Jack London
An der weißen Grenze
Jack London

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Der dunkle Strom, der jetzt mit reißender Schnelligkeit zwischen kristallenen Eismauern dahinschoß, bot ein erhabenes Bild. Im Hintergrund reckten sich grüne Wälder in den leicht bewölkten Sommerhimmel, und über allem lag die Sonne, deren Hauch heiß war, wie aus einem Schmelzofen. Bei diesem Anblick erinnerte sich Corliss an ein Bild im Wohnzimmer seiner Mutter. Er sah sie plötzlich in einer ihrer häufigen Teegesellschaften zwischen all den weißhaarigen Damen und Herren, sah die bunten Teppiche vor Augen, die zierlichen Dienstmädchen, hörte die Kanarienvögel . . .

In seinem Rücken fühlte er eine Frau . . ., die Frau, um die seine Gedanken kreisten . . ., und nun zogen alle Frauen, denen er im Leben begegnet war, im Geiste an ihm vorüber. Sie schienen ihm blasse, schwach leuchtende Gespenster, alle, im Vergleich mit dieser zarten, schlanken Frona, die hinter ihm den Riemen führte, um das Boot durch Not und Tod zu steuern, einem wildfremden Menschen zur Rettung.

An einer Eisscholle vorbei, die sich überstürzte, im Augenblick, als das Boot um einen Meter aus der Gefahr war, durch einen Kanal hindurch, so eng, daß man zu beiden Seiten die Eisstücke streifte, schoß das Kanu ins offene Wasser hinaus.

»Gut gemacht, Frona!« jubelte Corliss.

»Verrücktes Mädel!« knurrte der Schotte. »Hätten wir nicht noch ein bißchen warten können?«

Frona lachte leise und herausfordernd. Vance warf ihr über die Schulter einen Blick zu; über ihrem Gesicht lag ein frohlockendes Strahlen. Ihre Mütze hatte sich verschoben. Im Sonnenschein flatterten ihre Locken.

»Am liebsten möchte ich singen!« rief sie. »Aber ich darf die Puste nicht verschwenden.«

»So möchte ich immer mit Ihnen fahren«, unterbrach Vance.

Sie überhörte, was er sagte, und fuhr fort: »Vance, ich bin ja so froh, daß wir wieder Freunde sind.«

»Es ist nicht meine Schuld, daß wir nicht mehr sind als das.«

»Sie kommen aus dem Takt, mein Lieber!«

Die beiden Männer handhabten die Paddeln, daß der Schweiß in Strömen floß. Durch Wirbel und Stromschnellen, an zackigen Eisblöcken hin, steuerte Frona mit nachtwandlerischer Sicherheit. Ihr Paddel stieß wie ein Schwert in die Flut, immer in der letzten Sekunde am Verderben vorbei, und haarscharf fand sie den Weg, wie nur der kaltblütigste Mann ihn gefunden hätte. Das Boot schoß wie ein Pfeil vorwärts und wollte sich an einem Eisberg vorbeidrängen, der, plötzlich kalbend, mit Gedröhn in sich zusammenstürzte. Das Wasser schäumte in einem Riesenkranz hinter ihnen empor, sie entgingen den Blöcken, aber im Augenblick war ihr Kanu bis zum Rande gefüllt.

»Hab' ich es euch nicht gesagt, ihr Dummköpfe!« schrie der Schotte.

Corliss kommandierte:

»Sitzen Sie still und schöpfen Sie Wasser!« Dann drohte er warnend:

»Sonst hatten Sie zum letztenmal im Leben mit Dummköpfen zu tun!«

Im Schatten überhängender Blöcke gelangte das Boot lautlos in den letzten Wirbel hinein. Jetzt näherte es sich dem Gestade, aber dort herrschte eine wütende Brandung.

»Zeigt, was ihr könnt!« war der letzte Befehl, den Corliss geben konnte, denn in dem Getöse, in das sie jetzt stürzen mußten, wäre eine Männerstimme nur wie das Zirpen einer Grille im Gebrüll eines Erdbebens gewesen. Auf und nieder, auf und nieder gingen die Paddeln, das zerbrechliche Kanu zitterte und bebte unter der furchtbaren Anstrengung. Nach rechts und links wollte es der fauchenden Brandung entgleiten, aber Frona hielt es fest in der Hand. So kamen die letzten fünf Minuten, deren jede wie eine Ewigkeit war . . . jetzt waren es nur noch Meter, die Zoll um Zoll mit wütender Anstrengung bezwungen werden mußten. Dann waren sie am Ziel! In diesem Augenblick versagten die Nerven des Schotten. Wie eine Vision sah er das Verderben: sah die Nußschale in wirren Schaummassen untergehen, sich selbst mit im Winde flatterndem Haar und Händen, die ins Leere griffen, fühlte, wie die geifernde Flut ihn verschlang. Einen Augenblick lang, mit weitaufgerissenem Mund, starrte er vor sich hin, rührte die Paddel nicht – da waren sie schon wieder um viele Meter zurückgeworfen, trieben abermals in dem Wirbel, dem sie eben entronnen waren.

Frona lag ins Boot zurückgeschleudert und schluchzte. Die Sonne brannte ihr prall ins Gesicht. Corliss lag in der Mitte des Schiffes, er stöhnte laut, und vorn saß der Schotte, nach Luft ringend, das Gesicht in den Händen begraben.

Die Betäubung dauerte nur Minuten, dann ermannte sich Corliss: »Wir müssen raus!«

Über ihm hing regenbogenfarbig eine Eismauer, ein Märchenschloß! Silbernes Geäder rieselte durch die Wände, in den klaren Tiefen schienen alle Geheimnisse von Leben und Tod zu schlafen.

»Vorwärts! Noch einmal! Los!«

Der Schotte hob den Kopf und sah sich um: »Geben wir lieber auf.«

»Los!« wiederholte Corliss.

 

Sie landeten an einer hohen Bank, brachten mit letzter Kraft sich selbst und das Boot wieder aufs Trockene. Als sie endlich festen Boden unter den Füßen hatten, nach Todesängsten ohne Maß ihr Leben wieder gleichsam in Händen hielten und auf die Hölle zurücksahen, durch die sie geschifft waren, sprach Frona:

»Ach, Vance!«

»Frona! Ja, Frona!«

»Hätte ich dumme Gans doch mehr gegessen heut morgen! Einen Wolfshunger hab' ich.«

Sie ließen sich in der Sonne nieder, reckten die Glieder und schlugen ihre Zähne wie wilde Tiere in schwammig gewordenes Brot, in zähes Dörrfleisch; sie hätten sie in Lederriemen geschlagen, wäre kein Proviant dagewesen.

»Langsamer!« rief mit plötzlichem Schrecken Corliss. »Wir fressen ja dem Unglücklichen das Futter weg, mit dem wir ihn retten wollten.«

Jetzt hatte die Wirklichkeit sie wieder. Sie sahen einander an und lachten selig. In dieser Stunde vergaßen sie schon, wieviel Verzweiflung hinter ihnen lag.

»Jetzt müssen wir weiter«, sagte Frona und versuchte aufzustehen.

»Erst muß ich Sie verbinden, Frona.«

Corliss wies auf ihre Füße. Beim Klettern über den rissigen Hang hatte sie sich die Sohlen der Mokassins zerfetzt, das Eis hatte tiefe Risse in ihre Füße geschnitten. Die Sohlen und alle Zehen bluteten.

»Die zarten Füßchen«, spottete Phillips. »Man sollte nicht glauben, daß so ein süßes Mädel zwei starke Männer geradeswegs in die Hölle jagen kann.«

»Vielleicht sind Sie schon auf dem Weg zur Hölle!« antwortete Corliss zornig.

»Jawohl, mein Junge! Mit 40 Meilen Geschwindigkeit in der Stunde!« antwortete der Schotte, der um jeden Preis das letzte Wort haben wollte.

»Geben Sie mir eines Ihrer Hemden!« verlangte Corliss.

»Ich hab' ja nur eins an. Es macht auch nichts, wir müssen weiter.«

»Keinen Schritt, ehe ich Sie verbunden habe!«

Im Augenblick hatte Vance Corliss sein Hemd über den Kopf gezogen und fing an, es in breite Streifen zu zerreißen.

Frona lachte: »Was Sie für ein Kerl geworden sind! Wie Sie dastehen, mit zerzaustem Haar, eine Mordwaffe zur Seite und nackt bis zum Gürtel! Wie ein Seeräuber, ein Berserker, der in den Kampf zieht. Ich wollte, ich hätte meinen Photoapparat bei mir; dann könnte ich später sagen: so sah Vance Corliss, der große arktische Forscher, am Ende seiner berühmten Reise aus.«

Er kniete vor ihr nieder, um ihre Füße zu verbinden. Plötzlich fragte er: »Was ist aus Ihren Hosen geworden?«

Sie sah an sich herab, das Leder war zerfetzt. Aber immerhin war es noch eine Hose, und sie rief: »Schämen Sie sich!«

»Ich bedauere nur, daß ich keinen Apparat bei mir habe. Ich könnte sonst später sagen: Diese junge Dame hier, der der Wind durch die Hosen pfeift, ist . . .«

 

Zehn Minuten später erkletterten sie den Hang, auf dem immer noch das Notsignal flatterte. Dort lag, auf die Erde hingestreckt, ein regloser Mann.

»Tot . . . Wir kommen zu spät . . .«, flüsterte Frona mit Entsetzen.

Aber da bewegte sich der Kopf, und der Fremde stöhnte ganz leise. Seine derben Kleider waren zerfetzt, aus den zerschlissenen Mokassins sah zerschundenes Fleisch heraus. Eigentlich war er kein Mensch mehr, nur noch ein Gerippe. Seine Knochen schienen die gestraffte Haut zu sprengen.

Corliss legte die Hand auf seine Stirn. Da schlug er glasige Augen auf und versuchte zu sprechen.

»Das ist scheußlich«, murmelte Phillips und ließ seine Hand über den skelettierten Arm gleiten. Das Gerippe nahm ein wenig kondensierte Milch und heißen Tee auf. Dann schleppten sie zu dritt den elenden Rest eines Menschen über die Hänge hinab ins Boot. Eine Spur von Bewußtsein erwachte in dem Fremden. Er flüsterte heiser: »Jacob Welse . . . Wichtige Botschaft . . .«

Seine Finger tasteten kraftlos an dem offenen Hemd nach dem Lederriemen, an den eine Brieftasche angeschnallt war. – Das Kanu kam gut vom Ufer ab. Sie brauchten jetzt nur noch der Strömung zu folgen und hatten nicht mehr viel Anstrengung nötig. Corliss' nackter Rücken färbte sich schnell, die Sonne brannte ihn tiefrot, und Frona griff ins Wasser, spritzte ihm Kühlung über den Rücken:

»Heute abend werden Sie mit Goldcreme behandelt, wie ein neugeborenes Baby! Darauf freue ich mich!«

»Wir haben heute eine gute Tat getan«, bemerkte der Schotte. »Das ist Gott wohlgefällig, einem Bruder in der Not zu helfen.«

»Besonders, wenn's einem schwerfällt«, antwortete Corliss.

 

Sie landeten – aber auch die Heimfahrt hatte noch schwere Kämpfe gekostet, und öfters als einmal waren sie nur durch Wunder dem Tod entgangen – auf einer der »Split-up-Island«, nicht der, auf der Welses Lager war. Jetzt lagen sie unter alten Bäumen. Die Sonne schien spärlich durch die grünen Kiefernnadeln zu ihnen herein, Rotkehlchen sangen, und ein Riesenvolk von Grillen zirpte den Frühling an. Dort schliefen sie tief, viele Stunden lang, bis die tödliche Erschöpfung verwunden war. Am liebsten hätten sie für Tage und Nächte die Augen nicht wieder aufgetan. Aber der gerettete Indianer mußte Pflege haben. Noch eine Anstrengung . . . dann war das Werk getan.

Frona und Corliss drangen auf zitternden Beinen in das Innere der Insel ein. Sie stießen bald auf ein großes Blockhaus, aber kein Mensch war zu sehen.

»Gehen Sie zu unserem Patienten zurück, Vance. Ich bin noch lange nicht so müde wie Sie. Schließlich ist Steuern nicht dasselbe wie Rudern.«

Auf der anderen Seite der Hütte pochte Frona an die Tür. Als keine Antwort kam, öffnete sie und trat ein. Sie hatte nicht erwartet, einen Menschen anzutreffen, und nun war der ganze Raum voll von Männern, alle so völlig in Anspruch genommen, daß keiner auf sie achtete. Sie saßen in zwei Reihen auf langen Schlafpritschen, dazwischen war ein schmaler Gang, an dessen Ende ein breiter Tisch stand. Auf diesen Tisch schien sich alle Aufmerksamkeit zu konzentrieren.

Frona kam aus dem blendenden Sonnenlicht und tastete anfangs wie durch Nacht, so daß sie das ganze Bild nur wie Schatten aufnahm und beinahe für einen Spuk hielt. Dann aber, als sie sich an das Halbdunkel gewöhnt hatte, erkannte sie, daß an dem Tisch ein bärtiger Amerikaner saß, der von Zeit zu Zeit mit einem leichten Hammer auf das Holz schlug. Ihm gegenüber kauerte auf einer Bank Gregory St. Vincent. Er sah erschöpft und so verzweifelt aus, als hätte er viele Stunden lang geweint. Sein hübsches Gesicht war vor Angst ganz zerstört.

Der Mann mit dem Hammer hob die rechte Hand und sprach vor: »Schwören Sie, daß alles, was Sie hier vor Gericht erklären werden . . .«

Er hielt plötzlich an und sah zornig auf einen Mann, der an der anderen Seite des Tisches stand.

»Nehmen Sie den Hut ab!« sagte er heiser und drohend. Als der Mann gehorchte, lief ein breites Lachen durch die versammelte Menge. Dann begann der mit dem Hammer zum zweitenmal:

»Schwören Sie, daß alles, was Sie hier vor Gericht erklären werden, die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit ist! So wahr Ihnen Gott helfen möge!«

Der Zeuge, der wie ein Schwede aussah, hob den Arm, um den Eid nachzusprechen.

»Halt! Einen Augenblick, meine Herren!« rief Frona und drängte durch den schmalen Gang nach vorn. St. Vincent hörte den Klang ihrer hellen Stimme, sprang auf und streckte ihr die bebenden Arme entgegen.

»Frona!« rief er, und in seinem Ton lag etwas wie Glück. »Frona! Du mußt mir glauben, daß ich unschuldig bin!«

Einen Augenblick war alles, was Frona in dem schwachen Licht wahrnahm, eine Masse weißer Gesichter mit vielen brennenden Augen, die wie eine gespenstische Drohung St. Vincent umgaben.

Unschuldig? Welcher Tat sollte er unschuldig sein? Was wollten diese Menschen von ihm? Weswegen hatten sie ihn angeklagt? Gestern abend noch hatte er harmlos und hilfsbereit in ihrem Kreise gesessen, war nur auf eine kurze Rast, und um sich für die Rettungsexpedition zu rüsten, nach Hause gegangen . . . was konnte er während dieser wenigen Stunden verbrochen haben?

»Eine Freundin des Angeklagten«, sagte der Richter mit dem Hammer. »Will einer von euch einen Stuhl für sie holen?«

»Einen Augenblick . . .«

Sie schwankte auf den Tisch zu und legte die Hand darauf.

»Ich habe einen Antrag zu stellen . . .«

Ihr Blick glitt an der eigenen Gestalt nieder, sie sah, daß ihre Füße in schmutzige Lumpen gewickelt waren, daß sie eine zerfetzte Hose trug, daß ihr Arm aus einem Riß im Ärmel hervorsah, und daß das Haar ihr um die Ohren wehte. Ihre Wangen und die eine Seite ihres Halses waren von einem merkwürdig klebrigen Stoff überzogen. Sie kratzte mit der Hand daran, Brocken getrockneten Schlammes fielen zu Boden.

»Was geht hier vor . . .? Ich verstehe das alles nicht«, stotterte sie.

»Setzen Sie sich jetzt, Fräulein«, sagte der Vorsitzende freundlich. »Wir sind alle in derselben Lage wie Sie. Wir verstehen es auch nicht. Aber Sie können mir glauben, wenn ich Ihnen sage: wir sind hier, um die Wahrheit zu finden. Und die werden wir finden! Setzen Sie sich.«

Sie hob die Hand: »Einen Augenblick . . .«

»Setzen Sie sich!« sagte der Mann mit dem Hammer streng. »Das Gericht darf nicht gestört werden.«

Mißbilligende Worte, ein drohendes Murmeln kamen aus der Versammlung, der Mann schlug mit dem Hammer auf den Tisch, um Schweigen zu gebieten. Aber Frona blieb stehen.

»Herr Vorsitzender, wenn das hier ein Gericht ist . . .«

Der Mann nickte.

». . . dann habe ich ebensoviel Recht, gehört zu werden, wie jeder andere. Ich habe eine wichtige Mitteilung zu machen.«

»Aber Sie dürfen nicht unterbrechen, Fräulein – Fräulein . . .«

». . . Welse!« ergänzte ein Chorus tiefer, gedämpfter Stimmen.

»Fräulein Welse!« fuhr der Richter fort. Seine Haltung wurde sogleich ehrerbietiger. »Es tut mir leid, aber ich kann nicht dulden, daß Sie das Verhör unterbrechen. Nehmen Sie Platz.«

»Ich appelliere an die Versammlung! Die Verhandlung muß unterbrochen werden! Zehn Schritte von hier, gleich hinter dieser Hütte, liegt ein Mann, der am Verschmachten ist. Wir haben ihn vom anderen Ufer des Yukon herübergeholt. Der Mann braucht Hilfe, sofort, ohne jeden Verzug.«

»Vier Mann sofort hinaus! Die der Tür am nächsten sitzen«, befahl der Richter. »Und Sie gehen mit, Doktor! Ich danke Ihnen, Fräulein Welse. Sie hatten recht.«

»Ich bitte . . . Verhandlung . . . unterbrechen«, flüsterte St. Vincent.

»Darum bitte ich auch, Herr Vorsitzender«, schloß Frona sich an. »Vertagen Sie das Verhör, bis für den Mann draußen gesorgt ist.«

»Weiter verhandeln! Keine Unterbrechung!« kam es aus dem Auditorium.

Frona verbeugte sich vor dem Richtertisch und nahm auf dem Stuhl neben Gregory Platz.

»Was geht hier vor? Was will man von dir?«

Er nahm ihre Hand und preßte sie mit schweißnassen Fingern.

»Glaub' ihnen nicht, Frona. Sie wollen . . . sie wollen mich . . .«, er würgte, als säße die Faust des Todes schon an seiner Kehle, »sie wollen mich umbringen.«

Frona zog ihren Stuhl ganz nahe an den seinen heran und legte beide Hände auf seinen schlotternden Arm.

»Du mußt ganz ruhig sein, Vincent. Ganz ruhig. Es gibt solche Stunden, in denen darf ein Mann seine Nerven nicht verlieren, und dann ist auf einmal alles ganz anders, und alle Gefahr ist vorbei. Du kannst nichts Böses getan haben. Nichts, was gegen die anderen ist. Denn das sind ja alles unsere Kameraden, und du bist ein guter Kamerad. Und jetzt bin ich bei dir, und ich gehe mit dir durch Himmel und Hölle. Und jetzt erzählst du mir alles.«

Er hatte sich, während sie zu ihm sprach, die Hand über die Augen gedeckt. Zwischen seinen Fingern rollten dicke Tränen herunter.

»Gestern abend«, begann er. Aber dann unterbrach er sich und horchte in verzweifelter Spannung auf die Aussage des Skandinaviers, der vor einem Augenblick seinen Eid abgelegt hatte und jetzt langsam auszusagen begann.

»Ich liege in meiner Hütte«, erzählte der Mann. »Ich schlafe und träume was, und auf einmal wache ich auf und weiß nicht, wovon, und dann bin ich gleich ganz wach. Das ist so bei mir, ich schlafe ganz fest, aber dann bin ich mit einemmal bei allem dabei, sozusagen mit einem Sprung. Da ist doch was los, sage ich mir, und raus aus der Koje und an die Tür. Und richtig, da höre ich doch einen Schuß.«

Ein Mann mit rotem Gesicht unterbrach ihn.

»Wer glauben Sie, hat da geschossen?«

»Was wollen Sie wissen?« fragte der Zeuge verständnislos. »Wer da geschossen hat, wollen Sie wissen?«

Der Richter nahm das Wort: »Was war Ihr erster Gedanke, als Sie in die Tür traten?«

»Ja, das war so mit meinem ersten Gedanken«, seufzte der Mann. »Ich hab' doch nämlich keine Mokassins. Und wie ich so in Strümpfen hinaustrete, gerade aus der warmen Koje hinaus in die kalte Luft, da war mein erster Gedanke natürlich: Pfui Teufel, das ist ja eine Hundekälte!«

Dann wurde sein gespanntes Gesicht plötzlich sehr zufrieden, die reinste Sonne lag über seinem Mund, als er fortfuhr: »Na, jetzt hab' ich aber wieder Mokassins, und nun ist das ja alles nicht mehr so schlimm.«

Ein großes Gelächter beendete seine Erklärung, aber er ließ sich nicht stören, sondern fuhr gelassen in seiner Aussage fort.

»Dann höre ich noch einen Schuß, und da bin ich ja dann gelaufen, immer den Weg hinunter, da, wo der Schuß hergekommen ist.«

In diesem Augenblick drängte Corliss sich durch die Menge bis zu Frona durch, und sie hörte nicht, was der Schwede weiter aussagte.

»Was gibt es?« fragte Corliss hastig. »Kann ich Ihnen helfen? Ich bin nur dazu auf der Welt, um Ihnen zu helfen, wenn Sie in Not sind!«

Sie ergriff seine Hand und drückte sie dankbar.

»Sofort, Corliss! Sofort, machen Sie sich auf den Weg, irgendwie müssen Sie über den Kanal kommen und zu meinem Vater! Versäumen Sie keine Minute! Bringen Sie ihn her! Sagen Sie ihm, man hat Gregory St. Vincent angeklagt, wegen . . .«

Plötzlich fiel ihr ein, daß sie noch immer nicht wußte, um was es ging.

»Weswegen bist du hier, Gregory? Weswegen bist du angeklagt?«

Ganz langsam kam zwischen seinen todblassen Lippen das entsetzliche Wort heraus, so langsam, als bedeutete es schon Verurteilung, wenn er es aussprach: »Mord.«

»Mord? . . .« fragte Corliss.

»Sagen Sie meinem Vater, daß er wegen Mordes angeklagt ist. Aber es muß alles ein Irrtum sein, und ich bin hier und ich verteidige ihn. Aber ich weiß ja nicht, was es hier für Gesetze gibt, bei so einem Goldgräber-Gerichtshof, und ich bin ja auch so schwach gegen all diese Männer. Sie wollen gerecht sein, das weiß ich, aber mein Vater muß dabei sein, seine Klugheit, seine Ruhe, damit wirklich Recht gesprochen wird. Und sagen Sie ihm«, dabei fiel ihr Blick wieder auf die zerfetzte Hose, in der sie vor diesem hohen Gerichtshof erschienen war, »er soll mir etwas zum Anziehen mitbringen. Und seien Sie nicht zu tapfer, wenn Sie über den Kanal setzen! Es ist furchtbar wichtig, Vance, aber Sie müssen Ihr Leben schonen, Sie dürfen nicht leichtsinnig sein. Aber versuchen müssen Sie es. Es wäre schrecklich, wenn mein Vater nicht käme.«

»Verlassen Sie sich auf mich.«

Corliss warf zuversichtlich den Kopf zurück und drängte sich durch die Menge.

»Wer ist dein Verteidiger?« fragte Frona.

Er schüttelte den Kopf.

»Du hast keinen?«

»Sie wollten mir einen geben. Einen früheren Rechtsanwalt aus den Staaten, Bill Brown heißt er, aber den habe ich abgelehnt. Ich weiß zuviel von ihm. Und vielleicht weiß er auch viel von mir, was ihn nichts angeht. Jetzt macht er den Staatsanwalt. Ich hätte ihn doch nicht ablehnen sollen. Es ist ein Lynchgericht, weißt du, und sie sind alle parteiisch. Auf mich haben sie es abgesehen, ich bin verloren.«

»Wenn ich nur Zeit hätte, wenn du mir nur einmal alles erzählen könntest.«

»Frona, ich bin doch unschuldig, ich habe doch nichts getan, ich hab' doch kein Blut vergossen.«

»Nimm dich zusammen! Ich beschwöre dich! Nimm dich zusammen!«

Sie legte die Hand wieder auf seinen Arm und preßte die Hand in seine Finger.

»Gregory, du hast verloren bei all diesen Männern, wenn du kein Mann bist. Du weißt ja gar nicht, wie sie das hassen, wenn ein Mann in der Gefahr weint. Sie glauben ja alle, das sei schlechtes Gewissen. Oder sie glauben noch viel Schlimmeres – um Gottes willen, Vincent, wein' doch nicht, sie glauben ja dann, daß du ein Feigling bist. Diese Leute wissen ja nichts von Nerven! Sie wissen ja nicht, daß du nur weinst, weil du empfindlichere Nerven hast als sie.«

Inzwischen war der Zeuge in seiner Aussage schon sehr weit gekommen.

»Der fremde Doktor schlägt also mit Händen und Füßen um sich«, erzählte er. »Aber nun gehen wir ran, ich und der Pierre, und packen ihn und ziehen ihn in die Hütte herein. Er schreit und schreit, wie ein angestochenes Schwein, und steht da und schreit.«

»Wer hat geschrien?« unterbrach ihn der Mann, der als Ankläger fungierte.

»Na, er natürlich! Der da.« Der Zeuge wies auf St. Vincent. »Und nu heißt's also Licht machen. Das war jetzt zum Beispiel gar nicht so einfach, denn erstens war die Lampe umgeworfen, und dann weiß ich ja auch gar nicht so Bescheid in dem Haus. Jetzt zeigt sich's aber, wie gut das ist, wenn ein Mann immer eine Kerze in der Tasche hat. Und Streichhölzer natürlich auch. Tja, das kann manchmal sehr nützlich sein . . . Und dann hab ich Licht gemacht. Da liegt also mein Borg auf dem Fußboden, so tot, wie ein Mann nur sein kann, in seinem Alter und bei seiner Gesundheit. Und die Squaw, nämlich was dem Borg seine Frau war, die sagt, daß er es getan hat, und dann legt sie sich hin und stirbt auch.«

»Daß er es getan hat, hat sie gesagt? Wer?! Wen hat sie genannt?«

»Na, er natürlich. Er, der fremde Doktor da.« Dabei wies er mit dem dicken, schmutzigen Finger auf St. Vincents Gesicht. »Wer soll's denn auch sonst gewesen sein?«

»Hat sie das wirklich gesagt?« flüsterte Frona ihrem Geliebten zu.

»Ja«, keuchte er zurück. »Gesagt hat sie das. Sie muß verrückt gewesen sein. Der Wahnsinn über all das, was da geschehen war. Ich verstehe es nicht, ich werde es nie verstehen . . .«

Der zweite Zeuge, ein kleiner Mann mit rotem Gesicht, der schon vorher in die Verhandlung eingegriffen hatte, unterwarf den ersten Zeugen einem eingehenden Kreuzverhör. Es kam aber kein Widerspruch zutage, so sehr Frona auf jedes Wort lauerte.

»Wenn Sie jetzt Fragen an den Zeugen stellen wollen, bitte . . .«, sagte der Vorsitzende zu Gregory. Gregory schüttelte völlig entmutigt den Kopf.

»Frag doch! Wehr dich!« drängte Frona.

»Wozu? Ich bin im voraus für schuldig erkannt. Mein Urteil war schon gefällt, als all das angefangen hat.«

»Einen Augenblick, bitte!« rief Frona mit heller fester Stimme. »Erlauben Sie, Herr Vorsitzender, erlaubt die Versammlung unserer ehrenwerten Kameraden, daß ich diesen Mann hier verteidige? Ich bin ein Mädchen, aber er hat keinen anderen Freund hier, und es gibt, glaube ich, kein Gesetz, das es verbietet.«

Es trat eine plötzliche Stille ein. Der Vorsitzende wartete auf irgendein Wort des Widerspruchs, aber da alles mit angehaltenem Atem dasaß und auf das tapfere Mädchen im Goldgräberanzug blickte, faßte er seinen Beschluß.

»Bitte, übernehmen Sie die Verteidigung, Fräulein Welse. Die Versammlung sowohl wie ich begrüßen es, daß der Angeklagte nicht mehr ohne Verteidiger ist.«

»Dann bleiben Sie noch einen Augenblick, Herr Zeuge! Wissen Sie nichts außer den letzten Worten der Indianerfrau, das zur Überführung des Mörders dienen könnte?«

Der Schwede stierte vor sich hin, als hoffte er, ihre Frage würde langsam in sein Begriffsvermögen eindringen. Er hatte sich seine ganze Aussage wohl zurechtgelegt, Schritt für Schritt und Punkt für Punkt. Aber auf Zwischenfragen, die eigenes Denken erforderten, war er nicht eingerichtet.

»Sie haben nicht mit eigenen Augen gesehen, wer es tat?« fragte sie wieder.

»Aber natürlich. Der fremde Doktor da.« Wieder hob er den anklagenden Finger. »Wenn sie doch gesagt hat, daß er es getan hat.«

Bei dieser Erklärung glitt ein Lächeln über alle Gesichter, und Frona spürte, daß sie jetzt schon Boden gewann. Immerhin war der anklagende Zeuge als ein ziemlich dummes und deshalb wenig brauchbares Instrument der Gerechtigkeit entlarvt.

»Gesehen haben Sie also nichts?«

»Schießen hab' ich gehört.«

»Aber nicht gesehen, wer schoß?«

»Wenn ich Ihnen darauf jetzt antworten sollte, Fräulein, dann wüßte ich eigentlich nicht, was ich antworten soll. Wenn die Squaw doch nun mal gesagt hat, was sie gesagt hat, dann ist doch für jeden vernünftigen Menschen die Sache klar?!«

»Ich danke Ihnen, das genügt«, sagte Frona freundlich, und der Mann zog sich zurück.

Der Vorsitzende sah in seine Aufzeichnungen: »Pierre La Flitche!« rief er.

Ein dunkelhäutiger Mann, schlank und geschmeidig, trat mit sicheren Schritten auf das Podium neben dem Tisch, das als Zeugenbank diente. Es war ein schöner Bursche, dessen schneller, beredter Blick furchtlos von einem Gesicht zum anderen wanderte. Einen Augenblick sah er in freimütiger Bewunderung Frona an. Er lächelte, und sie nickte leise, denn er gefiel ihr, und es kam ihr vor, als sei er ein alter Freund. Auf die ersten Fragen des Vorsitzenden erklärte Pierre La Flitche, er sei nach seinem Vater genannt, der von den alten Waldläufern aus Frankreich stammte. Seine Mutter sei eine Mestize, von einem weißen Vater und einer eingeborenen Mutter. Wo er geboren sei, wisse man nicht, irgendwo bei einer Jagd. Hier in Alaska sei er seit vielen Jahren, seit er denken könne.

»Erzählen Sie so kurz wie möglich, was Sie von der Mordsache wissen.«

Er bedachte sich einen Augenblick . . . der Anfang war schwer zu finden.

»Im Frühling schläft sich's gut bei offener Tür«, sagte er. Seine Stimme war klar, es lag darin etwas von dem Vogellaut der indianischen Sprache, die ein Teil seiner Vorfahren gesprochen hatte. »So habe ich auch gestern bei offener Tür geschlafen. Ich bin mein Leben lang auf der Jagd gewesen, ich schlafe nicht sehr fest. Ich höre, wenn ein Blatt zu Boden fällt, ich höre, wenn ein Wind sich erhebt. Ich schlafe, aber meine Ohren flüstern mir zu, was draußen geschieht. Die ganze Nacht über flüstern meine Ohren. Da brauchte nur der erste Schuß zu fallen, und schon bin ich draußen vor der Tür.«

St. Vincent flüsterte Frona zu. »Es war nicht der erste Schuß.«

Sie nickte, ohne den Blick von La Flitche abzuwenden, der seine Aussage höflich unterbrochen hatte.

»Ein Schuß, dann still . . . dann noch zwei Schüsse schnell nacheinander«, fuhr er fort. »So: bum . . . bum bum. ›Borgs Hütte‹, sage ich mir und laufe den Weg hinab. Borg macht Bella tot, habe ich gedacht und war sehr traurig. Bella ist ein schönes Mädchen gewesen«, vertraute er den Zuhörern mit traurigem Lächeln an, »ich habe Bella gern gehabt. Vielleicht kann ich helfen, habe ich zu mir gesagt, und bin so rasch gelaufen, wie man kann. Da kommt auch John aus seiner Hütte heraus, ein bißchen besoffen, meine Herren Richter, und mit viel Lärm. ›Was gibt es?‹ sagt er, und ich sage: ›Das werden wir gleich sehen.‹ Und da kommt etwas – hurr – aus dem Dunkel heraus, so ›Hurr‹ – – und wirft John um und wirft mich beinahe auch um. Ich greife danach, und John, der auf dem Boden liegt, greift nach seinen Beinen, und dieser Mann da war es. Er ruft ›Oh! Oh! Ooh!‹, genau so. Er ist nur halb angezogen – wir halten ihn fest, und dann kommt John auf die Beine, und dann sage ich ›komm mit zurück‹.«

»War es wirklich dieser Mann da auf der Anklagebank?«

La Flitche sah sich noch einmal Gregory St. Vincent an, als gäbe es auch für ihn noch den geringsten Zweifel: »Dieser Mann war es!«

»Er will nicht mit uns zurückgehen. Aber John und ich sagen ›du gehst . . .‹, und er geht.«

»Sagte er etwas?«

»Ich fragte ihn, was geschehen ist – ich habe ihm viele Fragen gesagt. Aber er ruft nur immer ›Oh! Oh! Oh! Oh! Oh!‹ und weint.«

»Ist Ihnen noch etwas aufgefallen?«

»Ah, ja, Blut an seinen Händen.«

Durch die Reihen lief ein erregtes Murmeln, aber der Zeuge fuhr fort zu erzählen. Seine Mienen und seine Gesten begleiteten die ganze Erzählung mit der Ausdruckskraft des Naturmenschen.

»John macht Licht mit der Kerze, die er in seiner Tasche hat, und da liegt Bella auf dem Boden! Bella stöhnt wie eine Robbe, wenn sie einen Schuß durch den Leib hat. Und in der Ecke liegt Borg. Ich sehe ihn an . . . er atmet gar nicht. Da schlägt Bella die Augen auf, und ich sehe hinein, und da weiß ich, daß sie mich erkennt. Sie hat gleich gewußt, daß ich der Pierre bin. ›Wer hat es getan, Bella?‹ frage ich. Da dreht sie den Kopf herum und flüstert, ach, so leise, so langsam: ›Ihn tot?‹ Ich weiß, daß sie Borg meint, und ich sage: ›Ja.‹ Da stützt sie sich auf einen Ellbogen und sieht sich um. Wie sie den Mann da sieht, sucht sie nicht mehr weiter und rührt sich nicht mehr. Nur immer angesehen hat sie ihn, immer nur ihn. Und dann hat sie noch einmal die Hand hochgehoben und hat auf ihn gezeigt und hat gesagt: ›Ihn!‹«

La Flitche ahmte jede Bewegung der sterbenden Bella nach. Als sein Finger jetzt auf den Angeklagten wies, zitterte er, wie die Hand der Sterbenden gezittert hatte: »Sie sagt nur: ›Ihn! Ihn! Ihn!‹, und ich frage wieder: ›Bella, wer hat es getan?‹, und sie sagt wieder: ›Ihn! Ihn! Ihn!! St. Vincent ihn tun es getan.‹ Und dann . . .«

La Flitche ließ seinen Kopf kraftlos auf die Brust sinken und ahmte das Verröcheln Bellas nach, bis zum letzten matten Hauch. Dann richtete er sich plötzlich wieder auf, stand in seiner natürlichen, aufrechten Haltung da, und seine weißen Zähne blitzten, als er schloß: »Bella tot.«

Der Ankläger stellte die üblichen Fragen, die natürlich nur dazu dienen sollten, die Aussagen des Belastungszeugen zu erhärten.

»Was wissen Sie von dem Kampf, der vorausgegangen ist? Der schwere Tisch war doch zerschmettert, der Ofen umgeworfen?«

»Es sah schrecklich aus«, bekräftigte La Flitche. »Nie in meinem Leben hab' ich so etwas gesehen.«

Brown überließ mit einer Verbeugung Frona das Verhör, und sie dankte ihm mit ihrem liebenswürdigsten Lächeln. Es schien ihr gut, mit dem Gegner auf möglichst freundschaftlichem Fuß zu stehen, und sie wußte genau, was das Lächeln einer jungen Frau in dieser Versammlung bedeutete. Im Grunde wollte sie die Verhandlung nur hinziehen, bis ihr Vater kam. Ihr galt es bei jeder Frage nur, Zeit zu gewinnen, Zeit, Zeit, Zeit! Endlich mußte eine Vertagung eintreten, und dann konnte sie Gregory unter vier Augen sprechen. Er war so verängstigt, so bis in die letzten Nerven zerstört, daß es jetzt unmöglich war, Einzelheiten aus ihm herauszuholen. So stellte sie an La Flitche eine unendliche Reihe von Fragen, aber nur bei zwei Antworten kam ein neues Moment an den Tag.

»Sie sprachen von einem ersten Schuß, Herr La Flitche. Aber die Wände einer Blockhütte sind sehr dick. Glauben Sie, Sie hätten bei geschlossener Tür einen Schuß gehört?«

Er schüttelte den Kopf. Seine dunklen Augen verrieten ihr, daß er schon wußte, wo sie ihn festzunageln trachtete.

»Also, Herr Zeuge, wenn Sie vom ersten Schuß sprechen, so meinen Sie nicht den ersten Schuß, der gefallen ist, sondern den ersten, den Sie gehört haben?«

Wieder nickte er. Sie hatte schon den Eindruck seiner Zuverlässigkeit um eine Spur geschwächt, aber sie wußte selbst noch nicht recht, wohin das führen sollte.

»Sie sagen, daß es sehr dunkel war?«

»Ah, ja, ganz dunkel!«

»Wie konnten Sie sofort wissen, daß es John war, den Sie zuerst trafen?«

»John macht viel Lärm, wenn er läuft. Ich kenne seinen Lärm genau.«

»Aber Ihre Augen haben Ihnen nicht gesagt, ob es John war oder ein anderer Mann, der beim Laufen Lärm macht.«

»O nein!«

»Dann frage ich Sie eins, Herr Zeuge, und ich bitte Sie, sich die Antwort sehr genau zu überlegen! Wie konnten Sie wissen, daß an den Händen von Herrn St. Vincent Blut war?«

Er zeigte mit einem Lächeln seine blendenden Zähne und dachte keine Sekunde über die Antwort nach.

»Wie? Ich fühle etwas Warmes an seinen Händen. Was kann das sein? Meine Nase sagt mir alles. Den Rauch vom Jagdlager weit fort . . . Das Loch, wo ein Kaninchen sich versteckt . . . Die Fährte, die ein Elch gezogen hat.«

Er warf den Kopf zurück, mit einem gespannten Ausdruck, mit geschlossenen Augen und zitternden Nüstern zeigte er, wie alle anderen Sinne eines Jägers ruhen, der sich ganz auf die Wahrnehmungen seiner Nase verläßt. Dann öffnete er die Augen wieder und betrachtete Frona fast traurig.

»Ich rieche Blut an seinen Händen, warmes Blut, ich rieche das heiße Blut an seinen Händen.«

»Dafür kennen wir ihn! Die beste Nase von Klondike!« rief ein Mann aus der Versammlung.

Frona warf unwillkürlich einen Blick auf St. Vincents Hände und bemerkte mit Entsetzen rostbraune Flecken auf den Manschetten seines Flanellhemdes.

Als der Zeuge abgetreten war, tat der Ankläger Bill Brown ein paar Schritte auf Frona zu und reichte ihr die Hand.

»Ich freue mich, einen so sympathischen Verteidiger begrüßen zu dürfen.«

Sie zeigte ihm ihr liebenswürdigstes Lächeln, aber dann fragte sie rasch:

»Ist das vornehm, wie man uns behandelt? Sagen Sie selbst, als Gegner, muß man uns nicht Zeit lassen, die Verteidigung vorzubereiten? Ich weiß doch nichts von der Sache, als was Ihre beiden Zeugen vorgebracht haben. Als gerechter und vornehmer Gegner, Herr Brown, finden Sie nicht, man müßte die Verhandlung bis morgen aussetzen? Wollen Sie Ihr Plädoyer gegen einen Mann führen, der keine Gelegenheit hatte, sich so zu verteidigen, wie es jedes Gesetz verlangt?«

Er sah auf die Uhr und sagte nachdenklich: »Das ist keine schlechte Idee. Außerdem ist es schon fünf Uhr, wir müssen alle an unser Nachtessen denken.«

Wie sie ihm dankte! So kann, ohne ein Wort zu sprechen, nur eine Frau danken. Er sah ihr in die Augen und fühlte sich mehr belohnt als durch viele Worte. Dann trat er auf seinen Platz zurück und wandte sich an die Versammlung:

»Nach Beratung zwischen Ankläger und Verteidiger, in Anbetracht der vorgerückten Zeit, angesichts der Tatsache, daß die Verhandlung heute zu keinem gerechten Abschluß mehr gebracht werden kann, beantrage ich die Vertagung auf morgen vormittag.«

»Dem Antrag wird stattgegeben«, erklärte der Vorsitzende, als kein Protest sich erhob. Dann stieg er von seinem Richterstuhl herab und machte sich eilig daran, das Feuer zu schüren und Kessel zuzusetzen. Er war ein Bewohner dieser Hütte und hatte an diesem Tag Küchendienst.

 


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