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Ich habe ein Anrecht darauf, alles zu wissen«, sagte das junge Mädchen. Ihre Stimme war fest und entschlossen. Nicht die Spur von einer Bitte war in ihrem Klang, und doch war es die Festigkeit, die man nur durch langes flehentliches Bitten erreicht. Aber ihr Bitten war nicht durch Worte, sondern durch ihre ganze Persönlichkeit zum Ausdruck gelangt. Ihre Lippen waren stets stumm, ihr Gesicht, ihre Augen, ihr ganzes Wesen aber war seit langem eine einzige beredte Frage gewesen. Das hatte der Mann gewußt, aber er hatte nie geantwortet; und jetzt sprach sie und verlangte eine Antwort.
»Ich habe ein Anrecht darauf, alles zu wissen.«
»Das räume ich ein«, antwortete er verzweifelt und hilflos.
Sie wartete und heftete in der Pause, die jetzt folgte, ihre Augen auf das Licht, das durch die Zweige droben hereinsickerte und die Stämme der großen Tannen in einem weichen, warmen Schimmer badete. Es sah aus, als strahlte dieses gedämpfte, farbige Licht von den Stämmen selbst aus, so sehr durchglühten sie es mit ihrem eigenen Farbton. Das junge Mädchen sah es und sah es doch wieder nicht, ebenso wie sie das tiefe Glucksen des Baches tief unten auf dem Grunde der Schlucht hörte und doch nicht hörte.
Sie sah den Mann an. »Nun?« fragte sie dann mit der festen Stimme, die gleichsam den Glauben vortäuschte, daß der Gegner nachgeben würde. Sie saß aufrecht da, den Rücken gegen einen gestürzten Baumstamm gelehnt; der Mann lag dicht neben ihr auf der Seite, stützte den einen Ellbogen auf den Boden und den Kopf auf die Hand.
»Liebe, liebe Lute«, murmelte er.
Beim Klang seiner Stimme zitterte sie, nicht weil sie sich von ihr abgestoßen fühlte, sondern weil sie gegen den Zauber ankämpfte, den ihr zärtlicher, sanfter Klang auf sie ausübte. Sie war sich allmählich über die Lockmittel des Mannes klar geworden – wußte, eine wie tiefe friedliche Erquickung und Ruhe ihr durch den zärtlichen Klang seiner Stimme, durch die bloße Berührung seiner Hand oder den schwachen Hauch seines Atems gegen Hals und Wange verheißen wurde. Der Mann konnte sich weder durch Worte noch durch Blicke oder Berührung äußern, ohne verborgen und geheimnisvoll etwas ganz Eigenes in den Ausdruck zu verweben, gleichsam das leichte, beruhigende Gefühl einer streichelnden Hand. Diese alles durchdringende Liebkosung ekelte sie nicht vor allzu großer Süße, war auch weder krankhaft sentimental noch von unklarem Liebesrausch erfüllt. Sie hatte etwas Kräftiges, Bezwingendes und Männliches an sich. Im übrigen war sich der Mann ihrer fast unbewußt. Er ahnte es nur ganz undeutlich. Die Liebkosung war gleichsam ein Teil von ihm, sozusagen der Atem seiner Seele, unfreiwillig und ohne Überlegung.
Jetzt aber machte sie sich beherrscht und verzweifelt hart gegen ihn. Er versuchte sie anzusehen, aber ihre grauen Augen begegneten den seinen mit einem festen Blick unter den kühlen, geraden Brauen, und er ließ seinen Kopf auf ihre Knie sinken. Ihre Hand streifte sein Haar ganz leicht, und ihr Antlitz nahm einen traurigen, zärtlichen Ausdruck an. Als er aber aufsah, waren ihre grauen Augen wieder fest und ihre Brauen kühl und gerade.
»Was soll ich dir noch sagen?« fragte der Mann. Er hob den Kopf und begegnete ihrem Blick. »Ich kann dich nicht heiraten. Ich kann überhaupt nicht heiraten. Ich liebe dich, das weißt du ja. Höher als mein eigenes Leben. Wenn ich dich gegen alle anderen teuren Lebewesen und Dinge in die Wagschale werfe, wiegst du alles auf. Ich würde alles geben, was ich habe, um dich zu besitzen, und doch kann es nicht sein. Ich kann dich nicht heiraten. Ich kann dich nie heiraten.«
Ihre Lippen preßten sich zusammen bei ihrem Versuch, sich zu beherrschen. Sein Kopf wollte wieder auf ihre Knie sinken, aber sie hinderte ihn daran.
»Du bist vielleicht schon verheiratet, Chris?«
»Nein! Nein!« rief er heftig. »Ich war nie verheiratet. Ich möchte nur dich heiraten. Aber ich kann nicht.«
»Dann –«
»Ach, laß doch!« unterbrach er sie. »Frag' mich doch nicht.«
»Ich habe ein Anrecht, alles zu wissen«, wiederholte sie.
»Ja, das weiß ich«, unterbrach er sie wieder. »Aber ich kann es dir nicht sagen.«
»Du hast nicht an mich gedacht, Chris«, fuhr sie milde fort.
»Ich weiß, ich weiß«, warf er ein.
»Du kannst gar nicht an mich gedacht haben. Du ahnst nicht, was ich mir deinetwegen von meinen Angehörigen habe bieten lassen müssen.«
»Ich dachte nicht, daß sie besonders unfreundlich gegen mich gestimmt seien«, sagte er bitter.
»Doch. Sie können dich kaum ertragen. Sie zeigen es dir nicht, aber sie hassen dich beinahe. Und alles das habe ich ertragen müssen. Aber es ist im übrigen nicht immer so gewesen. Anfangs hatten sie dich lieb, wie – wie ich dich liebhatte. Aber das war vor vier Jahren. Die Zeit verging – ein Jahr, zwei Jahre. Sie begannen sich gegen dich zu kehren. Man kann es ihnen nicht verdenken. Du sprachst nicht ein Wort. Sie fühlten, daß du im Begriff warst, mein Leben zu vernichten. Es ist jetzt vier Jahre her, und in all dieser Zeit hast du nicht ein einziges Mal von Ehe zu ihnen gesprochen. Was sollten sie glauben? Das, was sie wirklich glaubten und meinten, nämlich, daß du mein Leben vernichtetest.«
Während sie sprach, ließ sie ihre Finger immer wieder liebkosend durch sein Haar gleiten, traurig, weil sie ihm Schmerz bereiten mußte.
»Sie haben dich wirklich anfangs liebgehabt. Wer müßte das nicht tun? Du verstehst ja, die Liebe aller lebenden Geschöpfe zu gewinnen, fast so wie die Bäume Feuchtigkeit aus dem Boden saugen. Das ist dir gewissermaßen angeboren. Tante Mildred und Onkel Robert fanden, daß keiner es mit dir aufnehmen könnte. Alles im Hause drehte sich um dich. Sie fanden, daß ich das glücklichste Mädchen auf der Welt sein müßte, da ich die Liebe eines so prächtigen Mannes gewonnen hatte. ›Es sieht beinahe so aus‹, pflegte Onkel Robert zu sagen, während er gleichzeitig schelmisch den Kopf schüttelte. Selbstverständlich hatten sie dich lieb. Tante Mildred pflegte zu seufzen, Onkel neckisch anzusehen und zu sagen: ›Wenn ich an Chris denke, wünschte ich fast, selbst jünger zu sein.‹ Und dann antwortete Onkel meistens: ›Das kann ich dir nicht verdenken, Schatz, wirklich nicht.‹ Und dann überschütteten sie mich beide mit ihren Glückwünschen, weil ich die Liebe eines solch prächtigen Mannes gewonnen hätte.
Und sie wußten ja, daß ich dich ebenso heiß liebte. Warum sollte ich es verhehlen? Dieses große herrliche Wunder, das in mein Leben getreten war und alle meine Tage erfüllte! Vier Jahre, Chris, habe ich ausschließlich für dich gelebt. Jeder Augenblick war dein. Wachend liebte ich dich. Schlief ich, so träumte ich von dir. Zu allem, was ich tat, trieb mich der Gedanke an dich, selbst meine Gedanken formtest und prägtest du gleichsam durch deine bloße Anwesenheit. Ich hatte kein großes oder kleines Ziel, ohne daß es dich einschloß.«
»Ich habe nicht geahnt, daß ich dir eine solche Sklaverei auferlegte«, murmelte er.
»Du hast mir nichts auferlegt, du ließest mir stets meinen freien Willen. Du warst der gehorsame Sklave, und du dientest mir, ohne mich je zu verletzen. Du errietest alle meine Wünsche, ohne es merken zu lassen, so natürlich und selbstverständlich tatest du alles für mich. Ich sagte: ohne mich zu verletzen. Du machtest nichts damit her. Verstehst du nicht, was ich meine? Es war, als tätest du überhaupt nie etwas für mich. Aber deshalb tatest du es doch immer, und ich entdeckte plötzlich, daß du dies oder jenes getan hattest, aber wie etwas ganz Selbstverständliches.
Die Sklaverei war die Sklaverei der Liebe. Meine Liebe zu dir war es, die bewirkte, daß du gewissermaßen all meine Zeit verschlangst. Du drängtest dich nicht mit Gewalt in meine Gedanken ein. Du schlichest dich in sie hinein, und du warst in ihnen, immer – wie sehr, das wirst du nie erfahren.
Als aber die Zeit verstrich, begannst du Tante Mildred und Onkel weniger zu gefallen, sie fingen an, ängstlich zu werden. Was sollte aus mir werden? Du warst im Begriff, mein Leben zu vernichten. Meine Musik? Du weißt selbst, wie all meine Träume verblichen und schwanden. Der Frühling, als ich dich zum erstenmal traf – ich war zwanzig Jahre alt und sollte gerade nach Deutschland gehen, um im Ernst zu studieren. Das war vor vier Jahren, und jetzt bin ich immer noch in Kalifornien.
Ich hatte andere Verehrer. Die verjagtest du – nein, das wollte ich nicht sagen. Ich verjagte sie ja selbst. Was machte ich mir aus Verehrern, wenn du in der Nähe warst? Aber, wie gesagt, Tante Mildred und Onkel begannen ängstlich zu werden. Die Leute fingen an zu reden. Freunde, geschäftige Seelen und so weiter. Die Zeit verging. Du sagtest nichts. Ich wußte nicht, was ich glauben sollte. Ich wußte, daß du mich liebtest. Sie begannen, herabsetzend von dir zu sprechen, zuerst Onkel, später auch Tante Mildred. Sie vertraten ja Elternstelle an mir, wie du weißt. Ich konnte nichts zu deiner Verteidigung sagen. Andererseits verteidigte ich dich auch nicht. Ich weigerte mich, über dich mit ihnen zu streiten. Ich wurde verschlossen. Ein kühles Verhältnis begann in meinem Heim zu herrschen – Onkel Robert ging mit einer Leichenbittermiene herum, und Tante Mildreds Herz wollte brechen. Aber was sollte ich tun, Chris, was konnte ich tun?«
Der junge Mann, der wieder seinen Kopf auf ihren Knien ruhen ließ, stöhnte, antwortete aber nicht. »Tante Mildred vertrat Mutterstelle an mir. Aber es war mir nicht möglich, mich ihr offen anzuvertrauen. Das Buch meiner Kindheit war geschlossen. Es war ein herrliches Buch, Chris. Mir treten oft die Tränen in die Augen, wenn ich daran denke. Aber das tut nichts. Ich bin ja sehr glücklich gewesen. Ich bin froh, daß ich offen über meine Liebe mit dir reden kann, und daß ich allmählich zu diesem Freimut dir gegenüber gelangt bin, das hat mich so glücklich gemacht. Ich liebe dich, Chris, ich liebe dich – wie, kann ich dir nicht erklären. Du bist mein alles und noch mehr. Erinnerst du dich des Weihnachtsbaumes der Kinder? Als wir Blindekuh spielten und du mich am Arm griffest – so –, mich so stark mit deinen Fingern kniffest, daß ich schrie, weil es weh tat. Ich habe es dir nie erzählt, aber der Arm war wirklich ganz braun und blau von deinen Fingern – von deinen Fingern, Chris. Deine Berührung war gleichsam sichtbar geworden. Die Zeichen blieben eine ganze Woche, und ich küßte sie – ach, so oft! Es tat mir leid, daß ich sie verschwinden sah; ich hatte Lust, mich wieder in den Arm zu kneifen, damit die Zeichen noch länger blieben. Ich beobachtete fast eifersüchtig, wie die weiße Farbe wiederkehrte und die dunklen Flecke verdrängte. Wie dem nun auch sein mochte, so – ach, ich kann es nicht erklären, aber ich liebte dich so unendlich!«
In der jetzt eintretenden Pause streichelte sie ihm weiter das Haar, während sie geistesabwesend ein großes graues Eichhörnchen betrachtete, das lärmend und lebhaft ein Stückchen weiterhin zwischen den Tannenwurzeln umhersprang. Ein Specht mit knallrotem Scheitel, der energisch ein Loch in einen gestürzten Baumstamm meißelte, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich und lenkte ihre Augen von dem Eichhörnchen ab. Der junge Mann hob seinen Kopf nicht. Er preßte sein Gesicht nur dichter an ihr Knie, und an seinen sich hebenden und senkenden Schultern konnte sie sehen, wie schwer und tief er atmete.
»Du mußt mir alles erzählen, Chris«, sagte das junge Mädchen sanft. »Dieses Mysterium, es tötet mich fast. Ich muß wissen, warum wir nicht heiraten können. Soll es immer so bleiben? Daß wir uns lieben, uns oft treffen, gewiß, aber doch immer nur mit langen Zwischenräumen. Ist das alles, was das Leben dir und mir zu bieten hat, Chris? Sollen wir nie füreinander mehr sein dürfen? Ach, es ist herrlich, nur zu lieben, das weiß ich. Du hast mich so unsagbar glücklich gemacht. Aber man sehnt sich so, man durstet zuweilen nach etwas anderem, nach mehr. Ich will mehr haben, immer mehr von dir, Chris. Ich will dich ganz und gar haben. Ich sehne mich danach, immer mit dir zusammen zu sein. Ich sehne mich nach dem Zusammenleben, nach der Kameradschaft, die wir jetzt nicht pflegen dürfen, der wir uns aber hingeben dürfen, wenn wir verheiratet sind.« Sie atmete plötzlich schwer. »Aber es ist ja wahr, wir sollen uns nie heiraten, das vergaß ich ganz. Aber jetzt mußt du mir den Grund sagen.«
Der junge Mann hob den Kopf und blickte ihr in die Augen. Das war eine Gewohnheit von ihm: den Leuten in die Augen zu blicken, wenn er mit ihnen sprach.
»Ich habe an dich gedacht, Lute«, begann er hart »Ich habe von Anfang an nur an dich gedacht. Ich hätte es nie so weit kommen lassen dürfen. Ich hätte beizeiten gehen sollen. Das fühlte ich gut und dachte mit Sorge daran, was aus dir werden sollte – und doch ging ich nicht! Mein Gott! Was sollte ich tun? Ich liebte dich. Ich konnte nicht gehen. Ich konnte nichts dafür. Ich blieb. Ich faßte Entschlüsse und verwarf sie wieder. Ich war wie ein Betrunkener, ich war berauscht von dir. Ich war schwach, ich weiß es. Ich konnte nicht gehen. Ich versuchte es. Ich reiste fort – du erinnerst dich sicher, obwohl du damals nicht wußtest, weshalb ich fortreiste. Jetzt weißt du es. Ich reiste, aber ich war nicht stark genug, um für immer fortzubleiben. Obwohl ich wußte, daß wir uns nie heiraten konnten, kam ich wieder zurück. Und jetzt bin ich hier bei dir. Schick' mich fort, Lute. Ich habe nicht die Kraft, von selber zu gehen.«
»Aber warum solltest du denn gehen?« fragte sie. »Ehe ich dich fortschicke, muß ich doch den Grund wissen.«
»Frag' mich nicht.«
»Erzähle mir alles«, sagte sie, und ihre Stimme war zärtlich und eindringlich.
»Nein, Lute, zwing mich nicht«, bat er, und seine Stimme und seine Augen flehten.
»Du mußt es mir sagen«, beharrte sie. »Das bist du mir schuldig.«
Der junge Mann schwankte. »Wenn ich es dir erzählte ...«, begann er. Gleich darauf beendete er den Satz, indem er bestimmt und entschieden sagte: »würde ich es mir nie verzeihen können. Nein, ich kann es dir nicht erzählen. Versuche nicht, mich zu zwingen, Lute. Es würde dich nur ebenso betrüben wie mich.«
»Wenn etwas ... wenn es Hindernisse sind, die ... wenn dieses Mysterium uns wirklich hindert ...«, sie sprach langsam, mit langen Pausen, um ihre Gedanken so schonend und rücksichtsvoll wie möglich auszudrücken. »Chris, ich liebe dich. Ich liebe dich so heiß, wie eine Frau nur lieben kann. Wenn du jetzt in diesem Augenblick zu mir sagtest: ›Komm‹, so würde ich dir folgen. Ich würde dir folgen, wohin du mich auch führtest. Ich würde dein Page sein, wie Frauen und Jungfrauen in alten Zeiten, wenn sie ihrem Ritter in die Ferne folgten. Du bist mein Ritter, Chris, und du kannst nichts Unrechtes tun. Dein Wille ist mir Gesetz. Ich fürchtete mich einmal vor Kritik und Urteil der Welt, jetzt aber, da du in mein Leben getreten bist, fürchte ich mich nicht mehr. Ich würde die Welt und ihr Urteil verlachen, deinetwegen und auch um meiner selbst willen. Ich würde alles verlachen, wenn du mir nur gehörtest, denn du bedeutest mehr für mich als die Billigung und das Wohlwollen der ganzen Welt. Wenn du sagst: ›Komm‹, so will ich –«
»Nein! Nein!« rief er. »Es ist unmöglich! Ob ich dich heirate oder nicht, ich kann nicht sagen: ›Komm.‹ Ich darf es nicht. Ich will dir zeigen, warum. Ich will dir alles erzählen.«
Entschlossen setzte er sich neben sie. Er nahm ihre Hand in die seine und hielt sie fest umschlossen. Seine Lippen bewegten sich und wollten etwas sagen. Alles Mystische drängte sich zitternd hervor, um in Worten erlöst zu werden. Die Luft zitterte gleichsam davon. Das junge Mädchen machte sich hart, um auf das zu lauschen, was kommen sollte, als wäre es ein unwiderruflicher Erlaß. Er aber schwieg und starrte unbeweglich vor sich hin. Sie fühlte, wie seine Hand in der ihren erschlaffte, und drückte sie ermutigend und mitfühlend. Aber sie spürte, wie die Kräfte aus seinen gespannten Muskeln schwanden, und verstand, daß Seele und Körper gleichsam erschlafften. Seine Festigkeit ließ nach. Er wollte es ihr nicht erzählen – das wußte, das fühlte sie; und mit der Gewißheit, die der Glaube gibt, fühlte sie auch den Grund: er konnte nicht.
Sie starrte verwirrt vor sich hin, mit einem eisigen Gefühl im Herzen, als wären Hoffnung und Glück für immer dahin. Sie sah, wie der Sonnenschein den warmen Ton der Tannenstämme tupfte, aber sie beobachtete es mechanisch und geistesabwesend. Sie sah alles wie aus der Ferne, ohne Interesse, als wäre sie selbst eine Fremde und nicht mehr ein untrennbarer Teil der Erde, der Bäume und der Blumen, die sie so sehr liebte. Es schien ihr, als wäre sie so fern, daß sie gleichsam ein eigentümliches, unpersönliches Interesse für alles, was sie umgab, fühlte. Durch eine Lichtung zwischen den Bäumen in der Nähe betrachtete sie eine in voller Blüte stehende Kastanie, als sähe sie sie zum erstenmal.
Ihr Blick haftete einen Augenblick auf einer gelben Schar von Diogeneslaternen, die am Rande der Lichtung wuchsen. Blumen ließen sie sonst immer vor Freude beben, jetzt aber fühlte sie keine Freude. Mit schwerem Blick betrachtete sie grübelnd die Blumen, wie ein Haschischesser vom Gift benebelt eine eingebildete Blüte betrachtet, die vor seinem Auge emporschießt. In ihren Ohren erklang die Stimme des Stromes – wie die eines heiseren schläfrigen alten Riesen, der halb im Traum röchelte und murmelte. Aber ihr Hang zum Träumen wurde nicht wie sonst erregt; sie wußte, daß das Geräusch keine andere Ursache hatte als das Wasser, das zwischen den Felsblöcken der tiefen Schlucht dahinrauschte.
Ihr Blick glitt an den Diogeneslaternen vorbei nach der offenen Lichtung. Zwei Pferde grasten auf dem Hange, bis zu den Knien in dem wilden Hafer, beides kastanienbraune Füchse, ganz glatt, von einem warmen Goldton, der in der Sonne glänzte; ihr blankes Frühlingsfell war wie mit Lichtfunken verwebt, die wie Juwelen leuchteten. Sie erschrak fast, als sie erkannte, daß das eine von ihnen ihr eigenes war, Dolly, die getreue Begleiterin ihrer Kindheit und Jugend, an deren Hals sie ihren Kopf geborgen hatte, wenn sie vor Kummer geschluchzt und vor Freude gejubelt hatte. Ihre Augen füllten sich bei dem Anblick mit Tränen, und sie wurde aus ihrer Abwesenheit gerissen, kehrte gleichsam von Leidenschaft und Kummer erfüllt in die Wirklichkeit zurück.
Der junge Mann sank vornüber, fiel vollständig zusammen und ließ mit einem Stöhnen seinen Kopf auf ihre Knie sinken. Sie beugte sich über ihn und drückte leise und zögernd ihre Lippen auf sein Haar.
»Komm, laß uns gehen«, sagte sie beinahe flüsternd. Sie atmete schwer, daß es fast wie Schluchzen klang, preßte aber die Lippen zusammen und erhob sich. Ihr Gesicht war leichenblaß, so erschüttert war sie von dem Kampfe, den sie mit sich gekämpft hatte. Sie sahen einander nicht an, sondern schritten geradeswegs zu den Pferden. Sie lehnte den Kopf gegen Dollys Hals, während er die Bauchgurte festzog. Dann nahm sie die Zügel in die Hand und wartete. Als er sich niederbeugte, sah er sie an, und in seinen Augen lag eine Bitte um Verzeihung, während die ihren ihm gleichzeitig die Antwort gaben. Ihr Fuß ruhte einen Augenblick in seinen Händen, dann schwang sie sich in den Sattel. Ohne etwas zu sagen, ohne sich noch anzusehen, wandten sie die Pferde und schlugen die schmale Spur ein, die sich durch die düsteren Hallen der Tannen und über die Lichtungen bis zu den Bäumen in der Ferne schlängelte. Die Spur wurde zu einem Viehsteig und der Viehsteig wieder zu einem Waldpfad, der schließlich in einen Weg mündete, auf dem zur Heuzeit Heu gefahren wurde; und sie ritten durch die wogenden gelbbraunen kalifornischen Hügel bis zu einer Stelle, wo ein Gatter den Weg von der Landstraße trennte, die auf dem Grunde des Tales lief. Das junge Mädchen hielt ihr Pferd an, während er abstieg und das Gatter beiseiteschob.
»Nein, warte!« rief sie, ehe er die beiden untersten Bäume entfernt hatte.
Sie trieb die Stute ein paar Schritte an, und das Tier setzte mit einem eleganten Sprung über die Bäume. Die Augen des jungen Mannes strahlten, und er klatschte in die Hände.
»Du Prachttier! Du Prachttier!« rief das junge Mädchen, beugte sich unwillkürlich im Sattel vor und preßte ihre Wange gegen den Hals der Stute, deren dunkles Fell im Sonnenschein flammte.
»Laß uns die Pferde tauschen und sehen, wer zuerst zu Hause ist«, schlug sie vor, als er sein Pferd durch das Gatter geführt und die Bäume wieder vorgeschoben hatte. »Du hast Dolly nie recht geschätzt.«
»Nein, nein«, protestierte er.
»Du glaubst, sie sei zu alt, zu gesetzt«, beharrte Lute. »Sie ist nur sechzehn Jahre alt, und von zehn jungen Pferden läuft kaum eines schneller als sie. Sie zeigt sich nur nicht. Sie ist zu ruhig für dich. Und du machst dir nichts aus ihr. Nein, leugnen Sie es nicht, mein Herr, ich weiß es. Aber ich weiß auch, daß sie schneller ist als dein gepriesener Washoe Ban. Los! Ich fordere dich heraus! Und mehr noch: du sollst sie selber reiten. Du weißt, was Ban leistet, und jetzt kannst du Dolly reiten und sehen, was sie leistet.«
Sie vertauschten die Sättel der Pferde und machten soviel wie möglich davon her, froh, eine Ablenkung gefunden zu haben.
»Ich freue mich, daß ich in Kalifornien geboren bin«, sagte Lute, als sie sich rittlings auf Ban setzte. »Es ist ein Schimpf sowohl für das Pferd wie für die Reiterin, einen Damensattel zu benutzen.«
»Du gleichst einer jungen Amazone«, sagte der junge Mann bewundernd. Sein Blick folgte zärtlich dem jungen Mädchen, als sie das Pferd wandte.
»Bist du fertig?« fragte sie.
»Jawohl!«
»Nach der alten Mühle!« rief sie, als die Pferde sich in Bewegung setzten. »Das ist eine kleine Meile.«
»Machen wir ein Finish?« fragte er.
Sie nickte, und die Pferde, die das Anziehen der Zügel spürten, wurden vom Geist des Wettlaufs gepackt. Der Staub stand in Wolken hinter ihnen, während sie den ebenen Weg dahinschossen. Wenn es um Kurven ging, neigten Reiter und Pferde sich in scharfen Winkeln gegen die Erde, und mehr als einmal mußten die Reiter sich ducken, um die vorspringenden und überhängenden Zweige der Bäume zu meiden. Sie fuhren wie ein Trommelwirbel über die kleinen Plankenbrücken und donnerten über die größeren Eisenbrücken unter einem unheimlichen Rasseln loser Stangen.
Sie ritten Seite an Seite und schonten die Kräfte der Pferde für das Finish, ließen sie aber so schnell laufen, daß Kraft und Ausdauer der Tiere doch auf die Probe gestellt wurden. Als sie um eine Gruppe weißer Eichen gebogen waren, lag der Weg vor ihnen in einer geraden Linie von mehreren hundert Metern, an deren Ende sie die verfallene Mühle sehen konnten.
»Jetzt gilt es!« rief das junge Mädchen.
Sie trieb das Pferd an, indem sie plötzlich den Körper vorbeugte, gleichzeitig einen Augenblick die Zügel lockerte und mit der Linken den Hals des Pferdes berührte. Sie begann einen Vorsprung zu gewinnen.
»Klopf sie auf den Hals«, rief sie dem jungen Manne zu.
Sobald er es getan hatte, holte die Stute das andere Pferd wieder ein und begann allmählich vorzurücken. Chris und Lute sahen sich einen Augenblick an, aber die Stute gewann immer mehr Boden, so daß Chris gezwungen war, langsam den Kopf zu wenden. Es waren jetzt noch hundert Schritt bis zur Mühle.
»Soll ich ihm die Sporen geben?« rief Lute.
Der Mann nickte, und das junge Mädchen spornte das Pferd schnell und kräftig, damit es sein Äußerstes leistete, sah aber, wie ihr eigenes Pferd unaufhaltsam vorschoß.
»Mit drei Längen geschlagen«, rief Lute strahlend und triumphierend, als sie in Schritt fiel.
»Jetzt gestehe nur! Gestehe nur! Du hattest nicht geglaubt, daß die alte Stute das fertigbrächte.«
Lute beugte sich seitwärts und ließ ihre Hand einen Augenblick auf Dollys feuchtem Hals ruhen.
»Ban ist ein Faulpelz neben ihr«, räumte Chris ein. »Dolly ist ein Prachttier, wenn sie auch schon in ihrem Spätsommer steht.«
Lute nickte beifällig. »Das war hübsch gesagt – in ihrem Spätsommer. Das ist treffend. Aber sie ist nicht faul. Sie ist voller Feuer und Glut, hat nur alle Tollheiten fahren lassen. Sie ist sehr klug, trotz ihrem Alter.«
»Dem hat sie es ja gerade zu verdanken«, wandte Chris ein. »Ihre Tollheiten verschwanden mit ihrer Jugend. Sie hat dir manchmal tüchtig zu schaffen gemacht.«
»Nein«, antwortete Lute. »Ich habe nie im Ernst über sie zu klagen gehabt. Ich glaube, die einzige Schwierigkeit, die ich mit ihr gehabt habe, war, als ich sie lehrte, die Gatter zu öffnen. Sie fürchtete sich, wenn sie zurückschwangen. Es war vielleicht die ererbte Furcht des Tieres vor der Falle. Aber schließlich ging es großartig. Und sie war nie boshaft. Sie ging nie durch, bockte nie, schlug nie aus – nie, nicht ein einziges Mal in ihrem ganzen Leben.«
Die Pferde waren in Schritt gefallen und schnauften noch schwer nach dem Ritt. Der Weg schlängelte sich auf der Talsohle entlang und kreuzte hin und wieder den Fluß. Auf beiden Seiten hörte man das schläfrige Schnurren der Meiereimaschinen und hin und wieder Rufe von den Leuten, die das Heu wendeten. Auf der Westseite des Tages hoben sich die Hügel grün und dunkel, auf der Ostseite aber waren sie schon von der Sonne braun gebrannt.
»Drüben ist Sommer und hier Frühling«, sagte Lute. »Oh, das schöne Sonoma-Tal.«
Ihre Augen leuchteten, und ihr Antlitz strahlte vor Freude über das schöne Land. Ihr Blick glitt über die Obstgärten und die Weinfelder und blieb auf dem Purpurschimmer haften, der wie ein schwacher Rauch auf den Senkungen zwischen den Hügeln und in den Schluchten der fernen Berge lag. Weit oben zwischen den unebenen Kämmen, deren tiefe Hänge von Manzanitasträuchern bedeckt waren, sah sie einen offenen Platz, auf dem das Berggras noch nicht seine grüne Farbe eingebüßt hatte.
»Hast du je von der geheimnisvollen Alm gehört?« fragte sie, den Blick immer noch auf den fernen grünen Fleck geheftet.
Ein furchtsames Schnaufen ließ sie den Kopf nach dem jungen Mann neben ihr wenden. Dolly hatte sich auf die Hinterbeine erhoben und schlug mit weit offenen Nüstern und wilden Augen wie wahnsinnig mit den Vorderbeinen durch die Luft. Chris warf sich vorn auf ihren Hals, damit sie sich nicht überschlug, und gab ihr gleichzeitig die Sporen, um sie zu zwingen, die Vorderfüße auf den Boden zu setzen und weiterzugehen.
»Aber Dolly, das ist doch wirklich sehr merkwürdig«, begann Lute in zurechtweisendem Tone. Aber zu ihrem Erstaunen senkte die Stute den Kopf, bog den Rücken, sprang hoch und pflanzte dann die Beine starr und trotzig auf den Boden.
»Ein regelrechter Versuch, mich abzuwerfen«, rief Chris, und fast im selben Augenblick bockte die Stute unter ihm und versuchte wieder, ihn abzuwerfen.
Lute sah zu, erstaunt über das unglaubliche Benehmen der Stute, aber voller Bewunderung über die Reitfertigkeit ihres Liebsten. Er war vollkommen ruhig und genoß die Vorstellung offenbar selbst. Immer wieder, wohl ein dutzendmal, bockte Dolly, sprang hoch und ließ sich mit steifen Beinen und hohem Rücken wieder fallen. Dann hob sie plötzlich den Kopf, stellte sich auf die Hinterbeine, wirbelte herum und focht mit den Beinen durch die Luft. Lute brachte blitzschnell das Pferd, das sie ritt, außer Reichweite und sah dabei Dollys Augen, die einen Ausdruck von blindem tierischen Wahnsinn hatten und zum Kopfe herausstanden, als wollten sie bersten. Der schwache rosa Schimmer im Weiß der Augen hatte einem Schimmer Platz gemacht, der an matten Marmor erinnerte, aber doch mit einem Schein wie von einem inneren Feuer leuchtete.
Ein leiser Angstschrei, der aber fast im selben Augenblick unterdrückt wurde, drängte sich Lute über die Lippen. Das eine Hinterbein der Stute schien nachgeben zu wollen, und der ganze zitternde Körper, der fast senkrecht erhoben war, schwankte einen Augenblick hin und her, so daß man nicht wußte, ob er nach vorn oder hinten fallen würde. Der junge Mann beugte sich seitwärts aus dem Sattel, um sich fallen lassen zu können, wenn die Stute sich überschlagen sollte, und legte sich gleichzeitig mit seinem ganzen Gewicht vorn auf ihren Hals. Dadurch stellte er das gefährdete Gleichgewicht wieder her, und die Stute setzte wieder die Füße auf den Boden.
Aber damit war es nicht zu Ende. Dolly streckte sich, daß das Profil ihres Kopfes fast eine gerade Linie mit ihrem Halse bildete; hierdurch erhielt sie die Herrschaft über das Gebiß, was sie bewies, indem sie mit rasender Schnelligkeit die Landstraße hinabgaloppierte.
Jetzt erschrak Lute zum erstenmal ernsthaft. Sie gab Washoe Ban die Sporen und setzte Dolly nach, konnte aber die wahnsinnige Stute nicht einholen, blieb vielmehr immer weiter zurück. Lute sah, wie Dolly anhielt und sich wieder auf die Hinterbeine erhob, und erreichte sie gerade in dem Augenblick, als sie weiterzurasen begann. Bei einer Wegbiegung blieb Dolly plötzlich mitten im Galopp steifbeinig stehen. Lute sah, wie ihr Freund aus dem Sattel gehoben wurde; durch den plötzlichen Stoß hatte der Druck seiner Schenkel gegen die Seiten des Pferdes nachgelassen. Aber wenn auch aus dem Sattel gehoben, so wurde er doch nicht abgeworfen, und als die Stute weitergaloppierte, sah Lute, wie er, ein Bein über dem Sattel, seitwärts an dem Pferde hängend, sich mit der Hand an die Mähne klammerte. Durch eine schnelle Bewegung schwang er sich wieder in den Sattel und setzte seinen Kampf um die Herrschaft über die Stute fort. Aber Dolly verließ die Landstraße und schoß einen grasbewachsenen Hang hinab, der ganz gelb von unzähligen Mariposalilien war. Ein altes Gatter unten hielt Dolly nicht an. Sie brach hindurch, als wäre es ein Spinngewebe, und verschwand im Busch. Lute folgte ohne Zögern, trieb Ban durch die Öffnung im Gatter und galoppierte in den Busch hinein. Sie schmiegte sich dicht an den Hals des Pferdes, um nicht von Zweigen und Ranken heruntergerissen und verletzt zu werden. Sie spürte, wie das Pferd unter laubreichen Zweigen hindurchglitt, und landete im kühlen Kies eines Flußbettes. Irgendwoher hörte sie vor sich das Plätschern von Wasser und sah einen Augenblick Dolly, die an dem schmalen Ufer entlangschoß und in einer Gruppe von Zwergeichen verschwand, an deren Stämmen sie sich rieb, um ihren Reiter abzuwerfen.
Lute hätte sie fast zwischen den Bäumen eingeholt, blieb aber rettungslos auf dem anstoßenden Brachfeld zurück, über das die Stute mit rasender Schnelligkeit schoß, ohne sich im geringsten um den schweren Boden und die vielen Mauselöcher zu kümmern. Als sie dann in einem scharfen Winkel abbog und in das buschbewachsene Gelände auf der anderen Seite jagte, schlug Lute die lange Diagonale ein, ritt um das Gehölz herum und hielt das Pferd auf der anderen Seite an. Sie war zuerst gekommen. Aus dem Gehölz konnte sie ein heftiges Rascheln und Knicken von Reisig und Zweigen hören. Gleich darauf brach die Stute durch, erschien auf dem freien Felde, sank aber ermattet auf dem weichen Boden ins Knie. Sie erhob sich wieder und wankte vorwärts, blieb aber gleich wieder schwach und matt stehen. Der Angstschweiß stand ihr in Schaum auf dem Körper, und sie zitterte kläglich. Chris saß noch auf ihrem Rücken. Sein Hemd war zerfetzt. Seine Hände waren zerkratzt und zerrissen, und sein Gesicht war aus einem Riß dicht an den Schläfen mit Blut beschmiert. Bis jetzt hatte Lute sich tapfer beherrscht, nun aber wurde ihr übel, und sie zitterte vor Erschöpfung.
»Chris!« sagte sie so leise, daß es fast wie Flüstern klang. Und gleich darauf seufzte sie: »Gott sei Dank!«
»Oh, mit mir hat es nichts zu sagen«, rief er ihr zu und versuchte seine Stimme so fröhlich wie möglich zu machen, was jedoch nicht viel hieß, da seine eigenen Nerven nicht wenig erschüttert waren.
Als er sich aus dem Sattel schwang, verriet er selbst, wie sehr seine angespannten Nerven jetzt reagierten. Er zeigte zwar zunächst tapfer, über wieviel Muskelkraft er noch verfügte, indem er sich gewandt herunterschwang, mußte sich aber, als er den Boden erreicht hatte, gegen die erschöpfte Dolly lehnen, um nicht umzusinken. Lute sprang sofort vom Pferde und schlang dankbar ihre Arme um ihn.
»Ich weiß eine Quelle«, sagte sie einen Augenblick später.
Sie ließen die Pferde stehen, wo sie standen, und Lute führte ihren Freund in die kühle Tiefe des Gehölzes zu einer Stelle, wo kristallklares Wasser aus dem Felsboden quoll.
»Was sagtest du? Dolly machte sich nie mausig?« sagte er, als das Blut gestillt war und Nerven und Pulsschlag wieder zur Ruhe gebracht waren.
»Ich bin wie vor den Kopf geschlagen«, antwortete Lute. »Ich kann es nicht begreifen. In ihrem ganzen Leben hat sie so etwas noch nie getan. Und alle Tiere lieben dich doch so – das kann also nicht der Grund sein. Sie ist ja ein Pferd für Kinder, Liebster. Ich war ganz klein, als ich sie das erstemal ritt, und bis heute –«
»Na, heute war sie aber alles andere eher als ein Pferd für Kinder«, warf Chris ein. »Sie war ein Teufel. Sie versuchte, mich an den Bäumen abzureiben und mir den Kopf an den Ästen zu zerschlagen. Sie suchte die niedrigsten und engsten Durchlässe, die sie finden konnte. Du hättest sehen sollen, wie sie sich hindurchpreßte. Und hast du gesehen, wie sie bockte?«
Lute nickte.
»Benahm sich wie das schlimmste, halbwilde Präriepferd.«
»Aber was weiß sie von Bocken und Abwerfen?« fragte Lute. »Sie hat es noch nie getan. Nie.«
Er zuckte die Achseln. »Vielleicht ein vergessener Instinkt, der nach langem Schlummer zum Leben erwacht ist.«
Das junge Mädchen erhob sich mit energischer Miene. »Ich muß Klarheit darüber haben«, sagte sie. Sie begaben sich wieder zu den Pferden und unterzogen Dolly einer gründlichen Untersuchung, die nichts ergab. Kopf, Beine, Gebiß, Maul, Körper – alles war, wie es sein sollte. Sattel und Riemenzeug waren chemisch frei von Kletten oder anderen stechenden Dingen; der Rücken war glatt und unbeschädigt. Sie suchten nach Anzeichen von einem Schlangenbiß, von Fliegen- oder Insektenstichen, fanden aber nichts.
»Was es nun auch gewesen sein mag, etwas Subjektives war es sicher«, sagte Chris.
»Von einem bösen Geist besessen«, meinte Lute.
Sie lachten beide über den Gedanken. Sie waren beide Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts und hatten gesunde Nerven und normalen Geist; sie genossen die Schmetterlingsjagd nach dem Ideal, machten aber halt vor dem Abgrund, bei dem der Aberglaube begann.
»Ein böser Geist«, lachte Chris. »Ja, aber was habe ich getan, daß ich eine so strenge Strafe verdient hätte?«
»Du denkst zu hoch von dir«, antwortete sie. »Es ist wohl eher etwas Böses – ich weiß nicht, was –, das Dolly getan hat. Es war nur ein Zufall, daß du sie gerade in dem Augenblick rittest. Hätte ich oder ein anderer auf ihr gesessen, so wäre ganz dasselbe geschehen.« Bei diesen Worten faßte sie den Steigbügelriemen und begann ihn zu verkürzen.
»Was machst du?« fragte Chris.
»Ich will Dolly heimreiten.«
»Nein, das wirst du nicht tun«, erklärte er. »Das würde alle Disziplin über den Haufen werfen. Nach dem, was geschehen ist, bin ich einfach gezwungen, sie selbst heimzureiten.«
Aber es war eine sehr kranke und sehr schwache Stute, die er ritt; sie stolperte und blieb unter nervösen Zuckungen und immer wiederkehrenden Muskelkrämpfen stehen – Nachwehen der heftigen Bewegung, in der sie sich befunden hatte.
»Nach dem, was geschehen ist, sehne ich mich jetzt nach einem Gedichtbuch und einer Hängematte«, sagte Lute, als sie in das Lager einritten.
Es war ein Sommerlager für stadtmüde Menschen in einem Heim von ragenden Tannen, durch deren Zweige hoch droben der Sonnenschein verstreut und gedämpft hereinsickerte, daß er helle, erquickende Schatten schuf. Ein Stückchen vom Lager entfernt lagen die Küche und die Zelte für die Dienerschaft, und dazwischen befand sich der große Speisesaal, dessen Wände von den Säulenreihen lebender Tannenstämme gebildet wurden, wo es stets frisch und kühl war, und wo man kein Sonnensegel brauchte, um die Sonne fernzuhalten. »Arme Dolly, sie ist tüchtig mitgenommen«, sagte Lute am Abend, als sie aus dem Stall zurückkam, wo sie die Stute noch einmal untersucht hatte. »Aber du hast keinen Schaden genommen, Chris, und das genügt wohl, um ein kleines Mädchen sehr dankbar zu machen. Ich glaubte zu wissen, wieviel du für mich bedeutest, aber eigentlich ist es mir erst heute so ganz aufgegangen. Ich konnte nichts hören als das heftige Krachen und Rumoren im Gehölz. Ich konnte dich nicht sehen und wußte ja gar nicht, wie es dir ergangen war.«
»Ich dachte nur an dich«, antwortete Chris und fühlte, wie ihre Hand seinen Arm, auf dem sie ruhte, preßte. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, und ihre Lippen begegneten sich.
»Gute Nacht«, sagte sie.
»Liebe Lute, liebe Lute.« Der Klang seiner Stimme war eine Liebkosung, und dann verschwand sie im Schatten.
»Wer holt die Post?« rief eine Frauenstimme zwischen den Bäumen.
Lute schlug das Buch, in dem sie gelesen hatte, zu und seufzte.
»Wir haben doch beschlossen, heute nicht zu reiten«, sagte sie.
»Laß mich hingehen«, schlug Chris vor. »Du kannst zu Hause bleiben. Ich reite hinunter und bin im Augenblick wieder da.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wer holt die Post?« rief die Stimme wieder.
»Wo ist Martin?« rief Lute zur Antwort.
»Das weiß ich nicht«, rief die Stimme wieder. »Ich glaube, Robert hat ihn irgendwohin mitgenommen – um Pferde zu kaufen, zu fischen oder ich weiß nicht was. Es ist tatsächlich kein anderer da als Chris und du. Es würde dir außerdem Appetit zum Mittagessen machen. Du hast dich den ganzen Tag in der Hängematte ausgeruht, und Onkel Robert muß auf alle Fälle seine Zeitung haben.«
»Nun ja, Tante, dann gehen wir«, rief Lute und erhob sich aus der Hängematte.
Wenige Minuten später standen sie in Reitkleidung bei ihren Pferden und sattelten sie. Sie ritten fort auf der Landstraße, die in den Strahlen der Nachmittagssonne gebadet dalag. Dann schlugen sie die Richtung nach Glen Ellen ein. Das Städtchen schlief im Sonnenschein, und der schläfrige Kaufmann und Postmeister konnte kaum die Augen offen halten in den wenigen Augenblicken, die er brauchte, um Briefe und Zeitungen zusammenzupacken.
Eine Stunde später bogen Lute und Chris von der Landstraße auf einen Viehsteig ab, der sich den hohen Hang hinabschlängelte, um die Pferde in die Schwemme zu treiben, ehe sie heimritten.
»Dolly sieht aus, als hätte sie die Sache von gestern ganz vergessen«, sagte Chris, als sie die Pferde in das rauschende Wasser lenkten, das ihnen bis zu den Knien reichte. »Sieh nur!«
Die Stute hatte den Kopf gehoben und die Ohren gespitzt, als sie eine Wachtel im Gebüsch rascheln hörte. Chris beugte sich vor und rieb ihr die Ohren. Für Dolly war das offenbar ein Genuß, und sie legte den Kopf über den Hals seines Pferdes.
»Wie eine Katze«, sagte Lute.
»Ich würde mich doch nie mehr ganz auf sie verlassen,« sagte Chris, »nach dem tollen Streich von gestern.«
»Ich habe auch das Gefühl, daß es besser für dich ist, Ban zu reiten«, lachte Lute. »Merkwürdig, mein Vertrauen zu Dolly ist so wenig erschüttert wie je. Für mich bin ich vollkommen ruhig, aber ich möchte dich nicht mehr auf ihrem Rücken sehen. Mein Vertrauen zu Ban ist unerschütterlich. Sieh nur seinen Hals! Ist er nicht hübsch! Er wird ebenso klug wie Dolly sein, wenn er erst ihr Alter erreicht hat.«
»Ich habe ganz dasselbe Gefühl«, lachte Chris. »Es würde mir nie einfallen, Ban mein Vertrauen zu versagen.«
Sie lenkten ihre Pferde wieder ans Ufer. Dolly machte halt, um mit ihrem Maul eine Fliege von ihrem Knie fortzustoßen, und Ban drängte sich an ihr vorbei den schmalen Weg hinan. Der Raum war so beschränkt, daß ein Umdrehen mit großer Schwierigkeit verbunden gewesen wäre, und Chris ließ ihn deshalb weitergehen. Lute, die hinterher ritt, ließ ihre Augen auf dem Rücken ihres Freundes ruhen und freute sich über die kräftigen Linien des bloßen Halses, die sich in den muskulösen Schultern fortsetzten.
Plötzlich hielt sie ihr Pferd an. Sie konnte nichts tun als zusehen, so schnell ging das, was geschah, vor sich.
Unter und über ihnen befand sich der fast senkrechte Hang. Der Pfad selbst war nicht breiter, als daß die Pferde gerade darauf Platz hatten. Plötzlich aber wirbelte Washoe Ban herum, erhob sich auf den Hinterbeinen, schwebte einen Augenblick in der Luft und stürzte dann rücklings den Hang hinunter.
Das alles geschah so unerwartet und so schnell, daß der junge Mann im Sturz mitgerissen wurde. Er hatte nicht Zeit, abzuspringen. Ehe er es ahnte, fiel er und tat das einzige, was zu tun war – ließ die Steigbügel fahren und warf sich seitwärts hinaus. Es waren zwölf Fuß bis zu dem Felsen unten. Er hielt den Körper aufrecht und den Kopf erhoben und heftete die Augen fest auf das Pferd, das über ihm war und ihn unter sich zu begraben drohte.
Chris fiel wie eine Katze auf die Füße und sprang sofort beiseite. Fast im selben Augenblick krachte Bau neben ihm auf den Boden. Das Tier versuchte nicht, wieder hochzukommen, sondern stieß den furchtbaren Schrei aus, den Pferde zuweilen erheben, wenn sie tödlich verwundet sind. Es war fast direkt auf den Rücken gestürzt und blieb in dieser Lage mit verzerrtem Kopf und schlaffen unbeweglichen Hinterbeinen liegen, während die Vorderbeine vergeblich in der Luft fochten.
Chris nickte beruhigend nach oben.
»Ich bin es bald gewöhnt«, sagte Lute und lächelte ihm zu. »Ich brauche dich natürlich nicht erst zu fragen, ob du dich gestoßen hast. Kann ich etwas tun?«
Er lächelte zu ihr hinauf, trat dann zu dem herabgestürzten Tier, lockerte den Sattelgurt und zog den Kopf des Pferdes hervor.
»Ich dachte es mir schon«, sagte er nach einer flüchtigen Untersuchung. »Ich ahnte es gleich. Hast du es nicht krachen gehört?«
Sie schauderte.
»Ja, das war der Schlußpunkt nach dem letzten Abschnitt von Bans tatenreichem Leben.« Er kletterte in einem Bogen nach dem Wege empor. »Ich habe zum letztenmal auf Bans Rücken gesessen, laß uns heimgehen.«
Oben auf dem Rande des Hanges wandte Chris sich um und sah hinab.
»Leb' wohl, Washoe Ban!« rief er. »Leb' wohl, alter Kamerad.«
Das Tier bemühte sich, den Kopf zu heben. Es standen Tränen in Chris' Augen, als er sich umwandte, und in denen Lutes, als sie seinem Blick begegnete. Sie schwieg in ihrer Teilnahme, drückte ihm aber fest die Hand, während er neben ihrem Pferde den staubigen Weg entlangschritt.
»Das ist mit Überlegung geschehen«, brach es plötzlich aus Chris hervor. »Er warnte mich nicht. Er stürzte sich mit Überlegung rücklings hinunter.«
»Ja, es geschah ohne Warnung«, räumte Lute ein. »Ich beobachtete ihn. Ich sah, wie es geschah. Er wirbelte herum und stürzte sich im selben Augenblick hintenüber, als ob du selbst es durch einen heftigen Ruck am Zügel getan hättest.«
»Meine Hand war es nicht, die den Zügel anzog, darauf kann ich schwören. Ich dachte nicht einmal an das Tier. Während es den Weg hinaufging, ließ ich ihm die Zügel ganz locker, es geschah ganz von selber.«
»Ich würde es auch bemerkt haben, wenn du sie angezogen hättest«, sagte Lute. »Aber alles war vorbei, ehe du auch nur das geringste tun konntest. Es war nicht deine Hand, die anzog, nicht einmal unbewußt.«
»Dann ist es eine unsichtbare Hand gewesen, die sich, ich weiß nicht woher, ausstreckte.«
Er sah mit einem seltsamen Blick zum Himmel empor und lächelte selbst über seinen merkwürdigen Einfall.
Als sie die Ecke des Haines erreichten, die als Stall diente, kam Martin ihnen entgegen, um Dolly in Empfang zu nehmen. Aber sein Gesicht drückte kein Erstaunen aus, als er Chris zu Fuß kommen sah. Chris blieb einen Augenblick hinter Lute stehen.
»Können Sie ein Pferd erschießen?« fragte er.
Der Stallknecht nickte, fügte ein »Jawohl« hinzu und nickte noch einmal kräftiger.
»Wie machen Sie das?«
»Ziehe eine Linie von den Augen bis zu den Ohren – ich meine bis zu den Ohren auf der entgegengesetzten Seite. Und wo die Linien sich schneiden –«
»Ja, es ist gut«, unterbrach Chris ihn. »Sie kennen die Schwemme bei der dritten Wegbiegung, dort werden Sie Ban finden. Er hat sich das Rückgrat gebrochen.«
*
»Ach, hier sind Sie, mein Herr. Seit dem Essen habe ich dich überall gesucht. Man will dich sofort sprechen.«
Chris warf seine Zigarre fort und trat dann den glühenden Stummel mit dem Fuß aus.
»Du hast wohl nichts davon gesagt? Von Ban?« fragte er.
Lute schüttelte den Kopf. »Sie erfahren es ja immer noch früh genug. Martin wird es Onkel Robert schon morgen erzählen.«
»Aber nimm es dir nicht zu sehr zu Herzen«, sagte sie nach einer kurzen Pause und ließ ihre Hand in die seine gleiten.
»Ich habe ihn als Füllen bekommen«, sagte er. »Niemand hat ihn geritten als du und ich. Ich habe ihn selbst zu Tode geritten. Ich habe ihn seit seiner Geburt gekannt. Ich kannte jedes Haar an ihm, jede seiner Mucken und Unarten, und ich hätte meinen Kopf darauf gesetzt, daß er nie imstande sein würde, zu tun, was er tat. Es kam ganz plötzlich, er hat nicht mit dem Gebiß gekämpft und kein Zeichen von Ungehorsam gegeben. Ich habe alles durchdacht und durchdacht. Das Gebiß war nicht schuld. Er war weder schwierig noch ungehorsam, das alles war es eben nicht. Es war eine plötzliche Eingebung, der er blitzschnell folgte. Jetzt hinterher bin ich ganz verblüfft über die Schnelligkeit, mit der alles geschah. In weniger als einer Sekunde waren wir gestürzt.
»Es war überlegt – überlegter Selbstmord. Und Mordversuch. Es war eine Falle. Ich war das Opfer. Er hatte mich in der Hand und stürzte sich mit mir hinunter. Und doch haßte er mich nicht. Er liebte mich ... so sehr, wie ein Pferd lieben kann. Ich bin wie aus allen Wolken gefallen. Ich kann es ebensowenig verstehen, wie du Dollys Benehmen gestern.«
»Ja, aber Pferde können doch wahnsinnig werden, Chris«, sagte Lute. »Das weißt du doch. Es ist der reine Zufall, daß zwei Pferde im Laufe von zwei Tagen Anfälle hatten, während du sie rittest.«
»Ja, das ist die einzige Erklärung«, antwortete er.
»Aber warum werde ich gerade jetzt gewünscht?«
»Die Planchette.«
»Ach ja. Das ist jedenfalls etwas Neues für mich. Aus irgendeinem Grunde lernte ich diese Einrichtung nicht kennen, als sie vor Jahren so sehr in Mode war.«
»Das tat keiner von uns«, antwortete Lute. »Außer Frau Grantly. Es ist anscheinend ihre Lieblingsbeschäftigung, damit zu experimentieren.«
»Ein merkwürdiges kleines Menschenkind«, meinte er. »Ein Nervenbündel und ein paar schwarze Augen. Ich möchte wetten, daß sie keine neunzig Pfund wiegt, und das meiste davon ist Magnetismus.«
»Sie ist wirklich unheimlich ... zuweilen.« Lute schauderte unwillkürlich. »Mir fährt es in ihrer Anwesenheit kalt den Rücken hinunter.«
»Die Begegnung des Gesunden mit dem Kranken«, sagte er trocken. »Du wirst bemerken, daß es stets der Gesunde ist, der Kälteschauer bekommt. Der Kranke hat sie nie. Ruft sie nur bei anderen hervor. Das ist seine Aufgabe. Wo hat deine Familie sie übrigens aufgegabelt?«
»Ich weiß nicht – doch, ich weiß es übrigens gut. Tante Mildred traf sie, glaube ich, in Boston – ach nein, das weiß ich übrigens nicht. Aber jedenfalls kam Frau Grantly nach Kalifornien und mußte dann natürlich Tante Mildred besuchen. Du weißt ja, daß wir stets offenes Haus halten.«
Sie blieben vor zwei großen Tannen stehen, die den Eingang zum Speisesaal markierten. Durch die Öffnungen im Flechtwerk der Zweige konnte man die Sterne sehen. Der von den Baumsäulen umschlossene Raum war von Kerzen erleuchtet. Am Tisch saßen vier Personen und untersuchten die Planchette. Chris' Blick glitt über sie hin, und er fühlte sich von Schuld beladen und spürte gleichsam einen schmerzhaften Stich im Herzen, als sein Blick einen Augenblick auf Lutes Tante Mildred und ihrem Onkel Robert ruhte, deren alternde Züge so mild und liebenswürdig waren und deutlich verrieten, daß das Leben ihnen bisher keine größeren Sorgen beschert hatte. Mit einem Lächeln betrachtete er flüchtig die schwarzäugige zarte Frau Grantly; dann blieb sein Blick auf der vierten Gestalt haften, einem dicken Mann mit einem schweren, massigen Kopf, dessen graumelierte Schläfen einen starken Gegensatz zu seinen jugendlichen, festen Zügen bildeten.
»Wer ist das?« flüsterte Chris.
»Ein Herr Barton. Sein Zug hatte sich verspätet, deshalb sahst du ihn nicht beim Essen. Er ist Geldmann – Wasserkraft – elektrische Überlandleitungen oder etwas Ähnliches.
»Er sieht nicht gerade aus, als ob er das Pulver erfunden hätte.«
»Hat er auch nicht. Er hat sein Geld geerbt, ist aber doch klug genug, es festzuhalten und die Köpfe anderer Leute zu engagieren. Er ist sehr konservativ.«
»Das ist zu erwarten«, meinte Chris. Sein Blick glitt wieder zu dem Ehepaar, das Elternstelle an dem jungen Mädchen neben ihm vertreten hatte. »Weißt du,« sagte er, »es gab mir gestern direkt einen Schock, als du mir erzähltest, daß sie mich nicht mehr gern hätten, ja, daß sie mich kaum noch ertrügen. Ich war gestern hinterher mit ihnen zusammen, und ich war schuldbewußt und in Angst und Beben – und das bin ich auch heute noch. Aber es war mir nicht möglich, eine Veränderung gegen früher an ihnen zu bemerken.«
»Liebster«, seufzte Lute. »Gastfreundschaft ist für sie etwas ebenso Natürliches wie Atmen. Aber das ist es doch nicht. Die Freundlichkeit, die sie dir bezeigen, ist echt und kommt ihnen von Herzen. So streng sie dich auch verurteilen, wenn du nicht zugegen bist, so werden sie doch erweicht und sind lauter Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit, sobald sie mit dir zusammen sind. Im selben Augenblick, wenn sie dich sehen, wallt ihre Zuneigung und Liebe auf. So sind sie nun einmal. Alle Tiere lieben dich. Alle Menschen haben dich gern. Sie können nichts dafür, und du kannst nichts dafür. Du wirst von allen geliebt, und das beste dabei ist, daß du es selbst nicht weißt. Auch in diesem Augenblick weißt du es nicht. Selbst jetzt, da ich es dir erzähle, kannst du es nicht verstehen, willst es nicht verstehen – aber diese Ahnungslosigkeit ist gerade einer der Gründe deiner Beliebtheit. Ja, du willst es nicht glauben und schüttelst nur den Kopf. Aber ich, deine Sklavin, ich weiß es, wie alle anderen es wissen, denn sie sind ebenso deine Sklaven.
»Hör', in einer Minute gehen wir zu ihnen hinein. Beachte nur einmal den fast mütterlich-zärtlichen Ausdruck, den Tante Mildreds Augen plötzlich annehmen. Hör' auf den Klang in Onkel Roberts Stimme, wenn er sagt: ›Na, Chris, bist du da, mein Junge?‹ Sieh, wie Frau Grantly schmilzt, buchstäblich schmilzt, wie ein Tautropfen in der Sonne. Nimm Herrn Barton dort. Du hast ihn noch nie gesehen. Aber wenn wir anderen zu Bett gegangen sind, wirst du ihn auffordern, eine Zigarre mit dir zu rauchen – du, der du noch nichts bist, ihn, der ein Mann von vielen Millionen, ein Mann mit Macht und Einfluß, ein Mann, der schlaff und dumm wie ein Ochse ist, und er wird mit dir gehen und seine Zigarre rauchen, dir auf den Fersen folgen wie ein Hündchen, wie dein Hündchen. Er wird gar nicht merken, daß er es tut, aber er wird es doch tun. Glaubst du, ich wüßte das nicht, Chris? Oh, ich habe dich so oft beobachtet und dich deshalb geliebt, weil du so entzückend unbewußt bist und nicht wußtest, was du tatest.«
»Ich platze fast vor Stolz über alles das, was du sagst«, lachte er, indem er seinen Arm um sie schlang und sie mit sich zog.
»Ja,« flüsterte sie, »und selbst in diesem Augenblick, da du, was ich gesagt habe, verlachst, läßt du oder dein Wesen, deine Seele – nenne es, wie du willst – alles, was an Liebe in dir ist, ausströmen.«
Sie lehnte sich enger an ihn und seufzte ein wenig müde. Er drückte einen leichten Kuß auf ihr Haar und schloß sie zärtlich in seine Arme.
Plötzlich machte Tante Mildred eine lebhafte Bewegung und sah von der Planchette auf.
»Kommt, laßt uns anfangen«, sagte sie. »Es wird bald kühl. Robert, wo bleiben die Kinder?«
»Hier sind wir«, rief Lute und machte sich frei.
»Jetzt kommen die Kälteschauer«, flüsterte Chris, als sie hineingingen.
Was Lute betreffs des Empfanges ihres Liebsten gesagt hatte, traf ein. Frau Grantly, die ätherisch und kränklich war und gleichsam von kaltem Magnetismus knisterte, taute auf und schmolz, als wäre sie wirklich ein Tautropfen und er die Sonne. Herr Barton ließ sein großes Antlitz über ihm leuchten und war von berückender Liebenswürdigkeit. Tante Mildred empfing ihn mit gewöhnlicher Wärme und mütterlicher Zärtlichkeit, und Onkel Robert sagte liebenswürdig und herzlich: »Nun, Chris, mein Junge, wie ging es mit dem Reiten?« Aber Tante Mildred zog den Schal enger um sich und trieb sie an, daß sie begännen. Auf dem Tisch lag ein Bogen Papier. Auf dem Papier stand ein kleines, auf drei Füßen ruhendes dreieckiges Brett. Zwei von den Füßen waren leicht bewegliche Becher, der dritte, an der Spitze des Dreiecks befindliche, ein Bleistift.
»Wer fängt an?« fragte Onkel Robert.
Eine kurze Pause trat ein, dann legte Tante Mildred ihre Hand auf das Brett und sagte: »Einer muß sich ja zum Narren machen, um die anderen zu erfreuen.«
»Tapferes Weib«, sagte ihr Mann anerkennend. »Nun, liebe Frau Grantly, tun Sie, was Sie nicht lassen können.«
»Ich?« sagte diese fragend. »Ich tue nichts. Die Kraft, oder was es nun sein mag, ist außerhalb meiner wie aller anderen Anwesenden. Was für eine Art von Kraft es ist, darüber wage ich mich nicht auszusprechen. Aber es gibt eine solche Kraft. Ich habe Beweise gesehen, und Sie werden sicher auch Beweise erhalten. Aber haben Sie jetzt alle die Güte, still zu sein. Berühren Sie das Brett leicht, aber sehr fest, Frau Story. Aber Sie dürfen nichts von sich aus tun.«
Tante Mildred nickte und legte ihre Hand auf die Planchette, während die anderen sich in einem schweigenden, erwartungsvollen Kreise um sie gruppierten. Es geschah indessen nichts, die Minuten verrannen, ohne daß die Planchette sich rührte.
»Haben Sie Geduld«, ermahnte Frau Grantly sie. »Kämpfen Sie nicht gegen die Kräfte an, die Sie vielleicht in sich arbeiten spüren. Aber tun Sie nichts von selber. Die Kraft wird schon tun, was getan werden soll. Sie werden sich dazu getrieben fühlen, gewisse Bewegungen zu machen, und diese Eingebungen sind tatsächlich unwiderstehlich.«
»Ich wünschte, die Kraft beeilte sich ein bißchen«, sagte Tante Mildred, als fünf Minuten vergangen waren.
»Warten Sie noch ein bißchen, Frau Story. Nur noch einen Augenblick«, sagte Frau Grantly beruhigend.
Plötzlich begann Tante Mildreds Hand sich ruckweise zu bewegen. Ein leicht erschrockener Ausdruck trat in ihr Gesicht, als sie sah, wie ihre Hand sich bewegte, und hörte, wie die Bleistiftspitze an der Ecke der Planchette kratzte.
Als das fünf Minuten gedauert hatte, zog Tante Mildred mit Anstrengung die Hand zurück und sagte nervös lachend:
»Ich weiß nicht, ob ich es selbst tat oder nicht. Ich weiß nur, daß ich nervös geworden bin, weil ich wie eine Närrin dastand, während ihr mich alle so feierlich anblicktet.«
»Gekritzel«, erklärte Onkel Robert, als er einen Blick auf das Papier geworfen hatte, über das der Bleistift gefahren war.
»Vollkommen unleserlich«, erklärte Frau Grantly. »Das sind überhaupt keine Buchstaben. Die Kräfte haben noch nicht zu wirken begonnen. Versuchen Sie es einmal, Herr Barton.«
Der Genannte trat, gewichtig und mit großer Bereitwilligkeit, vor und legte seine Hand auf das Brett. Und geschlagene zehn Minuten lang stand er unbeweglich da wie eine Statue, wie die erstarrte Verkörperung des kommerziellen Zeitalters. Onkel Roberts Gesicht begann sich zu verziehen. Er blinzelte, spitzte den Mund und stieß leise Kehllaute aus. Zuletzt konnte er sich nicht länger halten, sondern brach in ein schallendes Gelächter aus. Alle, selbst Frau Grantly, lachten mit, auch Herr Barton lachte, wenn auch leicht gereizt.
»Versuchen Sie es, Story«, sagte er.
Onkel Robert, der immer noch lachte, legte auf Aufforderung von Lute und seiner Frau die Hand auf das Brett. Plötzlich wurde sein Gesicht ernst. Seine Hand hatte sich zu bewegen begonnen, und man konnte den Bleistift auf dem Papier kritzeln hören.
»Weiß Gott!« murmelte er. »Das ist merkwürdig. Seht nur. Ich tue das nicht. Ich weiß bestimmt, daß ich es nicht selber tue. Seht, wie die Hand sich bewegt! Seht nur!«
»Na, Robert, mach' keinen Unsinn wie gewöhnlich«, ermahnte seine Frau ihn.
»Ich sage dir ja, daß ich es nicht selber tue«, antwortete er gekränkt. »Die Kraft hat mich erfaßt. Frag' nur Frau Grantly. Sagt ihr, daß sie sie zum Stillstand bringt, wenn du willst, daß ich aufhören soll. Ich kann nicht aufhören. Lieber Gott, seht nur den Schnörkel. Den habe ich nicht gemacht. Ich habe in meinem ganzen Leben nie einen Schnörkel gemacht.«
»Versuchen Sie, ernst zu sein«, ermahnte Frau Grantly. »Eine leichtfertige Atmosphäre ist den Operationen der Planchette nicht günstig.«
»So, jetzt kann es genug sein, denke ich«, sagte Onkel Robert und zog seine Hand zurück. »Laßt uns sehen.«
Er beugte sich über den Tisch und rückte sich die Brille zurecht. »Jedenfalls ist es Schrift, und das ist mehr, als ihr anderen geleistet habt. Sieh es dir an, Lute, du hast junge Augen.«
»Oh, was für Schnörkel«, rief Lute, als sie das Papier sah. »Und seht einmal, zwei verschiedene Handschriften.«
Sie begann vorzulesen: »Dies ist die erste Stunde. Konzentriert eure Aufmerksamkeit auf folgenden Satz: ›Ich bin ein wirklicher, positiver Geist, in keiner Weise negativ.‹ Lest weiter und konzentriert eure Gedanken auf positive Liebe. Dann werden Frieden und Harmonie durch und um eure Körper vibrieren. Eure Seelen –! Hier beginnt die andere Handschrift: Was hier steht, lautet: Bullfrog 95, Dixie 16, Goldener Anker 65, Goldberg 13, Jim Butler 70, Jumbo 75, Nordstern 42, Hilfe 7, Schwarze Zinne 75, Hoffnung 16, Eisenspitzen 3.«
»Eisenspitzen stehen sehr niedrig«, murmelte Herr Barton.
»Robert, jetzt hast du wieder Unsinn gemacht«, rief Tante Mildred vorwurfsvoll.
»Nein, wirklich nicht«, antwortete er. »Ich habe nur die Kurse gelesen, aber wie die, zum Kuckuck – Verzeihung – auf das Papier hier gekommen sind, das möchte ich wirklich wissen.«
»Aus deinem Unterbewußtsein«, meinte Chris. »Du hast die Kurse heute in der Zeitung gelesen.«
»Nein, das habe ich nicht; aber vorige Woche habe ich den Kurszettel durchgesehen.«
»Ein Tag oder ein Jahr ist für das Unterbewußtsein gleich«, sagte Frau Grantly. »Das Unterbewußtsein vergißt nie. Aber ich will damit nicht sagen, daß dies hier aus dem Unterbewußtsein kommt. Ich will nicht sagen, was ich wirklich glaube.«
»Aber was bedeutet denn das andere, was hier steht?« fragte Onkel Robert. »Das klingt ungefähr so, wie ich mir ›Christian Science‹ vorstelle.«
»Oder Theosophie«, warf Tante Mildred ein. »Eine Botschaft an einen Neubekehrten.«
»Weiter, lies den Rest«, sagte ihr Mann.
»Dieses bringt dich in Berührung mit den mächtigeren Geistern«, las Lute. »Du sollst eins mit uns werden, dein Name soll ›Arya‹ sein, und du sollst – Eroberer 20, Empire 12, Goldberg 18, Mittelweg 140 – und – und das ist alles. Ach nein, hier ist noch etwas gekritzelt. ›Arya von Kandor‹ – das ist sicher der Obergeist.«
»Ich möchte doch gern von dir eine Erklärung dieses theosophischen Zeuges durch das Unterbewußtsein hören, Chris«, sagte Onkel Robert herausfordernd.
Chris zuckte die Achseln. »Es bedarf keiner Erklärung. Du mußt eine Botschaft erhalten haben, die für einen anderen bestimmt war.«
»Kreuzung der Leitungen, nicht wahr?« sagte Onkel Robert und lachte leise. »Ein vervielfältigtes geistiges Radiotelegramm könnte man es vielleicht nennen.«
»Es ist wirklich Unsinn«, sagte Frau Grantly. »Ich habe noch nie erlebt, daß die Planchette sich so häßlich benahm. Es müssen störende Kräfte im Spiel sein. Ich habe es von Anfang an gemerkt. Das kommt vielleicht daher, daß wir alle es zu sehr von der scherzhaften Seite nehmen.«
»Ein gewisser geziemender Ernst sollte die Veranstaltung prägen«, räumte Chris ein und legte seine Hand auf die Planchette. »Laßt mich einmal versuchen. Aber keiner von euch darf lachen oder kichern oder es auch nur in Gedanken tun. Wenn du dich nur einmal unterstehst, loszuplatzen, Onkel Robert, rufst du möglicherweise die Rache der geheimnisvollen Mächte auf dein Haupt herab.«
»Ich werde schon brav sein«, antwortete Onkel Robert. »Wenn ich mich aber nicht mehr halten kann, dann darf ich mich wohl ganz leise fortschleichen?«
Chris nickte. Seine Hand hatte schon begonnen, sich zu bewegen. Es waren keine Zuckungen vorausgegangen, und sie hatte keine tastenden Schreibversuche gemacht. Sie hatte sich augenblicklich in Bewegung gesetzt, und die Planchette glitt rasch und gleichmäßig über das Papier.
»Sieh ihn an«, flüsterte Lute ihrer Tante zu. »Sieh, wie blaß er ist.«
Chris schien durch den Klang ihrer Stimme gestört zu werden, und man beobachtete deshalb tiefes Schweigen. Man hörte nur das anhaltende Kratzen des Bleistifts.
Plötzlich zog Chris die Hand zurück, als wäre er gestochen. Seufzend und gähnend trat er vom Tisch zurück und starrte einen Augenblick verwundert und neugierig ihre Gesichter an, als erwache er erst jetzt.
»Ich glaube, ich habe irgend etwas geschrieben«, sagte er.
»Ja, das können Sie nicht leugnen«, sagte Frau Grantly äußerst zufrieden, nahm das Papier vom Tisch und betrachtete es.
»Lesen Sie vor«, sagte Onkel Robert.
»Also schön. Es beginnt mit einem dreimaligen ›Hüte dich‹, das mit größeren Buchstaben als das andere geschrieben ist. ›Hüte dich! Hüte dich! Hüte dich!, Chris Dunbar. Es ist meine Absicht, dich zu vernichten. Ich habe schon zwei Attentate auf dein Leben gemacht, aber sie sind mißglückt. Ich werde mein Ziel erreichen. So sicher bin ich dessen, daß ich es dir zu erzählen wage. Weshalb, brauche ich dir nicht zu sagen. Du weißt es ja selber gut. Das Unrecht, das du begehst –‹ und hier ist es plötzlich aus.«
Frau Grantly legte das Papier auf den Tisch und sah Chris an, der bereits der Mittelpunkt aller Blicke war, aber gähnte, als wäre er von Schläfrigkeit übermannt.
»Das klang ja reichlich blutdürstig, muß ich sagen«, meinte Onkel Robert.
»Ich habe schon zwei Attentate auf dein Leben gemacht.« Frau Grantly las den Satz vor, während sie das Papier zum zweitenmal überflog.
»Auf mein Leben?« fragte Chris gähnend. »Aber es ist noch nie ein Attentat auf mein Leben gemacht worden. Du lieber Gott, wie müde ich bin!«
»Ach, mein Junge, du denkst an Menschen aus Fleisch und Blut«, lachte Onkel Robert verwundert. »Aber hier ist die Rede von einem Geist. Dein Leben ist von unsichtbaren Kräften angegriffen worden. Vermutlich haben unsichtbare Hände versucht, dich im Schlaf zu ermorden.«
»Oh, Chris!« rief Lute unwillkürlich. »Heute nachmittag! Die Hand, die dir, wie du sagtest, in den Zügel gegriffen haben muß!«
»Da machte ich doch Scherz«, wandte er ein.
»Aber doch ...« Lute hielt inne und behielt ihre Gedanken für sich.
Aber Frau Grantly nahm die Spur sofort auf.
»Was war heute nachmittag? War Ihr Leben in Gefahr?«
Chris' Schläfrigkeit war verschwunden. »Es beginnt fast, mich selbst zu interessieren«, räumte er ein. »Wir haben nicht darüber gesprochen. Ban hat sich heute nachmittag das Rückgrat gebrochen. Er stürzte sich den Hang hinunter, und ich wurde fast unter ihm begraben.«
»Seltsam, seltsam«, sagte Frau Grantly laut, aber halb für sich. »Es steckt etwas dahinter ... es ist eine Warnung ... Oh, es ist wahr, Sie kamen ja auch gestern zu Schaden, als Sie Fräulein Storys Pferd ritten! Da haben wir die zwei Attentate.«
Sie blickte sie triumphierend an. Die Planchette war gerechtfertigt.
»Unsinn«, lächelte Onkel Robert, aber seine Stimme klang leicht gereizt. »Solche Dinge geschehen heute nicht mehr. Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert, Verehrteste. Das, was Sie erzählen, schmeckt ja, milde gesagt, nach dem schwärzesten Mittelalter.«
»Ich habe schon ähnliche wunderbare Dinge mit der Planchette erlebt«, begann Frau Grantly, hielt aber plötzlich inne, trat an den Tisch und legte ihre Hand auf das Brett.
»Wer bist du?« fragte sie. »Wie heißt du?«
Die Planchette begann augenblicklich zu schreiben.
Jetzt beugten sich alle mit Ausnahme von Herrn Barton über den Tisch und folgten mit ihren Blicken dem Bleistift.
»Es ist Dick«, rief Tante Mildred mit einem leicht hysterischen Klang in der Stimme.
Ihr Mann richtete sich auf, und sein Gesicht wurde zum erstenmal ernst.
»Es ist Dicks Unterschrift«, sagte er. »Ich erkenne seine Handschrift unter tausend.«
»Dick Curtis«, Frau Grantly las den Namen laut.
»Wer ist Dick Curtis?«
»Das ist wirklich merkwürdig«, rief Herr Barton plötzlich. »Die Handschrift ist beide Male dieselbe, gut gemacht, das muß ich sagen, wirklich gut gemacht«, fügte er bewundernd hinzu.
»Laßt mich sehen«, sagte Onkel Robert, nahm das Papier und untersuchte es. »Ja, es ist Dicks Handschrift.«
»Aber wer ist Dick?« beharrte Frau Grantly. »Wer ist Dick Curtis?«
»Dick Curtis, ja, das war Hauptmann Richard Curtis«, antwortete Onkel Robert.
»Er war Lutes Vater«, ergänzte Tante Mildred. »Lute nahm unseren Namen an. Sie hat ihn nie gesehen, er starb, als sie nur wenige Wochen alt war.«
»Merkwürdig, höchst merkwürdig«, Frau Grantly dachte über die Botschaft nach. »Es waren zwei Attentate gegen Herrn Dunbars Leben. Durch das Unterbewußtsein kann es nicht erklärt werden, denn keiner von uns wußte etwas von dem Unfall heute.«
»Doch, ich«, antwortete Chris. »Und ich operierte mit der Planchette. »Die Erklärung ist also ganz einfach.«
»Aber die Handschrift«, warf Herr Barton ein. »Das, was Sie schrieben, und das, was Frau Grantly schrieb, war mit derselben Handschrift geschrieben.«
Chris beugte sich über das Papier und verglich die Handschriften.
»Außerdem«, rief Frau Grantly, »erkennt Herr Story die Handschrift.« Sie blickte ihn an, um seine Bestätigung zu erhalten.
Er nickte: »Ja, es ist Dicks Handschrift, darauf kann ich schwören.«
Aber Lute hatte plötzlich eine Vision. Während die anderen sich für und wider ereiferten und die Luft von Ausdrücken wie »psychische Phänomene«, »Selbsthypnose«, »Residuum unerklärter Wahrheit« und »Spiritismus« erfüllt war, sah sie im Geiste all die Bilder wieder, die sie sich in ihrer Kindheit von ihrem Vater gemacht hatte, den sie nie gesehen. Sie besaß seinen Säbel, es gab verschiedene altertümliche Daguerreotypien von ihm, man hatte oft von ihm gesprochen und Geschichten von ihm erzählt – und das alles zusammen bildete das Material, aus dem sie in ihrer kindlichen Phantasie sein Bild zusammengestellt hatte.
»Es ist möglich, daß eine Seele sich unbewußt einer anderen mitteilen kann«, sagte Frau Grantly; aber durch Lutes Seele zog ihr Vater auf seinem Streitroß, dem großen Rotschimmel. Sie sah ihn, wie er seine Leute anspornte. Sie sah ihn auf einsamen Rekognoszierungsritten oder inmitten der heulenden Indianer vom Salzsee, als er mit seinen dezimierten Truppen zurückkehrte. In dem Bild, das sie von ihm hatte, in dem rein psychischen Bild, das sie sich von ihm gebildet hatte, spiegelte sich auch sein geistiges Wesen dank ihrer Verehrung und ihrer Fähigkeit, sich Gestalt, Züge und Ausdruck vorzustellen – seine Tapferkeit, Leidenschaftlichkeit, sein Temperament, sein unbeherrschter Zorn, wenn es eine gerechte Sache galt, sein milder Edelmut, seine Fähigkeit, schnell zu verzeihen, und seine Ritterlichkeit, die an die primitiven Tage der Ritterzeit erinnerte. Vor allem aber sah sie, alles andere beherrschend, in seinem Antlitz den wild leidenschaftlichen, tatkräftigen Ausdruck, der ihm den Namen »Dick Curtis, der Draufgänger« verschafft hatte.
»Lassen Sie mich jetzt eine Probe machen«, hörte sie Frau Grantly sagen. »Lassen Sie Frau Story mit der Planchette arbeiten. Vielleicht erhalten wir noch eine Botschaft.«
»Nein, nein, ich flehe Sie an, lassen Sie mich«, sagte Tante Mildred. »Das ist zu unheimlich. Es ist sicher auch Sünde, mit den Toten zu experimentieren. Und außerdem bin ich nervös. Nein, laßt mich lieber zu Bett gehen, ihr anderen könnt ja eure Experimente fortsetzen. Das ist das beste, und ihr könnt mir ja morgen alles erzählen.«
In die Gutenachtwünsche der anderen klangen leise Proteste von Frau Grantly hinein, als Tante Mildred sich zurückzog.
»Robert kann wiederkommen«, rief sie, sich umdrehend. »Sobald er mich nach meinem Zelt gebracht hat.«
»Es wäre wirklich schade, es jetzt aufzugeben«, sagte Frau Grantly. »Man kann ja nicht wissen, ob wir nicht neue Mitteilungen erhalten. Wollen Sie es nicht versuchen, Fräulein Story?«
Lute kam der Aufforderung nach; als sie aber ihre Hand auf das Brett legte, fühlte sie einen unbestimmten und unbekannten Schrecken davor, so mit dem Übernatürlichen zu spielen. Sie gehörte dem zwanzigsten Jahrhundert an, und der ganze Versuch war seinem Wesen nach, wie ihr Onkel sehr richtig bemerkt hatte, mittelalterlich. Dennoch konnte sie sich nicht von der instinktiven Angst befreien, die in ihr aufstieg – von der ererbten Angst des Menschen, von den Erinnerungen an die fernen, wilden Zeiten, da der behaarte, affenartige Urmensch sich vor der Dunkelheit und den in bösen Geistern verkörperten Elementen fürchtete.
Als aber die mystische Kraft sich ihrer Hand bemächtigte und sie schreibend über das Papier führte, verschwand allmählich das Ungewöhnliche der Situation, und sie spürte nur eine gewisse, unklare Neugier. Ihre Aufmerksamkeit wurde nämlich von einer neuen Vision in Anspruch genommen – diesmal war es ihre Mutter, die sie sich auch nicht mehr erinnerte je gesehen zu haben.
Das Bild war nicht so scharf und lebendig wie das ihres Vaters, sondern undeutlich und verschwommen – das Haupt einer Heiligen, von einer Glorie von Schönheit, Güte und Sanftmut umgeben, und doch dabei mit einem Zug von ruhiger Festigkeit, von hartnäckigem, aber bescheidenem Willen, der sich im Leben meist als Resignation gezeigt hatte.
Lutes Hand bewegte sich nicht mehr, und Frau Grantly war schon dabei, die niedergeschriebene Botschaft zu lesen.
»Das ist eine neue Handschrift«, sagte sie. »Eine Frauenhandschrift. Martha unterschrieben. Wer ist Martha?«
Lute war nicht überrascht. »Es ist meine Mutter«, sagte sie still. »Was sagt sie?«
Sie war nicht wie Chris schläfrig geworden; aber ihre Kräfte und Sinne waren gleichsam erschlafft, und sie fühlte eine seltsame Süße und wohltuende Müdigkeit, und während die Botschaft vorgelesen wurde, sah sie immer noch das Bild ihrer Mutter vor ihrem inneren Blick.
»Teures Kind«, las Frau Grantly. »Kümmere dich nicht um ihn. Er war immer so schnell und unüberlegt in allem, was er sagte. Geize nicht mit deiner Liebe. Liebe kann dir nichts Böses antun. Liebe verleugnen heißt sündigen. Gehorchst du der Stimme deines Herzens, so kannst du nichts Böses tun. Gehorchst du aber weltlichen Rücksichten, gehorchst du dem Stolz, gehorchst du denen, die wollen, daß du gegen die Stimme deines Herzens handelst, so sündigst du. Kümmere dich nicht um das, was dein Vater sagt. Er ist jetzt zornig, ganz wie er war, als er auf Erden lebte; aber ihm werden mit der Zeit die Augen aufgehen für die Klugheit meines Rates, denn so ging es ihm auch stets, als er noch auf Erden lebte. Liebe, mein Kind, und liebe auf die rechte Art. – Martha.«
»Laßt mich sehen«, rief Lute, ergriff das Papier und verschlang das Geschriebene mit den Augen. Sie bebte vor unsagbarer Liebe für die Mutter, die sie nie gesehen, und diese geschriebenen Worte aus dem Grabe gaben ihr gewissermaßen einen stärkeren Beweis, daß die Mutter einst gelebt, als selbst ihr Anblick.
»Das ist wirklich merkwürdig«, wiederholte Frau Grantly. »Hat man je so was gesehen? Denken Sie nur, Kind, sowohl Ihr Vater wie Ihre Mutter sind heute abend unter uns gewesen.«
Lute schauderte, die Müdigkeit war verschwunden, sie war wieder zu sich gekommen und bebte aus instinktivem Schrecken vor dem Unsichtbaren. Und es war ihr peinlich, daß die Anwesenheit ihrer Eltern oder die Erinnerung an sie, ob sie nun wirklich dagewesen, oder ob es nur eine Illusion war, von diesen beiden Menschen betastet werden sollte, die eigentlich zwei Wildfremde waren – die krankhafte Frau Grantly und der schlaffe, dumme Herr Barton, dessen Körper ebenso plump wie sein Geist war. Außerdem war es ihr peinlich, daß diese Fremden derart Einblick in das intime Verhältnis zwischen ihr und Chris erhielten. Sie konnte die Schritte des Onkels sich nähern hören, und plötzlich wurde sie sich über die Situation klar. Sie faltete schnell das Papier zusammen und barg es auf ihrer Brust.
»Sagen Sie ihm nichts von dieser anderen Botschaft, hören Sie, Frau Grantly und Herr Barton. Auch Tante Mildred nicht. Es würde sie nur aufregen und ihnen unnötigen Kummer bereiten.«
Sie fühlte zudem den Drang, ihren Liebsten zu schonen, denn sie wußte, daß die Spannung zwischen ihm und ihrer Tante und ihrem Onkel sich, ihnen unbewußt, durch die unheimliche Botschaft der Planchette noch vergrößern würde.
»Und wir wollen nichts mehr mit der Planchette zu tun haben«, fügte Lute hastig hinzu. »Laßt uns all den Unsinn von heute vergessen.«
»Unsinn, liebes Kind?« sagte Frau Grantly indigniert in dem Augenblick, als Onkel Robert in den Kreis trat.
»Hallo«, sagte er. »Was ist geschehen?«
»Zu spät«, antwortete Lute flüchtig. »Du bekommst keine weiteren Kurse. Das Spiel mit der Planchette ist aus, und wir haben gerade unsere Diskussion über die verschiedenen Theorien abgeschlossen. Weißt du, wie spät es ist?«
*
»Nun, was hast du dir gestern abend noch vorgenommen?«
»Ach, ich habe einen kleinen Spaziergang gemacht«, antwortete Chris.
Es war ein lustiger Schimmer in Lutes Augen, als sie in einem unsicheren, prüfenden, deutlich gewollten Tone fragte:
»Mit – hm – mit Herrn Barton?«
»Ja.«
»Und rauchtest eine Zigarre?«
»Ja, aber warum fragst du?«
Lute brach in ein heiteres Lachen aus.
»Das sagte ich dir doch, daß du das tun würdest. Bin ich nicht eine Prophetin? Aber ich wußte übrigens, ehe ich dich sah, daß meine Weissagung in Erfüllung gegangen war. Ich komme gerade von Herrn Barton und wußte, daß er gestern abend mit dir spazierengegangen war, denn er schwört bei allen seinen Göttern und Halbgöttern, daß du ein ganz prachtvoller junger Mensch bist. Ich konnte es ihm mit geschlossenen Augen ansehen: Chris Dunbar – hat auch ihn bezaubert. Aber ich bin im übrigen noch keineswegs fertig mit meinen Fragen. Wo bist du diesen ganzen Morgen gewesen?«
»Dort, wo ich dich heute nachmittag hinzuführen gedenke.«
»Ach, du machst also Pläne, ohne meine Wünsche zu kennen?«
»Ich weiß gut, worauf deine Wünsche hinausgehen. Du möchtest das neue Pferd ansehen, das ich gefunden habe.«
Ihre Stimme verriet ihre Freude, als sie rief:
»Ach, das ist gut!«
Aber ihr Gesicht wurde plötzlich ernst, und ein Ausdruck von Angst trat in ihre Augen.
Es heißt Comanche«, fuhr Chris fort. »Ein Prachttier, ein wahres Prachttier, der vollkommene Typ des kalifornischen Cowboy-Ponys. Und Formen – Lieb, was hast du?«
»Laß uns nicht mehr reiten«, sagte Lute. »Wenigstens fürs erste nicht. Ich glaube wirklich, daß ich ein bißchen die Lust verloren habe.«
Er sah sie erstaunt an, aber sie begegnete tapfer seinem Blick.
»Ich sehe eine Bahre und Blumen für dich«, begann er, »und eine Leichenrede; ich sehe das Ende der Welt und sehe die Sterne vom Himmel fallen und die Himmel sich wie eine Pergamentrolle aufrollen; ich sehe die Lebenden und Toten sich zum Weltgericht versammeln, die Schafe und die Böcke, die Lämmer und die Widder und alle übrigen, die weißgekleideten Engel, und ich höre den Klang von goldenen Harfen und den Schrei der verlorenen Seelen, wenn sie in den Abgrund stürzen. Alles das sehe ich an dem Tage, da du, Lute Story, dir nichts mehr daraus machst, ein Pferd zu reiten, ein Pferd, Lute, ein Pferd!«
»Wenigstens vorläufig nicht«, flehte sie.
»Lächerlich«, rief er. »Was ist das mit dir? Bist du krank? Du, deren Gesundheit immer so unglaublich, so bewundernswert ist?«
»Nein, das ist es nicht«, antwortete sie. »Ich weiß, daß es lächerlich ist, Chris, ich weiß es, aber ich bin von bangen Ahnungen erfüllt. Ich kann nichts dafür. Du hast stets gesagt, ich stände so gesegnet mit beiden Füßen auf dem Boden und in der Wirklichkeit, aber – vielleicht ist es Aberglaube, ich weiß es nicht –, aber alles, was geschehen ist, die Botschaften der Planchette, die Möglichkeit, daß die Hand meines Vaters – wie, weiß ich nicht – in Bans Zügel gegriffen hat, um ihn und dich in den Tod zu schleudern, die Behauptung meines Vaters, dir zweimal nach dem Leben getrachtet zu haben, und die Tatsache, daß dein Leben in den beiden letzten Tagen zweimal in Gefahr gewesen, durch unsere Pferde – mein Vater war ein glänzender Reiter –, alles das, sage ich, erfüllt mich mit Zweifeln und bangen Ahnungen. Gesetzt, es wäre etwas daran! Ich bin nicht sicher, daß dem nicht so ist, die Wissenschaft ist vielleicht zu dogmatisch, wenn sie die Existenz des Unsichtbaren leugnet. Die unsichtbaren seelischen Kräfte sind vielleicht so ätherisch und erhaben, daß die Wissenschaft sie nicht festzuhalten, zu erkennen und zu formulieren vermag. Kannst du nicht einsehen, Chris, daß im Zweifel selbst Vernunft ist. Und laß den Zweifel noch so gering sein, so liebe ich dich doch zu heiß, um auch nur die kleinste Gefahr laufen zu wollen. Außerdem bin ich ja ein Weib, und das dürfte meinen Hang zum Aberglauben hinreichend erklären.
Ja, ja, gewiß, nenn' es unwirklich. Aber ich habe dich Paradoxe von der Wirklichkeit des Unwirklichen sagen hören – von der Realität der Illusion für die kranke Seele. Und mir ergeht es, wenn du willst, ähnlich; es ist unwirklich und eine Illusion, aber wie ich nun einmal bin, ist es für mich etwas Wirkliches – genau so wirklich wie ein Alpdruck es ist, solange man unter ihm stöhnt, ehe man erwacht.«
»Das logischste Argument für etwas völlig Unlogisches, das ich je gehört habe«, lächelte Chris. »Jedenfalls eine gute Lebensregel. Deine Philosophie umfaßt mehr Möglichkeiten als die meine. Das erinnert mich an Sam – den Gärtner, den ihr vor einigen Jahren hattet. Ich hörte einmal einen Streit zwischen ihm und Martin im Stall an. Du weißt, was für ein überzeugter Atheist Martin ist. Nun, Martin hatte Sam mit dem ganzen Strom seiner Logik übergossen. Sam grübelte ein wenig und sagte dann: ›Einerlei, Herr Martin, Ihre Chance ist gleichwohl nicht so groß wie die meine.‹ ›Warum nicht?‹ fragte Martin. ›Nee, denn sehen Sie, Herr Martin. Sie haben nur eine gegen meine zwei.‹ ›Das kann ich nicht einsehen‹, sagte Martin. ›Doch, Herr Martin, ich werde Ihnen erklären, warum. Sie haben, wie Sie sagen, nur die Chance, zu Würmern zu werden, die den Kohlgarten düngen. Ich aber habe die Chance, meine Stimme zu Preis und Ehre des Herrn erheben zu können. wenn ich den strahlenden Weg wandere – während ich gleichzeitig die Chance habe, zu ganz ähnlichen Würmern zu werden, wie Sie, Herr Martin.‹«
»Mit andern Worten: Du willst mich nicht ernst nehmen«, sagte Lute, nachdem sie seine Geschichte anerkennend belacht hatte.
»Wie kann ich diesen Unsinn mit der Planchette ernst nehmen?« fragte er.
»Du kannst es nicht erklären. – Weder die Handschrift meines Vaters, die Onkel Robert erkannte, noch alles andere.«
»Ich kenne nicht alle Mysterien der Seele«, antwortete Chris. »Aber ich bin sicher, daß die Wissenschaft alle derartigen Phänomene in absehbarer Zeit völlig aufklären wird.«
»Ja, das mag ja sein, aber ich habe eine brennende Lust, noch mehr durch die Planchette zu erfahren«, gestand Lute. »Die Planchette ist noch im Speisesaal, wir, du und ich, könnten es noch einmal probieren, ohne daß ein anderer es zu wissen braucht.«
Chris ergriff ihre Hand und rief: »Ja, komm! Das könnte wirklich lustig werden.«
Hand in Hand liefen sie den Weg hinab, nach dem von Baumsäulen umrahmten Raum.
»Das Lager ist still«, sagte Lute, während sie die Planchette auf den Tisch stellte. »Frau Grantly und Tante Mildred haben sich ein wenig hingelegt, und Herr Barton ist mit Onkel Robert ausgegangen. Wir sind ganz ungestört.« Sie legte eine Hand auf das Brett: »Fang an.«
Einige Minuten geschah nichts. Chris wollte etwas sagen, aber sie hieß ihn schweigen. Als Einleitung hatte es schon in ihrer Hand und ihrem Arm zu rucken begonnen. Kurz darauf begann der Bleistift zu schreiben. Sie lasen die Botschaft Wort für Wort, wie sie geschrieben war:
»Es gibt eine Weisheit, die die Weisheit der Vernunft übertrifft. Liebe ist kein Produkt trockener Verstandestätigkeit. Liebe entspringt dem Herzen und ist jenseits aller Vernunft, Logik und Philosophie. Baue auf dein eigenes Herz, mein Kind, und wenn dein Herz dir gebietet, dem Geliebten zu vertrauen, so verlache den Verstand und seine kühle Klugheit, gehorche deinem Herzen und habe Vertrauen zu deinem Geliebten. – Martha.«
»Ja, aber diese ganze Botschaft ist ja nichts als ein Diktat deines eigenen Herzens«, rief Chris. »Kannst du das nicht einsehen, Lute? Der Gedanke ist ja dein eigener, innerster Gedanke, dem dein Unterbewußtsein auf dem Papier Ausdruck verliehen hat.«
»Ja, aber da ist doch eines, das ich nicht begreife«, wandte sie ein.
»Und das ist?«
»Die Handschrift. Sieh sie dir an. Sie gleicht der meinen gar nicht. Sie ist zierlich, unmodern, ganz so, wie Frauen vor einer Generation schrieben.«
»Du willst mir doch nicht einreden, daß du im Ernst glaubtest, dies sei eine Botschaft von den Toten«, sagte er.
»Ich weiß nicht recht, was ich glauben soll, Chris«, antwortete sie unschlüssig. »Ich weiß wirklich nicht.«
»Das ist absurd«, rief er. »Das sind Hirngespinste. Wenn man stirbt, stirbt man. Wird zu Staub. Geht zu den Würmern, wie Martin sagt. Die Toten? Ich verlache die Toten. Sie existieren nicht. Sie sind nicht. Ich trotze den Mächten des Grabes, den Toten, die Staub und dahin sind.
Und was sagst du dazu?« sagte er und legte herausfordernd die Hand auf die Planchette.
Augenblicklich begann seine Hand zu schreiben. So plötzlich, daß sie beide bestürzt waren. Die Botschaft war kurz:
»Hüte dich! Hüte dich! Hüte dich!«
Er war ein wenig ernster geworden, lachte aber doch immer noch.
»Das ist wie ein Mirakelspiel. Den Tod haben wir schon, er redet aus dem Grabe zu uns. Aber die guten Taten – wo sind die? Und die Verwandtschaft? Und die Freunde? Und die Freundschaft? Und die ganze übrige nette Gesellschaft?«
Aber Lute stimmte nicht in seine Prahlerei ein. Ihr stand die Angst deutlich auf dem Gesicht geschrieben. Sie legte ihre zitternde Hand auf seinen Arm.
»Ach, Chris, laß uns aufhören. Ich ärgere mich, daß wir damit angefangen haben. Laß die Toten ruhen. Es ist Sünde. Es muß Sünde sein. Ich gestehe, daß es auf mich wirkt. Ich kann nichts dafür. Meine Seele bebt und zittert ganz wie mein Körper. Diese Stimme aus dem Grabe, dieser Tote, der gleichsam aus dem Grabe die Hand ausstreckt, um mich vor dir zu schützen. Es muß etwas dahinterstecken. Wohl dieses lebende Mysterium, das dich hindert, mich zu heiraten. Lebte mein Vater, so würde er mich vor dir schützen. Selbst als Toter versucht er es. Seine Schattenhand wendet sich gegen dich, strebt dir nach dem Leben.«
»Bleib doch ruhig«, sagte Chris nur. »Hör', was ich sage. Es ist ja alles Unsinn. Wir operieren mit subjektiven Kräften in uns, mit Phänomenen, die die Wissenschaft nur noch nicht zu erklären vermag. Die Psychologie ist ja noch eine so junge Wissenschaft. Das Unterbewußtsein ist ja soeben erst entdeckt. Es ist noch von Mystik umgeben. Die Gesetze für seine Wirksamkeit sind noch nicht gefunden und formuliert. Alles dies gehört zu den noch unerklärten Phänomenen. Aber das ist doch kein Grund, es gleich mit Spiritismus zu erklären. Wir haben eben noch keine Erklärung gefunden, das ist alles. Und was die Planchette betrifft –«, er hielt plötzlich inne, denn im selben Augenblick hatte er, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, seine Hand auf die Planchette gelegt, und sofort war seine Hand wie in einem Anfall gepackt worden, flog widerstandslos über das Papier und schrieb, ganz wie die Hand eines zornigen Menschen.
»Nein, ich will nichts mehr davon hören«, sagte Lute, als die Botschaft beendet war. »Das ist, als wohnte ich einem Kampfe zwischen dir und meinem Vater im Leben bei. Es ist fast, als sähe ich den Kampf und hörte die Schläge.«
Sie wies auf einen Satz, der folgendermaßen lautete: »Du kannst weder mir entgehen noch der gerechten Strafe, die deiner wartet!«
»Vielleicht ist meine Phantasie zu lebhaft, als für mich selber gut ist, denn ich kann seine Hände um deinen Hals sehen. Ich weiß, daß er, wie du sagst, tot und zu Staub geworden ist, aber doch sehe ich ihn genau so deutlich wie einen Menschen, der lebt und auf Erden wandelt; ich kann den Zorn in seinem Antlitz, den Zorn und den Rachedurst sehen, die beide dir gelten.«
Sie zerknüllte den beschriebenen Papierbogen und stellte die Planchette fort.
»Wir wollen keine Zeit mehr damit vergeuden«, sagte Chris. »Ich glaubte nicht, daß es dich so aufregen würde. Aber die ganze Sache ist, dessen bin ich sicher, etwas rein Subjektives, vielleicht mit ein wenig Suggestion – nichts anderes. Und unsere ganze peinliche Situation hat ungewöhnlich gute Bedingungen für auffällige Phänomene geschaffen.«
»Ja, unsere Situation –«, sagte Lute, als sie langsam den Weg hinauf schritten, den sie vor wenigen Augenblicken laufend gekommen waren. »Ich weiß nicht, was wir tun sollen. Sollen wir alles gehen lassen wie bisher? Was ist das beste? Was meinst du?«
Er ging schweigend und überlegend einige Schritte weiter. »Ich habe daran gedacht, mit deinem Onkel und deiner Tante zu sprechen.«
»Und ihnen zu erzählen, was du mir nicht erzählen kannst?« fragte sie schnell.
»Nein«, antwortete er langsam. »Aber ebensoviel, wie ich dir erzählt habe. Ich habe kein Recht, ihnen mehr zu sagen, als ich dir gesagt habe.«
Diesmal ging sie einen Augenblick schweigend und überlegend weiter.
»Nein, sag' ihnen nichts«, sagte sie schließlich. »Sie würden es nicht verstehen. Ich verstehe es ja eigentlich auch nicht, aber ich glaube dir; sie sind nach Lage der Dinge nicht imstande, denselben Glauben, dasselbe unerschütterliche Vertrauen zu hegen. Du türmst ein Mysterium vor dir auf, das unsere Heirat verhindert, und ich glaube dir, sie aber würden dir nicht glauben können, ohne etwas Häßliches hinter dem Mysterium zu suchen, und außerdem würde es ihre Sorge noch vermehren.«
»Ich sollte fortreisen, ich fühle, daß ich fortreisen sollte,« sagte er fast flüsternd. »Und ich kann es auch. Ich bin kein Lump. Weil es mir einmal nicht geglückt ist, fortzubleiben, braucht man noch nicht zu glauben, daß es mir jetzt nicht glücken sollte.«
Sie holte schwer Atem und sagte: »Es ist so unsagbar traurig, dich davon reden zu hören, daß du fortreisen und fortbleiben willst. Ich soll dich also nie wiedersehen. Der Gedanke ist zu furchtbar. Mach' dir keine Vorwürfe wegen deiner Schwäche. Ich bin es, die die Schuld trägt. Ich war es, die dich hinderte, früher fortzubleiben, das weiß ich. Ich brauchte dich so. Ich hatte das Bedürfnis, bei dir zu sein.
Es ist nichts zu machen, Chris, nichts als es gehen zu lassen, wie es geht. Es sich irgendwie von selber ordnen zu lassen. Denn das ist doch wenigstens sicher: Irgendwie wird es sich schon ordnen.«
»Aber es würde leichter gehen, wenn ich fortginge«, sagte er.
»Ich bin glücklicher, wenn du hier bist.«
»Die Grausamkeit der Umstände«, murmelte er zähneknirschend.
»Geh oder bleib – beides wird dazu beitragen, eine Lösung zu finden. Aber ich möchte so ungern, daß du gehst, Chris, das weißt du ja. Und jetzt laß uns nicht mehr davon reden. Das macht es ja doch nicht besser. Laß uns nie mehr davon reden – wenn nicht – wenn du nicht eines wunderschönen Tages zu mir kommen und sagen kannst: ›Lute, jetzt ist alles in Ordnung. Das Mysterium bindet mich nicht mehr. Ich bin frei.‹ Bis dieser Tag anbricht, laß es uns begraben, laß uns alles begraben mit der Planchette und allem andern und sehen, soviel wie möglich aus dem wenigen, das uns geblieben ist, herauszuholen.
Und um dir zu zeigen, wie bereit ich bin, soviel wie möglich aus dem wenigen herauszuholen, will ich dich sogar heute nachmittag begleiten und das neue Pferd ansehen, obwohl ich möchte, daß du nicht mehr rittest. Jedenfalls nicht die ersten Tage und die erste Woche. Wie, sagtest du, hieß das Pferd?«
»Comanche«, antwortete er. »Es wird dir bestimmt gefallen.«
*
Chris lag auf dem Rücken, lehnte den Kopf gegen die nackte, vorspringende Felswand und blickte gespannt über die Schlucht nach dem waldbewachsenen Hang auf der andern Seite. Er hörte Rascheln und Brechen im Unterholz, das Klirren stahlbeschlagener Hufe, die gegen den Felsgrund schlugen, und hin und wieder das Geräusch eines losgerissenen, bemoosten Steines, der den Hang hinabrollte und schließlich plätschernd in den Gießbach fiel, der über ein wildes Chaos von Felsblöcken unter ihm rauschte. Hin und wieder sah er einen Schimmer von Lutes Reitkleid aus goldbraunem Cord und von dem fuchsroten Pferd, das sich, von grünem Laub umrahmt, unter ihr bewegte.
Sie ritt ins Freie hinaus, zu einem Erdhang, der weder Bäume noch Gras trug. Oberhalb des Hanges hielt sie ihr Pferd an und ließ ihren Blick forschend darüber hinschweifen. Vierzig Fuß unter ihr endete der Hang in einer kleinen Terrasse, deren feste Oberfläche von aufgehäuften, herabgestürzten Erd- und Kiesmassen gebildet wurde.
»Hier können wir ihn gut probieren«, rief sie über die Schlucht hinüber. »Ich will ihn hier hinuntergehen lassen.«
Das Tier trat vorsichtig auf die trügerische Unterlage. Seine Hinterbeine verloren ihren Halt und gewannen ihn wieder, aber die Vorderfüße waren steil in die Erde gepflanzt, und sicher und ruhig, ohne Angst oder Nervosität zu zeigen, zog es die Vorderfüße hoch, sobald sie zu tief in die gleitende Erde sanken, die sich in einer Woge vor ihm wälzte. Als es die feste Schicht unten erreicht hatte, trat es auf die kleine Terrasse mit schnellen, gewandten Schritten, die eine feurige Muskelkraft verrieten, welche man dem Tier nach seinen ruhigen, vorsichtigen Bewegungen auf dem Hange nicht zugetraut hätte.
»Bravo! Bravo!« rief Chris über die Schlucht hinüber und klatschte in die Hände.
»Das gescheiteste und geschickteste Tier, das ich je gesehen habe«, rief Lute ihm zu, während sie gleichzeitig das Tier wandte und es den unebenen steinigen Hang hinab und dann wieder zwischen die Bäume lenkte.
Chris horchte auf den Hufschlag und sah hin und wieder, wenn das Laub nicht zu dicht war, einen Schimmer von Lute, wie sie im Zickzack den steilen, pfadlosen Hang hinabritt. Sie erschien auf dem steinigen Ufer des Gießbaches unter ihm, ließ das Pferd von einem drei Fuß hohen Felsen hinabspringen und hielt an, um eine Furt zu finden.
Vier Fuß vom Ufer entfernt, ragte ein schmales Felsriff über die Oberfläche. Auf der andern Seite des Riffes kochte und rauschte das Wasser heftig. Aber links vom Riff und mehrere Fuß niedriger befand sich ein kleiner Kiesgürtel. Ein riesiger Felsblock versperrte den direkten Zugang zu dem Kiesgürtel. Die einzige Möglichkeit, ihn zu erreichen, war ein Sprung vom Felsriff herab. Sie untersuchte es genau, und die Art, wie sie ihren linken Arm straffte, zeigte, daß sie ihren Entschluß gefaßt hatte.
Chris, der ängstlich geworden war, hatte sich aufgesetzt, um ihrem Tun genau folgen zu können.
»Versuch' das nicht«, rief er.
»Ich verlasse mich auf Comanche.«
»Er kann den Seitensprung über den Kies nicht machen«, warnte Chris sie. »Er findet keinen Halt. Er wird ins Wasser stürzen. Nicht ein Pferd von tausend kann das Kunststück ausführen.«
»Nein, aber gerade Comanche kann es«, antwortete sie. »Sieh ihn nur.«
Sie ließ dem Tiere die Zügel, es sprang elegant und genau auf das Felsriff hinüber und landete, die Füße dicht aneinander, auf dem engen Platz. In diesem Augenblick berührte Lute mit dem Zügel ganz leicht den Hals des Pferdes, um es nach links zu lenken, und sogleich hob es sich, auf der unsicheren Unterlage schwankend, auf die Hinterbeine und ließ die Vorderbeine auf der andern Seite über das Wasser gleiten, machte gleichzeitig eine halbe Drehung, sprang nach links und landete auf dem kleinen Kiesgürtel. Ein bequemer Sprung brachte es von hier über den Gießbach, und dann ließ Lute es sich seitwärts das Steilufer hinaufarbeiten und hielt vor ihrem Freunde an.
»Ich wäre vor Spannung fast gestorben«, antwortete Chris. »Ich hielt geradezu die Luft an.«
»Kauf ihn, kauf ihn ja«, sagte Lute, vom Pferd steigend. »Er ist eine Seltenheit. Auf seinem Rücken würde ich alles wagen. Ich habe noch nie soviel Vertrauen zu den Füßen eines Pferdes gehabt.«
»Der Besitzer sagt, daß ihn nie jemand habe ausrutschen sehen, und daß es unmöglich sei, ihn zum Stolpern zu bringen.«
»Kauf ihn, kauf ihn sofort«, sagte sie. »Ehe es dem Manne leid tut. Wenn du es nicht tust, so kaufe ich ihn. Oh, diese Füße! Ich verlasse mich so auf das Tier, daß ich, wenn ich es reite, gar nicht daran denke, daß es überhaupt Füße hat. Und es ist so schnell wie eine Katze und gehorcht augenblicklich. Daß es dem Zügel gehorcht, ist viel zuwenig gesagt. Man könnte es mit einem Seidenfaden lenken. Oh, ich weiß gut, daß ich ganz begeistert bin, und wenn du es nicht kaufst, Chris, dann kaufe ich es. Vergiß nicht, daß ich nach dir das Vorkaufsrecht habe.«
Chris lächelte, während er die Sättel vertauschte, und war ganz einig mit ihr.
»Er paßt natürlich bei weitem nicht so gut zu Dolly wie Ban«, sagte sie mit leichtem Bedauern; »aber das ist einerlei, sein Fell ist herrlich so, wie es ist. Und denk', welch ein herrliches Pferd unter dem Fell ist!«
Chris half ihr in den Sattel und ritt hinter ihr den Hang hinauf zur Landstraße. Sie hielt plötzlich ihr Pferd an und sagte: »Wir reiten nicht gleich nach dem Lager heim.«
»Du vergißt das Mittagessen«, sagte er.
»Ja, aber dafür vergesse ich Comanche nicht«, antwortete sie. »Wir wollen sofort nach dem Hofe reiten und ihn kaufen. Das Essen kann schon warten.«
»Aber die Köchin wartet nicht«, lachte Chris. »Sie hat schon gedroht fortzugehen, weil wir uns so oft verspäten.«
»Nun, und wenn schon«, lautete die Antwort. »Tante Mildred muß sich vielleicht nach einer neuen Köchin umsehen, aber wir haben uns doch jedenfalls Comanche gesichert.«
Sie lenkten die Pferde in die entgegengesetzte Richtung und schlugen den Nonnenschlucht weg ein, der über die Berge in das Napa-Tal führte.
Aber der Aufstieg war mühsam, und es ging nur langsam vorwärts. Zuweilen ritten sie mehrere hundert Fuß über dem Bachbett, und dann wieder ritten sie ganz hinab und kreuzten wieder und wieder den Bach. Sie ritten durch die tiefen Schatten glattstämmiger Ahornbäume und ragender Tannen und gelangten auf weite, offene Bergeshänge, wo der Boden von der Sonne zerrissen war. Auf einem dieser Hänge erstreckte sich der Weg ganz eben vor ihnen auf fast tausend Schritt. Auf der einen Seite hob sich die ungeheure Masse des Berges. Auf der andern Seite fielen die steilen Wände der Schlucht in unwegsamen Hängen senkrecht zu dem Bach drunten ab. Es war ein Abgrund von grüner Schönheit und schattigen Tiefen, von Schächten aus Sonnenlicht durchbohrt und hin und wieder von breiten Sonnenflecken gesprenkelt. Das Geräusch brausenden Wassers hörte man durch die stille Luft, und die Bergbienen summten. Die Pferde fielen in einen gleichmäßigen Trab. Chris ritt am Rande, sah in die schwindelnde Tiefe hinab und freute sich über alles, was er sah. Das Murmeln eines Wasserfalls erhob sich deutlich über das Summen der Bienen. Mit jedem Schritt der Pferde wuchs das Geräusch.
»Sieh!« rief er.
Lute beugte sich seitwärts hinab, um zu sehen. Unter ihnen schoß das Wasser schäumend bis an den Rand und strömte dann wieder klar weiter wie ein gleitendes weißes Band, das beständig fiel und doch immer blieb, immer die Substanz, aber nie die Form wechselte, unaufhörlich und leicht wie Gaze, aber dauerhaft wie die Berge selbst, ein luftiger Wasserweg, der sich vom Felsrand bis zu den Baumwipfeln in der Ferne erstreckte, hinter deren grünem Vorhang er verschwand, um in einen einsamen Bergsee zu münden.
Sie waren vorbeigejagt. Das Geräusch des Wassers wurde zu einem fernen Murmeln, das sich wieder mit dem Summen der Bienen mischte und schließlich aufhörte. Von einer gemeinsamen Eingebung getrieben, blickten sie sich an.
»Oh, Chris, wie herrlich ist es doch zu leben ... und dich hier neben mir zu wissen!«
Er antwortete ihr mit einem warmen Blick.
Alles trug dazu bei, die Federn ihres Wesens zu spannen – die Bewegung ihrer Körper, die mit der der Tiere unter ihnen zusammenfiel; ihr leicht berauschtes Blut, das in der ganzen süßen Kraft der Gesundheit durch ihre Adern strömte; die warme Luft, die ihre Wangen umfächelte, sich in balsamischem, kräftigendem Hauch über die Haut ergoß, sie durchdrang und mit einer leisen sinnlichen Freude erfüllte; und die Schönheit der Welt, die noch unerklärlicher auf sie eindrang und sie mit der seelischen Wonne erfüllte, die ganz persönlich und heilig ist, sich aber nicht in Worten ausdrücken, sondern nur durch einen Blick mitteilen läßt, wenn der Schleier der Seele sich hebt.
So betrachteten sie einander, während die Pferde unter ihnen dahinjagten; ihr junges Blut rauschte in ihren Adern, einer ahnte die Geheimnisse des andern und sah sie gleichsam im Begriff, das Siegel zu brechen, um mit einem einzigen magischen Wort alle Mühen und Rätsel des Daseins fortzufegen. Der Weg machte vor ihnen eine Biegung, so daß sie die oberen Teile der Schlucht sehen konnten, deren ferne Felswände sich hoch über ihren Häuptern erhoben. Mit einer scharfen Neigung nahmen sie die Kurve und betrachteten die Landschaft, die schnell vor ihrem Auge wuchs.
Es war kein verdächtiges Geräusch zu hören. Sie hörte überhaupt nichts, aber eben bevor das Pferd fiel, hatte sie ein Gefühl, als sei die Harmonie zwischen den beiden laufenden Tieren gestört. Sie wandte den Kopf und tat es so schnell, daß sie gerade noch Comanches Sturz sah. Er stolperte weder, noch trat er fehl. Er stürzte, als hätte ihn plötzlich mitten im Sprunge der Tod oder ein lähmender Schlag ereilt.
Und im selben Augenblick fiel ihr die Planchette ein; der Gedanke an sie und all die Erinnerungen, die sich an sie knüpften, fuhr ihr wie ein brennender Blitz durch den Kopf. Sie zwang ihr Pferd auf die Hinterbeine und zog mit aller Wucht den Zügel an, aber ihr Kopf war seitwärts gewendet, und ihre Augen folgten dem Sturze Comanches. Der fiel mitten auf den Weg nieder, die Beine unbeweglich unter sich ausgestreckt.
Das alles geschah im Laufe einer dieser unendlichen Sekunden, die eine Ewigkeit zu dauern scheinen, und in denen eine endlose Reihe von Ereignissen geschehen. In dem Augenblick, als der Körper Comanches den Boden berührte, sprang er wieder hoch. Der heftige Stoß preßte die Luft mit hörbarem Stöhnen aus seinen starken Lungen. Die Bewegung brachte ihn an den Wegrand, und als er dann über den Rand rollte, ließ das Gewicht des Reiters auf seinem Hals ihn kopfüber hinunterstürzen.
Sie sprang sofort vom Pferde, wie, ahnte sie nicht, und stand am Rande des Abgrunds. Ihr Freund war aus dem Sattel, wurde aber von dem Pferde mitgerissen, da sein rechter Fuß im Steigbügel festhing. Der Hang war zu steil, als daß von einem Halten die Rede sein konnte. Erde und Steine, die sich bei ihrem Absturz lösten, rollten neben und vor ihnen wie eine kleine Lawine hinunter. Sie stand ganz still und starrte hinab, die Hand gegen das Herz gepreßt. Während sie aber gesehen, was wirklich geschah, hatte sie auch in einer Vision gesehen, wie ihr Vater Comanche den Stoß versetzte, der seinen Sturz verursachte und Reiter und Pferd in den Abgrund stürzte.
Unter dem Pferde und dem jungen Manne endete der steile Hang an einer senkrechten Felswand, von deren unterem Rand ein neuer Hang wieder zu einer anderen Felswand führte. Ein dritter steiler Hang endete in einer letzten Felswand, deren unterer Rand auf der Sohle der Schlucht, vierhundert Fuß unter der Stelle ruhte, von wo das junge Mädchen hinabspähte. Sie konnte sehen, wie Chris sich vergebens bemühte, den Fuß aus dem Steigbügel zu bekommen. Comanche stieß hart gegen eine vorspringende Felsspitze, den Bruchteil einer Sekunde wurde sein Fall aufgehalten, und in diesem kurzen Augenblick glückte es dem jungen Mann, einen jungen Manzanitastrauch zu packen. Lute sah, wie er auch mit der anderen Hand zugriff, dann rollte Comanche wieder weiter. Sie sah, wie sich zuerst der Steigbügelriemen straffte, und wie sich gleich darauf Körper und Arm ihres Freundes streckten. Die Wurzeln des Manzanitastrauches gaben nach, und Pferd und Reiter stürzten über den Felsrand und verschwanden. Als sie auf dem nächsten Hang wieder zum Vorschein kamen, rollten beide hinunter; zuweilen lag der junge Mann unten, zuweilen das Pferd. Chris kämpfte nicht mehr, um sich zu befreien, und sie schossen beide den dritten Hang hinab. Nahe am Rande der letzten Felswand wurde der Sturz Comanches von einem Steinhaufen aufgehalten. Er lag still, und in seiner Nähe, aber noch von dem Steigbügel gehalten, sein Reiter mit abwärts gerichtetem Gesicht.
»Wenn er nur still liegen wollte«, flüsterte Lute, deren Gedanken arbeiteten, um Hilfe für sie zu finden.
Aber sie sah, wie Comanche wieder zu kämpfen begann, und ihr war, als sähe sie ganz deutlich den Geisterarm ihres Vaters in den Zügel greifen und das Tier über den Felsrand ziehen. Comanche glitt zappelnd durch die Steine, der schlaffe Körper folgte, und Pferd und Reiter stürzten hinab und verschwanden. Sie kamen nicht wieder zum Vorschein. Sie hatten die Sohle der Schlucht erreicht.
Lute sah sich um. Sie stand allein in der Welt. Ihr Liebster war verschwunden. Nichts erinnerte daran, daß er existiert hatte, außer den Spuren von Comanches Hufen auf dem Wege und denen seines Körpers dort, wo er über den Hang geglitten war.
»Chris!« rief sie einmal und noch einmal, aber sie rief vergebens.
Aus der Tiefe stieg die stille Luft über das Summen der Bienen und das Geräusch des rieselnden Wassers.
»Chris!« rief sie zum drittenmal und sank langsam in den Staub des Weges.
Sie fühlte, wie Dollys Maul ihren Arm berührte, lehnte ihren Kopf gegen den Hals der Stute und wartete. Sie wußte nicht, weshalb und worauf sie wartete, aber ihr war, als bliebe ihr nichts zu tun, als zu warten.