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Ein Pogrom

Die kleine russische Stadt am Flusse gleichen Namens lag still und friedlich und schimmerte mit weißen Mauern und grünen Dächern in der hellen Morgensonne.

Es war Mai und hoch im Norden. Die Sonne mochte nicht drunten sein. Sie erstand rot am Himmelsrand fast an derselben Stelle, wo sie gerade vor dem Zauber der weißen Nacht gefallen war.

Der Sommer war eingezogen. Es war der 1. Mai alten Stils im zweiten Jahre der Revolution.

Der Tag begann, seine bunte Sprache zu sprechen. Kühe und Schafe kamen aus den kleinen Höfen vor der Stadt, läuteten mit den Glocken und traten Pfade in das taublaue Gras.

Die Brunnenschwengel stiegen kühnen Schwunges in die klare Luft und machten mit starkem Bums halt. Vornübergebeugte Gestalten lehnten sich mit gefüllten Eimern über die Brunnen. Es sah aus, als hätten sie sich in der Zeit geirrt, sich verschlafen, und kämen nun schlaftrunken herauf zur Erde bei Morgengrauen.

Die Wege lagen in grauem Staub, zerfurcht vom Rade, gezeichnet vom wandernden Leben, erstarrt wie Züge, über die vieles hingegangen ist und noch mehr kommen soll. Und es kam mehr ... Weit draußen in dem lichten, bebenden Morgen, wo das Auge alle zerstreuten Dinge auf einmal faßt, kam etwas heran. Es kroch langsam aus der Landschaft hervor, nahm Form gegen den Hintergrund an, wo Birkenzäune und grüne Wiesen, Dörfer und gewürfelte Äcker zu der Sonne sprühendem Spiel tanzten.

Es sah aus, als kröche eine lange Reihe dunkler Käfer längs den grauen Linien des Weges, hervor aus der Unwirklichkeit. Sie nickten mit den Köpfen und wurden größer. Es kamen rote Flecken auf den Rücken zum Vorschein. Sie krabbelten mit den Beinen und summten, glitten in ein Feld, wo das Auge Einzelheiten unterscheidet, und wurden zu Pferden und ungelenken Einspännerwagen. Die Bauern saßen darauf in roten Hemden und baumelten mit den langen Stiefeln an der Außenseite. Die Weiber lagen hinten wie einige große Bündel bunten Zeuges.

Die kleinen Pferde hatten viele Meilen in schnellem Schritt gemacht, indes die Kutscher und ihr Gefolge unter Schafpelzen schliefen. Nun witterten sie die Stadt und schnaubten morgenfrisch. Die Bauern riefen und lachten, und einer oder der andere von ihnen stimmte ein langgezogenes Lied von Pferden und Liebe an. Die anderen fielen beim Refrain mit ein. Dann schwiegen sie wieder und sannen über andere Dinge nach.

Die Stadt lag vor ihnen. Vierzig Kirchenkuppeln hingen in der Luft, als hätte der Himmel blaue und gelbe Früchte aus der weißen Nacht hervorgezaubert. Die Kreuze leuchteten wie goldene Zweige im wolkigblauen Himmelsgarten, und das junge Birkenlaub lag so rein auf der Erde, als wäre von den Früchten aus der Höhe smaragdengrüner Saft getropft.

Die Schutzleute reckten sich, gähnten und schlenderten ein Stück die Straße hinunter. Die Fensterläden der Kneipen und Teehäuser wurden aufgeklappt. Die Ladeninhaber waren früher auf den Beinen als sonst. Es war Nikolinmarkt, der große Markt zwischen Saatzeit und Heuernte, der seit alter Zeit auf den letzten Montag vor dem Tage des wundertuenden Nikolaj fällt.

Unten auf der Post- und Telegraphenstation ließen drei wachthabende Telegraphisten ihre Köpfe auf den Tisch hangen. Ein vierter ging mit der Zigarette im Mund im Zimmer hin und her. Sie sahen bleich und übernächtig aus. Ihr langes Haar stand unverhältnismäßig kräftig zu ihren mageren, fahlen Gesichtern.

Plötzlich begann einer der Apparate zu arbeiten. Der Telegraphist richtete sich mit einer schwerfälligen und langsamen Bewegung auf. Er war es gewöhnt, Telegramme entgegenzunehmen. Die anderen drehten die Köpfe und legten sich wieder zurecht. Es war nichts für sie. Der Telegraphist las mechanisch, während die Papierrolle sich aufwickelte, und das beschriebene Band durch seine Finger lief. Er las ganz gleichgültig: Aufgabestation, Zeit, Adresse, aber konnte nicht weiter. Es waren Zahlen und Codeworte, die folgten.

»Eine Depesche aus Petersburg an die Gendarmerieverwaltung,« sagte er und gähnte. »Die ist ja höllisch lang. Die glauben wohl, man hat nichts anderes zu denken ...«

Die anderen rührten sich nicht, aber der im Zimmer ging, wurde aufmerksam. Übrigens hatte er auch die Depesche abzuschreiben und sie in die Stadt zu senden.

Der Telegraphist am Apparat paßte wieder auf. Es konnte ja sein, daß noch eine kollegiale Nachschrift, von der Zwischenstation auf dem Draht war. So war es auch:

›50 Worte! Es ist etwas im Gang ... Apropos der alte Ochse revidiert die Linie. Macht reinen Tisch. Hat seine junge Frau mit‹ ... Dann tippte der Stift eine Anzahl Zeichen aufs Papier. Der Absender schüttelte sich vor Lachen, konnte man sehen.

»Nee! Nee Jungs! Hört zu!« lachte schallend der Telegraphist und schnitt die Nachschrift ab. Die anderen erwachten gleich. Es kam sofort Leben in die Gesellschaft. Aber der vierte fertigte das Telegramm aus, schrieb schnell, tat, als hätte er das letzte Wort verschrieben, und steckte es in die Tasche, ohne daß die anderen es merkten. Es konnte ja ganz amüsant sein, eine solche Depesche zu haben.

Dann schrieb er ein neues aus und sandte es mit einem Boten fort.

Der kleine, bärtige Mann, der vom jahrelangen Austragen von Depeschen ein ehrerbietiges, dienstliches Aussehen bekommen hatte, legte den Weg zur Gendarmerieverwaltung im Schnellschritt zurück. Er gab bei jedem Schritt etwas mit den Knien nach und stützte seine eine Hand auf die vierkantige Depeschentasche. Der helle Sonnenschein tat ihm gut. Er war nämlich etwas verstimmt, da er den Weg zur Gendarmerie umsonst machen mußte. Da winkte ihm kein Trinkgeld. Nein! Gott steh mir bei! Die waren nicht von der Art!

Das große, gelbe Holzgebäude war wie ausgestorben. Er hörte die Glocke im Hause läuten, als er am Griff zog, und die Kutscher des Posthalters auf einer Seite des Hofes fluchen, während sie die Holzachsen eines gedeckten Tarantas schmierten.

Ein gemeiner Gendarm in mürrischer Morgenlaune öffnete:

»Her damit!« brummte er.

»Da!« sagte er, als er ein wenig später die Empfangsquittung aus der Tür reichte.

Der Adjutant des Obersten, Pyschkin, wurde durch die Depesche geweckt. Er hustete fett und erhob sich wie ein Mann, in dessen Hände viel gelegt ist. Er hatte einen dicken Kopf mit Doppelkinn.

Die Stirn war auffallend flach im Verhältnis zum Untergesicht, obwohl er das Haar carré geschnitten trug. Die Augen waren klein und schmutziggrau und saßen dicht zusammen. Sein Körper war wie sein Kopf. Lang war er ja nicht, aber desto gewaltiger in der Dicke. Ohne den Rücken wäre er jetzt wohl kaum auf der Erde gewesen. Er zuckte auch hier und da noch infolge eines Schlages zusammen, den er bei den Tumulten in den Freiheitstagen vor einem halben Jahre erhalten hatte. Ein handfester Bursche hatte ihm mit einer Deichselstange eins gelangt, daß es nur so rauchte, aber der Rücken hielt, und Pyschkin wurde gleich in die kleine Stadt am Fluß versetzt, wo Oberst Dedulin ihn zum Adjutanten bekam. Es war nichts Schlechtes in Pyschkin, ausgenommen, daß er gern Leute totschlug, wenn er es amtlich bewerkstelligen konnte. Deshalb war er auch Chef der neueingerichteten reitenden Polizei dort in der Stadt geworden, die nach dem kurzen Freiheitstraum eingesetzt war, um Rußland zu verwüsten.

Pyschkin nahm den Code und begann in Hemdsärmeln das Telegramm zu dechiffrieren. Er kannte verschiedene Codewörter auswendig, so daß es rasch mit der Übersetzung ging. Während er schrieb, wurde er lebendig. Er rieb die Hände und schlug sich auf den Schenkel.

Ho–ho! Das Oberkommando in St. Petersburg hatte dieselben Anschauungen wie er und sein Oberst. Nun sollte es ein Ende haben! Es sollte nicht mehr geliebäugelt werden mit verschiedenen sozialistischen Demonstranten ... Und die reitende Polizei stand ausschließlich unter dem Kommando der Gendarmerie ... Das wollte er dem Gouverneur zeigen!

Pyschkin klingelte. Der saure Gendarm kam schnell und stand untertänigst an der Tür stramm.

»Melde mich sofort beim Oberst!«

»Jawohl, Euer Hochwohlgeboren.«

Pyschkin brachte seinen geteilten Gurkobart mit einem großen Taschenkamm in Ordnung und zog Waffenrock und Stiefeln an.

»Der Herr Oberst erwartet Euer Hochwohlgeboren,« meldete der Gendarm ein wenig später.

Pyschkin warf sich in die Brust und ging sporenklirrend zum Obersten hinein.

Oberst Dedulin war ein älterer, grauhaariger Mann. Als Leutnant verriet er seine Kameraden und wurde deshalb zur Gendarmerie versetzt, wo er nach und nach zum Oberst avancierte. Er hatte sich zuletzt bei einer Haussuchung unten in den baltischen Provinzen hervorgetan. Es hatte den Anschein, daß er etwas Kompromittierendes bei dem Verdächtigen nicht finden würde, und als sich die Gelegenheit bot, versteckte er einige revolutionäre Schriften zwischen den Papieren, die durchstöbert wurden. Er hatte sie für alle Fälle selbst in der Tasche gehabt. Später stellte es sich allerdings heraus, wo sie hergekommen waren, und die Presse nahm sich der Sache an. Sie hatte damals für einige Zeit das Blatt vom Mund genommen.

Oberst Dedulin wurde dann an ein anderes Ende des Landes versetzt. Aber seinen schlechten Ruf konnte er nicht loswerden, und er war aus diesem Grunde zuzeiten unsicher, und mit Recht. Sein einziger Verkehr außer den Gendarmen waren zwei frisierte Pudel und ein Kakadu, der sagen konnte: »Gott erhalte den Zaren!« ...

Als Pyschkin von seinem Vorgesetzten zurückkehrte, ging er geradeswegs zum Telephon.

»Laß sie nur probieren. Ich will ihnen zeigen, was der erste Mai ist,« murmelte er zwischen den Zähnen, als er klingelte und das Hörrohr nahm.

»Hallo! ... Ist Klawdia Alexandrowna zu sprechen? So, ja ... Ja, guten Morgen Klawdia Alexandrowna! Ja, ich bin's. Entschuldigen Sie, daß ich Sie so früh störe ... Ho, ho! Eine echte russische Frau. Es geht Ihnen gut, Klawdia Alexandrowna? Sehr angenehm zu hören ... Danke! Ja danke schön! ... Ich wollte Ihnen nur sagen, daß die Versammlungsfreiheit mit allen Mitteln aufrechterhalten wird. Wenn der eine Teil demonstriert, soll der andere auch das Recht dazu haben ... Ja! Russische Patrioten sollen auch ihren Gefühlen in Ruhe und Frieden Ausdruck geben können. Wir haben Ordre nach der Richtung hin ... Ja gewiß, na gewiß doch! Sie können auf uns rechnen. Adieu! Adieu! ...«

Von beiden Seiten wurde abgeklingelt. Pyschkin zog sich wieder aus, um sich noch etwas Ruhe zu gönnen, und Klawdia Alexandrowna zog sich an und ging auf den Markt. Auf der Brust trug sie das Emblem der »Schwarzen Bande«, den heiligen Georg mit dem Drachen.

Sie war der eifrigste Apostel dieses Ordens in der Stadt. Er hatte seine Filialen in ganz Rußland und wurde von der Kirche und fast von der gesamten Verwaltung gestützt. Nicht einmal die Enthüllungen gewesener Minister über den Geschäftsgang im Orden hatten ihn erschüttern können. Er wurde aus dem Verborgenen von Männern geleitet, die über einem russischen Minister und hoch genug standen, um den allerhöchsten Segen auch über Mordbrand herabbeten zu können.

Klawdia Alexandrowna war mit einem Beamten verheiratet, der außerhalb der Stadt zu tun hatte. Er hieß Posekin und hatte nicht viel Interesse für die Politik, ja übrigens auch nicht einmal für seine Frau. Es war viel freier und frischer auf dem Lande. Die Wiesen waren grün und weich, und die Mädchen rot und frisch und rund in den Hüften.

Das konnte man von seiner Frau nicht sagen. Ja, es war schwierig, in der Beziehung etwas über sie zu sagen. Wenn Posekin etwas über den Durst getrunken hatte, konnte er auf peinliche Einzelheiten kommen; und man muß gestehen, daß sie nicht anziehend war. Sie war ein langes, dürres Frauenzimmer mit männlichen Bewegungen. In ihrem Gesicht lag oft ein Ausdruck, als zöge etwas die Mundwinkel herab und die Augenlider hinauf. Es sah aus, als hätte sie plötzlich und unerwartet in eine seltsame Frucht mit scharfem und stechendem Nachgeschmack gebissen.

Sie war nicht mehr jung, hatte aber starke Neigungen, und diese suchte sie in dem Brüllen der »Schwarzen Bande« nach Gewalt und Blut zu dämpfen. Sie war eine der Frauen, deren Geschlecht nicht auf der breiten Karawanenstraße wandert, wo in gemessenen Zwischenräumen gute Oasen und Brunnen liegen in der Wüste der Lust.

Sie war nie erlöst worden, hatte in keiner Seligkeit geschwelgt und war also zum Satan und seinen Taten niedergestiegen.

Vorläufig hatte sie nur in den grauenvollen Berichten über Pogrome in anderen Städten schwelgen können; aber es befielen sie heftige Träume von der Möglichkeit eines gleichen oder noch tausendfach wahnsinnigeren gerade hier dicht bei ihr, daß Blut und Geheul über alle Nerven rieseln könne. Sie diente Gott und seinem Stellvertreter auf Erden. Die Welt sollte die Knie vor ihnen beugen, und sie wollte die Geißel schwingen über die Gottlosen.

Als Pilgerin oder als Handelsfrau verkleidet predigte sie die Dogmen der »Schwarzen Bande« auf dem Markt und in den Gassen. Sie tauchte mitten zwischen den trunkenen und rasenden Bauern in den Kneipen auf und hetzte sie auf die studierende Jugend, auf die Juden und alle anderen Träger von Freiheitsideen ...

Von ihnen käme alles Unglück über Rußland. Sie wollten den Bauern die Scholle nehmen. Sie seien des Volkes und des Zaren Feinde! ...

Zu Haus bei sich versammelte sie eine kleine Gemeinde der unwissendsten Spießbürger, verteilte Embleme und schrieb die Gläubigen in ihre Bücher ein.

Es war leicht für sie, Anhänger unter den orthodoxen Kaufleuten und Handwerkern zu gewinnen. Sie waren von einem unheilbaren Haß gegen die Revolution und ihre großen Losungen erfüllt. Worte wie: Achtstündiger Arbeitstag, Expropriation des Landes, der Vermögen und Produktionsmittel brachten sie zum Rasen, und sie gingen zu den Flußarbeitern, Lastträgern und ihren eigenen Arbeitern und Leuten, um ihnen auf ihre Weise die Niederlagen im Kriege, die Revolution und die herrschende Not zu erklären. Sie führten ihre Sache gut. Wenn's die Zunge nicht tat, brauchten sie Branntwein und Geld. Das konnten die Sozialisten nicht bieten. Gefängnis und Hunger war alles, was von denen kam, wenn man nicht gar niedergeschossen wurde wie die Hunde auf der Straße.

Vor einem Jahre, unter der ersten revolutionären Begeisterung, hatten diese nackten und verrückten Leute mit entblößten Häuptern tote Verbannte zu Grabe geleitet. Jetzt waren sie jederzeit bereit, »die Feinde des Zaren« niederzumetzeln. Sie hatten die Geduld verloren. Die Revolution hatte nicht sogleich halten können, was sie versprach. Und die Hefe des Volkes hat sich von jeher sklavisch dem angeboten, der für den Augenblick die Oberhand hatte.

Die Bauern waren nicht so leicht umzustimmen. Sie konnten sich in den Gang des Spiels hineinbuchstabieren und verstanden, wer in Wirklichkeit Freund und Feind war. Aber sie waren leicht beweglich wie alle Kinder Asiens. Kam ihnen etwas in den Weg, so wälzten sie es fort, ohne Ansehen der Person. Sie waren zu Scharen in Europa eingerückt, wohnen noch in Dörfern zusammen und nutzen die Erde gemeinschaftlich. Wenn sie sich erheben und in Zug kommen, rücken sie vor wie Horden, ins Blinde hinein, ohne des einzelnen Mannes Überlegung, jeder für sich ...

Frau Posekin verließ ihr Haus. Es lag in der Adel-Straße, wo in alten Tagen die Gutsbesitzer ihre Winterwohnungen aus des Waldes schwersten Föhrenstämmen errichtet hatten. Sie hatten damals die Mittel dazu, als sie Leibeigene hielten. Nun war es mit ihnen zurückgegangen, und die Kaufleute hatten ihre alten Häuser in der Stadt gekauft.

Posekins Haus war auch zu jener Zeit erbaut. Es stand etwas schief, aber das Holz war frisch, als wären 100 Jahr für es gewesen wie ein Tag. Zwischen den vier dicken Holzsäulen an der Fassade war in halber Manneshöhe vom Erdboden ein großer Balkon mit Glastüren, die ins Haus führten.

Gerade gegenüber, hinter der Birkenallee, lag. ein großes, rotes Backsteingebäude mit weißem Portal. Das war das »Volkshaus«, errichtet von der Vereinigung »Gegenseitige Hilfe«. Zwanzig Jahre hatte sie zu diesem Heim für Aufklärung und Geistesbildung gesammelt. Tausend Dilettantenvorstellungen und Vorträge, kleine und große Beiträge der Intelligenz der Stadt und nun zum Schluß eine Anleihe beim Magistrat hatten den Gedanken, ein eigenes Haus zu bauen, ermöglicht, wo jeder, der nach Bildung dürstete, eintreten konnte und willkommen geheißen wurde.

In der letzten Zeit war es durch die natürliche Entwicklung der Dinge die Heimstätte der Freiheitsbewegung in der Stadt geworden. Der große Versammlungssaal, mit der Bühne im Hintergrund, stand den verschiedenen Parteien offen. Jeder hatte gratis Zutritt zur Bibliothek. In der Vorhalle wurden zum besten von Rußlands großer Sache politische und sozialökonomische Schriften in Zweikopeken-Ausgaben verkauft. Dort las man vor einem halben Jahre das Freiheitsmanifest tausenden tiefbewegten Zuhörern vor. Dort an seiner Mauer hatten die ersten Kämpfe mit der »Schwarzen Bande« stattgefunden, und Revolverkugeln und Steine hatten die Fenster zertrümmert. Schreie und krampfhaftes Weinen waren aus der dichtgedrängten Menschenmasse gedrungen, während zehn bewaffnete Männer den Pöbel zurückgedrängt hatten.

Dies Haus war des jungen Rußlands Tempel, und deshalb sah es Frau Posekin mit einem haßerfüllten Ausdruck in ihrem mageren und scharfen Gesicht an, als sie auf die Straße trat.

»Dieses Teufelsnest,« dachte sie und knüpfte ihr graues Tuch fest unters Kinn. Sie ging die Birkenallee hinunter. Der sonnenwarme Kies knirschte unter ihren Gummizugstiefeln.

An der Verkündigungskirche standen schon die Bauernfrauen und boten ihre Spitzen feil. Die Körbe waren mit feinen Hemdbesätzen, Halskrausen und Seidenschals gefüllt. Die Weiber lockten die Käufer mit den besten Proben, legten die fort, die sie eben in den Händen gehabt hatten, und nahmen neue auf. Es wurde tüchtig geklatscht. Neuigkeiten und Gerüchte wurden ausgetauscht zwischen Stadt und Land. Man erzählte sich von Bekannten, die in der Trunkenheit andere Bekannte erschlagen hatten, von Hochzeiten und Wochenbetten, von Versetzen und Kalben, von Tee und Zucker und anderem einschlägigem Geschwätz, alles während mit den »Madams«, die die Spitzen kauften, gefeilscht und gehandelt wurde.

»Na, Madamken, wollen Se keine Spitzen heute? Sehen Se, hier sind noch 'n paar feine für fünfzehn Kopeken de Arschine,« riefen sie zu Frau Posekin, als sie durch die Reihen ging. Sie kaufte auch ab und zu Spitzen, aber heute war keine Zeit dazu.

Sie blieb einen Augenblick bei einer der Frauen stehen und ging gleich weiter.

»Habt Ihr's gehört?« rief eines der Weiber, als Frau Posekin vorbei war. »Die Studenten wollen die Läden schließen. Wir bekommen vielleicht auch keine Erlaubnis, heute hier zu stehen. Die Sozialisten wollen den Zaren im Volkshaus beschimpfen und auf die Bauern schießen ... Niederschlagen sollte man sie, die Räuber ...«

Die Weiber steckten die Köpfe zusammen. Das Gerücht ging von Mund zu Mund und nahm die wildesten Formen an.

»Die Studenten und die Sozialisten wollen die Kirchen in Brand stecken und gotteslästernde Lieder singen. Im Volkshaus soll der Antichrist angerufen werden. Die Bilder des Heilands und des Zaren sollen von den Wänden gerissen und geschändet werden ...«

Es kam Bewegung in den Haufen, und bald liefen sie mit hochgerafften Röcken fort und ließen Spitzen Spitzen sein ...

Frau Posekin ging weiter in die Stadt hinein. Die breite Geschäftsstraße war voll von Bauern, die darauf warteten, daß die Läden geöffnet würden, damit sie ihre Einkäufe besorgen könnten. Kaftanbekleidete, bartlose Tataren riefen in einem halsbrecherischen Russisch gefleckte Früchte für billiges Geld aus. Sie trugen den ganzen Laden auf dem Kopfe. Die Straßenverkäufer boten Messer, Schlösser und Uhrketten aus echtem, gelbem Messing feil. Krüppel krochen auf allen Vieren in den Rinnsteinen oder gingen auf den Händen, wenn ihnen der Unterkörper fehlte. Die »Goldne Garde«, Bettler aller Rangklassen, forderten mit heiseren Schnapsstimmen und dem Schwung der Landstraße in den Gliedern Almosen.

Die Schmarotzer der Menge, Gewerbetreibende aus dem Kellerhals und dem Hinterhof, bissen sich fest, wo etwas zu holen war. Ehemalige Schreiber, degradierte Polizisten und Gendarmen boten sich als Rechtskonsulenten oder Verfasser von Gerichtsanträgen an.

Unter diesen Existenzen hatte die Posekin ihre Agenten. Sie blieb zwischen ihnen einen Augenblick stehen, wechselte hastig flüsternd einige Worte und steckte ihnen einen Silberrubel zu. Selbst hielt sie sich im Hintergrund, während ihre verdächtigen Helfershelfer sich durch die Menge ein und aus schlängelten und sie stachen wie Schlangen. Es bildeten sich kleine Gruppen.

Eine von ihnen wurde größer. Mitten im Kreise stand ein zerlumpter Bursche, der eine Rede hielt:

»Ja weshalb verloren wir den Krieg, frage ich? Waren es etwa nicht die Juden, die Stössel und die anderen Generale und Admirale bestachen, damit sie sich schlagen ließen, daß das ganze Rußland in die Hände der Japaner käme? Die haben ja auch keinen Heiland. Seht, daher kommt das. Aber als die Japaner die heilige russische Erde betraten, mußten sie ja haltmachen, das ist sicher ...

Aber dann warfen sie und die Juden ihr Geld zusammen und unterboten alle Eisenbahn- und Postleute, alle Fabrikarbeiter und Studenten und Seminaristen, um Streik und Aufruhr im Lande zu erregen. Ja, und während sie bei den Streiks verdienen, sitzen alle guten russischen Arbeiter ohne Arbeit da und hungern. Das Brot wird noch mal so teuer, und Tee und Zucker und Tabak werden alle ... Was ist das Leben ohne das, was? Man will arbeiten, aber darf nicht. Aber so kam's, daß Trepow, General Minn und Dubasow in Gottes und des Kaisers Namen angriffen, und da hatten die Juden und die Japaner ja keinen anderen Ausweg, als den mit der Duma. Da kamen nur Juden hinein. Sie bezahlten mit dem Golde, das sie den Rechtgläubigen ausgesaugt hatten. Und wovon reden die dadrin, frage ich? Ja, was denn anderes, als worüber immerzu hier im »Volkshaus« gesprochen wird. Das Land soll den Bauern genommen werden, sagen sie, und der Zar gehängt werden, gerade wie früher bei den Deutschen. Freiheit wollen sie haben. Als ob wir nicht frei wären! Sind wir Leibeigene, was? ... Nein, sie wollen Freiheit, um – ich will's euch sagen – um den einzig wahren Glauben zu verbieten und alle Rechtgläubigen zu beschneiden. Das wollen sie. Sie verbieten unsere alten Feiertage und erfinden neue. Wie jetzt den ersten Mai. Sie wollen die Läden heute schließen und Teufelsmesse halten im »Volkshaus«. Ja, ja, sie wollen! – Sollen wir uns das gefallen lassen? Nein, sage ich, laß sie nur probieren! Wir sind Väterchens, des Zaren, treue Untertanen und rechtgläubige Christen. Sind wir das nicht? Brüder! Ja wir sind's! ...«

Zwei Bursche kamen mit einem Eimer Branntwein. Sie drängten sich durch die Menge zum Redner. Die »Goldene Garde« kam schreiend hinterher.

Der Redner senkte ein Glas in den Eimer und zog es gefüllt heraus.

Eine Menge anderer Gläser kamen gleich in Tätigkeit, und der Eimer machte die Runde.

»Ja, trinkt nur, Kameraden, ein Glas aus diesem Eimer, den gut russische Hausväter und treue Untertanen am heutigen Markttage spendiert haben! Gutes Geschäft, Freunde! Hoch lebe Väterchen, der Zar! Prost! Wir wollen unsere Leiber für ihn aufs Schlachtfeld betten, alle unsere Knochen, uh-uh ...«

Der Redner kam vor trunkener Rührung nicht weiter, und der Haufe zerstreute sich.

Um 6 Uhr öffnete man die Kaufläden, die Bauern gingen hinein, um etwas zu erstehen. Die Straße wurde leerer. Die Leute besorgten ihre Geschäfte.

Eine gute Stunde später versammelten sich ungefähr 50 Männer und Frauen im Volkshaus. Auf ihren Gesichtern konnte man lesen, daß sie zur radikalen Jugend gehörten. Die Weiber trugen schmucklose Kleider. Einige hatten sich nach alter nihilistischer Tradition die Flechten abgeschnitten. Die Männer fuhren sich durchs Haar, gestikulierten und unterhielten sich eifrig über die Bedeutung des Maitages als Festtag für das Proletariat der ganzen Welt. Die schwarzen russischen Blusen, die Nationaltracht der Fabrikarbeiter, gaben ihnen ein düsteres Gepräge. Man sah, daß sie den sozialistischen Organisationen angehörten.

»Wo bleiben nur die andern? Ist die Versammlung abgesagt? oder soll sie außerhalb der Stadt abgehalten werden?« hörte man vereinzelt fragen. »Der Pförtner sagt's. Sollen wir bleiben oder warten? Wo ist die Miliz? ...«

Im selben Augenblick kam ein Vorstandsmitglied eilig zur Tür herein.

»Ich möchte um einen Augenblick Aufmerksamkeit bitten,« begann er schnell und ernst. »Wie Sie wissen, war es ursprünglich unser Gedanke, den Maitag in diesem Hause zu feiern, das mit Recht das unsere heißt. Von hier wollten wir in einer Prozession durch die Stadt marschieren und alle auffordern, die Arbeit einzustellen. Aber verschiedene Umstände haben uns veranlaßt, nach Verständigung mit den Leitungen Ihrer Organisationen, diesen Beschluß zu ändern. Gestern abend wurde es beschlossen und, wie ich glaube, allen mitgeteilt. Wie Sie wissen, fällt heuer der Maitag mit dem Nikolinmarkt zusammen. Viele Landbewohner sind hereingekommen, und man konnte sich denken, daß die lichtscheuen Elemente der Stadt die Gelegenheit benutzen würden, im Trüben zu fischen und Aufläufe und Gewalttätigkeiten herbeizuführen. Die Zeiten sind unruhig und die Gemüter in Erregung. Eine Kleinigkeit kann unberechenbare Folgen haben, und wir dürfen nicht eine Versammlung von Tausenden von Menschen einer Panik aussetzen. Sie entsinnen sich der Oktobertage im vorigen Jahr. Unsere Miliz ist auch nicht so stark wie früher. Sie kann nicht das Volkshaus gegen eine Menschenmenge von mehreren Tausend verteidigen.

Die Gendarmen und die reitende Polizei werden offenbar gegen uns sein. Ich kann Ihnen sagen, daß wir eine Depesche empfangen haben, die das andeutet. Die Ordnungspolizei ist machtlos. Der, Gouverneur hat uns mitgeteilt, daß es nicht in seiner Macht stünde, für die Sicherheit der Versammlung in der Stadt zu garantieren ... Wie meinen Sie? Nein, entschuldigen Sie! Der Gouverneur hat sich bei jeder Gelegenheit loyal gezeigt. Unsere Stadt ist die einzige, die in diesen Schreckenszeiten kein Pogrom aufweisen kann, ist die einzige in ganz Rußland, die trotz der steigenden reaktionären Flut konstitutionell nach dem Wortlaut des Freiheitsmanifestes regiert wird, – Also die Maidemonstration findet vor der Stadt im alten Lager statt, und ich bitte diejenigen, die daran teilnehmen wollen, sich dorthin zu begeben ... Ob die Kaufleute nicht aufgefordert werden sollen, zu schließen? Ja, es ist schon eine Deputation gewählt, die sich im geeigneten Zeitpunkt in Bewegung setzt. Man muß warten, bis sich die Bauern mit Waren versehen haben. Viele haben einen weiten Weg gemacht ... Und nun, Kameraden, auf Wiedersehen draußen im Lager!«

Alles ging. Im »Volkshaus« blieb nur der Pförtner zurück.

Kurz danach ging die Deputation von Laden zu Laden und forderte die Kaufleute auf, zu schließen. Ihr Wunsch wurde augenblicklich erfüllt. Viele von den Angestellten sympathisierten mit den radikalen Ideen, und die Kaufleute fügten sich am liebsten allen Teilen. Wer weiß, wer morgen die Übermacht hat! Die großen Türen drehten sich knackend, und die gewaltigen Schlüssel und Schlösser rasselten und fielen zu, die Bauern sahen sich einander mit offenem Munde an. Viele von ihnen hatten die bestellten Waren noch nicht ausgeliefert erhalten. Andere hatten noch gar nicht an den Einkauf gedacht.

In weniger als fünf Minuten war in der ganzen Geschäftsstraße alles geschlossen und verriegelt.

In den nächsten fünf Minuten folgten die anderen Straßen diesem Beispiel. Die Türen knarrten, die Schlösser schnappten zu, und alles wurde still wie an einem hohen Festtag. Auch die Bauern standen stumm in Gruppen, umsponnen von denselben Schmarotzern des Pöbels wie vorher Es lag ein Unwetter in der Luft. Man fühlte den Odem eines großen Tieres.

Gleichzeitig mit der Schließung streikten alle Schulen: Gymnasium, Realschule und die technische. Die ältesten Schüler erklärten nach der ersten Stunde, sie gingen für heute. Alle andern, bis zu den Knirpsen in den Vorschulklassen, taten dasselbe.

Ein Dutzend kleine und große Schuljungen kamen auf dem Heimweg auf die Brücke, die die alte Stadt mit der Geschäftsstraße verbindet.

Getrost gingen sie auf die Menschenmauer zu. Als sie dicht herangekommen waren, rief plötzlich eine wilde und gurgelnde Stimme:

»Schlagt sie nieder! Schlagt sie nieder!« und die Mauer wälzte sich vornüber. Es sah aus, als hätte sie gestanden, mit dem Gleichgewicht gekämpft und plötzlich den entscheidenden Stoß bekommen.

Der Haufen wälzte sich über die Brücke wie eine lebende Mauer, wie ein ungeheurer, schreitender Holzstoß.

Die Jungen flüchteten. Sie liefen vorwärts in zusammengedrückter, vornübergebeugter Stellung, die allem gejagten Wilde eigentümlich ist. Man konnte sehen, wie sich in ihnen die Lungen zusammenpreßten und sich weiteten.

Die Polizisten auf der Brücke gaben vor dem Haufen nach. Die Jagd nahm ihren Lauf. Aber es waren verhältnismäßig wenig Bauern unter den Verfolgern. Es waren meistens verwahrloste Existenzen der Stadt und die von der Schwarzen Bande gedungenen jungen Menschen. Die Jungen liefen durch den Park und kamen auf den Platz zwischen der Heilandskirche und dem Hotel »Goldenes Horn«. Zufällige Passanten warfen sich auf sie.

Der Kaufmann Sabakin lief aus der Hintertür seines Ladens und schoß auf sie mit einem Artillerierevolver. Seite an Seite mit ihm kämpfte der Pförtner des Kreisgerichts. Er war in voller Livree und mit einem Pflasterstein bewaffnet. Die Droschkenkutscher, die vor dem Hotel hielten, ließen Pferd und Wagen im Stich und fielen den Kindern in die Flanke. Ein großer, rotbärtiger Bauer, der hinter seinem Wagen ging, machte sich auch daran, ihnen nachzujagen, bekam es aber über und ging zu seinem Pferd zurück, das allein seinen Weg über den Platz weitergegangen war. Ein Schuljunge von 12 Jahren nahm einen Stein von der aufgebrochenen Straße, holte ihn ein, schlug ihn mit aller Kraft in den Nacken und flog zurück wie ein Pfeil. Der Getroffene stürzte vornüber, als ob er einen Purzelbaum schlüge und von der Erdkruste aufgehalten würde. Er lag etwa zehn bis fünfzehn Sekunden, erhob sich langsam, als dächte er über etwas nach, das ihm nicht einfallen wollte, ging, ohne sich umzusehen, hin zu seinem Wagen und folgte ihm unerschüttert. Das Blut rann ihm aus dem Nacken, klebte im Haar und breitete sich rot über seine Jacke aus.

Die Kinder wurden in die Ecke zwischen der Kirche und der neuen Anlage gedrängt. Die kleinsten sprangen über das Staket, während die größten sie deckten. Sie griffen resolut zu den Revolvern, liefen einige Schritte vor und gaben Feuer. Es knatterte und puffte von beiden Seiten, aber niemand wurde getroffen. Die Kugeln schwappten in den Kalkputz der Mauern des Hotels und der Kirche. Das gab einen Aufenthalt von einigen Sekunden. Die kleinen Jungen waren schon in den Anlagen und liefen aus allen Kräften. Die großen folgten. Sie liefen so inbrünstig zwischen den jungen Bäumen und niederen Büschen. Sie liefen um ihr Leben. Das war's. Von jedem Ende der Straße außerhalb der Anlagen kam eine Bande, um sie abzufangen, wenn sie herauskämen. Aber die Jungen hatten einen, wenn auch nur unbedeutenden Vorsprung. Sie kamen zuerst heraus, nahmen die Straße in ein paar Schritten, liefen die Treppe hinauf zu einem Haus und kletterten von da über den hohen Bretterzaun in die Gärten hinab. Man konnte sie die Knie beugen und springen sehen, einen nach dem andern. Keiner hätte sagen können, wenn er nur dies gesehen hätte, daß etwas Besonderes vor sich gehe. Im selben Nu, als der letzte von ihnen hinuntersprang, stießen die beiden verfolgenden Banden schäumend an der Treppe zusammen. Sie heulten und sprangen wie jagende Hunde, denen die Beute entwischte.

Die Stadt war in Aufruhr. Die Gesetze hatten zu wirken aufgehört. Der Mensch, das gefährliche Tier, war ins Ursprüngliche zurückgefallen, hatte sich unerwartet in zwei bis in den Tod unverträgliche Arten gespalten. Einzeln oder in kleinen Haufen jagte man in der ganzen Stadt nach Studenten und Schulkindern. Faßte man sie, schlug man sie windelweich und ließ sie liegen.

Ein paar kleine Schulmädchen flüchteten schreiend vor einem Haufen halberwachsener Jungen. Sie kamen in einen Hof. Der Hausknecht war ein guter Mensch und schloß das Tor hinter ihnen. Sie saßen den ganzen Tag bei ihm in einem Holzschuppen.

Schon wurden Sterbende und Tote ins Krankenhaus gebracht.

Man roch Blut und süßliche Wunden und wollte mehr haben. Einige Bürger, die aufrührerischer Gesinnungen bezichtigt wurden, fuhren in kopfloser Hast zum »Roten Kreuz« und ließen sich gutwillig und mit heilen Gliedern bei den Schwestern einlegen. Die Droschkenkutscher fuhren mit ihnen mitten auf der Straße, aber die Marodeure wollten kaum vor ihnen zur Seite weichen. Sie liefen vor, um den Pferden in die Zügel zu greifen, brüllten und drohten. Die Flüchtlinge saßen schlapp in den Kaleschen. Die Nerven versagten nach einem halben Jahr beständiger Drohungen mit Mordbrennerei. Nun war es losgebrochen! Das Chaos war da! Flieh, wer fliehen kann! ...

Unten in der alten Stadt führte ein Schulinspektor eine Bande an.

Sie lief drei Gymnasiasten nach. Der Inspektor schwang einen Knüttel, während er mit krummen Knien lief. Die Augen standen ihm tot im Kopf, und sein Atem war heiß. Er war seiner Truppe ein Stück vorauf, so eilig hatte er es. Sie kamen in eine Seitenstraße. Einer der Gymnasiasten blieb stehen und feuerte dreimal, aber der Inspektor hatte keine Zeit, daran zu denken, so fanatisiert war er. Der Gymnasiast blieb mitten auf der Straße mit dem Revolver in der gesenkten Hand stehen. Er hatte keine Mütze auf. Es klopfte ihm in den Schläfen, und das helle Haar hing wirr um den jungen Kopf. Der Verfolger kam ganz dicht an ihn heran, aber sah nichts als etwas Lebendes, das sterben und Blut hergeben konnte. Er hob den Knüttel, um zuzuschlagen, aber im selben Augenblick sah er das Feuer eines Schusses und fühlte einen Schlag auf den Unterleib. Er stand augenblicklich still. Sein Gesicht wurde groß und nachdenklich, als hätte er einen unbestimmbaren Geschmack. Dann gaben seine Knie nach, und er sank senkrecht zur Erde, als hätte er Weiberröcke an ...

Auf der Geschäftsstraße stand die dichtgedrängte Masse in dumpfer Unruhe. Sie war in Bewegung auf der Stelle, war von einer Dünung ergriffen, die sie über derselben Tiefe hob und senkte. Sie stampfte und rollte wie ein vielköpfiges Ungeheuer, das in der Brandung festen Fuß zu fassen suchte. Ein wütender Odem und ein großer, heißer Blick ging von ihr aus.

Ein kleines Häufchen Nachzügler, die ebenfalls nicht über die Maiversammlung unterrichtet waren, hatten das Volkshaus aufgesucht. Sie erhielten vom Pförtner Bescheid und gingen über die Geschäftsstraße.

In dem Augenblick, wo sie sich zeigten, scholl es aus vielen Kehlen:

»Schlagt sie nieder! Schlagt sie tot, das Gewürm!«

Der wogende Haufe faßte festen Fuß, sträubte die Haare und schritt auf tausend Füßen vorwärts. Er knurrte gereizt und stürzte sich auf die zwanzig Sozialisten. Die zogen die Revolver und feuerten. Ein hoher, vierschrötiger Bauer konnte während eines Schusses gerade noch die Hand erheben, um sich zu bekreuzigen – wie stets, wenn es blitzte – wurde aber von einer Kugel in die Stirn gestört. Er breitete die Arme aus, öffnete weit den Mund, sprang ein wenig vor und wippte hintenüber. Der Haufe wich zurück. Unterdrückte Flüche und Stöhnen drangen aus ihm.

Er hatte Wunden erhalten, leckte sie und verschnaufte sich.

Die zwanzig Sozialisten entkamen. Man vermißte sie sogleich.

»Zum Volkshaus! Zum Volkshaus! Dort ist ihre Zuflucht!«

Der Haufe schlug von selbst die rechte Richtung ein, aber gleichzeitig sperrte Adjutant Pyschkin die Straße mit seiner berittenen Polizei. Er tat das in aller Freundschaft, sperrte so, daß die Seitenstraßen offen standen und sprach dem Haufen ermunternd zu.

Der teilte sich in zwei Ströme zu tausend Menschen und floß ein paar Minuten später beim Volkshaus zusammen.

Aber er hielt sich in einem gewissen Abstand, schielte mißtrauisch und drohend.

Pyschkin zog mit seinen Leuten nach. Man machte ihnen willig Platz.

Die Berittenen saßen ab und zogen einen Kreis um das Gebäude.

Kein Leben war darin zu sehen. Die Türen waren mit Vorhängeschlössern von außen geschlossen. Der Pförtner war fortgegangen. Ein junger Bursch zog vorsichtig an der Hintertür, aber die war von innen verhaspelt.

Man zauderte. Keiner wollte anfangen. Auf was sollte man hier schlagen.

Plötzlich stutzte der Haufe. Wie ein Schuß tönte es aus dem Gebäude.

»Da sind die Bomben! Haben wirs nicht gleich gesagt! Ah! die Teufel! Das Gesindel, die Bande! Sie sind drin! Schleppt sie zu uns heraus! Verbrennt sie drinnen!«

»Sie schießen auf uns, Euer Hochwohlgeboren! Sie schießen schon den ganzen Tag! Wir wollen sie herausholen! Wollen sehen, was sie da drin haben? Sie haben Waffen und gotteslästerliche Bücher versteckt! ...«

Pyschkin kaute mit den Kinnbacken und wiegte sich im Sattel. Er versuchte an etwas anderes zu denken.

»Richt euch, Leute!« rief er. »Haltet auf die Fenster! Legt an! ... Feuer!«

Die Büchsen knatterten und die Fensterscheiben klirrten.

Pyschkin sprang aus dem Sattel. Mit ein paar Sprüngen war er am großen Eingang und griff ins Hängeschloß. Er rüttelte zähneknirschend daran.

»Lange hat es mir in den Fingern gejuckt, in dieses Wespennest zu greifen! ...«

Das Signal war gegeben. Ein Dutzend halberwachsene Bursche und »goldene Gardisten« schlugen die letzten Scheiben aus den Fenstern und sprangen ins »Volkshaus« hinein. Sie räumten auf. Ein Wiener Stuhl nach dem anderen flog durch die zersplitterten Fensterkreuze. Die Lehnen wurden abgerissen und mitten durchgebrochen. Aus jedem wurden zwei Knüttel. Der Haufe war im Handumdrehen bewaffnet.

Plötzlich sprang ein junger Mann aus einem Fenster und lief den bewaffneten Reihen entgegen. Er war der erste, der nach einem Stuhl hineingesprungen war, aber sie kannten nicht die ihren wieder. Mitten im Laufen bekam er einen Schlag hinters Ohr. »Hilfe!« rief er klanglos und erhielt noch einen Schlag, daß ihm die Beine versagten. Als er zu Fall gekommen war, deckte er sich mit den Armen, zog sie auf den Kopf nieder und zuckte bei jedem Hieb, den er erhielt. Er erhielt viele. Mit Schaum vor dem Munde droschen sie auf ihn ein. Alle wollten herankommen. Er hatte keine Knochen mehr, als er den Geist aufgab.

Pyschkin und sein Heer sah zu ...

Viele sprangen ins Haus hinein. Nach und nach bekam man Mut dazu. Sie reichten auch Petroleumkannen hinein. Die Bibliothek wurde zerstreut und durcheinandergeworfen. Sie lasen darin mit Nägeln und Zähnen, stapelten die Bücher auf und gossen Petroleum auf die Haufen. Streichhölzer blitzten auf, und es brannte gleich. Der Rauch breitete sich unter der Decke aus. Die Winkel im Hause fingen gleichzeitig an zu schreien und zu schluchzen als lägen sie in Wehen.

Ein junges Mädchen sprang plötzlich aus einem Fenster und lief in den Haufen hinein, wo er am dünnsten war. Ein junger Mann kam einige Schritte hinter ihr. Sie kam hindurch, klammerte sich an die oberste Kante eines Tores und blieb hängen. Sie hing wie ein gespanntes Fell, bis sie einen Schlag in den Nacken bekam, daß sie zur Erde glitt. Unter dem Tor war eine Öffnung. Die sah sie wie das letzte Fünkchen Leben, reckte sich danach, kroch hindurch und entkam.

Der junge Mann, der ihr auf den Fersen folgte – er war übrigens ihr Freund – erhielt auf dem Wege einige Schläge, kam aber auch zum Tor und klomm empor. Aber ihn trafen sie, daß er hintenüberfiel und mit dem Gesicht nach oben liegenblieb. Anfangs sah er sie alle noch über sich, sie schlossen ihm aber bald die Augen. Sie drängten sich so, daß sie schließlich die Knüttel nicht mehr schwingen konnten und mit den Absätzen treten mußten, um ihm den Garaus zu machen. Er wurde zur unförmlichen Masse. Seine Eingeweide lagen flach in ihm, aus dem Hals floß ihr Inhalt und vermischte sich mit dem Blut auf seinem in die Erde getrampelten Gesicht.

Ein aus dem Kriege beurlaubter Soldat drängte sich ruhig durch die Menge, um zu sehen, was vorging. Er trug den rostbraunen Mantel mit den himbeerfarbenen Schulterschnüren flott über die Schultern geworfen.

»Was tut ihr, Brüder,« sagte er, als er sah, was sie vorhatten. »Wozu schlagt ihr die Leute zuschanden? Das sind ja die Unsern!«

Im selben Augenblick erhielt er einen Schlag quer übers Gesicht, daß es ihm schwarz vor den Augen wurde, und die Mütze herunterflog. Er ertrug es, bückte sich wie im Schlaf nach der Mütze, sagte kein Wort und ging seiner Wege, wie er gekommen war ...

Die Ordnungspolizei nahm sich der Leichname an, wenn man fertig mit ihnen war. Droschke über Droschke rollte durch die Stadt. Darin saßen Schutzleute mit toten Blutmännern in den Armen.

Zwei schwere Jungen sprangen aus der Hintertür des brennenden Hauses. Eine Rauchwolke schlug hinter ihnen heraus. Sie liefen auf die andere Seite, den Pöbel über den Haufen und teilten ihn mit den geballten Fäusten. Schläge regneten auf sie. Sie liefen mit großer Zähigkeit Spießruten, bis der erste sich einem Axthieb ergeben mußte. Man schlug sein Gesicht in einen Steinhaufen nieder, bis es nicht länger amüsant war. Der andere sprang auf die Straße über ein Staket hinweg und versteckte sich unter dem Balkon von Frau Posekin. Auf diesem stand sie selbst, sah zu und rang die Hände vor Lust. Nun lebte sie. Der Herr hatte ihr seinen Engel gesandt ...

In diesem Augenblick kam der Gouverneur angerast, daß die Leiber seiner schwarzen Traber fast die Erde berührten. Der Kutscher mußte sie hart anhalten, als er auf den Schwarm zukam. Der Gouverneur sprang heraus. Er war in roter Uniform. Die Bauern, die äußerst im Kreise standen und nur zusahen, machten ihm bereitwillig Platz. Der Pöbel auf der Innenseite wich lässiger zurück. Er kam auf Pyschkin zu und sagte kurz und zornig:

»Warum weisen Sie den Haufen nicht zurück? Sie haben ja Leute genug!«

»Ich lasse mir nichts befehlen,« antwortete Pyschkin herausfordernd. »Die berittene Polizei hat ihre Pflicht getan. Die Verhältnisse haben das mit sich gebracht. Sie waren nicht aufzuhalten. Wir sollen doch wohl nicht auf unsere eigenen Leute schießen?«

»Zurück, Leute!« rief der Gouverneur. »Ich bin hier des Kaisers oberster Befehlshaber!«

»Da ist noch einer! haut ihn!« brüllten die wilden Tiere im Haufen.

Es kam noch einer aus dem Fenster heraus, sie umzingelten ihn, aber er hielt sich aufrecht und eilte gerade auf den Gouverneur zu, der vorsprang und ihn mit seinem eigenen Körper deckte. Das beruhigte, und der Polizeimeister und einige Schutzleute brachten den Geretteten in Sicherheit.

Gleichzeitig wurde der Gouverneur von hinten von etwas Scharfem getroffen. Er hatte die Spitze eines Schustermessers durch die rote Kante der Mütze bekommen. Die Absicht war gut gewesen. Er drehte sich um und maß den Messerstecher, der unverdrossen grienend hinter ihm stand. Dabei blieb es.

Die Feuerwehr rückte an, konnte aber nichts ausrichten. Die Schläuche wurden zerschnitten und die Pferde mit Messern und Nadeln gestochen.

Es sollte Mordbrand sein.

Der Gouverneur versuchte, in das brennende Haus einzudringen, doch er mußte es aufgeben. Das Blut floß ihm über den Kragen. Der Polizeimeister machte ihn darauf aufmerksam.

»In des Kaisers Namen befehle ich euch einzuhalten, und jedem, seiner Wege zu gehen,« rief laut der Verwundete. »Jeder, der hieran teilgenommen hat, wird zur Verantwortung gezogen werden!«

Dann fuhr er fort.

Pyschkin fühlte sich unangenehm berührt. Man sah es ihm an. Der Haufe lichtete sich. Die Bauern zogen sich zurück. Nur der echte Pöbel blieb, alles Pack, das nur vor Feuer, Wasser und Peitsche weicht.

Es entstand eine Pause, und ein kleines Häufchen halb zu Tode gemarterter Menschen wirbelte heraus aus Feuer und Rauch und verkroch sich in einen Hof auf der anderen Seite, wo Posekins Haus lag. Sie krochen alle zusammen ins Hühnerhaus. Der Pöbel war auf dieser Seite gerade dabei, den Mann unter dem Balkon zu steinigen. Er mußte schließlich hervor, aber ein Polizeioffizier deckte ihn.

Das Feuer schlug aus Fenstern und Türen des »Volkshauses« heraus. Es hatte schwer gefangen, aber jetzt hatte sich das Holzwerk der Hitze hingegeben. Die dicken Mauern krachten. Die Eisenträger bogen sich wie Späne. Der Rauch zog in langer, schwarzer Wolke über die Stadt.

So erfaßte doch das Feuer des Antichristen Haus!

Pyschkin übergab einem Unteroffizier das Kommando, auf die Brandstätte achtzugeben, und ging heim mit dem Rapport zum Obersten.

Es war vollbracht!

Aber der Pöbel blieb noch bei seiner Arbeit.

»Wo sind sie geblieben, die entwischt sind?« Man spürte in den Höfen, erkundigte sich ... Nun hatten sie sie!

Die Luke zum Hühnerhaus wurde aufgerissen. Da waren sie!

Einer steckte den Kopf hinein und faßte ein paar Beine. Sie wollten nicht heraus, aber viele Hände zogen daran, und so kam der Körper auch mit. Das Individuum, das sie schleppten, kam rückwärts auf dem Bauche heraus wie ein großer Krebs, und sobald der Kopf aus der Luke war, schlugen sie ihn mit einer Axt breit, ohne hinzusehen, auf wem er saß. Er sagte selbst auch nichts.

Sie zogen einen neuen auf dieselbe Weise heraus, aber er schrie, und die anderen drinnen im Hühnerhaus fingen auch an zu schreien. Als er herauskam, war er still und schüttelte sich im Fieber. Sie stellten ihn auf die Beine. Es war ein Student.

»Knie nieder, du Hund! Knie oder ...« Der mit der Axt schwang sie in der Luft, und ein anderer schlug ihn an die Schienbeine.

Er kniete nieder.

»Bete zum Antichrist! Bete, daß er dir hilft.«

Der Unglückliche bewegte krampfhaft die Lippen, bekam plötzlich eine Idee und sprang auf, traf aber die Axt auf halbem Wege, so daß er nicht weiterkam.

Die nächste war ein junges Weib. Sie kam auch zuerst mit den Beinen heraus und schrie laut und durchdringend. Als sie sie vorkommen sahen, erschlafften ihre Züge. Der mit der Axt warf sie beiseite und faßte eins der nackten Beine.

»Laß los, du Schneider. Laß los, sage ich! Laß mich ran! ...«

Sie vergewaltigten sie auf der Stelle nach der Reihe in natürlicher Ordnung, die Stärksten zuerst.

Plötzlich schrillte eine Polizeipfeife; sie sahen sich scheu um und liefen gebeugt mit langen Schritten davon.

Aber sie brachen in andere Häuser ein, um nach Flüchtlingen zu suchen. Wenn sie keinen fanden, schlugen sie die Einrichtung entzwei. Klaviere, Stühle, Tische, Gläser und Lampen, alles wurde vernichtet. Sie waren wie ein Haufe Höllenausgeburten, nichts wurde geschont, alles war verurteilt. Die Henker aller Zeiten waren in ihnen wiedererstanden.

Nach und nach zogen sie in die Stadt hinauf. Das radikale Blatt wurde gestürmt, die Maschinen entzwei geschlagen, Schrift und Zeitungen über die ganze Straße zerstreut. Der Baum der Erkenntnis wirbelte seine Blätter über die Erde, und der Pöbel trat sie in seiner Trunkenheit unter die Füße.

Viele waren betrunken und fielen ab. Aber der Rest hielt aus.

Sie gingen über den Fluß und belagerten das Haus des Bürgermeisters. Sie schlugen die Fenster ein und brachen auf die Tür los. Der Belagerte stand am Telephon und sprach mit dem Gouverneur: Die Gendarmen weigern sich, einzuschreiten. Pyschkin Pyschkin wurde kurz darauf versetzt und dann von einer fliegenden Kolonne Terroristen erschlagen. sitzt zu Haus und schreibt Rapport. Die Ordnungspolizei ist machtlos. Wo ist die Miliz? Im Lager, um die Maiversammlung zu schützen ...«

Keine Hilfe zu erwarten. Die berittene Polizei hielt hinter ihnen und tat, als wäre nichts geschehen.

Da tauchten plötzlich ein halbes Hundert Gesichter hinter dem Gartenzaun, zur anderen Seite der Straße, auf. Das war die Miliz, die von der Maiversammlung hereinkam.

Ein hochgewachsener Mann in schwarzer Tscherkessenmütze donnerte:

»Zurück, ihr Hunde! Zurück! wir geben Feuer!«

Der Pöbel war eine Sekunde wie gelähmt, wich aber nicht. In diesem Augenblick ging eine Salve über ihn hin.

»Schlagt sie nieder! Vorwärts Brüder! Vorwärts, russische Männer!«

Der Haufe wälzte sich vor gegen den Gartenzaun, aber er wurde von einer neuen Salve mitten auf die Brust getroffen. Ein Dutzend brachen auf der Stelle zusammen. Die übrigen liefen die Gasse hinunter wie gepeitschte Hunde.

Die berittene Polizei war an der Spitze. Man hörte die galoppierenden Pferdehufe auf der großen Holzbrücke über den Fluß dröhnen.

Dann wurde alles still. Der Bluttag war vorbei.

Das »Volkshaus« war zusammengestürzt. Die trotzigen Mauern standen steil um den rauchenden Aschenhaufen. Die Eisenträger ragten wie schwarze, verrenkte Arme heraus.

Die Toten und Sterbenden lagen still und verbunden im Krankenhaus und zu Haus bei den Ärzten. Sie hatten es verhältnismäßig gut. Die Anpassung geht hier im Leben viel schneller vor sich, als die Gesunden mit ganzen Gliedern glauben. Und die Toten sind nicht zu beklagen.

Als endlich die Nacht ihren weißen Schleier über die verwüstete Stadt breitete, herrschte Totenstille überall. Sie war ausgestorben, als hätte sie die Pest unter Lächeln von fleischlosen Lippen in ihr verseuchtes Totentuch gewickelt.

So bleiern war die Stille, daß sich ein ungeheurer Schatten am Himmelsrand erhob und lauschend sich über die Erde beugte.

 

Ende

 


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