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Brief Pierre Lotis an seinen Freund, den Marineoffizier Jean B...
Rochefort, 26. März 1873.
Liebes Brüderchen!
Ich weiß nicht, was aus Dir geworden ist, seitdem wir uns getrennt haben, ich weiß nicht, wo Dich suchen, noch, wohin Dir schreiben.
Nachdem wir letzte Woche im Bahnhof von Juan Abschied voneinander genommen hatten, ging ich traurig zum Golf zurück; es regnete und stürmte, das Wetter war grauenhaft, so recht zum Verzweifeln. Baumstämme waren gebrochen, die Wege dicht bedeckt mit Zweigen und Blüten der Orangenbäume. Ich sah die Leuchtfeuer des Geschwaders, das zur Abfahrt bereit war.
Den ganzen Tag bin ich im Freien herumgeirrt, ratlos, durchnäßt bis auf die Haut. Ich frühstückte Eier und schwarzes Brot bei dem alten Fischer in der seltsamen Hütte am Strande, die Du kennst.
Da kein Schiffer es wagte, mich bei Einbruch der Nacht in seinem Kahn an Bord zu bringen, nahm ich mein Abendbrot oben in einem Gasthof in Vallauris und suchte mir dann ein Nachtlager in Cannes, wobei mir ununterbrochen der Regen auf den Rücken fiel.
Ich erfuhr im Hotel, daß Schwester Christine, in Angst, daß ich ertrunken sein könnte, die Villa verlassen hatte, um Erkundigungen einzuholen.
Erst am nächsten Morgen war es mir möglich, an Bord zurückzugelangen. Ich kam gerade zur rechten Zeit, um von 12 bis 4 Uhr die Wache zu übernehmen, die Segel zu Bannern zu raffen, und das Dampfboot auszubooten.
Als aber um vier Uhr die Bewilligung für mich unterzeichnet war, schied ich abermals, bei plötzlich wundervoll gewordenem Wetter, und verließ ohne jedes Bedauern die Fregatte.La Flore.
Ich ging zum letztenmal nach Vallauris, um dort den Ort wiederzufinden, den wir »die Ecke der Osterinsel« genannt hatten, und jenen andern, an dem unsere Weisen aus Tahiti erklungen sind. Es war ein herrlicher Abend: wie Balsam umfing mich der Duft der Orangenblüten, und ich pflückte riesengroße Sträuße, um sie nach Paris mitzunehmen.
Und so verbrachte ich noch einen ruhigen und glücklichem Moment, in dem ich unseren stolzen Plänen nachsann hier in den Wegen von Vallauris, die wir so oft gemeinsam durchschritten hatten. Unsere sechs Ferienmonate, liebes Brüderchen! So lang haben wir danach geseufzt! Nachdem wir zusammen begonnen haben, die Welt zu durchkreuzen, welch Glück, dich jetzt in Rochefort empfangen zu können!
Ich habe mich noch in der Nacht nach Cannes und Toulon eingeschifft.
Würdest Du glauben, Brüderchen, daß ich mit wirklicher Wehmut aus unserem armseligen Zimmer in Toulon ging, nachdem ich vorher noch eine Skizze der Hauskatze entworfen hatte?
Dieses begab sich am Freitag. Samstag Abend kam ich in Paris an, und seit heute morgen bin ich im Schoß der Familie. –
Vom selben an denselben.
Rochefort, 25. April 1873.
Mein lieber Bruder!
Ich bin eben dabei, in unserem kleinen Museum all unsere Korallen und die Andenken aus Tahiti kunstgerecht zu legen und aufzustellen, damit Du bei Deiner Ankunft alles in Ordnung findest. Solltest Du aber nicht kommen, so denke ich, werde ich nie den Mut finden, dies fortzusetzen und alles liegen lassen.
Meine Schwester ist gestern fort von hier. Das sommerähnliche Wetter, das wir seit einigen Tagen hatten, ist gleichfalls fort: seit heute morgen haben wir wieder Winter, rings ist es nebelgrau und fast kalt. Du weißt wohl, daß solches nicht dazu beiträgt, mich froh zu stimmen und mir die Zukunft in lockenden Farben zu malen.
Und dann, fürchte ich, da ich doch nun Fähnrich bin, Tahiti für immer Lebewohl gesagt zu haben.
Vom selben an denselben.
Cherbourg, 27. Juni 1873.
Lieber Bruder!
Ich schreibe in Deinem Zimmer im »Hotel du Nord«, das ich in einer Stunde traurig verlassen werde, denn noch ist es ganz erfüllt von der Erinnerung an Dich. Die lässige Unordnung, die mit Deiner Gegenwart verknüpft war, ist zwar nicht mehr zu sehen, aber ich habe immer die Reede vor mir, mit Deinem Garten im Vordergrund und der Nymphe in seiner Mitte. Ich hänge an all diesen Dingen um Deinetwillen. Seit Deiner Abreise hatte ich viel zu tun, was letzten Endes ein Glück war, denn so blieb mir nicht viel Zeit, um nachzudenken.
Letzten Samstag hatte ich in Paris direkte Nachrichten aus Tahiti durch V..., den Sohn des Missionars, den ich zufällig getroffen habe.
Alle Europäer, die wir dort gekannt haben, sind längst wieder fort. –
Die kleine Pomare ist gestorben, und das hat das ganze Land in tiefe Trauer versetzt. Die Eingeborenen schnitten ihre Haare ab, die Trauerfeierlichkeiten währten vier Tage, und die ganze indische Bevölkerung der Nachbarinseln war gekommen, ihnen beizuwohnen. Die alte Königin Pomare ließ sich hart am Grabe ihrer Enkelin eine Hütte bauen und schließt sich tagelang dort ein.
Gestern besuchte ich die arme Emma, die ich allein antraf. Sie sang mir den Blätterwalzer vor und halblaut auch jenes Lied von den »Schwarzen Augen«, von dem sie sagt, sie habe es nicht mehr singen wollen, seitdem Du von Cherbourg abgereist bist. Und da uns dadurch diese Epoche unseres Lebens deutlich in den Sinn kam, hat nur wenig dazu gefehlt, daß sie ihr Lied mit Tränen beendet hätte ... Ich weiß nicht recht, was ich von ihr denken soll, doch glaube ich, daß es meine Pflicht ist, mit ihr in freundschaftlicher Verbindung zu bleiben.
Vom selben an denselben.
Rochefort, 5. Juli 1873.
Geliebter Bruder!
Dank Herrn von Ségur, der mir sehr lieb geworden ist, folge ich Dir bald in den Senegal. Ich habe offizielle Ordre, mich auf dem »Petrel« einzuschiffen, und die Höhe meiner Bezüge wird demnächst durch eine zweite Depesche vom Ministerium festgesetzt werden. –
Brief Pierre Lotis an seine Schwester Marie.
Dakar, Sonntag, am 3. Oktober 1873.
Gutes Schwesterchen!
Es ist ein Uhr nach Tisch, und Dakar ist ganz versunken in die Süße der Mittagsruhe.
Ich allein bin wach und schreibe Dir in Erwartung des Paketbootes, das jeden Augenblick eintreffen kann. Übrigens sitze ich auf meinem Balkon, in einem bequemen Fauteuil, und da kein Gegenüber meinen Blick einengt, überschaue ich die ganze Reede, die spiegelglatt vor mir liegt.
Stelle Dir diese Szenerie vor, die mir schon vertraut geworden ist: Im Vordergrund, unbeweglich, der »Petrel«, von Haifischen umschwommen, und dort, am andern Ende der Bucht, so weit das Auge reicht, ausgedehnte Sandwüsten. Die Luft ganz unbewegt, lautlos kreuzen Geier hoch im Blau, fürchterliche Hitze und vollkommene Stille ...
All das hat wohl seinen Reiz, aber all das wirkt auch traurig, und die Aussicht, zwei Jahre vor diesen nämlichen Dingen verbringen zu müssen, ist zuweilen schmerzlich. –
Es war schön in Saintonge als Du mir schriebst; vielleicht habt ihr heute wieder einen jener milden Oktobersonntage mit bleichem Sonnenlicht, jenen gleich, die mir in so viel lieben Kindheitserinnerungen unvergeßlich sind.
Hier in Dakar welken die Blätter und beginnen zu fallen, aber der Winter ist die schönste Zeit im Senegal, und im November, wenn die große Hitze vorüber ist, machen wir wieder unsere jährlichen Streifzüge durch die südlichen Gewässer.
Ich lebe faul und unbrauchbar in den Tag hinein. Ich habe noch nichts gezeichnet, trotzdem ich hier genügend Modelle fände. Der Stadtteil der Weißen in Dakar ist kaum so groß als das Dorf Fontbruant; außerhalb dieser Zone ist alles fremdartig und reizt das Malerauge. In der schwarzen Stadt weiß man nicht wohin. Ich werde mich bis zur schönen Jahreszeit gedulden, und dann bin ich auch genötigt, auf die Farben zu warten, die ich bei euch bestellt habe, weil hier keine zu bekommen sind.
Heute morgen kam mir die »Illustration« vor Augen und ich kann gar nicht sagen, wie enttäuscht ich war. Nur ein verstümmelter Teil meines Artikels ist darin, mit zwei meiner schlechtesten Zeichnungen, die obendrein unglaublich schlecht reproduziert sind. Das wirkt entmutigend.
An Bord des »Petrel«.
Dakar, Oktober 1873.
Heute, am 28. Oktober, haben zwei Marineleutnants von unserer Infanterie und ich bei einem gemeinsamen Kameraden diniert, einem Unterleutnant im Schützenkorps.
Die Negerinnen Celina und Suzanne servierten bei Tisch und tanzten in den Zwischenpausen.
Es war im wahrsten Sinne des Wortes eine gewählte Gesellschaft, und man findet nicht leicht vier verschiedenere Personen von ähnlicher Sympathie füreinander. Und dennoch gab es wohl kaum jemals ein Gelage, das trauriger, unter trüberen Gesprächen verlief.
Unser Gastgeber, der Unterleutnant im Schützenkorps, war ein junger Prinz, der mit zwanzig Jahren am österreichischen Hof ruiniert worden war. Von den beiden anderen Offizieren war einer aus dürftigem Hause, ein einstiger Matrose, der aus eigener Kraft mit zweiunddreißig Jahren Leutnant geworden war, der andere ein aalglatter Pariser.
Das Haus unseres Gastfreundes stand einsam im Norden des schwarzen Stadtteils nahe der Moschee. Seine Terrasse ragte in die Ebene hinaus und glänzte über das Meer. Nach dem Diner zeichnete ich in das Album des Prinzen seinen Affen, seine Negerinnen und schließlich auch ihn selbst.
Eigentümliche Straßenbelustigungen beschlossen diesen Abend. Die gelungenste davon war, vor der Türe des Gouverneurs ein lautes nächtliches Hundegebell zu improvisieren.
Um Mitternacht riefen wir auf dem verödeten Kai laut zum »Petrel« hinüber.
An Bord des »Petrel«.
An der Mündung von Mellacoree, Guinea, November 1873.
An einem herrlich tropischen Abend gehen wir in Benty ans Land, und man führt uns sofort zu Miß Mary Parker.
Miß Mary, die Königin des Ortes, befindet sich in einer strohgedeckten Hütte, in der sich die verschiedensten Dinge angehäuft finden, die alle zum Verkauf aufgestapelt sind – übrigens der einzige Laden in der Gegend.
Miß Mary, die etwa zwanzig Jahre zählt, ist aus Sierra Leone gebürtig, und, ich gestehe es, sie ist ein sehr gelungenes Exemplar jener Negerrassen, die dort die Engländer in Kleidung und Gehaben imitieren. Miß Mary ist schwarz und hat welliges Haar. Sie ist ein pikantes Gemisch von exotischer Miß und Affenweibchen: ein komisches Geschöpf, aber sie hat Geist und sogar Charme.
Der Flecken Benty am Eingang des Flusses Melitacorée besteht nur aus wenigen Indianerhütten und aus einem einzigen weißen Haus, um das herum viel Blumen blühen. Das Ganze ist in Tropenwälder eingebettet. Und nach Senegambiens öden Sandflächen wäre es hier gut zu leben. Doch wird man gleich beim Landen von unerklärlichem Unbehagen befallen, die Hitze wirkt entkräftigend, und Fieberdünste liegen in der Luft.
Die Tage vergehen für uns mit Streifungen und Jagdzügen, erfüllt von Müdigkeit und wechselndem Erleben, und jeden Abend ist Gesellschaft im Warenlager von Miß Mary. Es weht durch diesen Raum eine unbeschreiblich drückende Hitze und ein aromatischer Duft sui generis.
Miß Mary empfängt mit englischem Zeremoniell, das an jedem anderen Ort unerträglich wäre, das aber hier erheiternd wirkt, in der weltfernen Hütte der jungen Negerin.
Sie benützt übrigens diese Abende, um uns eine Unzahl von Dingen zu verkaufen und kredenzt uns Ströme lauwarmen Wassers, die sie mit einem Absud aus bitteren Kräutern vermischt.
In Guineas Wälder dringt man auf kaum gebahnten Wegen ein, wo reichlich Schlangen hausen ... Nirgends ein Sichwohlfühlen, niemals ein frisches Lüftchen auf diesen engen Pfaden. Ob morgens, abends oder nachts, – immer die gleiche feuchte Stickluft, man fühlt, wie ungesund der Duft all dieser Pflanzen ist, und wie mit jedem Atemzug das Fieber in den Körper dringt ...
Die größere Hälfte das Bodens besteht aus völlig unzugänglichen Sümpfen, die ungezählte Sumpfblüten an ihrer Oberfläche und im Innern Herde tödlichen Giftes tragen.
Dies Land bleibt wohl für alle Zeiten verdammter Grund ohne jede Zivilisation, und Europäer werden wohl nur als Flüchtlinge ihren Fuß hierher setzen, um hier ihr Glück zu versuchen, koste es auch Gesundheit und Leben ...
Als unser Abschied von Mellacorée herannaht, verfällt Miß Mary in einen Zustand höchster Aufregung, sie kann nicht schnell genug alles verpacken, was sie uns verkauft hat, und die Menge der Pakete verwirrt sie. Unsere Einkäufe waren Zöpfe und Halsketten aus Beeren, deren herber, durchdringender Duft charakteristisch ist für die Küste von Guinea. Besonders viel kauften wir jedoch von den kleinen ebereschenähnlichen Früchten, die hier im Überfluß gedeihen und die einer der Lieblingsleckerbissen der Senegalneger sind.
In ihrer Geschäftigkeit verliert Miß Mary ihr Haarnetz, und ihr kurzes Krepphaar steht in steifen Zöpfchen wie eine Unzahl Fühler von ihrem Kopf weg. Das wirkt ungeheuer komisch.
Nichts Damenhaftes ist mehr an ihr zu erblicken, das Affenweibchen hat die Oberhand. Doch ist sie drollig und gutmütig dabei, daß man sie fast noch reizend finden könnte. Vor unserer Abreise bittet sie uns, ihr aus St. Louis, dem Ziel unserer nächsten Reise, einen Hut mit rosenroten Blüten mitzubringen, bei dessen Wahl sie das beste Vertrauen zu unserem guten Geschmack hat.
An Bord des »Petrel«.
An der Mündung der Minez (Guinea), November 1873.
Hafandi ist ein Dorf, das aus runden Hütten besteht, die von spitzen Dächern gekrönt und von fremdartigen Ornamenten überragt werden, auf welchen für gewöhnlich riesenhafte Geier Rast halten. Einige ungeheuere, blätterlose Bäume strecken über den Siedlungen ihre grauen entblößten Umrisse gen Himmel, unnatürlich in ihrer Struktur und ohne jede Proportion zu allem, was sie umgibt.
Rings um das Dorf breitet sich eine Ebene voller hoher dürrer Gräser, und überall am Horizont grüßen tropische Wälder in tiefem Grün, mit zur Erde geneigten Palmen, die wie mächtige Farnkräuter aussehen, buschigen Bäumen, Schlingpflanzen, und da und dort aus dem Gewirr hervorschnellenden, schmalen hohen Palmenbäumen, die wie Säulen emporstreben.
Wir sind hierhergekommen, um mit Babou Manguil zu unterhandeln, dem Oberhaupt des Ortes, und man führt uns dorthin, wo eine kleine Festung steht, von einer Mauer mit Schießscharten umgeben. Der Machthaber ist übrigens schon von unserer Ankunft verständigt worden und hat uns einen sozusagen offiziellen Empfang bereitet.
Wir sehen die schwarze Menge bereits um seine Tür geschart, und Babou Manguil in eigener Person schreitet uns entgegen.
Das Fest, das uns zu Ehren stattfindet, beginnt mit Chorgesängen. Diese begleitet der Lärm des Tam-Tam und der einer Art Strohfiedel, deren Klänge einigen Flaschenkürbissen entquellen, die über den Saiten angebracht sind. Die Tasten dieses Instrumentes ergeben richtige Töne in der Reihenfolge der Negertonleiter und von angenehmer Klangfarbe.
Dann naht ein Trupp winziger Kinder von drei bis vier Jahren, alle gleich rotbraun, alle gleich rund und mit glänzender Haut. Sie vollführen beim Klang des Tam-Tam einen komplizierten Charaktertanz, mit einstudierten Bewegungen und mit dem Ernst erwachsener Menschen. –
Nach beendigtem Empfang müssen wir uns mit Babou Manguil über unsere Einkäufe unterhalten, die aus den feingeflochtenen Matten dieses Landes bestehen sollen, die wir in gutem Silbergeld bezahlen müssen.
Die Besprechung dieses Handels währt lang, doch sie vollzieht sich in voller Höflichkeit. Auch Frauen reden mit, und das Publikum ist ganz Ohr. Nach kaum einer halben Stunde ist der Preis um die Hälfte gefallen und das Geschäft ist abgeschlossen.
An Bord des »Petrel«.
Dakar, Dezember 1873.
Eines Morgens fuhren wir in einem Kahn, der von acht Schwarzen gerudert wurde, nach Dakar N'Bango. Eine komische Idee, in solcher Gegend Landpartien zu machen! Mit uns fuhren drei Französinnen aus Dakar.
In der Höhe von Pop N'Kior verlassen wir die gelben Gewässer des breiten Flusses und durchkreuzen das Labyrinth der Meerarme des Senegal.
Dakar N'Bango liegt tief eingebettet in ungesundes Sumpfland. Es steht eine verlassene Hütte dort, und ihren Schlüssel hat man uns anvertraut, damit wir uns für heute dort einrichten. Spärliche Lorbeerbäume rings im Kreis. Aber diese Hütte ist mitten in einem Wald gelegen, dessen Boden, wie nirgends sonst im Senegal, aus Felsgestein besteht.
Den ganzen Tag verbringen wir hier. Am Abend durchstreifen wir den Wald. Herbstlich glänzt der Himmel, und die Sonne geht hinter stillen rosigen Wolken zur Ruh. Es ist fast wie ein schöner Oktobertag im französischen Land.
Auf schönem alten Grund, den dürre Gräser decken, verstreute Baumgruppen, deren Laub das Rot und Gold der Jahreszeit trägt, und man muß sehr genau hinsehen, um zu bemerken, daß es exotische Bäume sind. In den Teichen wächst hohes Schilfrohr gleich dem in unserem Land ... Es sieht ganz so aus, wie in einem Wald nahe von Rochefort ...
Die Damen, die uns begleiten, haben, obwohl kreolischen Blutes, lange blonde Locken, sie tragen kleine Krepphüte und lange schwarze Kleider.
Die Nacht sinkt nieder, und je weiter wir vorwärtsschreiten, um so täuschender und seltsamer wird das an Frankreich gemahnende Bild. Ein altes Landhaus taucht auf, und mich wundert nicht, daß es, wie einst La Limoise (Das Landhaus, in dem P. L. die Ferien seiner Kinderjahre verlebt hat), in ländlicher Stille vor uns liegt.
Ein altes Mädchen in grauem Kleid mit leicht mulattenhaftem Typus empfängt uns. Sie läßt uns im Garten Platz nehmen, unter Blumen und Pflanzen, die sterben, wie in unserm Herbst daheim. Ich wähne mich in der Geißblattlaube der Limoise, die ich kannte, als ich ein Knabe war ...
Ein alter Herr kommt, man nennt ihm meinen Namen, und er scheint ergriffen. Er sagt mir, daß er der Kindheitsfreund meines Vaters gewesen ist, er berichtet mir von ihrer gemeinsam verlebten Jugend, von einer Komödie, die sie beide vereint geschrieben haben ... Dann, als er von den Mädchenjahren meiner Mutter spricht, glänzen Tränen in seinen Augen ...
Da muß ich urplötzlich der seltsamen Geschichte meines Gastfreundes gedenken, die mir vor langer Zeit von einer meiner Tanten erzählt worden ist. Eine Geschichte aus der Zeit, die die Brautzeit meiner Eltern war.
In dieser Zeit, um 1830, war der alte Herr ein junger Schiffsarzt. Er lebte in Rochefort, ganz nahe von meinem Vater. Sie waren beide unzertrennlich und besuchten häufig ihre Nachbarn, die Eltern meiner Mutter, die damals noch ein junges Mädchen war. Meine Mutter war schön, und der junge Doktor verliebte sich leidenschaftlich in sie. Doch als er sich entschloß, um ihre Hand anzuhalten, erfuhr er, daß diese Hand schon lange meinem Vater versprochen war ...
Der Arme hat sich nie getröstet. Eilig hat er Rochefort verlassen und sich hier ansässig gemacht, mitten in dieser Einöde, wo, wohl durch besonderes Zufallsspiel, meine Gegenwart nun all seine Erinnerungen wieder lebendig macht.
Nun verstehe ich, warum ich soeben, als ich ankam, den Eindruck hatte, einen altbekannten Ort wiederzusehen. Denn ehe noch die Verzweiflung kam, die seinen Aufenthalt beenden sollte, war der alte Kolonist häufiger Gast in La Limoise gewesen. Der unendliche Reiz dieses alten Hauses von Saintonge mag ihn bestrickt haben und ist ihm wohl unwillkürlich beim Bau seiner Einsiedelei Leitstern gewesen.
In seinem Garten, wo die Blumen des Landes blühen, pflegt er treulich den Weinstock und mehrere Pflanzen der französischen Erde.
Im letzten Tagesglühen, als es gilt, nach Dakar zurückzufahren, erwartet unser Boot uns knapp vor des Doktors Haus. Und vor dem Einsteigen pflücke ich noch Binsen, und sie gemahnen mich an jene in Roche-Courbon.
Während der Rückfahrt, im Mondenschein über dem stillen Wasser, muß ich an die Jugend des alten Arztes denken. Sie liegt noch nicht sehr weit zurück und doch scheint ihre Zeit ganz fremd und unbegreiflich, so sehr unterscheidet sie sich von der unseren. Die Zeit der Romantik war es, in der um einer unglücklichen Liebe willen oft ein ganzes Leben in Stücke brach. Heute fällt es uns schwer, solche Gefühle zu verstehen, ja wir lachen sogar ein wenig darüber, denn wir sind zu skeptisch und zu blasiert ...
Knapp vor Pop N'Kior springt ein mächtiger Fisch plötzlich einer unserer Freundinnen ins Gesicht, gibt ihr eine furchtbare Ohrfeige und fällt ins Boot zurück. Dieser tragikomische Zwischenfall entreißt mich meinen Träumen.
An Bord des »Petrel«.
Dezember 1873.
In diesem Moment entdecke ich, daß wir mitten in der Weihnachtsnacht sind. Bei unserem Seemannshandwerk ist es nicht ganz leicht, Monate und Tage auseinanderzuhalten.
Aber diese Weihnacht kann mich nicht tiefer ergreifen. Kein Vergleich zwischen ihr und den schönen frostig-klaren heiligen Nächten der Heimat. Die Luft ist lau, der Himmel bewölkt, aber ein wenig Mondsichel ist trotzdem zu sehen. Der »Petrel« nähert sich mit vollen Segeln dem Kap Verd, und die reisenden Negerinnen auf Deck sind jede mit ihrem Schurz bekleidet.
Durchsichtige Finsternis lagert über dem stillen Meer, heiße Feuchtigkeit dringt in die Lungen, gemischt mit dem exotischen Duft, der den Negerinnen eigen ist ...
... Ich erinnere mich, daß ich vor einem Jahr zur gleichen Stunde Mutter und Tante Claire zur Kirche von Rochefort begleitete. Wir wollten dort den Weihnachtsbaum betrachten in Erinnerung an meine Kinderzeit. Und plötzlich hörte ich die stillen Straßen entlang ein singendes Rufen wie in alter Zeit: »Frische Kuchen, noch ganz warm!« So lebte sie also noch, die Kuchenfrau, die mir schon uralt erschienen war zur Zeit frühester Jugendtage. O wie trug da dies unveränderte Lied all mein Denken weit, weit zurück! Es schien, als erwachten mit ihm alle Winterabende im Kinderland, im warmen Zimmer rund um den Kamin ...
Morgen werden wir zu Dakar erwachen. Dort harren unser unsere Hütten, breite Landflächen und blattlose Riesenbäume, auf denen Geier nisten ...
Dakar, Januar 1874.
Eben bin ich an einem Ort, den wir des Abends öfter aufsuchen. Ich schreibe auf einem bestimmten Tisch des Parkes von Dakar.
Einst wurde dieser Garten, der gleich einer Oase im sandigen Land liegt, von Missionaren angelegt. Es ist ein weiter Park voller häßlicher Tiere, in dem man, wenn nicht gerade uns, niemandem begegnet; doch er grenzt ans Meer und hat Alleen schöner Bäume, die im Sommer voller Blüten stehen. Es ist auch der einzige Winkel im Land, der Schatten und Kühle spendet. Die Bäume sprießen hier mit Windeseile, und Geier spazieren in Rudeln einher, als wären es Truthühner.
An etlichen Orten wurden Kokospalmen gepflanzt, Lorbeerbäume und der hohe rotblühende Hibiscus, der mich an Tahiti erinnert ... Den Sommer über mußte ich so von Tahiti träumen ...
Doch jetzt haben wir Winter, den brennenden Winter der Tropen, und alles ist kahl.
Mein kunstloser Tisch, von Larven und weißen Ameisen unterwühlt, steckt tief in einem hohen Gestrüpp von langen Bambusstauden mit leichtem Laub und den zarten bodenständigen Palmen, die lange stachelige Blätter tragen. Weder Moos noch Gras auf dieser ausgetrockneten Erde, auf die die hellen Schatten vom Bambus und Palmen fallen ...
Nun ist die Sonne zur Ruhe gegangen, die Nacht sinkt nieder, und meine Gedanken schweifen ins Trübe ...
In weiter Ferne ruft das Tam-Tam die Neger zur Bamboula ...
Kalter Winterwind erhebt sich und schüttelt von den Bäumen über meinem Haupt tote Blätter auf mich herab. Es ist kalt und bald vollständig Nacht ...
An Bord des »Petrel«.
Dakar, Januar 1874.
Wo sind sie hin, die ersten Monate meines Aufenthaltes im Senegal, wo alles mir neu erschien und ich noch Vergnügen fand an weiten Spaziergängen unter sengender Sonne auf sandigen Wegen, in die mein Fuß bei jedem Schritt versank!
Von solchen Wanderungen kam ich in sternenhellen, durchsichtigen Nächten heim, beim betäubenden Konzert der Grillen und Heupferdchen, die Luft war vom glühenden Hauch des Sommers geschwängert, und Glühwürmchen flogen durch die Bambushecken wie tausend leuchtende Funken.
Auf dem Kai erwarteten mich die Neger Samba Fall und Damba Taco und geleiteten mich an Bord. Und auf der Flut bezeichnete eine phosphoreszierende Bahn den Weg, den wir genommen hatten.
Bei Tisch wurde dann nichts gegessen, aber Gefrorenes und Eislimonade standen uneingeschränkt zur Verfügung.
Jetzt haben wir Winter; kein Laub mehr, kein Regen mehr, kein Gewitter mehr, kein Blatt mehr und kein Wassertropfen, vollständige Dürre sechs Monate lang.
Die drückenden Tage der Winterszeit sind mir fast die lieberen. Vielleicht hat das Wetter mich heute ermüdet, doch mich dünkt, das alles sich entfärbt. Das ganze Land wird blaß und langweilt mich –
An Bord des »Petrel«.
Dakar, Februar 1874.
Mahomed Diop, der König von Dakar, ist soeben gestorben. Lange Zeit schon war er ein Todgeweihter. Doch dieser sechs Fuß hohe Greis hatte sich eine seltsame und sehr natürliche Majestät zu bewahren gewußt, und selbst der Gouverneur hatte große Rücksichten für seine Person.
Tatsache ist, daß er wirklich imposant wirkte, dieser König, der einer alten schwarzen Mumie glich. Seine eingeschrumpften Züge hatten noch viel von ihrer früheren Regelmäßigkeit, und sein schon erloschener Blick war noch immer eigensinnig und verschlossen. Wohl war er wie geschaffen zum Haupt dieses öden Landes, in dem die Sonne alles ausdorrt, als wollte sie allem ewige Dauer verleihen.
Mahomed Diop trug eine Art phrygischer Mütze und, gleich den Weisen des Altertums, lange und weite Gewänder. Er war, wohlverstanden, immer grau in grau gekleidet. An seinem Halse hingen eine Menge sonderbarer Dinge: Hörner von Giraffen und Gazellen, sonstige Teile verschiedener Tiere und mehrere Ledersäckchen, die auf kleine Pergamentrollen geschriebene Koran-Verse enthielten. All diese Amulette, denen Zeit und Hitze ihren Stempel aufgedrückt hatten, schienen ebenso alt zu sein als der alte Diop.
Die königliche Hütte bestand, gleich der sämtlicher Untertanen, nur aus vier Balken, die von einer mächtigen Strohkuppel überwölbt waren; Flaschenkürbisse schmückten dies Ganze mit ihren gelben Blättern. Im Innern hing ein Überfluß von Schilden, wild anmutenden Waffen und Fetischen an den Strohwänden, wo hellblaue Eidechsen mit orangefarbenen Köpfen vertrauensselig spazieren liefen.
Zu Beginn meines Weilens im Senegal erbat ich vom König die Erlaubnis, sein Bild malen zu dürfen; er erteilte sie freudig und saß mir, umgeben von seinen alten Favoritinnen und seinen Enkelkindern.
An Bord des »Petrel«.
März 1874.
Wie originell war doch unser großes Haus in Dakar, das ich so sorglich verschönert hatte. Wir hatten uns so sehr daran gewöhnt, ja wir hatten uns selbst an Mademoiselle Marie-Félicité gewöhnt, die alte Mulattin, bei der wir zur Miete waren.
Dieses Haus war durch eine Scheidewand in halber Höhe des Gebäudes in zwei Hälften geteilt. Der bescheidene rückwärtige Teil hatte Gartenaussicht und enthielt unsere Ruhebetten. Die Wände bestanden aus kalkgetünchten Balken, die von der Sonne gedörrt waren. Überall liefen blaue Eidechsen umher, auch gab es große flache Spinnen, die mir tiefen Abscheu einflößten.
Der vordere Teil des Hauses war prunkvoll, hatte eine Veranda in die öde Straße hinaus und war vollständig mit weißen Matten ausgekleidet, was ungemein luxuriös wirkte. Die Tür im Hintergrund war von grauen Lanzen eingerahmt und von einer langen schreiend bunten Draperie verhüllt. Es gab hier orientalische Sofas, Rüstungen aus Gazellenhorn und Schlachtschwerter. Es war auch eines Flußpferdes Hirnschale da und eine Giraffenhaut, die wir aus Podor mitgebracht hatten.
In diesem Raum stand mein Klavier, auf das ich ungeheuer stolz war. Es war ein Instrument, das ich durch Zufall bei Franzosen in der Stadt erstanden hatte. Es stammte von der Yacht Kaiser Napoleon III., und ehe es hier im Senegal gestrandet war, hatte es viele Meere durchfahren. Erst schien mir sein Preis zu hoch für meine Fähnrichsbörse, doch kaum hatte ich meine Hand auf die Tasten gelegt, als ich, hingerissen von der Herrlichkeit des Klanges, nicht umhin konnte, es zu kaufen. Sein Ton klang tief, sehr süß und wie aus weiter Ferne, was mich unendlich anzog, wenn die Melancholie Macht über mich gewann in diesem einsamen Hause.
Ich entsinne mich, daß ich, als ich einst abends allein im Zimmer war, versuchte, nach dem Gehör eine traurige Negerweise zu spielen, als ich plötzlich hinter mir ein leises Rascheln vernahm, wie wenn etwas Glattes und Schweres vorsichtig über die Matten geschleift würde. Ein instinktiver Schreck ließ mich heftig den Kopf wenden, und so sah ich noch, wie eine riesige Natter in einem Loch des Fußbodens verschwand.
Meine Musik hatte die Schlange herbeigezogen, und in Zukunft gelang es mir noch oft, sie herauszulocken. Dazu mußte es absolut still im Raum sein und ich mußte lange, ohne Unterbrechung, klagende, schrille Melodien spielen.
Unter der Gartenveranda stand eine alte Bank im Schutze zweier hoher Lorbeerbäume, und in ihren Kronen nisteten grüne Kolibris, die mit ihren süßen Stimmen leise sangen, wenn alles in Erschlaffung lag.
Ich hatte diese Bank zu meinem Ruheplatz erkoren, und rings um mich war in der tiefen Stille nur der ewige Gesang der Grillen. Von Zeit zu Zeit drang auch das Lied irgendeiner Nubierin zu mir: Traurige, durchdringende Laute, die sich gut in den exotischen Rahmen von Sonne und Sand hineinfügten.
Was hatten wir für Kindereien in Szene gesetzt, um uns bei dieser alten Marie-Félicité ein Interieur so recht im Stil des Landes zu schaffen! Wir umgaben uns mit exotischen Tieren, wie alle Kolonisten tun, die etwas auf sich halten, und die Hauptsache dünkte uns, uns einen Marabu zu verschaffen.
Beim ersten Sehen findet man den Vogel nicht eigentlich dekorativ. Doch nach längerem Verweilen im Senegal kommt man zu dem Schluß, daß dieses altgeheiligte Tier, das traurig und mit gesammelter Andacht in die Welt schaut, recht eigentlich in dies seltsame, unveränderliche und trostlose Land gehört. –
Der Marabu war unter unserem Dache froh und glücklich. Er sah in uns vertrauenswürdige Freunde, die ihn nicht quälten, wie junge Offiziere oft mit seinesgleichen tun, denen sie alle möglichen bösen Streichen spielen, um sich am heiteren Anblick der gekränkten Würde zu ergötzen.
Er wußte sogar, daß er uns Ehrfurcht einflößte, der große, heilige Vogel. Er sah wohl ein wenig lächerlich aus, mit seinem kahlen Haupt, das stets vorgeneigt war, als sei er tiefem Brüten hingegeben, und den schwarzen Flügeln, die an seinen Seiten herabhängen wie Ärmel an den Schauben der Scholaren. Gemessen schritt er dahin. Das Alltäglichste verrichtete er mit der Gebärde eines zelebrierenden Priesters, und sogar seine Gefräßigkeit trug er mit Salbung zur Schau. –
Und so sehr wir ihn auch mit Fleisch und Fischen nährten, so verschwanden doch die absonderlichsten Dinge ebenso in seinem weißen Bauch, wozu er vernehmlich mit dem stumpfen Schnabel schnalzte.
Für gewöhnlich ließen wir ihn gewähren, und wir erlaubten uns eine Einmischung nur in seinem Interesse, wenn er etwas ganz Unverdauliches verschlungen hatte, zum Beispiel einen Kupferleuchter mit einer Kerze, was sein Lieblingsgericht war. Er hatte dann einen besorgten Blick, sein Schnabel öffnete sich, die Atmung wurde keuchend, und er widerstrebte nicht, sich einer kleinen, ganz zarten Operation zu unterziehen. Einer von uns ergriff den Vogel bei den Beinen und ließ seinen Kopf zur Erde baumeln, der andere aber schlug ihn mit einem Stock so lange ins Genick, bis der im Schlund steckende Gegenstand zur Erde fiel. Ließen wir dann los, so war der Marabu sofort wieder ganz Würde und Majestät.
Unsere andere Errungenschaft war ein wunderschöner Papagei. Er war ein zahmes, träges Tier, das uns sofort zu erobern verstand. Näherte man den Finger, um sein grünes Köpfchen zu krauen, so neigte er sofort den Hals, und sein schönes rundes schwarzes Auge blickte uns freundlich von der Seite an.
Ach, seines Weilens bei uns war nur kurze Zeit, denn nur zu bald fiel er dem Heißhunger des Marabus zum Opfer.
Es hatte den Anschein gehabt, als ob unsere beiden Vögel sich glänzend miteinander vertrügen, und oft begleitete der Marabu mit einer Geschäftigkeit, als sei er sein großer Bruder und Beschützer, den Papagei über die Gartenwege. Nie hätten wir einen solchen Ausgang erwartet.
Eines Tages war der große kahlköpfige Vogel besonders lieb und nett zu seinem Genossen. Er wippte auf seinen breiten Füßen vor ihm auf und nieder, als könne er unmöglich die ganze Größe seiner Liebe ausdrücken, und wir sahen ergriffen auf dieses rührende Schauspiel. Doch plötzlich, ehe wir noch zuspringen konnten, öffnete sich der große Schnabel des Marabu und schloß sich wieder mit seinem gewohnten an trockenes Holz gemahnenden Knacken über dem kleinen Papagei ... Es ist unnötig zu sagen, daß wir das scheußlich falsche Tier sofort an den Beinen in der Luft baumeln ließen, und daß die Schläge, die ich ihm aufs Genick versetzte, diesmal nicht eigentlich mild zu nennen waren. Bald war der arme Papagei wieder sichtbar. Sein Herz schlug noch, aber all seine kleinen Knochen waren zermalmt, und wir konnten ihn nicht retten.
Der Marabu mußte in der Folge für sein Verbrechen Buße tun, denn an Stelle des Papageis hielten wir jetzt einen Affen, wie er verschlagener kaum gedacht werden kann.
Als er den Ankömmling erblickte, wußte der große Vogel, daß es nun mit seiner unumschränkten Gewalt im Hause zu Ende sei. Und so zog er sich mit großem Pomp auf einen Baum unseres Gartens zurück.
Und unser Heim verlor während der Ausruhstunden seine gewohnte eintönige Stille. Statt zu schlafen, mußten wir ohne Unterlaß zwischen unseren Tieren Frieden stiften. Unzweifelhaft hatte der Affe immer unrecht, denn stets war er es, der den Streit begann. Kaum sah er, wie sich nach dem Mahl die alten grauen Lider des Marabus im Schlummer schlossen, so schlich er auch schon auf leisen Sohlen heran und riß ihm plötzlich einige seiner schwarzen Schwanzfedern aus.
Der Affe erhielt dann einen kräftigen Schnabelhieb und flüchtete oft mit blutigem Scheitel. Aber die schönen Federn hatten für ihn eine so unwiderstehliche Anziehungskraft, daß er nicht umhin konnte, das Spiel stets von neuem zu beginnen.
So trieben sie es durch einige Monate. Der Marabu verfiel schließlich in eine Art herzzerreißender Resignation, sein eingeschrumpfter Kopf sank noch tiefer in seinen weißen Federkragen, sein Gefieder wurde glanzlos und mitleiderregend. Er verließ seine Stange nur mehr des Nachts, wenn sein Feind im Schlummer lag.
Senegal, April 1874.
Unsere neuen Freunde, die Touaregs, hatten uns endgültig in ihre Schar aufgenommen, und in ihrer Gesellschaft durchstreiften wir tagsüber unendliche Wüsteneien.
Der glühende Wind, der heftig durch die Dünen strich, überschüttete uns mit Sand. Wir wanderten durch eine Wolke von strahlendem Gold. Unsere toll gewordenen Kamele schlotterten noch mehr als sonst, steiften ihre langen Hälse und kamen nur unregelmäßig vorwärts.
Überall gab es Sand: In unseren Augen, in den Falten unserer Kleider wie im Fell unserer Tiere.
Wir müssen einen eigenartigen Anblick geboten haben mitten in dieser Landschaft. Jeder von uns im weiten dunklen Burnus, der im Winde flog, das Antlitz gebräunt von der afrikanischen Sonne, teilweise vom Schleier verhüllt, wie es die Sitte der Touaregs gebietet. Tatsache ist, daß wir nur schwer von unseren Gefährten zu unterscheiden waren.
Als spät abends unsere Karawane vor dem Dorf Touroukambé vorüberzog, kamen die Neger herbei, die in den Touaregs heilige Männer verehren. Sie säumten unseren Weg mit ehrfürchtig erschreckten Mienen, küßten unsere Hände und baten uns um Amulette. –
An Bord des »Espadon«.
Senegal, Mai 1874.
Am 2. Mai habe ich den »Petrel« verlassen. Man bemannte die Ehrenbarke für mich, wie es Brauch ist, wenn ein Offizier scheidet. Von vier Fähnrichen begleitet, brachte sie mich an Bord des »Archimède«, der mich wiederum nach Dakar führen sollte, zu meinem neuen Schiff, dem »Espadon«. Der »Archimède« war ein alter Kasten der afrikanischen Küste, den man eilig wieder instandgesetzt hatte, nachdem er einige Jahre lang in den Gewässern des Senegal eingesumpft gewesen war. An diesem Tage war er von Passagieren beiderlei Geschlechtes überfüllt, – viel arme Frauen gab es da, die ihren Gatten in die Kolonien gefolgt waren und nun krank nach Frankreich zurückkehrten. Und wie gewöhnlich vor der Abfahrt gab es ein großes Getümmel von Besuchern und Abschiednehmenden.
Um fünf Uhr nachmittags lichteten wir die Anker. Die Sonne sank, und wir fuhren rasch den gelben Fluß stromabwärts. Im Vorbeifahren grüßten mich zum letztenmal meine Freunde vom »Petrel«, und das Herz tat mir weh, sie alle verlassen zu müssen. Dann wich hinter mir Saint-Louis, die öde weiße Stadt inmitten dürftiger gelber Palmen und gelbem Sand, immer mehr zurück. Und meinem Blick entschwand dieser Winkel Afrikas, wo ich so heiß geliebt, so schwer gelitten hatte. (P. L. hat einen großen Teil seiner Aufzeichnungen aus dieser Zeit vernichtet.)
Hart war die Nacht zur See auf dem alten Schiff, – nichts zu essen, großes Getöse. Ich war wie zerschlagen infolge der vielen aufregenden Ereignisse, die sich in wenigen Tagen in meinem Leben gefolgt waren.
Am 26. Mai um ein Uhr ankerte der »Archimède« in der Bucht von Dakar, die ich voll Herzensfreude wiedersah.
An Bord des »Espadon« fand ich einige gute Freunde wieder. Das Schiff hingegen war mir nicht sympathisch. Es war der vollendete Typus der alten Schiffe aus dem Senegal. Von der Decke seiner Kajüten baumelten eine Menge getrockneter und ausgestopfter durchweg alberner Tiere nieder, lauter Andenken an viele Reisen nach Galam. Für mich war die Ruhe an Bord niederdrückend nach den vielen schweren Erregungen der letzten Tage in Saint-Louis.
Der Anblick des für mich bestimmten Zimmers war nicht gerade erfreulich, besonders wenn ich an das Zimmer des »Petrel« dachte, das ich eben verlassen hatte. Es war ein großer, alter kahler Raum. Der Fußboden war von Alter und Hitze auseinandergetrieben und ein Tummelplatz ganzer Krabbenfamilien geworden. An meinem Bett öffnete sich eine breite Stückpforte, zwei Finger von der grünen Flut entfernt, und während der langweiligen Siestastunden sah ich, wie Fische und Haifische sich draußen überschlugen und sah Negerknaben in ihren Piroguen vorüber gleiten.
In den Phasen des Lebens, in welchen das Herz in heißer Leidenschaft glüht, graben sich die geringsten Kleinigkeiten ganz merkwürdig in den Sinn, und die Zeit, die alles verweht, läßt nur die Erinnerung bestehen.
So wird jenes große Zimmer auf dem »Espadon« mir lang noch gegenwärtig bleiben. –
An Bord des »Espadon«.
Dakar, 20. Juni 1874.
Mein erster Weg in Dakar war ein Besuch bei der alten Mulattin Marie-Félicité, bei der wir, während der Zeit auf dem »Petrel« eine Wohnung gemietet hatten.
Nun hatte sie das große Haus wieder in Besitz genommen und sich mit all ihren Negerinnen und all ihren Fetzen darin eingerichtet. Doch teilte sie mir mit, daß sie den Gartenpavillon für mich reserviert hätte. Dieser Pavillon hatte ungefähr die Größe einer Schiffskabine. Und er enthielt neben einem sehr reinlichen Feldbett ein schmales Negerlager aus Bambusmatten, für Ruhestunden gedacht. Ich fand auch den Flußpferdschädel und die Giraffenhaut wieder, die ich einst aus Podor hierher gebracht hatte.
Dieser letzte in Dakar verbrachte Monat war eine der verstörtesten Epochen meines Lebens. Die, die ich liebe, ist nach Frankreich zurückgekehrt, und mein Herz ist erfüllt von Liebe, Gewissensbissen und Widersprüchen.
Mein Schiffsdienst nimmt mich wenig in Anspruch, und ich verbringe die Zeit, indem ich all unsere früheren Spaziergänge wiederhole und auf sandigen Pfaden die rauhe Wildnis des Cap-Verd durchwandere.
Am Abend durchstreife ich die dunklen Dörfer und trage, den Indern gleich, einen langen weißen Burnus.
Juni ist's. Die Zeit der großen Gewitter naht, die Atmosphäre füllt sich mit den Düften des tropischen Frühlings und überall an den Stechapfelsträuchern öffnen sich breite weiße Blütenkelche.
Mein Pavillon steht inmitten von Lorbeerbäumen und den blühenden Akazien der Tropen. Und ihre Düfte wiegen mich nachts in schweren Schlaf mit seltsamen Träumen.
Dakar, Juli 1874.
Heute nacht habe ich mich sehr gefürchtet in dem alleinstehenden Pavillon, der ganz am Ende von der alten Mulattin Garten liegt.
Es war Bamboula bei den leprakranken Frauen, und ich hörte von weither ihren Lärm und Gesang.
Ich lag zu Bett, ich war sogar im Begriff einzuschlummern, als ich inne ward, daß der Lärm immer näherkam ... Eine ungewisse Furcht hielt mich nun wach, und diese Furcht nahm in dem Maße zu, als Trommelwirbel und wüster Stimmenklang deutlicher zu vernehmen waren ...
Als die Bande nur mehr zwei Schritte entfernt war, erinnerte ich mich plötzlich mit Entsetzen, daß meine Tür und meine Fenster weit offen geblieben waren. Doch blieb mir keine Zeit, denn schon erreichten die spukhaften Tänzerinnen meine Schwelle, und ich mußte den Hexensabbat miterleben.
Beim hellen Schein des Mondes sah ich einige Sekunden lang aussätzig aufgedunsene Leiber sich inbrünstig hin und her bewegen, sah Handstümpfe, von furchtbaren weißen Krusten bedeckt, und Gesichter ohne Nasen und Lippen grinsten mich aus unmittelbarer Nähe mit gespensterhafter Heiterkeit an, als äfften mich böse Träume ...
Dann zogen die Aussätzigen mit Sang und Schall weiter, und ich war befreit. Doch lange noch umwehte es mich wie Leichenduft, und alles rings um mich schien mir beschmutzt zu sein ...
Dakar, Juli 1874.
Gestern bin ich hierher gekommen, an den Fuß des großen Baumes hier mitten in den Dünen, von wo aus ich die Abfahrt des »Petrel« verfolgte, der meinen lieben Bruder Jean nach Saint-Louis brachte.
Dieser hohe Baum mitten in den Dünen ist ein alter Freund, – von drei Jahren und länger her. Als der »Vaudreuil« im Jahr 1871 im Senegal verankert lag, war dies das Ziel all unserer Ausflüge geworden. Wir hatten das einsame schattige Stückchen Land stillschweigend zu eigen genommen.
Und dann, als Afrikas Küste mehr und mehr zurückwich, konnten unsere Blicke sich nicht von ihm wenden ... Wir fuhren damals in die Gewässer der Südsee, froheren Mutes als heute und jünger an Jahren. Damals war alles neu und fremd für unsere Phantasie. Die Sonne schien uns lichter zu sein und die Tropennatur noch schöner. Wir kamen des Morgens an den Fuß dieses Baumes, und zu dieser frühen Zeit wimmelte es hier von blauen Eidechsen, Vöglein und Insekten.
Ich entsinne mich auch noch eines gewissen eigentümlichen Tieres, das in der Nähe hauste und uns vielfach beunruhigte. Doch trotzdem wir oft auf der Lauer im Hinterhalt lagen, gelang es uns nie, seiner habhaft zu werden.
Wir waren alle noch Kinder in unserer Begeisterungsfähigkeit für Reisen und Abenteuer, und das geheimnisvolle Zentral-Afrika versetzte uns manchmal in das Land der Träume, wenn wir in des hohen Baumes Schatten, das Auge dem Innern des Landes zugekehrt, den weiten Wüstenhorizont mit den Blicken absuchten.
Aber es ist weniger die Erinnerung an dich, die mich hier äfft, mein lieber Bruder, als der Gedanke an sie, die du nicht kennst ... An dieser Stelle ist es auch gewesen, daß ich dem schnellen Schiff nachblickte, auf dem meine Liebste nach Frankreich fuhr. An jenem Tag bog wilder Sturm über meinem Haupt den Riesenbaum, der heulte und stöhnte, und zu meinen Füßen hob er ungeheuere schäumende Wogen ins Meer hinaus, auf dem ihr Schiff davonfloh.
Das war in der mittäglichen Erschlaffungszeit. Die Sonne sengte meine Stirn und grub sich glühend in meine Schultern, doch ich fühlte nichts davon, denn mein Sinn war weit, weit in der Ferne ...
Heute abend komme ich zum letztenmal hierher, denn ich verlasse dieses Land.
Dieser Abend, er dünkt mich die verkörperte Traurigkeit der Dämmerstunden, mitten in trostloser Einsamkeit ...
Vor mir ragt die hohe Masse des dunklen Baumes, und tiefe Dunkelheit steigt aus jeder Falte der Sandhügel empor, und rankt sich um die steifen Stämme der Affenbrotbäume, die fern verschwommen auf den Gipfeln stehen. Mit der Dunkelheit zugleich erwachen die ungesunden Dünste der Nacht, der weiße Stechapfel sendet den schweren Duft aus, der mir so sonderbar zu Kopfe steigt ... Die Luft wird drückend wie in einer schwülen Stube, in der zu viele Blumen zu lange Zeit eingesperrt gewesen sind. –
Bald wird der riesengroße Mond, nur unscharf umrissen, aus den Nebeln steigen und dann beginnt ganz nahe, im Friedhof von Dghioloff das Nachtkonzert der wilden Tiere.
Die Zeit vermag nichts in einem so trostlosen Land. Seit zehn Jahrhunderten steht bereits der alte Baum in den Dünen und in abermals zehn Jahrhunderten wird sich seine mächtige Krone vielleicht ein wenig mehr ausgebreitet haben. Aber diese unverrückbare Wüste ist mir jetzt gleichgültig, denn all mein Denken gehört nur unserer Liebe, Geliebte. Wir, deren Dasein nur nach Jahren zählt, wohin wird das nächste Jahrzehnt uns verschlagen?
Vielleicht gelingt es uns, der flüchtigen Zeit noch einige Stunden zu stehlen, nur einige flüchtige Liebesstunden, ehe es ans Sterben geht ... Noch einige Jahre und wir sind nicht mehr ... Doch hier im fernen Afrika blüht der Stechapfel weiter mit all seinem betäubenden Duft, und so wie sonst hebt auch dann der hohe Baum in den Dünen sein finsteres Haupt aus den Abendstunden hervor ...