u. s. w. eine Fortsetzung dieser Erklärung, eine Fortdauer des Schönen und Grossen im Unbekannten suchen: ich möchte fast behaupten, dass wir unser Dasein dann in grösserem Abstande von der Wahrheit verbringen würden, als die, welche sich blind auf die poetische und völlig imaginäre Auslegung dieser wunderbaren Hochzeit verlegen würden. Sie täuschen sich ohne Zweifel über Form und Farbe der Wahrheit, aber sie leben weit mehr als die, welche sich schmeicheln, sie ganz und gar in Händen zu halten, in ihrem Dunstkreise und unter ihrem Einfluss. Sie sind darauf vorbereitet, sie zu empfangen, denn es ist ein gastlicher Raum in ihnen, und wenn sie sie nicht sehen, so erheben sie ihre Augen doch zu dem Orte der Schönheit und Grösse, allwo es heilsam ist, sie zu suchen.

Das Ziel der Natur, welches für uns die alle anderen beherrschende Wahrheit ist, kennen wir nicht. Aber um diese Wahrheit zu lieben, um die Glut, mit der wir nach ihr trachten, in unserem Herzen zu nähren, müssen wir sie für gross halten. Und wenn wir eines Tages erkennen sollten, dass wir auf falscher Fährte sind, dass sie klein und unzusammenhängend ist, so werden wir diese Entdeckung doch nur der Anregung verdanken, die uns ihre vermeintliche Grösse gegeben hat, und wenn diese Kleinheit feststeht, wird sie uns lehren, was zu thun ist. Einstweilen ist es nicht zu viel gethan, wenn wir im Trachten nach ihr alles Mächtigste und Verwegenste in Bewegung setzen, dessen unser Verstand und Herz fähig ist. Und wenn das letzte Wort in alledem etwas Niedriges sein sollte, so ist es doch nichts Kleines, die Kleinheit oder Hohlheit des letzten Zieles der Natur aufgedeckt zu haben.

 

Es giebt für uns noch keine Wahrheit, sagte mir eines Tages einer unserer grossen zeitgenössischen Psychologen bei einem Spaziergange auf dem Lande. Es giebt noch keine Wahrheit, aber es giebt überall drei gute Wahrscheinlichkeiten. Jeder wählt sich eine davon aus, oder besser, sie wählt ihn, und diese Wahl, die er trifft, oder die ihn trifft, geschieht oft ganz instinktiv. Er hält sich fortan an sie, und sie bestimmt Form und Inhalt aller Dinge, die auf ihn eindringen. Der Freund, dem wir begegnen, das Weib, das uns lächelnd entgegengeht, die Liebe, die unser Herz öffnet, der Tod oder Kummer, der es schliesst, dieser Septemberhimmel, dieser schöne, anmutige Garten, in dem man, wie in Corneilles »Psyche«, grüne, goldumsäumte Lauben erblickt, und die weidende Herde und der Schäfer, der daneben schläft, und die letzten Dorfhäuser, und das Meer zwischen den Bäumen: das alles bückt oder erhebt sich, schmückt oder entkleidet sich seines Reizes, je nach dem Zeichen, das ihm die Wahl, die wir getroffen, macht. Lernen wir unter den drei Wahrscheinlichkeiten wählen. Am Abend meines Lebens, in dem ich so viel nach der kleinen Wahrheit und der physikalischen Ursache geforscht habe, beginne ich, zwar nicht das zu schätzen, was uns von dieser ablenkt, wohl aber das, was ihr vorangeht, und namentlich das, was etwas über sie hinausgeht. –

Wir waren auf einer jener Hochebenen im Lande Caux in der Normandie angelangt, das so sanft ist, wie ein englischer Park, aber ein natürlicher Park ohne Grenzen. Es ist einer jener seltenen Erdenwinkel, wo das Land vollständig gesund und mit tadellosem Grün bedeckt ist. Etwas mehr nordwärts wird das Klima zu rauh, etwas mehr nach Süden wirkt die Sonne erschlaffend und sengend. – Am Saum einer Ebene, die sich bis ans Meer herabzog, türmten Bauern einen Getreideschober auf.

Sehen Sie, sagte er, von hier aus gesehen sind sie schön. Sie errichten ein einfaches und doch so wichtiges Ding; es ist das glückbedeutende und fast unveränderliche Denkmal des sich bejahenden Menschenlebens: ein Getreideschober. Die Entfernung und die Abendluft verwandeln ihre Freudenrufe in eine Art von Lied ohne Worte; es ist wie eine Antwort auf das Hohelied der Bäume, die über unseren Köpfen rauschen. Der Himmel über ihnen ist wundervoll, als ob gütige Geister alles Licht mit feurigen Palmwedeln nach dem Schober zugekehrt hätten, um ihrer Arbeit noch länger zu leuchten. Und die Spur der Palmen ist am Himmel geblieben. Sehen Sie die schlichte Dorfkirche halb zur Seite unter den rundwipfeligen Linden; sie überragt und überwacht sie. Und das Grün des heimatlichen Kirchhofes, der ins heimische Meer schaut. Sie errichten ihr Denkmal des Lebens harmonisch zwischen den Denkmälern ihrer Toten, die dieselben Bewegungen machten und in ihnen weiterleben. Fassen Sie nun das Ganze zusammen. Es ist ohne besondere, allzu hervorspringende Einzelheiten, wie man es in England, Holland oder der Provence finden könnte. Es ist das breite, beschauliche Bild eines natürlichen, glücklichen Lebens, alltäglich genug, um symbolisch zu wirken. Sehen Sie, welches Ebenmass in der nutzbringenden Bethätigung des Menschenlebens liegt! Blicken Sie den Mann an, der die Pferde lenkt, den ganzen Körper des anderen, der die Garbe auf der Gabel hinaufreicht, die Weiber, die sich über das Getreide beugen, und die spielenden Kinder … Sie haben keinen Stein verschoben, keine Erdscholle bewegt, um die Landschaft zu verschönern, sie thun keinen Schritt, sie pflanzen keinen Baum, säen keine Blume, wo es nicht notwendig ist. Das ganze schöne Bild ist nichts als das ungewollte Ergebnis des menschlichen Bemühens, sich eine kurze Zeit in der Natur zu erhalten. Und doch können die unter uns, die ein Bild der Anmut und des Friedens, ein Bild voll tiefer Bedeutung ersinnen oder schaffen möchten, nichts Vollkommeneres entdecken und kommen einfach hierher, um dies zu malen oder zu beschreiben, wenn sie uns Schönheit oder Glück darstellen wollen. Das ist die erste Wahrscheinlichkeit, die einige die Wahrheit nennen. –

Gehen wir näher heran. Hören Sie den Gesang, der dem Rauschen der grossen Bäume so frohgemut antwortete? Er besteht aus groben Worten und Schimpfreden, und wenn ein Lachen erschallt, so hat ein Mann ein Weib mit Dreck geworfen, oder sie ziehen den Schwächsten, den Buckeligen auf, der seine Bürde nicht heben kann, werfen den Lahmen hin oder zausen den Blöden.

Ich beobachte sie seit manchem Jahr. Wir sind in der Normandie, der Boden ist fett und leicht zu bebauen. Hier um den Schober herrscht ein bisschen mehr Wohlstand, so dass man nicht überall eine Szene dieser Art vermutet. Folglich sind die Mehrzahl der Männer Alkoholiker, viele Weiber sind es gleichfalls, und ein anderes Gift, das ich nicht erst zu nennen brauche, verdirbt den Volksschlag vollends. Das Resultat davon sind die Kinder, die Sie da sehen. Dieser Knirps ist skrophulös, dieser Krummbeinige hat einen Wasserkopf. Alle, Männer und Weiber, junge und alte, huldigen den gewöhnlichen Lastern des Bauern. Sie sind brutal, heuchlerisch, verlogen, habgierig, verleumderisch, misstrauisch, neidisch, auf kleinen unerlaubten Profit bedacht, stets mit der niedrigsten Erklärung bei der Hand, schmeichlerisch gegen den Stärksten u. s. w. Die Not weist sie auf einander an und zwingt sie, sich gegenseitig zu helfen, aber wo sie es unbeschadet thun können, trachten alle insgeheim danach, sich zu schaden.

Die Schadenfreude ist die einzige wahre Freude des Ortes. Ein grosses Unglück ist der lange gehätschelte Gegenstand heimtückischen Ergötzens. Sie belauschen, beargwöhnen, verachten und verabscheuen einander. So lange sie arm sind, hegen sie gegen die Härte und den Geiz ihrer Brotherren einen zähen und verschlossenen Hass, und wenn sie selber Knechte haben, benutzen sie die Erfahrungen ihrer Knechtszeit, um die Härte und den Geiz, unter denen sie selbst gelitten haben, noch zu übertreffen. Ich könnte Ihnen manche Einzelheiten über die Schurkereien und Knickereien, die Tyrannei, Ungerechtigkeit und Ränkesucht erzählen, die dieser in Frieden und Himmelsschein ruhenden Arbeit zu Grunde liegen. Wir dürfen nicht glauben, dass der Anblick dieses herrlichen Himmels und des Meeres, das jenseits ihrer Kirche einen anderen greifbareren Himmel bildet, der die Erde umfängt, wie ein grosser Spiegel voller Bewusstsein und Weisheit, – dass dieser Anblick sie erhöbe und erbaute. Sie haben ihn nie genossen. Ihr Denken wird nur von drei oder vier ganz bestimmten Furchtempfindungen geleitet: der Furcht vor Hunger, der Furcht vor der Kraft, der öffentlichen Meinung, dem Gesetze, und in der Todesstunde der Furcht vor der Hölle. Um zu zeigen, was sie wert sind, müsste man sie einzeln vornehmen. Erst den grossen Burschen rechts, der so gemütlich aussieht und so schön die Garbe wirft. Vergangenen Sommer zerbrachen ihm seine Freunde bei einem Streit im Wirtshause den rechten Arm. Ich habe den Bruch geheilt, es war eine schlimme, komplizierte Geschichte. Ich habe ihn lange gepflegt. Ich habe ihn unterstützt, bis er wieder arbeiten konnte. Er kam alle Tage zu mir. Er hat sich das zu Nutze gemacht und im Dorfe verbreitet, er hätte mich in den Armen meiner Schwägerin überrascht, und meine Mutter tränke. Er ist nicht schlecht und will mir nicht böse, im Gegenteil, sein Gesicht strahlt von dem aufrichtigsten Lächeln, wenn er mich sieht. Es war kein sozialer Hass, der ihn dazu trieb. Der Bauer hasst den Reichen nicht, dazu hat er zu viel Respekt vor dem Reichtum. Aber ich denke, mein wackerer Gabelschwinger begriff nicht, warum ich ihn pflegte, ohne Vorteil daraus zu ziehen. Er witterte Ränke und wollte nicht der Genarrte sein. Mehr als einer, reich oder arm, hatte es vor ihm ebenso getrieben, oder noch schlimmer. Er glaubte nicht, dass er löge, als er seine Erfindungen verbreitete, er stand unter dem Drucke der Moralität seiner Umgebung. Er gehorchte unwissentlich und gewissermassen wider Willen dem allmächtigen Gebote der allgemeinen Niedertracht … Aber warum dies Bild weiter ausmalen? Wer einige Jahre auf dem Lande gelebt hat, der kennt es ja. Das ist also die zweite Wahrscheinlichkeit, die von den Meisten »die Wahrheit« genannt wird. Es ist die Wahrheit des notwendigen Lebens. Es ist unzweifelhaft, dass sie auf den zuverlässigsten Thatsachen beruht, den einzigen, die jeder Mensch beobachten und erfahren kann. –

Setzen wir uns hier auf diese Garben, fuhr er fort, und sehen wir weiter zu. Verwerfen wir keine der kleinen Thatsachen, welche die eben genannte Realität ausmachen. Lassen wir sie von selber im Raum kleiner werden. Sie füllen den Vordergrund aus, aber hinter ihnen, das muss man wohl zugeben, steht eine grosse, höchst merkwürdige Kraft, die das Ganze in starken Händen hält. Hält sie es aber nur, oder vielmehr, erhebt sie es nicht? Die Menschen, die wir da sehen, sind nicht mehr in allen Stücken die wilden Tiere La Bruyère's, die so etwas wie eine artikulierte Stimme hatten und sich des Nachts in Höhlen verbargen, wo sie von Schwarzbrot, Wasser und Wurzeln lebten …

Die Rasse, werden Sie mir sagen, ist weniger kräftig und gesund. Wohl möglich. Der Alkohol und die andere Plage sind Zufälle, deren die Menschheit auch Herr werden muss. Vielleicht sind es Prüfungen, die manchen unserer Organe, z. B. dem Nervensystem, zum Heile gereichen werden, denn wir sehen das Leben aus den Übeln, die es überwindet, regelmässig Vorteil ziehen. Überdies kann ein Nichts, das vielleicht morgen gefunden wird, sie unschädlich machen. Dies ist es also nicht, was unseren Blick beschränken darf. Diese Menschen haben Gedanken und Empfindungen, welche diejenigen La Bruyère's noch nicht hatten. – Ich mag die einfache, nackte Bestie lieber, als das abstossende Halbtier, murmelte ich. – Da sprechen Sie ganz im Sinne der ersten Wahrscheinlichkeit, die wir ins Auge fassten, entgegnete er. Vermischen wir sie nicht mit der, die wir jetzt prüfen wollen. Diese Gedanken und Empfindungen sind klein und niedrig, wenn Sie wollen, aber das Kleine und Niedrige ist schon ein Fortschritt gegen das Nichts. Sie gebrauchen sie nur, um sich zu schädigen und in ihrer Mittelmässigkeit zu beharren, aber es geht in der Natur oft so zu. Die Gaben, die sie gewährt, werden zuerst nur zum Bösen gebraucht und machen das, was sie scheinbar verbessern wollte, nur noch schlimmer, aber zuletzt entspringt diesem Übel doch ein gewisses Gutes. Übrigens bin ich gar nicht darauf aus, den Fortschritt zu beweisen. Er ist je nach dem Standpunkte, von dem man ihn betrachtet, etwas sehr Grosses oder etwas sehr Kleines. Die Lage des Menschen etwas menschenwürdiger, etwas weniger qualvoll zu gestalten, das ist ein grosses Ziel, das ist vielleicht das sicherste Ideal, aber wenn man von den materiellen Folgen einmal absieht, so ist der Abstand zwischen dem Menschen, der an der Spitze des Fortschrittes schreitet, und dem, der blindlings hintendreinläuft, nicht beträchtlich. Unter diesen jungen Bauernflegeln, deren Hirn nur von verworrenen Gedanken erfüllt ist, haben mehrere die Möglichkeit, den Grad von Bewusstsein, in dem wir leben, in kurzer Zeit zu erlangen. Man wundert sich oft, wie klein der Unterschied zwischen der Unbewusstheit dieser Menschen, die man für vollständig hält, und dem Bewusstsein ist, das wir für das höchste ansehen.

Überdies: woraus besteht denn dies Bewusstsein, auf das wir so stolz sind? Aus weit mehr Schatten, als aus Licht, aus weit mehr erworbener Unwissenheit als aus Wissen, aus weit mehr Dingen, auf deren Erkenntnis wir mit vollem Bewusstsein verzichten müssen, als aus bekannten. Trotzdem liegt in ihm alle unsere Würde, unsere wirklichste Grösse, und vielleicht ist es die erstaunlichste Erscheinung auf der Welt. Es lässt uns die Stirn zu dem unbekannten Prinzip erheben und zu ihm sprechen: »Ich kenne Dich nicht, aber etwas in mir erfasst Dich schon. Du wirst mich vielleicht zerstören, aber wenn Du aus meinen Trümmern keinen besseren Organismus zusammensetzen kannst, als ich bin, so bist du meiner nicht wert, und das Schweigen, das dem Tode der Art folgt, zu der ich gehöre, wird Dich lehren, dass Du gerichtet bist. Und wenn Dir nicht einmal daran liegt, eine gerechte Verurteilung zu erfahren, was liegt dann an Deinem Geheimnis? Wir wollen es dann nicht mehr ergründen. Es muss stumpfsinnig und schauerlich sein. Du hast durch Zufall ein Wesen hervorgebracht, zu dessen Erzeugung Du nicht das Vermögen hattest. Ein Glück für den Menschen, dass Du ihn durch einen entgegengesetzten Zufall wieder ausgemerzt hast, ehe er den Abgrund Deiner Geistlosigkeit ermessen hat, und noch mehr Glück für ihn, dass er die unendliche Abfolge Deiner scheusslichen Zufallsspiele nicht mehr erlebt. Er gehörte nicht in eine Welt, in der seiner Vernunft keine ewige Vernunft entsprach, in der er nach dem Besten trachtete und doch nichts wahrhaft Gutes erreichen konnte.«

Noch einmal: der Fortschritt ist nicht unbedingt erforderlich, damit das Schauspiel uns begeistert. Das Rätsel genügt, und dieses Rätsel hat in jenen Bauern ebensoviel Grösse und mystischen Glanz, wie in uns. Man findet es überall, wenn man dem Leben bis auf seinen allmächtigen Urgrund nachgeht. Dieser Urgrund erhält von Jahrhundert zu Jahrhundert einen anderen Namen. Einige waren deutlich und bestimmt, und waren tröstlich. Man hat erkannt, dass dieser Trost und diese Bestimmtheit illusorisch waren. Aber mögen wir ihn Gott, Vorsehung, Natur, Zufall, Leben, Geist, Materie, Verhängnis nennen, das Mysterium bleibt sich gleich, und alles, was wir in Jahrtausende langer Erfahrung gelernt haben, ist, ihm einen immer weiteren, uns menschlich näher stehenden Namen zu geben, der dem, was wir erwarten, und dem, was sich nicht vorhersehen lässt, Rechnung trägt. Diesen Namen führt er heute bereits, und darum ist er niemals grösser erschienen. – Dies ist einer der zahlreichen Fälle der dritten Wahrscheinlichkeit und auch ein Stück Wahrheit.


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