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Hopfenpflücker

So sehr hat sich die arbeitende Menschheit von der Bebauung der Erde losgesagt, daß die ländlichen Distrikte in der ganzen zivilisierten Welt sich auf Hilfe aus den Städten verlassen müssen, um die Ernte hereinzubekommen.

Deshalb wird der vom Lande stammende Überschuß der Großstadt wieder aufs Land zurückgerufen, wenn der reiche Segen der Erde in Gefahr ist, umzukommen. In England kehren die Arbeiter nie als wohlhabende Leute zurück, sondern als Ausschuß – als Landstreicher und Parias, vor denen ihre Brüder auf dem Lande sich fürchten und fliehen, als Tagediebe, die in Gefängnissen und Armenhäusern oder unter Büschen schlafen und von Gott weiß was leben.

Man rechnet, daß Kent allein achtzigtausend Herumtreiber braucht, um seinen Hopfen zu pflücken. Und aufs Land hinaus strömt eine Schar vom Volke des Abgrunds, einer inneren Stimme gehorchend – der Forderung ihres Magens und dem noch in ihnen schlummernden Rest von Abenteuerlust. Die Armenviertel, die Kasernen und die Ghettos speien sie aus, ohne daß man spürt, daß der Inhalt der Großstadt an Fäulnis sich verringert. Sie überschwemmen das Land wie ein Heer von Dämonen, und das Land liebt sie nicht. Sie passen auch eigentlich nicht dorthin. Wie sie ihre schlaffen, mißbildeten Leiber auf Straßen und Wegen dahinschleppen, gleichen sie einer häßlichen Brut aus der Unterwelt. Ihre Anwesenheit allein, die Tatsache, daß sie atmen, tut ja der frischen, strahlenden Sonne und den grünenden, sprießenden Pflanzen Gewalt an. [Ihre widerliche Krummheit machte die reinen, aufrechten Bäume zuschanden], und ihre Fäulnis ist eine häßliche Entheiligung der Schönheit und Reinheit der Natur.

Ist dieses Bild eine Übertreibung? Für den, der das Leben liebt und es beurteilt, ohne etwas anderes als Aktien und Kupons zu kennen, ist es sicher eine Übertreibung. Für den aber, der das Leben im Hinblick auf allgemeinen Menschenwert beurteilt, kann es unmöglich zu stark sein. Solche Horden tierischen Elends und unbegreiflichen Jammers haben selbstverständlich keinen Wert für einen millionenschweren Brauer, der in einem Palast in West End wohnt und seine Neigungen mit den sensationellen Freuden aller goldenen Theater Londons befriedigt, der mit Lords und Prinzen trinkt und vom König zum Ritter geschlagen wird. Er verdient sich seine Sporen – ja, Gott helfe uns! In alten Tagen, als in der Schlacht große blonde Barbaren an der Spitze ritten, gewann man sich seine Sporen, indem man die Feinde vom Scheitel bis zum Sattel spaltete; und alles in allem ist es wohl edler, einen starken Mann mit einem sicheren Hieb von singendem Stahl zu töten, als mit Hilfe der schlauen, tückischen Handgriffe von Industrie und Politik ihn und seine Nachkommen durch viele Generationen hindurch zu Sklaven zu machen.

Kehren wir jedoch zum Hopfen zurück. Auf diesem Gebiet spürt man die Flucht vor dem Bodenbau ebenso stark wie auf allen andern Gebieten der Landwirtschaft in England. Während immer mehr Bier gebraut wird, nimmt der Hopfenbau beständig ab.

Dieses Jahr ist nur sehr wenig angebaut worden, dazu war der Sommer schlecht, und furchtbare Unwetter haben die Ernte verringert. Die Folgen dieses Unglücks hat sowohl der Herr zu tragen, dem die Hopfenernten gehören, wie der, der den Hopfen pflückt. Die Bauern müssen sich mit weniger von den guten Dingen des Lebens begnügen, die Pflücker weniger essen von dem, was sie selbst in den besten Zeiten nicht genügend bekommen. Wochenlang hat man in den Londoner Zeitungen Überschriften wie folgende lesen können:

»Massenhaft Landstreicher, aber wenig Hopfen.«

Außerdem wurden viele Artikel ungefähr folgenden Inhalts gedruckt:

»Aus den Hopfendistrikten erhalten wir traurige Neuigkeiten. Das gute Wetter der letzten Tage hat viele Hunderte von Hopfenpflückern nach Kent gelockt, die jetzt warten müssen, weil der Hopfen noch nicht reif ist. In der Umgegend von Dover ist die Zahl der Landstreicher in den Arbeitshäusern dreimal so groß wie voriges Jahr um diese Zeit, und auch in verschiedenen andern Gegenden ist die späte Saison schuld an dem starken Zuwachs in den Arbeitshäusern.«

 

Um das Unglück noch größer zu machen, wurden Hopfengärten und Hopfenpflücker, als die Ernte begonnen hatte, fast fortgefegt von einem furchtbaren Unwetter mit Sturm, Regen und Hagel. Der Hopfen wurde von den Stangen gerissen, während die Pflücker, die Schutz vor dem peitschenden Hagel suchten, in ihren Hütten und Löchern an den niedrig gelegenen Stellen fast ertrunken wären. Ihre Situation war nach dem Unwetter kläglicher als je, ihre Obdachlosigkeit jetzt erst buchstäblich. Denn wenn die Ernte auch elend war, so bedeutete ihre Vernichtung für sie doch, daß sie jede Möglichkeit, einige wenige Groschen zu verdienen, verloren. Und Tausende konnten nichts anderes tun, als zu Fuß nach London zurückwandern.

»Wir wollen nicht die Landstraßen fegen«, sagten sie und zogen fort von den Feldern, wo man bis über die Fußgelenke im Hopfen watete. Die Zurückbleibenden jammerten furchtbar über die halbnackten Stangen, und weil sie vierzehn Scheffel für einen Schilling pflücken sollten – die Bezahlung in guten Jahren, wenn der Hopfen von bester Sorte ist, und im übrigen auch die Bezahlung in schlechten Jahren, weil die Bauern nicht mehr bezahlen können.

Ich kam, kurz nachdem der Orkan gewütet hatte, durch Teston, Ost- und West-Farleigh; ich hörte die Klagen der Pflücker und sah den Hopfen auf den Feldern faulen. In den Treibhäusern in Barham Court waren dreißigtausend Scheiben vom Hagel zerschlagen, und Pfirsiche, Pflaumen, Birnen, Äpfel, Rhabarber, Mangos, alles war dahin.

Es war schlimm für die Besitzer, aber es gab doch keinen einzigen unter ihnen, der sich deshalb nicht satt essen konnte. Dennoch waren sie es, denen die Zeitungen lange Spalten voller Sympathie widmeten, wenn sie die pekuniären Verluste beschrieben: »Herr Herbert L... berechnet seinen Verlust auf 8000 Pfund Sterling«; »Herr F..., der bekannte Brauereibesitzer, der alles Land in diesem Distrikt gepachtet hat, verliert 10 000 Pfund«; »ebenfalls große Verluste erleidet der Wateringburyer Brauer Herr L..., ein Bruder des Herrn Herbert L...«

Um die Pflücker kümmerte sich niemand. Aber ich behaupte, daß die vielen knappen Mahlzeiten, deren der unterernährte William Buggles und die unterernährte Frau Buggles und die unterernährten kleinen Buggles verlustig gingen, eine weit furchtbarere Tragödie darstellten als die zehntausend Pfund Sterling, die Herr F... verlor. Und dazu muß man sich erinnern, daß der unterernährte William Buggles nur einer von Tausenden war, während Herr F... nicht einmal mit fünf multipliziert werden kann.

Um zu sehen, wie es William Buggles und andern seines Schlages erging, zog ich mein Seemannszeug an und begab mich auf die Arbeitssuche. Ich schloß mich beherzt einem jungen Schuhflicker aus Ost-London an, der sich von dem Abenteuerlichen der Fahrt hatte verlocken lassen. Auf meinen Rat hatte er sich seine schlechtesten Lumpen angezogen, und als wir die Londoner Straße entlang nach Maidstone wanderten, war er sehr besorgt, daß er zu schlecht gekleidet sein würde.

Dazu ist nichts zu sagen. Als wir bei einem Wirtshaus haltmachten, musterte der Wirt uns scharf, und seine Miene erhellte sich nicht, als wir ihn sehen ließen, welche Farbe unser Geld hatte. Die Einwohner an der Küste zeigten sich uns gegenüber sehr mißtrauisch, und junge Stutzer aus London, die im Wagen an uns vorüberfuhren, verspotteten uns, brachten Hurras für uns aus und schleuderten uns Beleidigungen nach. Ehe wir jedoch den Maidstone-Distrikt hinter uns hatten, war mein Freund schon zu der Erkenntnis gelangt, daß wir ebenso gut, wenn nicht besser gekleidet waren als die meisten Pflücker. Einige von den Vogelscheuchen, die wir trafen, sahen direkt wunderbar aus.

»Na, jetzt ist wohl Ebbe«, rief eine Frau von zigeunerhaftem Aussehen ihren Kameraden zu, als wir an einer langen Reihe von Kisten vorbeikamen, über denen die Pflücker den Hopfen »streiften«.

»Hast du verstanden?« flüsterte Bert. »Sie meint dich.«

Ich hatte verstanden. Und ich muß gestehen, daß ihre Bemerkung recht treffend war. Bei Eintritt der Ebbe bleiben die Boote auf dem Strande liegen und können nicht abfahren, und ebenso ergeht es dem Seemann; wenn Ebbe ist, wird es auch ihm schwer, sich oben zu halten. Meine Seemannsausrüstung und meine Anwesenheit im Hopfendistrikt erzählten deutlich, daß ich Seemann ohne Heuer war – ein gescheiterter Mann.

»Haben Sie Arbeit für uns?« fragte Bert den Vorarbeiter, einen älteren Mann, der freundlich aussah und sehr beschäftigt war.

Sein Nein klang sehr bestimmt, aber Bert ließ nicht locker und folgte ihm auf den Fersen, wo er stand und ging, und dasselbe tat ich. Ob es unsere Ausdauer war, die den Vorarbeiter erweichte, oder unser armseliges Aussehen und unsere Rede, konnte weder Bert noch ich herausfinden, aber schließlich gab er nach und wies uns die einzige Kiste an, an der noch Platz war – eine Kiste, die soeben zwei andere Männer verlassen hatten, weil sie nicht genügend für ihren Unterhalt verdienten.

»Benehmt euch nun anständig«, sagte der Vorarbeiter zu uns, als er uns unter all den Frauen bei der Arbeit ließ.

Es war Sonnabend nachmittag, und wir wußten, daß die Arbeit früh aufhören würde; wir machten uns deshalb eifrig an den Hopfen, fest entschlossen, uns mindestens das Salz zu unserm Brot zu verdienen.

Es zeigte sich, daß es eine schlechte Arbeit war, eigentlich nur für Frauen, nicht für Männer geeignet. Wir saßen auf dem Rande der Kiste zwischen den Hopfenstangen und pflückten den Hopfen, wobei uns der Stangenzieher beständig mit großen, duftenden Ranken versorgte. In einer Stunde waren wir so tüchtig, wie man überhaupt werden kann. Sobald die Finger gewohnt sind, rein automatisch den Unterschied zwischen Hopfen und Blättern zu fühlen und ein halbes Dutzend Blüten auf einmal abzustreifen, gibt es nichts mehr zu lernen. Wir arbeiteten mit Leichtigkeit und tatsächlich ebenso schnell wie die Frauen, aber ihre Kisten füllten sich schneller, weil ihre Kinder sie überall umschwärmten und mit beiden Händen fast ebenso schnell pflückten wie wir andern.

»Pflückt nicht allzu sauber, das tun wir nicht«, bemerkte eine der Frauen; und wir verstanden den Wink und waren ihr dankbar.

Im Laufe des Nachmittags erkannten wir, daß man mit der Arbeit keinen Tagelohn verdienen konnte – jedenfalls nicht für einen Mann. Frauen konnten ebenso schnell pflücken wie Männer, und Kinder fast ebenso schnell wie die Frauen, so daß es einem Manne selbstverständlich unmöglich war, mit einer Frau und einem halben Dutzend Kindern zu konkurrieren. »Hör', Kamerad, ich habe einen niederträchtigen Hunger«, sagte ich zu Bert. »Wir haben kein Mittagessen bekommen.«

»Ja, ich könnte direkt den Hopfen fressen«, antwortete er.

Und dann begannen wir beide darüber zu jammern, daß wir versäumt hatten, eine zahlreiche Nachkommenschaft in die Welt zu setzen, so daß wir heute, wo es uns so not tat, die rechte Hilfe gehabt hätten. Auf die Art schlugen wir die Zeit tot und machten andauernd spaßige Bemerkungen zur Erbauung der Umsitzenden. Wir gewannen völlig das Herz des Stangenziehers, und der junge Bauernbursche, der auch die Aufgabe hatte, die abgerissenen Zweige aufzulesen, schüttete immer wieder abgefallene Blüten in unsere Kiste.

Wir fragten ihn, wieviel wir »machen« könnten, und erfuhren, daß die Bezahlung einen Schilling für vierzehn Scheffel ausmachte, daß wir aber höchstens einen Schilling für vierundzwanzig Scheffel ausbezahlt bekämen. Das hieß, daß das Geld für zehn Scheffel zurückgehalten wurde – eine Methode, die die Hopfenbauer eingeführt haben, um die Pflücker in der Hand zu behalten, ob die Ernte nun gut oder schlecht war, namentlich aber, wenn sie schlecht war.

Eigentlich war es herrlich, hier im Sonnenschein zu sitzen, während der goldene Blütenregen aus unseren Händen strömte und der scharfe, aromatische Hopfenduft uns die Nase kitzelte – und unterdessen erinnerten wir uns undeutlich der lärmenden Großstädte, aus denen diese Menschen gekommen waren. Arme Menschen der Straße! Die Bevölkerung der Rinnsteine! Selbst die konnten nach der Erde hungern, sich nach dem Boden sehnen, von dem sie vertrieben waren, und nach dem Leben im Freien, nach Wind, Regen und Sonne, nach alledem, was nicht vom Schmutz der Großstadt besudelt war. Wie das Meer den Seemann, so zieht das Land sie an; und in ihrem verstümmelten, verwesten Körper verspüren sie einige seltsame Regungen, unbewußte Ackerbauer-Erinnerungen, ererbt von ihren Vorfahren, die lebten, ehe die Städte entstanden. Und auf unerklärliche Weise fühlen sie Freude über die Erde, den Duft, den Anblick und die Geräusche, die ihr Blut nicht vergessen hat, wenn sie sich dessen auch nicht bewußt sind.

»Jetzt gibt's keinen Hopfen mehr, Kamerad«, klagte Bert.

Es war fünf Uhr, und die Stangenzieher hatten Schluß gemacht; alles sollte weggeräumt werden, da am Sonntag nicht gearbeitet wurde. Eine ganze Stunde mußten wir auf die Aufseher warten, und unsere Beine zitterten vor Kälte, sobald die Sonne untergegangen war. Gleich neben uns standen zwei Frauen und ein halbes Dutzend Kinder, die achtzehn Scheffel gepflückt hatten, so daß die zehn Scheffel, die der Aufseher in unserer Kiste fand, wohl ganz respektabel waren, namentlich in Anbetracht des Umstands, daß die Kinder, die den Frauen geholfen hatten, im Alter von neun bis vierzehn Jahren waren.

Zehn Scheffel! Wir rechneten aus, daß das acht und einen halben Pence für zwei Mann ergab, die drei und eine halbe Stunde gearbeitet hatten. Also vier Pence und einen Farthing für jeden, oder etwas über einen Penny die Stunde! Wir hätten nur fünf Pence von der ganzen Summe ausbezahlt bekommen sollen, aber der Lohnzahler hatte kein Wechselgeld, und so gab er uns sechs Pence. Vorstellungen waren zwecklos. Eine Geschichte von unserer unglücklichen Lage konnte ihn nicht rühren. Er erklärte laut, wir hätten einen Penny mehr bekommen, als uns zustände, und ging seines Weges.

Laßt uns nun einmal den Fall setzen, daß wir waren, wofür wir uns ausgaben: arme, verbrauchte Männer, dann wäre unsere Lage folgendermaßen gewesen:

Die Nacht brach herein, wir hatten noch kein Abendbrot bekommen, auch kein Mittagessen, und besaßen alles in allem sechs Pence. Ich war so hungrig, daß ich drei Portionen zu sechs Pence hätte essen können, und Bert auch. Soviel war sicher, daß, wenn wir unsern Magen nur 16⅔ Prozent Gerechtigkeit werden ließen, alle unsere sechs Pence draufgingen, und unsere Magen immer noch 83⅓ Prozent Ungerechtigkeit leiden würden. Wir konnten unter einem Strauch schlafen, was nicht so schlimm gewesen wäre, wenn die Kälte uns auch arg zugesetzt hätte. Dazu kam, daß der nächste Tag ein Sonntag war, an dem nicht gearbeitet wurde; unsere dummen Magen wären doch kaum geneigt gewesen, deshalb die Arbeit niederzulegen. Das Problem stellte sich daher folgendermaßen: Woher sollten wir drei Mahlzeiten am Sonntag und zwei am Montag nehmen, wenn wir erst Montagabend wieder Lohn erhielten?

Wir wußten, daß alle Obdachlosenasyle überfüllt waren; wir wußten auch, daß wir, wenn wir bei den Bauern oder in den Dörfern bettelten, alle Aussicht hatten, für ein paar Wochen eingesteckt zu werden. Was sollten wir tun? Wir starrten uns verzweifelt an –

Nein, wir waren nicht die Spur verzweifelt. Froh dankten wir Gott, daß es uns nicht erging wie den andern, nämlich wie diesen Hopfenpflückern, marschierten nach Maidstone und ließen in unsern Taschen die Silbermünzen und Goldstücke rasseln, die wir von daheim mitgenommen hatten.


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