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Als ich nach meinen ersten zehn Tagen in der Zwangsjacke mit Hilfe Dr. Jacksons, der mir ein Augenlid hob, wieder zum Bewußtsein gebracht wurde, schlug ich beide Augen auf und lächelte Direktor Warden Atherton gerade ins Gesicht.
»Zu bösartig, um zu leben, und zu gemein, um zu sterben«, bemerkte er.
»Die zehn Tage sind herum, Direktor«, flüsterte ich.
»Das sind sie, und jetzt binden wir dich auch los«, knurrte er.
»Das meine ich nicht«, sagte ich. »Sie waren so freundlich, mein Lächeln zu bemerken. Sie erinnern sich wohl unserer kleinen Wette? Sie brauchen sich nicht erst die Mühe zu geben, mich loszubinden. Geben Sie den Durham und das Zigarettenpapier Morrell und Oppenheimer, und dann will ich Ihnen als Zugabe noch ein Lächeln schenken.«
»Oh, ich kenne deinesgleichen gut, Standing«; belehrte mich der Direktor, »aber du hast nichts davon. Wenn ich nicht mit dir fertig werde, so kommt es daher, daß du alle bisherigen Zwangsjackenrekorde geschlagen hast.«
»Er hat wirklich einen Rekord aufgestellt«, sagte Dr. Jackson. »Wer hat je gehört, daß ein Mann nach zehn Tagen lächelte?«
»Humbug«, antwortete der Direktor, »bind ihn los, Hutchins.«
»Warum solche Eile?« flüsterte ich, denn so tief war die Lebenskraft in mir gesunken, daß ich alle Kraft, die ich besaß, sammeln mußte, um nur flüstern zu können. »Eilt es sehr? Ich soll ja nicht mit dem Zuge abreisen, und es geht mir so verflucht gut, daß ich nicht gern gestört werden möchte.«
Aber sie banden mich doch los – rollten mich als ein hilfloses, unbewegliches Ding aus der schmutzigen Jacke auf den Fußboden.
»Kein Wunder, daß er sich gut befunden hat«, sagte Inspektor Jamie. »Er hat überhaupt nichts gefühlt, er ist ganz gelähmt.«
»Sie sind selbst gelähmt«, spottete der Direktor. »Stellt ihn. nur auf die Beine, dann werdet ihr sehen, wie er stehen kann.«
Hutchins und der Doktor stellten mich auf die Füße. Selbstverständlich konnte das Leben nicht plötzlich in den Körper zurückkehren, der tatsächlich zehn Tage lang tot gewesen war, und das Ergebnis war denn, daß ich, da ich ja keine Gewalt über meinen Körper hatte, in den Knien zusammenbrach, seitwärts umsank und mit der Stirn gegen die Steinwand schlug.
»Da sehen Sie!« sagte der Inspektor.
»Komödie«, antwortete der Direktor. »Er ist zu allem imstande, der Bursche!«
»Da haben Sie recht, Direktor«, flüsterte ich auf dem Fußboden. »Ich tat es absichtlich, es war nur Komödie! Stellen Sie mich wieder auf, und ich werde es wiederholen. Ich werde es sehr komisch machen.«
Ich will nicht bei dem unsagbaren Schmerz des beginnenden Blutkreislaufs verweilen. Der sollte ja zu einer alten Geschichte für mich werden, und er hat seinen Anteil an den Furchen, die mein Gesicht kreuzen, und die ich mit mir aufs Schafott nehmen werde.
Als sie mich schließlich verließen, lag ich für den Rest des Tages in halber Bewußtlosigkeit da. Es gibt so etwas wie eine Anästhesie des Schmerzes, erzeugt von einem Schmerz, der zu furchtbar ist, um ihn ertragen zu können. Und diese Unempfindlichkeit habe ich kennengelernt.
Gegen Abend war ich imstande, in meine Zelle zu kriechen, aber stehen konnte ich noch nicht. Ich trank eine Menge Wasser und säuberte mich, so gut ich konnte. Aber erst am nächsten Tage gelang es mir, zu essen, und auch da nur mit äußerster Willensanspannung.
Das Programm, das der Direktor mir vorschrieb, lautete auf einige Tage Ruhe und Krafterneuerung, und dann – wenn ich unterdessen nicht gestanden hatte, wo das Dynamit versteckt war – sollte ich wieder auf zehn Tage in die Zwangsjacke.
»Es tut mir leid, daß ich Ihnen soviel Mühe mache, Direktor«, sagte ich. »Es ist eine Schande, daß ich nicht in der Zwangsjacke sterben und Sie dadurch von mir befreien kann.«
Ich zweifle, daß ich damals auch nur eine Unze über neunzig Pfund wog. Und doch hatte ich zwei Jahre zuvor, als sich die Tore von San Quentin zum ersten Male hinter mir schlossen, hundertsechzig Pfund gewogen. Es klingt unglaublich, daß ich auch nur eine Unze entbehren können und doch leben sollte. Aber in den folgenden Monaten schwand ich Unze für Unze dahin, bis ich noch weniger als neunzig Pfund wog. Ich weiß – ich erfuhr es, nachdem ich eine Gelegenheit wahrgenommen hatte, aus meiner Zelle zu entschlüpfen und Wärter Thurston auf die Nase zu schlagen –, daß ich neunundachtzig Pfund wog, ehe sie mich nach San Rafael brachten, um mich abzuurteilen.
Manche können nicht verstehen, wie Männer hart werden können. Direktor Atherton war ein harter Mann. Er machte auch mich hart, und meine Härte wirkte wieder auf ihn zurück und machte ihn noch härter. Und doch konnte er mich nicht totschlagen. Dazu brauchte er das Strafgesetz Kaliforniens. Einen Richter von echtem Henkertyp und einen Gouverneur, der nicht wußte, was Begnadigung heißt. Alles das brauchte er, um mich aufs Schafott zu schicken, weil ich einen Gefängnisbeamten mit meiner Hand geschlagen hatte. Der Beamte muß eine Nase gehabt haben, die besonders leicht aufsprang und blutete. Ich war damals nur ein halbblindes, zitterndes Skelett. Ich fragte mich, ob es wirklich wahr sein könnte, daß seine Nase aufsprang und blutete. Selbstverständlich beschwor er seine Aussage. Aber ich habe manchen Gefängnisbeamten gekannt, der größere Lügen als diese beschwor.
Ed Morrell war ganz versessen darauf, zu erfahren, ob das Experiment mir geglückt war, als er aber mit mir zu sprechen versuchte, wurde er von Smith, dem Beamten, der gerade die Wache bei den Einzelzellen hatte, daran gehindert.
»Alles in Ordnung, Ed«, klopfte ich ihm zu. »Du und Jack seid nur still, dann werde ich euch alles erzählen. Smith kann euch nicht hindern, zuzuhören, und mich auch nicht hindern, zu reden. Sie haben mit mir ja gemacht, was sie konnten, und ich bin doch noch hier.«
»Halt das Maul, Standing«, wiederholte Smith draußen im Korridor.
Smith war weitaus der schlimmste, grausamste und rachgierigste von allen Wärtern. Wir pflegten darüber zu diskutieren, ob seine Frau ihn zu Hause tyrannisierte, oder ob er ein chronisches Magenleiden hätte.
Ich klopfte weiter mit den Knöcheln, und er kam an die Luke in meiner Tür, um mich zornig anzuschauen.
»Ich sagte, daß du aufhören sollst damit«, fauchte er.
»Es tut mir leid«, antwortete ich höflich, »aber ich habe das Gefühl, daß ich weiterklopfen werde. – Und – ja, verzeihen Sie, wenn ich Ihnen eine persönliche Frage stelle – was gedenken Sie dann zu tun?«
»Ich werde ...« er begann heftig, aber durch seine Unfähigkeit, den Satz zu vollenden, bewies er seine Ohnmacht.
,;Nun«, ermunterte ich ihn, »was werden Sie tun?«
»Ich werde den Direktor holen«, sagte er wütend.
»Ach ja, tun Sie das! Das ist ein außerordentlich liebenswürdiger Herr. Ein strahlendes Muster des kulturellen Einflusses, der sich in unsern Gefängnissen geltend macht. Lassen Sie ihn mir kommen. Ich möchte Sie gern bei ihm anzeigen.«
»Mich?«
»Eben«,, fuhr ich fort, »Sie belieben in brutaler und ungebildeter Weise meine Unterhaltung mit anderen Gästen dieses Hotels zu unterbrechen.«
Und der Direktor kam. Die Tür war nicht abgeschlossen, und er kam zu mir hereingerast. Aber ich war außer Reichweite, er hatte ja getan, was er konnte.
»Ich entziehe dir deine Ration«, drohte er.
»Bitte«, antwortete ich, »das bin ich gewohnt. Ich habe zehn Tage lang nichts bekommen, und ich versichere Ihnen, daß es gar nicht angenehm ist, wieder mit Essen anfangen zu sollen.«
»Ah, du drohst mir? Vielleicht ein Hungerstreik?«
»Verzeihung« – meine Stimme war von einer unheimlichen Höflichkeit –, »den Vorschlag haben Sie gemacht, nicht ich. Versuchen Sie doch einmal logisch zu sein! Ich hoffe, Sie werden mir glauben, wenn ich sage, daß Ihr Mangel an Logik mir viel peinlicher ist, als alle Ihre Torturen.«
»Gedenkst du mit dem Klopfen aufzuhören?«
»Sie müssen schon entschuldigen, daß ich verneinend antworte – ich habe einen unwiderstehlichen Drang, mit den Knöcheln zu reden ...«
»Paß auf, daß ich dir nicht wieder die Zwangsjacke anziehe«, unterbrach er mich.
»Mit Vergnügen! Die Zwangsjacke ist mein Steckenpferd. Ich liebe sie, ich werde direkt dick davon. Sehen Sie nur meinen Arm.« Ich krempelte meine Ärmel auf und zeigte, indem ich den Arm beugte, eine Muskel, die so dünn und elend war, daß sie einer Bogensehne glich. »Der reine Schmiedebizeps. Sehen Sie nur meine schwellende Brust! Damit übertrumpfe ich selbst Sandow! Und mein Bauch – es ist schlimm, daß ich so dick werde, es ist direkt ein skandalöses Beispiel von Überernährung im Gefängnis. Passen Sie nur auf, Direktor – die Steuerzahler kommen Ihnen noch auf den Hals.«
»Willst du mit dem Klopfen aufhören?« wiederholte er.
»Nein, und vielen Dank, weil Sie so besorgt um meine Gesundheit sind. Durch reifliche Überlegung bin ich zu dem Ergebnis gelangt, daß ich weiter klopfen werde.«
Einen Augenblick starrte er mich sprachlos an, dann wandte er sich, um zu gehen. So ohnmächtig fühlte er sich.
»Ach, entschuldigen Sie, nur eine Frage.«
»Was?« fragte er, ohne sich umzudrehen.
»Was gedenken Sie nun zu tun?«
Wenn ich an seinen Wutausbruch bei dieser Gelegenheit denke, ist es mir bis heute ein Rätsel, daß er nicht längst einen Schlag gekriegt hat.
Als er gegangen war, klopfte ich, Stunde auf Stunde, alles was ich erlebt hatte. Erst am Abend, als Puddingfratzen-Jones die Wache bezog und sein gewöhnliches Nickerchen machte, waren Morrell und Oppenheimer imstande, etwas zu sagen; »Tabaksträume« war Oppenheimers Auffassung. Jawohl, dachte ich, unsere Erfahrungen geben wirklich den Stoff für unsere Träume ab.
Aber Morrell, der dieselbe Reise wie ich, wenn auch mit einem anderen Ergebnis gemacht hatte, glaubte mir. Er sagte, daß er, als sein Körper in der Zwangsjacke starb und er selbst sich außerhalb des Gefängnisses befand, doch nie ein anderer als Ed Morrell gewesen war. Er hatte nie andere Existenzen gefühlt. Wenn sein Geist frei umherwanderte, so wanderte er stets in der Gegenwart. Wie er seinen Körper verlassen und ihn in der Zwangsjacke auf dem Fußboden liegen sehen konnte, so konnte er auch alles sehen, was in San Franzisko vorging.
Auf diese Weise hatte er zweimal seine Mutter besucht und sie beide Male schlafend angetroffen. Bei dieser geistigen Wanderung hatte er keine Gewalt über materielle Dinge. Er konnte keine Tür öffnen oder schließen, keinen Gegenstand verrücken, weder Lärm machen, noch seine Anwesenheit verraten. Andererseits hatten materielle Dinge keine Macht über ihn. Wände und Türen waren kein Hindernis für ihn. Das Wesen, oder was er sonst sein mochte, war Gedanke oder Geist.
»Der Kaufmannsladen an der Ecke, ein paar Häuser von der Wohnung meiner Mutter, hat den Eigentümer gewechselt«, erzählte er uns, »das sah ich an dem neuen Schild über der Tür. Ich mußte damals sechs Monate warten, ehe ich meiner Mutter schreiben durfte. Als ich sie dann aber danach fragte, erwies es sich als richtig.«
»Hast du das Schild gelesen?« fragte Oppenheimer.
»Selbstverständlich«, lautete Morrells Antwort.
»Wie hätte ich es sonst wissen sollen.«
»Schön, und kannst du uns beweisen, daß es stimmt«, antwortete Oppenheimer, der Ungläubige.
»Wenn eines schönen Tages ein ordentlicher Wärter bei uns Wache hat, der uns mal in eine Zeitung gucken läßt, dann kannst du es ja so arrangieren, daß du in die Zwangsjacke kommst und aus deinem geehrten Körper herauskletterst. Wie ein kleiner Blitz fährst du dann nach dem alten Frisko und zwischen zwei und drei Uhr morgens, wenn sie dort die Zeitung drucken, in die Redaktion. Dann liest du die letzten Neuigkeiten, kommst, ehe die Zeitungen erscheinen, wieder nach San Quentin und erzählst uns, was wir später im Blatt lesen. Wenn es dann stimmt, – schön, dann bin ich überzeugt.« Das war eine gute Probe, darin war ich mit Oppenheimer einig. Morrell sagte, er wollte es gelegentlich versuchen, aber er verließe seinen Körper nicht gern und wollte den Versuch daher erst machen, wenn ihm die Zwangsjacke unerträglich geworden wäre.
»Ja, so geht es immer – sie legen nie die Beweise auf den Tisch«, kritisierte Oppenheimer. »Meine Mutter war Spiritistin. Als ich klein war, sah sie immer Geister, sprach mit ihnen und holte sich Rat bei ihnen. Aber sie hatte nie Nutzen davon. Die Geister konnten ihr nicht sagen, wo Vater eine gute Stellung oder Goldminen finden könnte, oder welche Nummer er in der Lotterie spielen sollte. Nein, sie erzählten ihr nur, daß Vaters Onkel Rheumatismus hatte, oder daß Urgroßvater an galoppierender Schwindsucht gestorben wäre, oder daß wir vor Ablauf von vier Monaten umziehen müßten, was leicht zu prophezeien war, da wir durchschnittlich sechsmal im Jahr umzogen.«
Ich glaube, wenn Oppenheimer eine gute Erziehung genossen hätte, wäre er ein zweiter Marinetti oder Haeckel geworden. Er war in seiner Leidenschaft für die unerschütterlichen Tatsachen an die Erde gebunden, und seine Logik war bewundernswert, wenn auch kalt. »Zeig es mir zuerst« war das Grundprinzip, wonach er alles betrachtete. Glaube war ihm ein unbekannter Begriff. Und das war es, was Morrell nachgewiesen hatte. Oppenheimers Unfähigkeit, zu glauben, hatte ihn gehindert, in der Zwangsjacke zu »sterben«.
Wie ihr, die ihr dieses lest, seht, war nicht alles hoffnungslos unmöglich in den Einzelzellen. Bei drei Köpfen, wie die unsern es waren, gab es vieles, womit wir uns die Zeit vertreiben konnten. Vielleicht haben wir uns gegenseitig vom Wahnsinn abgehalten, wenn ich auch einräumen muß, daß Oppenheimer, ehe Morrell kam, allein fünf Jahre lang in der Einzelzelle lag und doch geistig gesund geblieben war. Andererseits glaubt nicht, daß das Leben in der Zelle eine wilde Orgie von heiterem Beisammensein und belebenden psychologischen Forschungen war.
Wir erduldeten schreckliche Qualen. Unsere Wärter waren Tiere – deine Henker, Bürger! Unsere Umgebung war Elend. Unsere Nahrung war schmutzig, einförmig, ohne Nährwert. Wir hatten keine Bücher zu lesen. Selbst unsere Klopfrede war eine Verletzung des Reglements. Für uns existierte die Welt tatsächlich nicht. Sie war für uns mehr eine Geisterwelt. Oppenheimer hatte zum Beispiel nie ein Automobil oder ein Motorrad gesehen. Gelegentlich sickerten Neuigkeiten zu uns herein, aber seltsame, verspätete, unwirkliche Neuigkeiten. Oppenheimer erzählte mir, daß er von dem russisch-japanischen Krieg erst zwei Jahre nach seiner Beendigung gehört hatte.
Wir waren lebend begraben, die lebenden Leichname. Die Einzelzelle war unser Grab, wo wir hin und wieder mit Hilfe unserer Knöchel miteinander sprachen, wie die Geister, die bei einer spiritistischen Séance klopfen.
Wenn Direktor Atherton an mich denkt, wird er sich nicht gerade stolz fühlen. Ich habe ihn gelehrt, was Geist ist, ich habe ihn mit meinem eigenen Geist gedemütigt, der sich unverletzbar und triumphierend hoch über alle Foltern erhob. Ich sitze hier in Folsom am Mördergang und warte auf meine Hinrichtung. Er befindet sich immer noch in seiner Stellung, ist König über San Quentin und alle Verdammten hinter den Mauern – und doch weiß er in seinem Herzen, daß ich größer bin als er.
Vergebens versuchte er, meinen Geist zu unterjochen. Es gab Zeiten, da er gern gesehen hätte, wenn ich in der Zwangsjacke gestorben wäre. Die lange Inquisition ging also weiter; wie er mir gesagt hatte und immer noch sagte, hieß es: Dynamit oder Zwangsjacke.
Inspektor Jamie war in allen Zuchthausschrecken bewandert, und doch brach er schließlich unter der Hochspannung zusammen, in der ich ihn und die anderen Henkersknechte hielt. So desperat wurde er, daß er sich erkühnte, dem Direktor zu widersprechen, und seine Hände, was mich betraf, in Unschuld wusch. Von dem Tage an bis zum Ende meiner Foltern setzte er seinen Fuß nicht mehr in die Einzelzelle.
Ja, und es kam eine Zeit, da der Direktor ängstlich wurde, wenn er auch in seinen Versuchen nicht aufhörte, das Versteck des nicht existierenden Dynamits aus mir herauszubekommen. Am Ende wurde er von Jake Oppenheimer schwer erschüttert. Oppenheimer kannte keine Furcht, er sagte, was er wollte. Ohne gebrochen zu werden, hatte er alle ihre Gefängnishöllen durchgemacht. Morrell erzählte mir alles. Ich selbst lag damals in der Zwangsjacke, ohne etwas zu wissen.
»Direktor«, hatte Oppenheimer gesagt, »Ihre Augen sind größer gewesen als Ihr Magen! Es handelt sich nicht darum, Standing totzuschlagen, es gilt drei Mann totzuschlagen! Denn so sicher, wie Sie ihn totschlagen, werden Morrell oder ich die Geschichte ans Licht bringen, und was Sie getan haben, soll über ganz Kalifornien von einem Ende zum anderen bekannt werden. Jetzt haben Sie die Wahl. Entweder müssen Sie Standing in Frieden lassen oder uns alle drei totschlagen. Sie sind ein gemeiner Feigling und haben nicht Rückgrat genug, die dreckige Schlachterarbeit zu verrichten, wie Sie gern möchten.«
Oppenheimer kam selbst hundert Stunden in die Zwangsjacke, und als er losgebunden wurde, spie er dem Direktor ins Gesicht, wofür er wieder hundert Stunden bekam. Als er das zweitemal losgebunden wurde, war der Direktor klug genug, draußen zu bleiben. Aber daß Oppenheimers Worte ihn erschüttert hatten, ist zweifellos.
Der Erzfeind jedoch war Dr. Jackson. Für ihn war ich ein interessantes Experiment, und er war ganz versessen darauf, festzustellen, wieviel ich zu ertragen imstande war, ehe ich zusammenbrach.
»Er kann es gut zwanzig Tage lang hintereinander machen«, versicherte er dem Direktor in meiner Gegenwart.
»Sie sind konservativ«, unterbrach ich ihn, »ich kann es vierzig Tage machen. Pah, hundert sogar, wenn Menschen von Ihrem Kaliber die Sache in die Hand nehmen. Ihr Zuchthausgötter, ihr habt ja keine Ahnung, was ein Mann ist. Ihr glaubt, ein Mann sei in eurem elenden, feigen Bild geschaffen. Seht mich an – ich bin ein Mann! Ihr seid Schwächlinge, ich bin euch überlegen. Ihr könnt nicht einen Seufzer aus mir herauspressen. Das findet ihr selbst merkwürdig, weil ihr wißt, wie leicht man euch zum Winseln bringen kann.«
Oh, ich verspottete sie, nannte sie Söhne von Kröten, Aufwäscher in der Hölle, schleimige Stinktiere und noch vieles andere. Denn ich fühlte mich außerhalb ihrer Reichweite. Sie waren Sklaven, während ich ein freier Geist war. Nur über mein Fleisch waren sie Herr. Ich hatte mein Fleisch kasteit, unterjocht, gemeistert, mir gehörte die Fülle der Zeit, während mein elender Leib, sogar ohne zu leben, tot in der Zwangsjacke lag.
Viele meiner Abenteuer klopfte ich meinen Kameraden zu. Morrell glaubte sie, denn er hatte ja selbst »das kleine Sterben« kennengelernt. Ober Oppenheimer blieb bis zum letzten Augenblick Skeptiker. Sein Bedauern, daß ich mein Leben der Landwirtschaftsökonomie gewidmet hatte, statt Romanschriftsteller zu werden, war naiv und zuweilen direkt rührend.
»Unsinn«, klopfte er, »hör auf das, was ein alter Onkel sagt. Ich bin Jake Oppenheimer, und ich bin stets Jake Oppenheimer gewesen. In mir steckt kein anderer. Was ich weiß, habe ich als Jake Oppenheimer erfahren.«
Die Ausschaltung der Lebensfunktionen ist nichts Neues. Nicht allein in der Pflanzenwelt und den tieferen Formen des Tierlebens, sondern auch in dem höchstentwickelten, komplizierten Organismus des Menschen. Eine kataleptische Trance ist nun einmal eine kataleptische Trance, wie sie auch erzeugt wird. Seit undenkbaren Zeiten sind die indischen Fakire imstande gewesen, sich willkürlich selbst in einen solchen Zustand zu versetzen. Es ist ein alter Trick dieser Fakire, sich lebendig begraben zu lassen. Andere Menschen in ähnlicher Trance haben Laien auf falsche Fährten geführt, so daß sie für tot erklärt und lebendig begraben wurden. Als meine Zwangsjackenerlebnisse in San Quentin weitergingen, beschäftigte ich mich ein ganz Teil mit dem Problem von dieser Ausschaltung der Lebensfunktionen. Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, daß die Bauern im äußersten Norden von Sibirien einen Winterschlaf halten wie Bären und andere wilde Tiere. Irgendein Wissenschaftler studierte diese Bauern und fand, daß Atem und Verdauung in diesen langen Schlafperioden praktisch aufhörten, und daß das Herz so leise schlug, daß ein Laie es nicht mehr fühlte.
In einer solchen Trance sind die Körperprozesse der vollständigen Aufhebung so nahe, daß die Luft und die Nahrung, die konsumiert werden, praktisch bedeutungslos sind.
Auf diesem Gedankengang waren meine Herausforderungen an Direktor Atherton und Dr. Jackson teilweise aufgebaut. Daher wagte ich es, sie herauszufordern, mir hundert Tage Zwangsjacke zu geben. Aber sie wagten es nicht, meine Herausforderung anzunehmen.
Nichtsdestoweniger überstand ich meine zehn Tage ohne Wasser oder Nahrung. Es war mir unerträglich, mitten in meinen Träumen durch Raum und Zeit von einem infamen Gefängnisarzt, der mir Wasser einzuflößen versuchte, in die traurige Gegenwart zurückgebracht zu werden. Ich teilte Dr. Jackson deshalb mit, daß ich gedächte, ohne Wasser fertig zu werden, solange ich in der Zwangsjacke sei, und daß ich mich allen Versuchen, mich zum Trinken zu zwingen, widersetzen würde.
Selbstverständlich gab das Anlaß zu einem kleinen Kampf zwischen uns, aber Dr. Jackson mußte nachgeben. Nach diesem Siege betrug der Zeitraum von Darrell Standings Leben, das in der Zwangsjacke verbracht wurde, nur einige wenige Sekunden. Sobald ich eingeschnürt war, richtete ich meine Gedanken und meine Energie auf »das kleine Sterben«.
Allmählich wurde es mir durch Übung einfach und leicht. Ich brachte Bewußtsein und Lebensfunktionen so schnell zum Stillstand, daß ich dem entsetzlichen Leben entging, welches der durch die Zwangsjacke verursachten Stockung des Blutkreislaufs folgte. Schnell fiel das Dunkel über mich herein, und das nächste, was ich, Darrell Standing, merkte, war wieder der Lichtschein auf den Gesichtern, die sich über mich beugten, wenn ich losgebunden wurde, sowie das Bewußtsein, daß jetzt zehn Tage im Nu vergangen waren.
Ach, wie wunderbar, wie herrlich waren doch diese zehn Tage, die ich irgendwo, weit fort in Zeit und Raum verbrachte! Diese Reise durch die lange Kette von Existenzen! Die lange Dunkelheit durchsickernden, trüben Lichts. Diese fliegenden Visionen und meine früheren Ichs, die diesem wachsenden Schimmer entstiegen!
Viel habe ich über das Verhältnis dieser meiner Ichs zu mir, über die Verbindung mit mir – und das Verhältnis zwischen meinem ganzen Experiment und der modernen Entwicklungstheorie nachgedacht. In Wahrheit kann ich sagen, daß meine Erfahrungen völlig mit unsern Entwicklungstheorien übereinstimmen.
Wie alle andern Menschen wachse ich. Ich begann nicht, als ich geboren oder empfangen wurde. Ich wuchs weiter, entwickelte mich durch unberechenbare Myriaden von Jahrtausenden. Alle Erfahrungen aus all diesen Existenzen, und unzähligen früheren dazu, sind dazu gebraucht, den Seelen- oder den Geistesstoff zu schaffen, der mein Ich ausmacht.
Versteht ihr das? Es ist der Stoff, aus dem mein Ich gewebt ist. Die Materie erinnert sich nicht, denn Geist ist Erinnerung. Ich bin dieser aus den Erinnerungen meiner unendlichen Inkarnationen zusammengesetzte Geist.
Woher kam der in mir, Darrell Standing, wohnende »rote Zorn«, der mein Leben vernichtete und mich in die Zelle der Verurteilten brachte? Dieses alte »Blutsehen« ist viel älter als meine Mutter, viel älter als der älteste und erste Menschenmörder. Nicht meine Mutter schuf, als ich in ihrem Leibe empfangen wurde, die leidenschaftliche Furchtlosigkeit, die ich besitze. Alle Mütter der Menschheit zusammen haben nicht Furcht oder Furchtlosigkeit bei Männern erzeugen können.
Lange, lange ehe die ersten Menschen auf Erden geboren wurden, existierten schon Furcht, Liebe, Haß und Zorn sowie alle übrigen Gefühle; sie waren in der Entwicklung, sie waren im Wachsen begriffen, sie wurden zu dem Stoff, der einst zu Menschen werden sollte.
Der Lebensstoff ist plastisch, und gleichzeitig vergißt dieser Stoff nichts. Formt ihn, wie ihr wollt, die alten Erinnerungen bleiben doch. Alle Pferde, vom riesigen Brauerpferd bis zum zwergenhaften Shetlandpony, stammen von den ersten wilden Pferden ab, die von den primitiven Menschen gezähmt wurden. Trotzdem hat der Mensch dem Pferde nie das Ausschlagen abgewöhnen können. Und ich, dessen Wesen von diesen ersten Pferdebändigern gebildet wurde, ich habe dieses »Blutsehen« nicht in mir ausrotten können.
Ich bin ein vom Weibe geborener Mensch. Meiner Tage sind nur wenige, aber der Stoff, aus dem ich gewebt bin. kann nicht vergehen. Ich bin Weib gewesen und habe selbst meine Kinder geboren, und ich soll wieder geboren werden. Unzählige Male soll ich wieder geboren werden, und doch glauben die dummen Geschöpfe, mich jetzt, da ich meinen Hals in eine Schlinge stecke, vernichten zu können.
Ja, ich soll gehängt werden, bald. Jetzt haben wir Ende Juni. Binnen kurzem werden sie versuchen, mich zu narren. Sie werden mich zu meinem wöchentlichen Bad aus dieser Zelle holen, aber ich weiß gut, daß ich nie wieder in diese Zelle zurückkehren werde. Ich erhalte reines Zeug und werde dann in die Sterbezelle gesetzt. Dort halten sie die Totenwache über mich. Tag und Nacht, ob ich wache oder schlafe, wird man immer über mich wachen. Ich darf nicht den Kopf unter die Decke stecken, denn sie fürchten, daß ich den Staat betrügen und mich selbst ersticken werde.
Immer wird Licht bei mir scheinen. Und wenn sie mich mürbe gemacht haben, dann werden sie mich eines schönen Morgens in einem Hemd ohne Kragen hinausführen, und dann lassen sie mich durch eine Falltür fallen. Oh, ich weiß Bescheid. Der Strick, den sie benutzen werden, ist fest und gut gereckt. Seit vielen Monaten haben die Henkersknechte von Folsom Gewichte daran gehängt, damit er gut gereckt und unelastisch ist.
Ich werde tief fallen. Sie haben ausgeklügelte Berechnungen, wie Zinstabellen, die die Tiefe des Falls im Verhältnis zum Gewicht des Opfers zeigen. Ich bin so ausgezehrt und mager, daß sie mich tief fallen lassen müssen, um mir den Hals zu brechen, und dann nehmen die Zuschauer den Hut ab, und während ich noch hin- und herbaumle, werden die Ärzte ihr Ohr an meine Brust drücken, um meine Herzschläge zu zählen, die allmählich zum Stillstand kommen, und schließlich werden sie melden, daß ich tot bin.
Es ist grotesk. Es ist eine lächerliche Frechheit dieser Menschenlarven, sich einzubilden, daß sie mich töten können. Ich kann nicht sterben. Ich bin unsterblich wie sie selber. Der Unterschied ist nur, daß ich es weiß, und sie es nicht wissen.
Pah! Ich bin selbst Henker gewesen. Ich erinnere mich wohl, aber ich gebrauchte das Schwert, keinen Strick! Das Schwert ist eine ehrlichere Methode, wenn auch alle Methoden gleich wirkungslos sind. Ja, wahrlich, als könnte ein Geist mich mit Stahl erstechen, oder mich durch einen Strick erwürgen.
Nächst Oppenheimer und Morrell, die mit mir in den Jahren der Finsternis faulten, galt ich als der gefährlichste Verbrecher in San Quentin. Andererseits galt ich als der zäheste, zäher als die beiden andern. Unter Zähigkeit verstehe ich natürlich meine Ausdauer. So furchtbar die Versuche, die beiden zu beugen, auch waren, so waren die Versuche, die gemacht wurden, um mich zu zerschmettern, doch noch furchtbarer. Aber ich ertrug sie. Dynamit oder Hängen lautete das Ultimatum Direktor Athertons. Aber es wurde keins von beiden. Ich konnte das Dynamit nicht zur Stelle schaffen, und Direktor Atherton konnte mich nicht hängen. Nicht, daß mein Körper viel ertragen konnte, aber mein Geist konnte es. Und das kam daher, weil er in früheren Existenzen durch ebenso furchtbare Erfahrungen gestählt war. Eine Erfahrung gab es, die lange wie ein Alpdruck auf mir lag. Sie hatte weder Anfang noch Ende. Immer fand ich mich auf einer Felseninsel mitten im Meer, so flach, daß der salzige Schaum bei Sturm ihren höchsten Punkt überspritzte. Es regnete viel. Ich wohnte in einer Höhle und litt sehr, denn ich hatte kein Feuer und hatte nur rohes Fleisch zu essen.
Immer litt ich. Es war der mittlere Teil irgendeines Lebensabschnittes, zu dem ich keinen Schlüssel finden konnte. Und da ich, wenn ich »das kleine Sterben« suchte, nicht selbst wählen konnte, hatte ich oft dieses besonders unangenehme Erlebnis. Meine einzigen guten Augenblicke waren, wenn die Sonne schien; dann sonnte ich mich auf dem Felsen und taute aus meinem fast beständigen Kälteschauer auf. Meine einzige Zerstreuung war ein Ruder und ein Taschenmesser. Auf dieses Ruder verschwendete ich viel Zeit, denn beständig schnitzte ich Buchstaben hinein und machte für jede Woche, die verging, eine Kerbe. Es waren schon viele Kerben darin. Ich schärfte das Messer an einem flachen Stein. Und kein Barbier hätte mit seinem Lieblingsmesser vorsichtiger umgehen können, als ich es tat. Kein Geizhals hätte auch eifersüchtiger über seinen Schatz wachen können als ich. Er war mir so teuer wie mein Leben. Ja, er war mein Leben.
Nach vielen Wiederholungen glückte es mir, die Inschrift, die auf dem Ruder stand, mit in meine Zelle zu bringen. Zuerst konnte ich mich nur wenig erinnern. Später wurde es leichter, ich brauchte nur die Bruchstücke zusammenzusetzen. Zuletzt stand sie deutlich vor mir. Hier ist sie:
»Dieses soll den Betreffenden, der dieses Ruder findet, davon unterrichten, daß Daniel Voß, der in Elktan in Maryland geboren wurde, und 1809 von Philadelphia auf der Brigg Negociator, die nach den Freundschaftsinseln bestimmt war, im Februar des nächsten Jahres auf dieser öden Insel an Land geworfen wurde und sich hier eine Hütte erbaute, wo er mehrere Jahre lebte und sich von Robbenfleisch ernährte, da er der einzige Überlebende von der Besatzung der genannten Brigg war, die am 25. November 1809 mit einem Eisberg zusammenstieß und unterging.«
Das stand da, ganz deutlich. Auf diese Weise erfuhr ich allerlei über mich. Einen kitzligen Punkt konnte ich indessen nicht aufklären: Lag diese Insel im südlichen Stillen Ozean oder im südlichen Atlantischen Ozean? Ich kenne die Segelschiffsrouten nicht genug, um sicher zu wissen, ob die Brigg nach den Freundschaftsinseln um Kap Horn oder um das Kap der Guten Hoffnung herumsegelte. Ich war, wie ich gestehen muß, so unwissend, daß ich nicht ahnte, in welchem Meer die Freundschaftsinseln liegen. Wenn es richtig ist, daß die übliche Route um das Kap der Guten Hoffnung geht, so müßten die Abfahrtsdaten zeigen können, in welchem Meere die Insel lag. Unglücklicherweise war für die Abfahrt nur die Jahreszahl 1809 angegeben. Also kann der Schiffbruch ebensogut in dem einen Meer wie in dem andern erfolgt sein. Nur ein einziges Mal sah ich in der Trance einen Schimmer von der Periode, die meiner Zeit auf der Insel vorausging. Es begann mit dem Augenblick, als die Brigg mit dem Eisberg zusammenstieß, und ich will es erzählen, wenn auch nur, um einen Eindruck von meinem merkwürdig kaltblütigen und entschlossenen Auftreten zu geben. Das war es, was mir als einzigem von allen das Leben rettete.
Ich lag in meiner Koje in der Back, als ich durch ein furchtbares Krachen aufgeweckt wurde, und wir wußten gleich, was geschehen war. Die sechs andern stürzten sofort wenig bekleidet an Deck, aber ich wußte, was unser wartete. Kein Mensch konnte in der Kälte schwimmen. Nur das Boot konnte uns retten. Und ein leichtbekleideter Mann mußte erfrieren. Und ich wußte, wieviel Zeit es in Anspruch nahm, das Boot hinunterzulassen.
Beim Schein der wild schwingenden Schlingerlampe, während sie an Deck lärmten und riefen: »Wir sinken!«, suchte ich in meiner Schiffskiste, um passende Kleidung zu finden. Und ebenfalls suchte ich in den Kisten meiner Kameraden – es sollte ja doch keiner mehr Gebrauch davon machen. Ich nahm nur die wärmsten und dichtesten Kleidungsstücke. Die vier besten Wollhemden, die zu finden waren, zog ich an, drei Hosen und drei Paar wollene Socken. So groß wurden meine Füße dadurch, daß ich meine eigenen guten Stiefel nicht anziehen konnte. So nahm ich denn die neuen Stiefel von Nicholas Wilton, die größer als meine waren. Dazu zog ich Jeremy Nalors Wolljacke über meine eigene und darüber den dicken Ölrock Seth Richards, der gerade frisch geölt worden war.
Zwei Paar dicke Fäustlinge, John Roberts Halstuch, das seine Mutter ihm gestrickt hatte, und endlich Joseph Dawes Biberfellmütze über meine eigene, beide mit Ohren- und Nackenklappen. Die Rufe, daß die Brigg sinke, ertönten jetzt lauter, aber ich nahm mir noch Zeit, meine Taschen mit Plattentabak zu füllen, soviel, wie ich finden konnte. Und dann stieg ich an Deck, nicht eine Minute zu früh.
Der Mond, der aus einem Spalt in der Wolke hervorsprang, war blaß und welk. Überall sah ich Eis und zerstörte Geräte. Segel, Tau und Spieren des Besanmastes waren von einer Eisschicht bedeckt, und mich überkam ein Gefühl der Erleichterung bei dem Gedanken, daß ich nie mehr an den steifen Taljen halen, fieren und das Eis von ihnen abhauen sollte, damit die gefrorenen Taue durch die Blöcke laufen konnten. Der Wind – ein halber Sturm – hatte die schneidende Kälte, die die Nähe von Eisbergen verrät, und die hohe See war bitter kalt im Mondschein anzusehen.
Das Langboot wurde in die See hinabgefiert, und ich sah, wie die Männer die Proviantfässer, mit denen sie sich auf dem vereisten Deck abmühten, in ihrer Eile, fortzukommen, stehenließen. Vergebens legte Kapitän Nicholl Verwahrung dagegen ein. Eine Sturzsee, die von Luv über das Schiff brach, machte der Sache ein Ende und schickte sie alle in einem wirren Klumpen ins Boot. Ich faßte den Kapitän an der Schulter und flüsterte ihm ins Ohr, daß ich für die Proviantierung sorgen wolle, wenn er ins Boot ginge und verhinderte, daß sie loswürfen.
Ich hatte indessen nur wenig Zeit. Kaum hatte ich mit Hilfe Aaron Northrups, des zweiten Steuermannes, ein halbes Dutzend Fässer und Kisten hinabgelassen, als alle im Boot schrien, daß sie loswerfen wollten. Und sie hatten alle Ursache dazu. Denn aus Luv steuerte ein gewaltiger Eisberg auf uns zu, während wir in Lee gegen einen andern trieben.
Aaron Northrup sprang sofort hinunter. Ich wartete einen Augenblick, um eine Stelle mitten im Boot zu finden, wo die meisten Leute waren, so daß sie meinen Fall abschwächten. Ich dachte nicht daran, eine so gefährliche Fahrt im Langboot mit gebrochenen Gliedern beginnen zu wollen. Damit die Leute Platz zum Rudern bekamen, drängte ich mich nach der Achterducht durch. Ich hatte noch andere Gründe hierzu. Denn es war hier besser als vorn im Boot, und außerdem ist es immer gut, nahe am Stern zu sein, wenn etwas geschieht, und hier geschah sicher etwas.
Achtern befanden sich außer mir der Steuermann Walter Drake, der Doktor, Arnold Bentham, Aaron Northrup und Kapitän Nicholl, der steuerte. Der Doktor beugte sich über Northrup, der mit gebrochener Hüfte auf dem Boden lag.
Wir konnten ihm jedoch nur wenig Zeit opfern, denn wir kämpften gegen die hohe See an zwischen zwei Eisinseln, die aufeinander zuschossen. Nicholas Wilton hatte nur wenig Platz am Schlagriemen, so daß ich die Fässer besser verstaute und vor ihm kniete, um mein Gewicht mit in den Riemen zu legen. Von hinten halfen Artur Haskins und der Junge Benny Hardwater, indem sie an seinen Schultern zogen. Ja, alle waren so hilfsbereit, daß mehr als einer nur störte und die Bewegung der Leute an den Riemen nur hinderte.
Es ging mit Mühe und Not, aber um etwa hundert Ellen entgingen wir dem Zusammenstoß, so daß ich Zeit hatte, den Kopf zu wenden, um die Negociator ihrem Untergang entgegengehen zu sehen. Die Brigg wurde zwischen den Eisbergen zerquetscht, wie ein Junge eine Pflaume zwischen den Fingern zerquetscht. Vor dem Gebrüll des Windes und des Meeres hörten wir nichts, obgleich das Krachen, als die starken Rippen und Balken der Brigg zerschmettert wurden, genügt haben muß, um ein ganzes Dorf in einer friedlichen Nacht zu wecken. Leicht wurde die Seite des Schiffes zusammengepreßt, das Deck wurde hochgehoben, die zerschmetterten Reste versanken und verschwanden, und wo eben noch die Brigg gewesen, war jetzt nur scheuerndes Eis und Schaum zu sehen. Es tat mir weh, als die Elemente dies unser Heim zerstörten, aber dennoch freute ich mich bei dem Gedanken, wie warm ich es in meinen vier Hemden und drei Röcken hatte.
Die Nacht wurde jedoch bitter kalt selbst für mich. Ich war der am wärmsten Gekleidete im ganzen Boot. Ich will nicht bei dem verweilen, was die andern gelitten haben. Aus Furcht, nur mehr Eis zu treffen, hielten wir den Bug immer gerade in die See hinein, und immerfort rieb ich mir die Nase bald mit einem Fäustling, bald mit dem andern, damit sie nicht erfror, und während meine Gedanken heim nach Elkton wanderten, betete ich zu Gott.
Am Morgen hielten wir eine Überschau. Erstens hatten immer zwei oder drei Frostbeulen bekommen. Aaron Northrup ging es sehr schlecht, seine beiden Füße waren erfroren, wie der Doktor sagte. Das Langboot lag tief im Wasser, denn es waren einundzwanzig Menschen, die ganze Besatzung des Schiffes, darin. Zwei davon waren Jungen. Benny Hardwater war kaum dreizehn, und Lish Dickery, der auch aus Elkton war, eben sechzehn. Unser Proviant bestand aus dreihundert Pfund Ochsenfleisch und zweihundert Pfund Speck. Ein halbes Dutzend durch Salzwasser getränkte Brote, die der Koch mitgenommen hatte, konnte man nicht rechnen. Dazu hatten wir drei kleine Behälter mit Wasser und ein Fäßchen Bier.
Kapitän Nicholl gestand, daß er auf diesem nicht kartographierten Meere nicht wisse, ob Land in der Nähe sei. Die einzige Möglichkeit war, in ein wärmeres Klima zu steuern, was wir taten, indem wir die kleinen Segel setzten und vor dem frischen Winde nach Nordosten kreuzten.
Das Nahrungsproblem war eine einfache Rechenaufgabe. Mit Aaron Northrup rechneten wir nicht, denn wir wußten, daß er bald erledigt war. Bei einem Pfund täglich konnten unsere fünfhundert Pfund fünfundzwanzig Tage reichen, bei einem halben Pfund fünfzig. Daher wurde die Ration auf ein halbes Pfund festgesetzt. Ich teilte unter Aufsicht des Kapitäns aus und tat es ehrlich, wenn auch einige von den Leuten gleich von Anfang an murrten. Von Zeit zu Zeit teilte ich auch etwas Tabak aus, den ich mir in meine Taschen gesteckt hatte, obwohl es ärgerlich war, an die von uns zu verschwenden, die sicher nicht mehr als einen Tag oder höchstens zwei bis drei am Leben bleiben konnten, denn sie begannen in unserm offenen Boot zu sterben. Nicht vor Hunger, sondern vor der tötenden Kälte. Nur die Zähesten und Glücklichsten überstanden es. Ich war zäh und glücklich insofern, als ich warm gekleidet war und mir nicht das Bein gebrochen hatte wie Aaron Northrup, und doch war er so stark, daß er, obgleich er der erste war, den das Erfrieren bedrohte, noch acht Tage lebte. Vance Hathaway war der erste, der starb. Wir fanden ihn im grauen Tagesschimmer steifgefroren auf der Ducht. Der nächste war der Junge Lish Dickery, der andere Junge, Benny Hardwater, hielt zehn oder zwölf Tage aus.
So kalt war es im Boot, daß unser Wasser und Bier bis auf den Grund gefror, und es war schwer genug, die Stücke, die ich mit Northrups Messer losbrach, gerecht zu verteilen. Wir steckten die Stücke in den Mund und sogen daran, bis sie schmolzen. Während der Schneestürme erhielten wir soviel Schnee, wie wir uns nur wünschen konnten. Gut bekam er uns nicht,« denn die Folge war bei uns allen eine Entzündung im Munde, so daß die Schleimhäute trocken wurden und brannten. Und der Durst war unlöschbar, denn wenn wir mehr Eis sogen, verschlimmerten wir die Entzündung im Munde nur. Das war es wohl, was Lish Dickerys Tod verursachte. Vierundzwanzig Stunden lang delirierte er, ehe er starb, und er phantasierte von Wasser, als er starb, und doch war es nicht Wasser, was ihm fehlte. Ich widerstand nach Möglichkeit der Versuchung, Eis in den Mund zu stecken, und begnügte mich mit einem Priem, und das half mir. Wir zogen die Leichen aus. Nackt waren sie zur Welt gekommen, und nackt gingen sie über den Bootsrand in das gefrorene Meer hinab. Um die Kleider losten wir auf Befehl des Kapitäns, um Streitigkeiten zu vermeiden.
Es war keine Zeit für Empfindsamkeit. Nicht einer von uns war, der nicht eine Befriedigung fühlte, wenn ein anderer starb. Das größte Glück beim Losen hatte Israel Stickney. Er war denn auch, als er starb, eine reine Schatzkammer von Zeug. Dadurch gewannen wir Überlebenden eine neue Frist. Beständig steuerten wir nach Nordosten, aber es sah nicht aus, als sollten wir milderes Wetter finden. Selbst der Schaum gefror auf dem Boden des Bootes, und ich zerhieb weiter Bier und Trinkwasser mit Northrups Messer. Mein eigenes Messer zeigte ich nicht. Es war aus gutem Stahl mit einer scharfen Klinge, ein solides Fabrikat, und ich wollte es nicht auf diese Weise gefährden. Allmählich war die Hälfte von uns über Bord geworfen, und das Boot lag jetzt nicht mehr so tief im Wasser und war leichter zu manövrieren. Wir hatten auch mehr Platz, unsere Beine auszustrecken.
Das Essen war immer noch eine Quelle der Unzufriedenheit. Der Kapitän, der Steuermann, der Doktor und ich beschlossen, die tägliche halbpfündige Ration zu erhöhen. Die sechs Matrosen, als deren Sprecher Tobias Snow auftrat, verlangten eine Verdoppelung der Ration, da wir nur halb so viele waren, wie ursprünglich. Aber wir im Achterende bestanden darauf, daß wir mit dem wenigen, was wir hatten, solange wie möglich haushalten mußten.
Zwar reichte ein halbes Pfund Salzfleisch nicht, um das Leben zu erhalten und der Kälte zu widerstehen. Wir ermüdeten schnell und bekamen leicht Frost in die Glieder. Nasen und Wangen waren blau von Frostwunden. Es war unmöglich, warm zu werden, obwohl wir jetzt doppelt soviel Zeug trugen wie anfangs.
Fünf Wochen nach dem Untergang der Negociator kam es infolge der Nahrungsfrage zum Kampf. Ich schlief gerade – es war Nacht –, als Kapitän Nicholl Jud Hetchkins beim Diebstahl aus der Specktonne ertappte. Daß er mit den andern gemeinsame Sache machte, wurde sogleich klar. Sobald sie entdeckt wurden, stürzten sich alle sechs mit ihren Messern auf uns. Es war eine schwere Arbeit in dem schwachen Sternenschimmer. Es war der reine Zufall, daß das Boot nicht kenterte. Ich hatte allen Grund, für meine vielen Hemden und Jacken dankbar zu sein, denn sie waren eine wahre Rüstung. Die Messerstiche schrammten mir kaum die Haut, wenn ich auch aus einem Dutzend Risse blutete.
Die andern waren auch gut geschützt, und der Kampf würde als allgemeine Prügelei geendet haben, hätte der Steuermann Walter Dakon, ein sehr starker Mann, nicht den Einfall gehabt, die Sache dadurch zu entscheiden, daß er die Meuterer über Bord warf. Der Gedanke gewann sogleich die Zustimmung des Kapitäns und des Doktors, und im Handumdrehen lagen fünf von ihnen im Wasser und klammerten sich an die Reling. Kapitän Nicholl und der Doktor waren damit beschäftigt, den sechsten, Jeremy Nalor, über Bord zu werfen, während der Steuermann mit einer Spake auf die Finger schlug, die sich an die Reling klammerten. Für den Augenblick hatte ich nichts zu tun und konnte daher Zeuge seines tragischen Endes sein. Als er die Spake hob, um sie auf Seth Richards Finger niederzuschmettern, tauchte der unter, hob sich dann auf beiden Armen, sprang halb ins Boot hinein und umschlang den Steuermann. Als er zurückfiel, zog er den Steuermann mit sich. Sicher ließ er nicht los, und sie ertranken zusammen. Jetzt waren wir nur noch drei: der Kapitän, Doktor Arnold Bentham und ich. Sieben waren infolge Hetchkins Versuch, Fleisch zu stehlen, dahingegangen. Und es erschien mir traurig, daß so viele gute warme Kleidungsstücke im Meer verschwunden waren. Wir hätten alle mehr als gern etwas davon gehabt.
Der Kapitän und der Doktor waren gute, ehrenhafte Menschen. Wenn zwei von uns schliefen und der dritte wachte, hätte er gut von dem Fleische stehlen können. Aber das geschah nie. Wir verließen uns aufeinander und wären lieber gestorben, als daß wir unser gegenseitiges Vertrauen getäuscht hätten.
Wir begnügten uns weiter mit einem halben Pfund Fleisch täglich und benutzten jede günstige Brise, um weiter nach Norden zu kommen. Erst am 14. Januar, sieben Wochen nach dem Schiffbruch, gelangten wir in wärmere Gegenden. Das heißt, wirklich warm waren sie auch nicht, nur war es nicht so bitter kalt. Hier schlief der Westwind ein, und wir trieben viele Tage in Windstille umher. In unserm geschwächten Zustand war nicht die Rede davon zu rudern. Wir mußten warten, bis der liebe Gott uns ein milderes Antlitz zeigte. Wir waren alle drei gläubige Christen und beteten jeden Tag, bevor wir aßen. Ja, und jeder betete oft und innig für sich.
Ende Januar hatten wir nicht mehr viel zu essen. Der Speck war verzehrt, und wir benutzten die Tonne, um Regenwasser darin aufzufangen. Auch vom Ochsenfleisch waren nicht mehr viele Pfund übrig. Und in all diesen neun Wochen im offenen Boot hatten wir weder ein Segel noch Land gesehen. Wie Kapitän Nicholl zugab, wußte er nicht, wo wir uns befanden.
Am zwanzigsten Februar aßen wir unsern letzten Proviant. Ich will lieber nicht schildern, was in den nächsten acht Tagen geschah. Ich will nur die Ereignisse berühren, die dazu dienen sollen, den Charakter meiner beiden Kameraden zu beleuchten. Wir hatten so lange gehungert, daß wir keine Kraftreserve mehr hatten. Bald wurden wir schwächer und schwächer.
Am vierundzwanzigsten Februar besprachen wir ruhig die Lage. Wir waren drei bewußte, ruhige Männer, voller Lebensdrang und Zähigkeit, keiner von uns wünschte zu sterben.
Keiner von uns wollte sich freiwillig für die beiden andern opfern. Aber wir einigten uns um dreierlei. Erstens: wir mußten etwas zu essen haben. Zweitens: Wir mußten die Sache durch Losen ordnen, und drittens: wir wollten am nächsten Morgen losen, wenn kein Wind kam.
Am nächsten Morgen hatten wir Wind, nicht viel, aber genug, um weiter nach Norden zu kommen. Ebenso ging es am sechsundzwanzigsten und siebenundzwanzigsten. Wir waren matt, furchtbar matt, aber wir hielten an unserm Entschluß fest und fuhren weiter.
Am Morgen des Achtundzwanzigsten wußten wir, daß jetzt unsere Zeit gekommen war. Das Boot rollte schläfrig auf der hohlen See, und die stillstehenden Wolken zeigten, daß an Wind nicht zu denken war. Ich schnitt drei Streifen, alle gleich lang, aus meinem Hemd. Am Rande des einen. Stückes befand sich ein brauner Faden, wer dieses Los zog, hatte verloren. Ich tat die drei Stücke in meinen Hut und legte Kapitän Nicholls Hut darauf.
Der Kapitän zog zuerst, wie es sich gehörte. Seine Lippen bewegten sich zu einem stillen Gebet, während seine Hand in den Hut griff, dann zog er und bekam nicht den braunen Faden. Das war, wie ich zugeben mußte, gerecht, denn Kapitän Nicholls Leben war mir wohlbekannt, und ich wußte, wie brav, rechtsinnig und gottesfürchtig er war.
Jetzt waren noch der Doktor und ich übrig. Er oder ich mußte es sein, und nach dem Schiffsreglement war er mein Vorgesetzter und hatte also das Recht, zuerst zu ziehen. Wieder beteten wir. Während ich betete, fiel mein Blick auf meinen eingefallenen Leib, und ich berechnete meinen Wert oder Unwert. Ich hielt den Hut auf meinen Knien und Kapitän Nicholls Hut darüber. Eine Weile tastete der Doktor im Hut herum, und mir kam der Gedanke, ob er vielleicht den braunen Faden in dem verhängnisvollen Stoffstreifen finden könnte.
Endlich kam seine Hand zum Vorschein, und der braune Faden war darin. Sehr demütig und dankbar fühlte ich mich, weil Gott mir so seinen Segen gesandt hatte, und ich beschloß, mich in Zukunft noch treuer nach seinen Geboten zu richten. Im nächsten Augenblick hatte ich das unwillkürliche Gefühl, daß der Kapitän und der Doktor enger miteinander verknüpft und irgendwie über das Ergebnis enttäuscht waren. Und gleichzeitig hatte ich auch die Überzeugung, daß sie so ehrlich, so durch und durch Männer waren, daß dieses Ergebnis nichts an der getroffenen Vereinbarung ändern würde.
Ich hatte recht. Der Doktor entblößte seine Arme und zog sein Messer hervor. Er machte sich bereit, eine Ader zu öffnen. Zuerst sprach er jedoch einige wenige Worte:
»Ich bin in Norfolk in Virginien geboren«, sagte er, »wo ich eine Frau und jetzt wohl drei Kinder habe. Das einzige, worum ich euch bitte, wenn es Gott gefallen sollte, euch oder einen von euch zu retten, ist, daß ihr meiner armen Familie Nachricht von meinem Schicksal gebt.«
Dann bat er höflich um einige Minuten Aufschub, um sich mit Gott zu versöhnen. Weder der Kapitän noch ich konnten ein Wort hervorbringen, wir nickten nur, während uns die Tränen aus den Augen stürzten.
Zweifellos war Arnold Bentham der ruhigste von uns dreien. Meine eigene Seelenqual war groß, und ich bin sicher, daß Kapitän Nicholl ebenso litt. Aber was sollten wir tun? Die Sache war ja klar, und Gott hatte es so bestimmt.
Als aber Arnold Bentham seine letzten Angelegenheiten in dieser Welt geordnet hatte und bereit war, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und rief:
»Halt! Wir haben soviel miteinander erduldet, daß wir wohl noch ein wenig mehr erdulden können. Jetzt ist es Morgen; laßt uns bis zur Dämmerung warten. Ist bis dahin nichts geschehen, was unser Schicksal ändern kann, ja, dann Arnold Bentham, dann tue, was wir beschlossen haben.«
Er sah Kapitän Nicholl an, ob er in meinen Vorschlag einwilligte, und der Kapitän konnte nur zur Antwort nicken. Er konnte kein Wort hervorbringen, aber in seinen feuchten, vom Frost verbrannten Augen lag eine Welt von Anerkennung, die ich nicht mißverstehen konnte.
Kaum war eine Viertelstunde vergangen, als ein Windhauch unsere Wangen traf. Fünf Minuten darauf steuerten wir vor prallem Segel dahin, und Arnold Bentham saß am Ruder.
»Bewahrt euch das bißchen Kraft«, sagte er, »laßt mich das bißchen, was ich noch habe, gebrauchen, um eure Chancen ein wenig zu verbessern.«
Und so steuerte er denn in der wachsenden Brise, während Kapitän Nicholl und ich auf dem Boden des Bootes lagen und in unserer Schwäche von all dem träumten, was uns im Leben teuer – und fern war.
Bald nahm der Wind zu. Die Wolken, die über dem Himmel dahinflogen, verhießen Sturm. Gegen Mittag wurde Bentham am Ruder ohnmächtig, sofort aber waren wir andern da. Dann einigten wir uns, was zu tun war, und Kapitän Nicholl übernahm das Ruder. Nachher wechselten wir alle dreiviertel Stunden ab. Länger konnten wir nicht auf einmal, so schwach waren wir.
Wenn unsere Lage nicht so verzweifelt gewesen wäre, hätten wir das Boot beigedreht und mit dem Leeanker, den Bug voran, treiben lassen. Hätten wir das Boot hart gegen die großen Seen gesetzt, so wären wir gekentert.
Immer wieder bat Bentham an diesem Nachmittag, daß wir um unseretwillen den Leeanker auswerfen sollten. Er wußte, daß wir nur weiterfuhren in der Hoffnung, daß das, um was wir gelost hatten, nicht geschehen sollte. Er war ein edler Mann, und das war Kapitän Nicholl auch, dessen vom Frost verbrannte Augen zu stählernen Punkten eingeschrumpft waren, und wie hätte ich in solcher Gesellschaft anders sein sollen?
Ich sah es zuerst. Arnold Bentham, der im Gedanken an den Tod Ruhe gefunden hatte, und Kapitän Nicholl, der wohl bald dieselbe Ruhe erreicht hatte, rollten wie Tote auf dem Boden des Bootes, und ich saß am Ruder, als ich es sah. Als das Boot sich auf den Gipfel einer Welle hob, sah ich gerade vor mir die von der Brandung gepeitschte Felseninsel. Sie war keine halbe Meile entfernt. Ich rief den beiden laut zu, die dort, kniend, hin und her schwingend und nach einer Stütze greifend, nach dem, was ich gesehen hatte, starrten.
»Steuere gerade drauflos, Daniel«, murmelte der Kapitän. »Vielleicht gibt es eine Bucht, es ist unsere einzige Möglichkeit.«
Er sprach wieder, als wir auf dem Gipfel eines Wogenkamms in der Höhe des furchtbaren Gestades schaukelten, wo es keine Bucht gab.
»Gerade drauflos, Daniel. Kommen wir klar von der Insel, so sind wir zu schwach, noch weiter gegen See und Wind anzukämpfen.«
Er hatte recht, ich gehorchte. Er zog die Uhr und sah darauf. Es war fünf. Er reichte Arnold Bentham die Hand, und Bentham ergriff sie. Dann sahen beide mich an, und in ihrem Blick lag derselbe Händedruck. Ich wußte, es war ein Lebewohl, denn welche Chance hatten so schwache Geschöpfe wie wir, lebend über diese schaumbekleideten Klippen zu den höheren Felsen dahinter zu gelangen?
Zwanzig Fuß vom Lande verlor ich das Boot aus der Hand. Sofort war es gekentert, und das Salzwasser wollte mich ersticken. Nie sah ich meine Kameraden wieder. Ich hatte das Glück, vom Steuerruder obengehalten zu werden, das ich in der Hand behielt, bis eine Sturzsee – im rechten Augenblick und am rechten Orte – mich auf einen gleichmäßig abfallenden Felsen an den furchtbaren Strand schleuderte. Mir war nichts zugestoßen. Mit vor Mattigkeit schwindelndem Kopf kroch ich weiter, bis ich sicher war, nicht wieder in die See zurückgeschwemmt zu werden.
Da stand ich nun, aufrecht, gerettet, und dankte Gott. Das Boot war schon in tausend Stücke zerschmettert, und obwohl ich sie nicht sah, erriet ich doch, wie gräßlich Kapitän Nieholl und Arnold Bentham zugerichtet waren. Ich sah ein Ruder im Wellenschaum, und mit der Gefahr, fortgeschwemmt zu werden, rettete ich es. Dann sank ich ins Knie und spürte, daß ich ohnmächtig wurde. Aber mit dem sicheren Instinkt des Seemannes kroch ich mit meiner letzten Kraft zwischen die spitzen Felsen, um dann endlich, außerhalb der Reichweite der Wellen, das Bewußtsein zu verlieren.
Ich wäre fast in dieser Nacht gestorben. Meistens lag ich bewußtlos da, nur von Zeit zu Zeit spürte ich unklar, wie kalt und naß ich war. Der Morgen brachte mir Überraschung und Schrecken. Keine Pflanzen, kein Gras wuchs auf diesem Felsen, der sich vom Meeresboden erhob. Eine Viertelmeile breit und eine halbe lang war die Insel, nur ein Haufen Felsen. Nichts konnte ich finden, das das Verlangen meines erschöpften Körpers befriedigt hätte. Ich brannte vor Durst, fand aber kein Süßwasser. Vergebens leckte ich alle Feuchtigkeit aus Löchern und Spalten auf. Die Wellen hatten während des Sturmes jeden Teil dieser Inseln überspült und jede Vertiefung mit Wasser gefüllt, das salzig wie das Meer selber war.
Von dem Boot war nichts übriggeblieben. Nicht soviel wie ein Splitter. Alles, was ich besaß, war ein starkes Messer, meine Kleider und das eine Ruder, das ich gerettet hatte. Der Sturm war abgeflaut, und den ganzen Tag kroch ich herum und suchte vergebens nach Wasser, bis mir Hände und Knie bluteten.
In dieser Nacht war ich mehr tot als lebendig. Ich suchte hinter einem Felsen Schutz vor dem Winde. Ein mächtiger Regenschauer machte mich ganz elend. Ich zog meine Jacken aus und breitete sie aus, um das Regenwasser aufzusaugen. Als ich aber die Feuchtigkeit in meinen Mund wrang, wurde ich bitter enttäuscht, denn das Zeug war mit Salz aus dem Meere gesättigt. Ich legte mich mit offenem Munde auf den Rücken, um die wenigen Regentropfen, die den Weg hineinfanden, aufzufangen. Ich litt wahre Tantalusqualen, aber es hielt doch meine Schleimhäute feucht und bewahrte mich vor dem Wahnsinn.
Am zweiten Tage war ich sehr krank. Obgleich ich solange nichts gegessen hatte, begann ich zu unglaublicher Dicke anzuschwellen. Meine Arme, meine Beine, mein ganzer Körper. Bei dem leisesten Druck sanken meine Finger einen ganzen Zoll tief in meine Haut ein, und es dauerte lange, bis die Eindrücke wieder verschwanden. Sorgfältig reinigte ich mit meinen Händen jedes kleine Loch im Felsen von Salzwasser, in der Hoffnung, daß ein kommender Regenschauer es mit trinkbarem Wasser füllen möchte.
Mein trauriges Los und die Erinnerung an meine Lieben in Elkton machten mich trübsinnig, so daß ich oft vergaß, auf die Stunden zu achten, die vergingen. Das war ein Glück, denn es legte einen Schleier über meine Leiden, die mich sonst getötet hätten.
In der Nacht weckte mich Regen, und ich kroch von Loch zu Loch, schlürfte den Regen ein oder leckte ihn von den Felsen. Es war Brackwasser, aber trinkbar. Das war es, was mich rettete, denn gegen Morgen erwachte ich in Schweiß gebadet und fieberfrei. Dann kam zum ersten Male, seit ich auf die Insel gekommen war, die Sonne, und ich breitete mein Zeug zum Trocknen aus. Ich löschte mit vorsichtiger Mäßigkeit meinen Durst und berechnete, daß ich, wenn ich sparsam war, Wasser genug für zehn Tage hatte. Ich besaß einen ganzen Reichtum in diesem Brackwasser. Und kein Großkaufmann mit all seinen reichbeladenen Schiffen in sicheren Häfen nach einträglichen Reisen, und mit Speichern, die bis zu den Dachsparren gefüllt waren, und mit Überfluß in seinen Geldkästen, konnte sich reicher fühlen als ich, da ich eine tote Robbe entdeckte, die auf das Ufer geworfen war.
Ich wußte, wie geschwächt mein Magen war, und aß daher nur wenig. Mein natürlicher Hunger würde mich getötet haben, wenn ich ihm nachgegeben hätte. Nie hat mir etwas so gut geschmeckt, und ich gestehe, daß ich beim Anblick dieses verfaulten Kadavers vor Freude weinte.
Die Hoffnung war wieder in mir erwacht. Sorgsam verwahrte ich die Reste, und sorgsam verdeckte ich die Wasserbehälter im Felsen mit flachen Steinen, damit die Sonne nicht die kostbare Flüssigkeit verdampfte oder ein nächtlicher Sturm nicht Salzwasserschaum hineinfegte. Ich sammelte auch kleine Tangstücke und trocknete sie in der Sonne, um sie als Lager auf dem harten Felsen zu benutzen. Und zum ersten Male nach langer Zeit hatte ich trockenes Zeug auf dem Leibe, so daß ich den festen Schlaf der Erschöpfung und der wiederkehrenden Gesundheit schlafen konnte.
Als ich zu einem neuen Tage erwachte, war ich wie ein anderer Mensch. Die Abwesenheit der Sonne bedrückte mich nicht, und ich sah bald, daß Gott, der mich nicht vergessen hatte, mir während des Schlafes einen neuen wunderbaren Segen bereitet hatte. Ich rieb mir die Augen und starrte wieder, ob es nicht ein Irrtum wäre, denn so weit ich sehen konnte, waren die Felsen an der Küste von Robben bedeckt. Es waren Tausende, und im Wasser sah ich wieder Tausende sich tummeln, wobei sie ein merkwürdiges, alles übertönendes Gebrüll ausstießen. Sobald ich sie sah, wußte ich es: Hier lag Fleisch genug für ein ganzes Dutzend Schiffsbesatzungen.
Sofort nahm ich mein Ruder – es war das einzige Stück Holz auf der ganzen Insel – und näherte mich vorsichtig all diesem Proviant. Ich merkte gleich, daß diese Tiere noch nie einen Menschen gesehen hatten. Sie fürchteten mich nicht, und es war mir ein leichtes, sie mit dem Ruder auf den Kopf zu schlagen.
Und als ich die dritte und vierte getötet hatte, wurde ich vom Wahnsinn des Mordens gepackt. Ja, so sehr war ich aller Urteilskraft beraubt, daß ich weiter erschlug und erschlug. Zwei Stunden lang wütete ich mit meinem Ruder, bis ich vor Müdigkeit fast umsank.
Als die übrigen Robben sich wie auf ein gegebenes Zeichen ins Wasser stürzten und verschwanden, zählte ich meine Beute. Es waren über zweihundert. Mir ekelte vor mir selber, und ich war erschrocken über den Wahnsinnseinfall, der mich gepackt hatte. Nachdem ich mich aber mit dieser guten gesunden Nahrung erfrischt hatte, dachte ich daran, das Geschehene wieder gutzumachen, so daß möglichst wenig vergeudet wurde. Ich arbeitete bis zum Einbruch der Dunkelheit und noch später, indem ich die Robben abzog, das Fleisch in Streifen zerschnitt und zum Trocknen auf die Felsen legte. Ich fand auch kleine Anhäufungen von Salz in den Spalten und Löchern in den Felsen auf der Westseite der Insel. Damit rieb ich das Fleisch ein, daß es sich halten sollte.
Vier Tage arbeitete ich, und zuletzt sah ich mit kindlichem Stolz, daß nicht das geringste von diesem Fleischvorrat verloren gegangen war. Die beständige Arbeit war gesund für meinen Körper, der sich bei dieser gesunden Kost, mit der ich nicht sparte, schnell erholte.
Es sollten Monate vergehen, ehe die Robben meine Insel wieder besuchten. Unterdessen war ich aber alles eher als müßig. Ich baute mir eine Hütte aus Steinen und daneben eine Vorratskammer für mein konserviertes Fleisch. Die Hütte deckte ich mit soviel Robbenfellen, daß sie beinahe wasserdicht war. Wenn aber der Regen auf mein Felldach prasselte, mußte ich daran denken, daß sich hier ein schiffbrüchiger Matrose mit Fellen, die auf dem Londoner Pelzmarkt ein Vermögen wert waren, gegen die Elemente schützte.
Mir war klar, wie wichtig es für mich war, die Zeit zu berechnen, sonst hatte ich ja keine Ahnung, welcher Wochentag war, und wußte auch nicht, an welchem Tage Sabbat war. Ich ging daher sorgfältig in der Zeitrechnung zurück bis zu den Tagen, da Kapitän Nicholl im Langboot die Zeittabelle geführt hatte, und rechnete dann wieder vorwärts – ganz langsam, um keinen der Tage und keine der Nächte zu vergessen, die ich auf der Insel verbracht hatte. Von da an berechnete ich die Wochentage mit Hilfe von sieben Steinen, die ich vor meine Hütte legte. An einer bestimmten Stelle des Ruders machte ich für jede Woche eine Kerbe – an einer andern Stelle notierte ich die Monate, indem ich sorgfältig die Tage, die jeder Monat über vier Wochen hinaus hatte, vermerkte.
Es war erstaunlich, wieviel Arbeit unter diesen Umständen erforderlich war, um für die einfachsten Bedürfnisse in bezug auf Nahrung und Wohnung zu sorgen. Ich war tatsächlich im ersten Jahr nur selten müßig. Der Bau der Hütte (an sich nur eine Schlafstätte) dauerte sechs Wochen. Das ewige Schrapen der Robbenfelle, um sie weich und geschmeidig zur Kleidung zu machen, beanspruchte Monate und wieder Monate.
Dann die Wasserversorgung. Nach jedem größeren Sturm wurde mein aufgespartes Regenwasser durch Schaumspritzer versalzen, so daß es manchmal schwer auszuhalten war, bis es wieder Regen gab, der keinen Sturm mitbrachte. Da ich wußte, daß steter Tropfen selbst einen Stein aushöhlen kann, wählte ich einen großen Stein und begann ihn mit Hilfe kleinerer Steine auszuhöhlen. Nach fünfwöchiger Arbeit hatte ich mir auf diese Weise eine Schale verfertigt, die ungefähr sechs bis sieben Liter Wasser enthielt. Später verfertigte ich mir eine doppelt so große, sie erforderte neun Wochen. Von Zeit zu Zeit verfertigte ich einige kleinere Schalen. Eine, die etwa dreißig Liter enthalten hätte, zersprang, als ich sieben Wochen daran gearbeitet hatte.
Aber erst im zweiten Jahre, als ich mich schon mit dem Gedanken versöhnt hatte, daß ich vielleicht den ganzen Rest meines Lebens hier verbringen sollte, erst da schuf ich mein Meisterwerk. Diese Schüssel erforderte acht Monate, aber sie war auch dicht und faßte ungefähr hundertfünfzig Liter. Diese steinernen Gefäße machten mir viel Freude, so viel, daß ich hin und wieder meine Demut vergaß und unziemlich stolz auf sie war. Wahrlich, mir erschien sie schöner, als das kostbarste Möbelstück in den Augen einer Königin. Ich verfertigte auch eine kleine steinerne Kelle, um das Wasser von anderen Stellen zu meinen großen Behältern zu tragen. Wenn ich erzähle, daß diese kleine Kelle vierundzwanzig Pfund wog, so wird mein Leser begreifen, daß es keine leichte Arbeit war, das Regenwasser zu sammeln.
Obwohl ich die Gesellschaft meiner Mitgeschöpfe und die Bequemlichkeiten des Lebens entbehren mußte, bemerkte ich doch, daß meine Einsamkeit auch gewisse Vorteile mit sich brachte. Ich befand mich im friedlichen Besitz der ganzen Insel. Es war nicht wahrscheinlich, daß jemals mein Recht auf die Insel bestritten werden sollte – es müßten denn die Amphibien des Ozeans sein. Da die Insel unzugänglich war, wurde meine Nachtruhe nicht von beständiger Furcht vor Kannibalen oder Raubtieren gestört.
Im dritten Jahre begann ich eine Säule aus Felsblöcken zu erbauen, oder vielmehr eine Pyramide, quadratisch, unten breit, sich nach der Spitze verjüngend. Ich mußte so bauen, da es ja auf der Insel an allem mangelte, was zur Errichtung eines Gerüstes dienen konnte. Erst gegen Ende des fünften Jahres war die Pyramide fertig. Sie stand auf dem höchsten Punkt der Insel. Wenn ich sage, daß sich der Felsen nur vierzig Fuß über das Meer, und daß die Spitze meiner Pyramide sich vierzig Fuß über den Gipfel der Insel erhob, so seht ihr, daß ich die Höhe der Insel über dem Meere verdoppelt hatte, ohne auch nur ein einziges Gerät oder Werkzeug zu besitzen.
Im nächsten Jahre verbreiterte ich die Basis meiner Pyramide, so daß das Monument nach einer Arbeit von achtzehn Monaten fünfzig Fuß über den Gipfel der Insel hinausragte. Es war kein Turm von Babel. Meine Absicht war, erstens einen guten Aussichtsturm zu schaffen, um nach Schiffen auszuspähen, und gleichzeitig die Möglichkeit zu erhöhen, daß Schiffe meine Insel erblickten. Und dazu erhielt die Arbeit mich frisch und gesund. Wenn ich nie müßig ging, hatte der Teufel auf dieser kleinen Insel nicht viel zu schaffen, nur im Traum quälte er mich, namentlich mit dem Anblick verschiedener leckerer Speisen und durch eingebildete Ausschweifungen mit der stinkenden Pflanze, die man Tabak nennt.
Am achten Juni meines sechsten Jahres auf der Insel erblickte ich ein Segel. Aber das Schiff fuhr in allzu großer Entfernung vorbei, um mich entdecken zu können. Statt einer Enttäuschung fühlte ich bei diesem Anblick eher die lebhafteste Befriedigung, denn jetzt war ich überzeugt, woran ich bisher gezweifelt hatte, daß diese Gewässer doch zuweilen von Schiffen besucht wurden.
Unter anderm kam ich auch auf den Einfall, niedrige Felsmauern, je zwei und zwei am Strande zu errichten, wo die Robben zu gehen pflegten. Sie standen im Wasser ziemlich weit auseinander, näherten sich aber immer mehr einander und liefen schließlich in einem Winkel zusammen, wo ich leicht die Robben, die sich dort befanden, erschlagen konnte, ohne daß die andern es merkten, und ohne daß es einer verwundeten Robbe glücken konnte, zu entkommen und die andern zu alarmieren. Sieben Monate verwandte ich auf diese Mauern.
Im fünften Jahr – es war, ehe ich die Überzeugung gewann, daß Schiffe zuweilen diese Gewässer pflügten, begann ich in mein Ruder die merkwürdigsten Ereignisse zu schnitzen, die ich seit meiner Abreise von den friedlichen Gestaden Amerikas erlebt hatte. Fünf oder sechs Buchstaben bedeuteten oft eine ganze Tagesarbeit für mich, so sorgsam schnitzte ich die Buchstaben, die ja möglichst wenig Platz einnehmen sollten.
Und für den Fall, daß ich nie mehr in meine Heimat zurückkehren sollte, schnitzte ich in das Ruder die oben angeführte Inschrift.
Ich tat, was ich konnte, um dieses Ruder zu bewahren, das mir in meiner verzweifelten Lage von so großem Nutzen gewesen war und jetzt eine Schilderung von meinem Schicksal und dem meiner Kameraden enthielt. Ich gefährdete es nicht mehr, indem ich Seehundsköpfe damit zerbrach. Statt dessen rüstete ich mich mit einer Steinkeule von etwa drei Fuß Länge und entsprechendem Umfang aus, für deren Verfertigung ich drei Monate brauchte.
Um das Ruder gegen den Einfluß der Luft zu schützen (denn bei schwachem Winde benutzte ich es als Flaggenmast auf der Spitze meiner Pyramide, indem ich ein Hemd als Flagge benutzte), verfertigte ich einen Überzug aus zubereiteten Robbenfellen dafür. Im März des sechsten Jahres erlebte ich einen der furchtbarsten Stürme, deren Zeuge vielleicht je ein Mensch gewesen ist. Er begann um neun Uhr abends mit schwarzen Wolken, die von Südwest getrieben kamen, und um elf Uhr wuchs der Wind zum Orkan an mit unaufhörlichem Donnergebrüll und den gewaltigsten Blitzen, die ich je gesehen hatte.
Ich war besorgt um die Sicherheit der Insel. Alles wurde von der See überspült, außer der Spitze meiner Pyramide. Dort oben wurde mir von Sturm und Meeresschaum fast das Leben herausgepreßt. Ich wurde mir klar darüber, daß ich nur verschont wurde, weil ich vorausschauend genug gewesen war, diese Pyramide zu errichten.
Am Morgen hatte ich allen Grund, dankbar zu sein. Mein ganzes aufgespartes Regenwasser war brackig geworden, außer in meinem größten Behälter, der im Schutz der Pyramide lag. Wenn ich sparsam war, reichte das Wasser, bis der nächste Regen kam. Meine Hütte war von den Wogen fortgespült, und mein großer Fleischvorrat war eine einzige, traurige verwaschene Masse. Aber zu meiner angenehmen Überraschung fand ich die Felsen wie übersät mit Fischen. Sie glichen einer Art Karpfen. Zwölfhundertundneunzehn Fische las ich auf. Ich öffnete sie, nahm sie aus und bereitete Klippfisch daraus. Diese willkommene neue Kost hatte jedoch unangenehme Folgen. Ich überaß mich, und in der Nacht darauf starb ich fast infolge meiner Gier.
Im siebenten Jahre, ebenfalls im März, erlebte ich noch einen ähnlichen Sturm. Danach fand ich zu meinem Erstaunen einen mächtigen toten, aber ganz frischen Wal auf den Felsen. Man kann meine Überraschung begreifen, als ich in dem großen Tier eine Harpune von der üblichen Art mit einigen Faden neuer Leine fand.
So belebten sich meine Hoffnungen wieder, doch einst Gelegenheit zu finden, diesen traurigen Ort zu verlassen. Zweifellos kamen auch Walfänger in diese Gegend, und früher oder später schlug wohl die Stunde der Erlösung. Seit sieben Jahren lebte ich nun von Robbenfleisch, so daß ich wieder, als ich die Menge reicher neuer Nahrung sah, ein Opfer meiner Schwäche wurde und aß, daß ich wieder hinterher beinahe den Geist aufgab. Und doch war es beide Male nur ein einfaches Unwohlsein, veranlaßt dadurch, daß mein Magen keine andere Nahrung als Robbenfleisch und wieder Robbenfleisch kannte.
Dieser eine Wal verschaffte mir Vorrat für ein ganzes Jahr. In den Felslöchern schmolz ich in den Sonnenstrahlen eine Menge Öl, das mir besonders willkommen war, um mein Fleisch, wenn ich Mittag aß, hineinzutunken. Aus meinem zerfetzten Hemd hätte ich mir einen Docht verfertigen können, so daß ich, wenn ich die Harpune als Feuerstahl und den Felsen als Stein benutzt hätte, des Nachts Licht gehabt haben würde, aber das war ein unnötiger Luxus, und ich wies den Gedanken ab. Ich brauchte ja kein Licht, wenn Gott seine Dunkelheit sich auf die Erde senken ließ, und ich schlief vom Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang Sommer und Winter.
Hier muß ich, Darrell Standing, diese Erzählung von einer früheren Existenz unterbrechen, um einen meiner eigenen Schlüsse zu vermerken. Da menschliche Persönlichkeit ein Wachstum, eine aus allen früheren Existenzen zusammengelegte Summe ist – welche Möglichkeit hatte da Direktor Atherton, meinen Geist zu unterjochen, indem er mich in die Einzelzelle sperrte? Was waren zehn Tage und Nächte in der Zwangsjacke für mich? Für mich, der ich einst Daniel Voß gewesen war und acht Jahre lang auf einer Felseninsel im fernen Südmeer Geduld gelernt hatte?
Gegen Ende des achten Jahres, im September, als ich gerade plante, meine Pyramide auf sechzig Fuß zu erhöhen, sah ich eines Morgens beim Erwachen ein Schiff mit beschlagenen Segeln fast in Hörweite. Um bemerkt zu werden, schwenkte ich mein Ruder, sprang von Fels zu Fels, bis ich die Offiziere auf der Schanze durch ihre Gläser zu mir herübergucken sah. Sie antworteten, indem sie auf das äußerste Westende der Insel zeigten, wohin ich lief. Dort entdeckte ich ein Boot mit einem halben Dutzend Leute. Hinterher erfuhr ich, daß man vom Schiff aus meine Pyramide entdeckt und den Kurs geändert hatte, um näher zu untersuchen, was das merkwürdige Ding zu bedeuten hätte.
Aber die Brandung erwies sich als zu stark, das Boot konnte nicht an dem ungastlichen Strande landen. Nach verschiedenen vergeblichen Versuchen machten sie mir Zeichen, daß sie zum Schiffe zurückkehren müßten. Denkt euch meine Verzweiflung! Ich ergriff mein Ruder (ich hatte mich längst entschlossen, es, wenn ich je gerettet werden sollte, dem Museum in Philadelphia zu schenken) und sprang damit in die siedende Brandung. So glücklich war ich, so stark und gewandt, daß ich das Boot erreichte.
Ich muß hier etwas Merkwürdiges berichten. Das Schiff war unterdessen soweit abgetrieben, daß wir eine Stunde brauchten, um an Bord zu gelangen. Jetzt gab ich der Tabaksgier nach, die mich acht Jahre lang gequält hatte, und bat den Steuermann um einen Priem. Der Steuermann gab mir auch seine Pfeife zu rauchen, die mit feinstem Virginia gefüllt war. Kaum aber waren zehn Minuten vergangen, als mir furchtbar übel wurde. Der Grund war einleuchtend. Mein Körper war ganz von Tabak gereinigt, und ich litt jetzt an Nikotinvergiftung wie ein Knabe, der zum ersten Male raucht.
Ich, Darrell Standing, muß jetzt die Erzählung von diesem Dasein abschließen, das ich wiedererlebte, als ich in der Zwangsjacke lag.
Es wird einem Lebenslänglichen nicht leicht gemacht, in Verbindung mit der Außenwelt zu gelangen. Zweimal – einmal durch einen Wärter, einmal durch einen Gefangenen – habe ich eine Botschaft an den Direktor des Museums gesandt. Aber beide ließen mich im Stich. Erst als Ed Morrell durch eine seltsame Fügung des Schicksals aus der Einzelzelle herausgelassen und Vertrauensmann im Gefängnis geworden war, wurde es mir möglich, einen Brief zu schicken. Hier die Antwort, die mir der Direktor des Museums in Philadelphia schickte, und die Morrell einschmuggelte:
»Es befindet sich hier wirklich ein Ruder, wie das beschriebene, aber nur wenige wissen etwas davon, da es nicht in den öffentlich zugänglichen Sälen ausgestellt ist. Ich bin selbst seit achtzehn Jahren hier und hatte keine Ahnung von seiner Existenz. Als ich unsere Bücher untersuchte, fand ich indessen, daß ein solches Ruder im Jahre 1821 von einem gewissen Daniel Voß aus Elkton in Maryland geschenkt worden war. Nach langem Suchen fand ich das Ruder in einer entlegenen Ecke eines unbenutzten Raumes mit den Kerben und Inschriften, ganz wie Sie es angegeben haben. Wir besitzen auch ein von diesem Daniel Voß 1834 in Boston veröffentlichtes Schriftstück. Dieses Schriftstück ist die Beschreibung des achtjährigen Lebens eines Schiffbrüchigen auf einer öden Insel. Offenbar hat dieser Seemann, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, die Broschüre kolportiert und sie an Leute verkauft, die Mitleid mit ihm hatten.
Ich möchte gern wissen, wo Sie etwas von diesem Ruder erfahren haben, von dem wir hier im Museum nichts wußten. Habe ich recht, wenn ich vermute, daß Sie in irgendeinem von Daniel Voß veröffentlichten Tagebuch einen Bericht darüber gelesen haben? Es sollte mich freuen, etwas hierüber zu erfahren. Ich habe gleich Anstalten getroffen, das Ruder und die Broschüre in den Ausstellungssälen unterzubringen.
In vorzüglicher Hochachtung
Hosea Salsburty.«
Als wir nach der Hinrichtung Professor Darrell Standings sein Manuskript erhielten, schrieben wir an Hosea Salsburty, den Direktor des Museums in Philadelphia, und erhielten als Antwort seine Bestätigung, daß Ruder und Broschüre sich dort befänden.
Der Herausgeber.
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