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Die Tränen Ah Kims

Es herrschten großer Lärm und Getöse im Chinesenviertel von Honolulu, ohne daß jedoch die Leute in den Häusern sich beunruhigt hätten. Sie zuckten nur die Achseln und lächelten nachsichtig über die Unruhe. Es war etwas Gewohntes.

»Was gibt es?« fragte Chin Mo, der an einer schweren Brustfellentzündung darniederlag, seine Frau, die einen Augenblick am offenen Fenster stehengeblieben war, um zu lauschen.

»Nur Ah Kim«, lautete ihre Antwort. »Seine Mutter verprügelt ihn wieder mal.«

Der Lärm hatte sich nach dem Garten hinter den Wohnräumen verzogen, vor denen sich an der Straße der Laden befand, mit dem prangenden Schild: »Ah-Kim-Compagnie, Warenhaus.« Der Garten war ein zwanzig Fuß im Geviert messendes Miniaturgut, das dem Auge auf geschickte Weise eine ungeheure Weite vortäuschte. Da waren Wälder von Zwergkiefern und -eichen, jahrhundertealt, aber nur zwei bis drei Fuß hoch und mit ungeheurer Sorgfalt und riesigen Kosten eingeführt. Eine winzige, einen Schritt lange Brücke führte über einen Miniaturfluß, der mit Wasserfällen und Stromschnellen einem Miniatursee entströmte. Der See war von tausendflossigen, wunderbar orangenen Goldfischen bevölkert, die im Verhältnis zu See und Landschaft die reinen Walfische waren. Von allen Seiten blickten die vielen Fenster der mehrstöckigen baufälligen Häuser hernieder. Inmitten des Gartens, auf dem schmalen, mit Kies bestreuten Gang dicht am See erhielt Ah Kim geräuschvoll seine Prügel.

Ein Chinese in dem zarten Alter, in dem es Schläge zu setzen pflegt, war Ah Kim nicht. Ihm gehörte der Laden der Ah-Kim-Compagnie, und er hatte es in langen Jahren durch Sparsamkeit vom Kontraktkuli bis zu einem vierstelligen Bankkonto und einem prima Kredit gebracht. Genau ein halbes Jahrhundert von Sommern und Wintern war über seinem Haupt dahingegangen und hatte ihn dick, bequem und lässig gemacht. Untersetzt, wie er war, sah er von vorn aus, als gehörte er zur Familie der Wassermelonen. Er hatte ein Vollmondgesicht. Seine seidene Kleidung war würdig, und sein schwarzseidenes Käppchen mit dem roten Knopf obendrauf, das jetzt, ach, zu Boden gefallen war, wurde nur von den erfolgreichen und würdevollen Kaufleuten seiner Rasse getragen. Aber in diesem Augenblick war seine Erscheinung alles eher als würdevoll. Er wand und duckte sich, in hockender Stellung zusammengekauert, unter einem Regen von Schlägen mit einem Bambusstock. Wenn er auf Knöchel und Ellbogen getroffen wurde, mit denen er sich Gesicht und Kopf zu schützen suchte, zuckte er unwillkürlich zusammen. Aus den vielen Fenstern rings sah die Nachbarschaft mit gelassener Freude zu.

Und sie, die den Stock so heftig und offenbar mit viel Übung schwang? Vierundsiebzig Jahre alt, war ihr jede Minute kostbar. Ihre dünnen Beine staken in geradegeschnittenen Hosen aus steifem, schimmernd schwarzem Leinen. Ihr störrisches, zottiges graues Haar war straff aus der schmalen, störrischen Stirn zurückgekämmt. Brauen hatte sie nicht, da sie ihr längst ausgegangen waren. Ihre stecknadelgroßen Augen waren von tiefstem Schwarz. Sie glich zum Erschrecken einem Leichnam. Ihr runzliger Unterarm, den der lose Ärmel freiließ, wies nicht mehr Muskeln auf als über magere Knochen gespannte Bogensehnen unter gelber, pergamentartiger Haut. An diesem Mumienarm fuhren bei jedem Schlage Armbänder aus Jade klirrend auf und nieder.

»Ach!« rief sie, und jedes ihrer Worte wurde rhythmisch von drei Schlägen begleitet. »Ich habe dir verboten, mit Li Faa zu sprechen. Heut stehst du wieder auf der Straße mit ihr. Es ist noch keine Stunde her. Eine geschlagene halbe Stunde habt ihr geredet. – Was heißt das?«

»Das war das dreimal verfluchte Telefon«, murmelte Ah Kim, während sie den Stock zurückhielt, um zu hören, was er sagte. »Frau Chang Lucy hat es dir erzählt. Ich weiß es. Ich hab' sie gesehen. Ich werde das Telefon abnehmen lassen; es ist Teufelswerk.«

»Es ist Teufelswerk«, gab Frau Tai Fu zu, indem sie wieder zum Stock griff. »Aber das Telefon bleibt. Ich telefoniere gern mit Frau Chang Lucy.« »Sie hat Augen wie zehntausend Katzen«, sagte Ah Kim sich duckend, während der Stock auf seine Knöchel niedersauste. »Und eine Zunge wie zehntausend Kröten«, fügte er hinzu, ehe er sich vor dem nächsten Schlage duckte.

»Sie ist ein unverschämtes und böses Frauenzimmer«, sagte Frau Tai Fu nachdrücklich.

»Frau Chang Lucy war immer so«, murmelte Ah Kim als der pflichttreue Sohn, der er war.

»Ich spreche von Li Faa«, berichtigte seine Mutter und unterstrich ihre Worte mit einem Schlag. »Sie ist nur eine halbe Chinesin, wie du weißt. Ihre Mutter war eine schamlose Kanakin. Sie trägt Röcke wie die würdelosen Haolenfrauen – und dazu ein Korsett, wie ich selbst gesehen habe. Wo sind ihre Kinder? Und doch hat sie schon zwei Männer unter die Erde gebracht.«

»Der eine ertrank, der andere bekam einen Hufschlag von einem Pferd.«

»Ein Jahr mit ihr, du unwürdiger Sohn eines edlen Vaters, und du würdest froh sein, wenn du ertränkest oder einen Hufschlag von einem Pferd bekämst.«

Unterdrücktes Kichern und Lachen von den Zuschauern in den Fenstern spendeten ihrem Witz Beifall.

»Du hast selbst zwei Männer unter die Erde gebracht, verehrte Mutter«, gab Ah Kim ihr den Hieb zurück.

»Ich hatte doch so viel Geschmack, daß ich keinen dritten heiratete. Zudem starben meine beiden Männer ehrenhaft in ihren Betten. Sie wurden weder von Pferden getreten noch im Meer ersäuft. Was brauchen unsere Nachbarn zu wissen, ob ich zwei Männer oder zehn oder gar keinen gehabt habe? Du hast mich vor all unsern Nachbarn gelästert, und dafür werde ich dir eine Tracht Hiebe geben.«

Ah Kim ließ den Schauer von Schlägen über sich ergehen und sagte, als seine Mutter für einen Augenblick innehielt, atemlos und erschöpft:

»Immer habe ich gefleht und gebeten, ehrwürdige Mutter, daß du mich im Hause bei geschlossenen Fenstern und Türen und nicht auf offener Straße oder in dem offenen Garten hinter dem Hause schlagen möchtest.«

»Du hast diese unmögliche Li Faa die Silbermondblüte genannt«, erwiderte Frau Tai Fu mit echt weiblicher Unlogik, aber insofern äußerst erfolgreich, als sie dadurch den gefährlichen Gegenstoß ihres Sohnes parierte.

»Frau Chang Lucy hat es dir erzählt«, sagte er vorwurfsvoll.

»Ich erfuhr es durch das Telefon«, wich seine Mutter ihm aus. »Ich erkenne nicht alle Stimmen, die durch diese Erfindung aller Teufel mit mir sprechen.«

Merkwürdigerweise machte Ah Kim keinen Versuch, seiner Mütter fortzulaufen, was er leicht hätte tun können. Andererseits fand sie hierin einen Grund zu weiteren Schlägen.

»Ach! Du Eigensinn! Warum weinst du nicht? Du Bastard, der du deinen Vorfahren Schande machst! Nie hab' ich dich zum Weinen bringen können. Nicht einmal, als du klein warst. Antworte! Warum weinst du nicht?«

Erschöpft und atemlos von ihrer Anstrengung ließ sie den Stock sinken und keuchte und zitterte wie in einem nervösen Anfall.

»Ich weiß nur, daß ich nun mal so bin«, erwiderte Ah Kim, seine Mutter besorgt anblickend. »Ich werde dir jetzt einen Stuhl bringen, dann wirst du dich setzen und dich ausruhen, bis dir wieder besser ist.« Aber kurz auflachend, wandte sie sich schnell von ihm ab und wankte – eine alte Frau – durch den Garten nach dem Hause. Während Ah Kim sich sein Käppchen wieder aufsetzte und seine Kleidung in Ordnung brachte, rieb er sich die schmerzenden Stellen und blickte ihr voller Ergebenheit nach. Er lächelte sogar und es schien fast, als freute er sich über die erhaltenen Schläge.

Schon als Kind war Ah Kim so geschlagen worden, als er noch auf den hohen Ufern beim elften Katarakt des Jangtse lebte. Hier war sein Vater geboren und hatte sein Leben lang seit seiner Jünglingszeit als Schleppkuli geschuftet. Als er starb, übernahm Ah Kim, jetzt selbst ein Jüngling, denselben ehrenhaften Beruf. Soweit die Geschichte der Familie zurückreichte, waren ihre männlichen Mitglieder stets Schleppkulis gewesen. Schon zur Zeit Christi haben seine direkten Vorfahren diesen Beruf ausgeübt, indem sie die genau ebenso aussehenden Dschunken mittels eines eine halbe Meile langen Seiles, zu je hundert bis zweihundert Kulis je nach der Größe des Fahrzeuges, in einer langen Reihe durch das weiße Wasser den Canyon hinaufzogen. Diese Arbeit geschah allein durch die Kraft zweibeiniger Männer, die sich vorwärts- und niederbeugten, bis ihre Hände den Boden berührten und ihre Gesichter sich zuweilen nur einen Fuß darüber befanden.

Offenbar war die Bezahlung dieser Beschäftigung in all den vergangenen Jahrhunderten nicht gestiegen. Sein Vater, sein Großvater und er selbst, Ah Kim, hatten genau die gleiche unveränderliche Bezahlung erhalten – ein Vierzehntel Cent per Dschunke, nach der Geldwährung, die er seither in Hawaii kennengelernt hatte. An langen glücklichen Sommertagen, wenn das Fahrwasser gut und es sechzehn Stunden am Tage hell war, und wenn es viele Dschunken gab, konnten sie in den sechzehn Stunden bei solch heroischer Arbeit über einen Cent verdienen. Aber in einem ganzen Jahr verdiente ein Schleppkuli nicht mehr als anderthalb Dollar. Die Menschen konnten von einem solchen Einkommen leben und taten es auch. Es gab weibliche Dienstboten, die einen Jahreslohn von einem Dollar erhielten. Die Netzmacher von Ti Wi verdienten zwischen einem und zwei Dollar jährlich. Sie lebten von diesen Löhnen, oder wenigstens starben sie doch nicht dabei. Aber für die Schleppkulis gab es Nebenverdienste, und die waren es eben, die den Beruf zu einem so ehrenvollen und die Zunft zu einer geschlossenen, erblichen Körperschaft oder Gewerkschaft machten. Von je fünf Dschunken, die man die Schnellen heraufschleppte oder hinabließ, erlitt eine Schiffbruch. Eine Dschunke von je zehn war ganz verloren. Die Kulis der Schleppzunft kannten die Launen und Tücken der Schnellen, sie nahmen die Gelegenheit wahr und fischten sich eine nasse Ernte aus dem Flusse. Die geringeren Kulis sahen zu denen von der Zunft auf, denn die konnten sich täglich Ziegeltee und Reis Nummer vier leisten.

Und Ah Kim war zufrieden und stolz gewesen, bis er an einem rauhen Frühlingstag in Regen und Hagel einen ertrinkenden Matrosen aus Kanton ans Ufer zog. Dieser Wanderer, der an seinem Feuer auftauchte, hatte ihm zum ersten Male den magischen Namen Hawaii genannt. Er sei selber nie in diesem Paradies der Arbeiter gewesen, sagte der Matrose; aber viele Chinesen seien von Kanton dorthin gegangen, und er habe sagen hören, was in ihren Briefen gestanden hätte. In Hawaii gäbe es weder Kälte noch Hunger. Die Schweine würden nie gefüttert, wären aber doch fett von den reichlichen Speiseresten, die die Menschen verachteten. Eine ganze Familie in Kanton oder am Jangtse könnte vom Überfluß eines Hawaiianer Kulis leben. Und die Löhne? Golddollars, zehn im Monat, Papierdollars, zwanzig im Monat – soviel erhielt der chinesische Kontraktkuli von den weißen Teufeln, den Zuckerkönigen. In einem Jahr erhielt der Kuli die fabelhafte Summe von zweihundertvierzig Papierdollar – mehr als hundertmal soviel wie ein Kuli, der zehnmal so schwer am elften Katarakt des Jangtses arbeitete. Kurz, alles in allem war ein hawaiischer Kuli hundertmal und, in Anbetracht der Arbeitsleistung, tausendmal besser daran. Und dazu kam noch das herrliche Klima.

Als Ah Kim vierundzwanzig war, trat er, trotz den Bitten und Schlägen seiner Mutter, aus der alten und ehrbaren Zunft der Schleppkulis vom elften Katarakt aus, ließ seine Mutter als Magd für einen Dollar jährlich, nebst Kleidung für nicht weniger als dreißig Cent, im Hause eines Oberkulis zurück und begab sich selbst den Jangtse hinab nach dem großen Meer. Viele Abenteuer erlebte er und schwere Arbeit und Mühen, ehe er als Salzmeer-Dschunkenmatrose nach Kanton gelangte. Mit sechsundzwanzig verschrieb er fünf Jahre seines Lebens und seiner Arbeit den hawaiischen Zuckerkönigen und fuhr als einer von achthundert Kontraktkulis nach diesem fernen Inselland auf einem morschen Dampfer, der von einem verrückten Kapitän und betrunkenen Offizieren geführt wurde und von Lloyds abgelehnt war.

Unter den Arbeitern hatte Ah Kim als Schleppkuli Ansehen genossen. In Hawaii, wo er die hundertfache Bezahlung erhielt, merkte er, daß man auf ihn herabsah als auf den Geringsten der Geringen einen Plantagenkuli, das Niedrigste, was man sich denken konnte. Aber ein Kuli, dessen Vorfahren seit der Geburt Christi Dschunken den elften Katarakt hinaufgeschleppt haben, erbt unvermeidlich einen Charaktergrundzug, nämlich den der Geduld. Diese Geduld besaß Ah Kim. Nach Ablauf der fünf Jahre, als seine Zwangsarbeit getan war, fehlten ihm noch gerade zehn Dollar auf seinem Bankkonto an der runden Summe von tausend Papierdollar. Mit dieser Summe hätte er nach dem Jangtse zurückkehren und sich dort als wohlhabender Mann für den Rest seines Lebens zurückziehen können. Die Summe wäre größer gewesen, hätte er nicht konservativ, wie er war, gelegentlich Che Fa und Faa Tan gespielt, und hätte er nicht zwölf Monate lang unter den Tausendfüßlern und Skorpionen der stickigen Zuckerrohrfelder im Halbtraum eines andauernden Opiumrausches gearbeitet. Moralische Skrupel hatte er nicht gehabt, aber das Gift hatte zuviel gekostet.

Aber Ah Kim kehrte nicht nach China zurück. Er hatte Einblicke in das Geschäftsleben von Hawaii getan, und ein hochfliegender Ehrgeiz hatte ihn gepackt. Sechs Monate arbeitete er als Handlungsgehilfe im Plantagenladen, um den Handel und die englische Sprache gründlich zu erlernen. Dann verstand er von diesem Geschäft mehr als je ein Plantagenverwalter von einem Plantagenladen. Zur Zeit seiner Kündigung erhielt er ein Monatsgehalt von 40 Golddollar oder 80 Papierdollar und begann Fett anzusetzen. Seine Haltung den Kontraktkulis gegenüber war unverkennbar aristokratisch geworden. Der Verwalter bot ihm eine Gehaltserhöhung auf 60 in Gold an, was die fabelhafte Summe von vierzehnhundertundvierzig Papierdollar oder das Siebenhundertfache seines Jahreseinkommens als zweibeiniges Pferd zu einem Lohn von einem Vierzehntel Goldcent per Dschunke am Jangtse bedeutet haben würde.

Statt zuzuschlagen, ging Ah Kim nach Honolulu und begann wieder von der Pike auf, für fünfzehn Dollar monatlich, in dem großen Warenhaus von Fong & Chow Fong. Er arbeitete hier anderthalb Jahre lang und verzichtete, als er dreiunddreißig war, auf das Monatsgehalt von fünfundsiebzig Golddollar, das seine chinesischen Brotgeber ihm bezahlten. Hierauf hängte er sein eigenes Schild aus: Ah-Kim-Compagnie, Warenhaus. Mit der besseren Ernährung hatte seine magere Gestalt sich etwas gefüllt und ließ schon die Rundlichkeit ahnen, die ihn in späteren Jahren auszeichnen sollte.

Von Jahr zu Jahr wuchs sein Glück; mit sechsunddreißig hatte er seinen endgültigen Leibesumfang erreicht und nahm als Mitglied der exklusiven Hai Gum Tong und der Vereinigung chinesischer Kaufleute an Gastmählern teil, die ihn so viel kosteten, wie dreißig Jahre Schlepparbeit am elften Katarakt ihm eingebracht hätten. Nur zweierlei entbehrte er: eine Frau, sowie seine Mutter, auf daß sie ihn züchtige, wie er es von klein auf gewöhnt gewesen.

Als er siebenunddreißig war, befragte er sein Bankkonto. Es betrug dreitausend Golddollar. Für zweitausendfünfhundert in bar und eine kleine Hypothek konnte er das Grundstück mit dem dreistöckigen Haus kaufen. Tat er das aber, so blieben ihm nur fünfhundert zum Kauf einer Frau. Fu Yee Po hatte eine heiratsfähige, sehr kleinfüßige Tochter, die er gern aus China hätte kommen lassen, um sie ihm für achthundert Golddollar zuzüglich Reisekosten zu verkaufen. Fu Yee Po erklärte sich sogar damit einverstanden, die fünfhundert in bar zu nehmen und ihm den Rest zu sechs Prozent zu stunden.

Ah Kim, der jetzt siebenunddreißig Jahre alt, dick und Junggeselle war, sehnte sich wirklich nach einer Frau, und zwar nach einer kleinfüßigen; denn da er in China geboren und aufgewachsen war, hatten sich die unsterblichen kleinfüßigen Frauen tief in seine Phantasie eingeprägt. Aber noch mehr, ja weit mehr, sehnte er sich nach seiner Mutter und nach den Schlägen seiner holden Mutter. So lehnte er Fu Yees Angebot trotz den leichten Zahlungsbedingungen ab und ließ mit weit weniger Kosten seine Mutter kommen, damit sie aus einer Dienstmagd mit einem Jahresgehalt von einem Dollar zur Herrin seines dreistöckigen Hauses in Honolulu wurde, mit zwei Hausmädchen, drei Handlungsgehilfen und einem Pförtner, über die sie zu gebieten hatte, gar nicht zu reden von den Stoffen, die vom billigsten Baumwollkrepp bis zur kostbarsten handgestickten Seide auf den Regalen aufgestapelt waren und einen Wert darstellten, der in die Zehntausende ging. Denn man muß wissen, daß schon damals der Grund gelegt wurde für die Vorherrschaft Ah Kims im Handel mit den amerikanischen Touristen. Dreizehn Jahre lang hatte Ah Kim nun leidlich glücklich mit seiner Mutter gelebt und war gerecht und ungerecht für wirkliche oder eingebildete Vergehen methodisch von ihr geprügelt worden; und am Ende war er sich mehr als je bewußt, daß sein Herz und Hirn nach einem Weibe und seine Lenden nach Söhnen verlangten, die nach ihm leben und die Dynastie der Ah-Kim-Compagnie fortführen sollten. Dieser Traum hat die Männer seit den frühesten Zeiten beunruhigt, als sie zum erstenmal ein Jagdrecht oder eine Sandbank als Fischfalle für sich in Anspruch nahmen oder ein Dorf erstürmten und die männlichen Bewohner mit dem Schwert ausrotteten. Könige, Millionäre, chinesische Kaufleute in Honolulu – sie alle haben dies gemein, mögen sie auch Gott preisen, daß er sie verschieden und jeden in seiner Eigenart geschaffen hat.

Und das Ideal von einem Weib, nach dem Ah Kim sich mit fünfzig verzehrte, war anders als sein Ideal mit siebenunddreißig. Jetzt wollte er kein kleinfüßiges Weib mehr, sondern ein frei und natürlich ausschreitendes mit normalen Füßen; und dieses Weib erschien in Gestalt Li Faas, der Silbermondblüte, in seinen Tagträumen und beunruhigte seine nächtlichen Visionen. Was schadet es, daß sie zweimal verwitwet und die Tochter einer Kanakenmutter war und Röcke, Korsetts und Schuhe mit hohen Absätzen wie die weißen Teufel trug! Er sehnte sich nach ihr. Es schien geschrieben zu stehen, daß sie die Stammutter der Generationen werden sollte, die das Geschäft der Ah-Kim-Compagnie fortsetzen.

»Ich will keine Halb-Pake-Schwiegertochter haben«, hörte Ah Kim immer wieder von seiner Mutter – Paké bedeutet im Hawaiischen Chinese. »Ganz Paké soll meine Schwiegertochter sein, wie du, mein Sohn, und ich, deine Mutter. Und sie muß Hosen tragen, mein Sohn, wie alle Frauen in unserer Familie vor ihr. Eine Frau in den Röcken und Korsetts der weißen Teufel kann unsern Ahnen keine Ehrfurcht erweisen. Korsett und Ehrfurcht das geht nie zusammen. Und so eine ist die schamlose Li Faa. Sie ist frech und eigenwillig und wird weder ihrem Mann noch der Mutter ihres Mannes Gehorsam bezeigen. Diese freche Li Faa wird sich selbst für die Lebensquelle und Stammutter halten und keine Ahnen vor sich anerkennen. Sie lacht über unsere Räucherrohre, unsere Gebetszettel und unsere Familiengötter, wie man mir gesagt hat –«

»Frau Chang Lucy«, stöhnte Ah Kim.

»Nicht nur Frau Chang Lucy, o mein Sohn. Ich habe mich erkundigt. Mindestens ein Dutzend Leute haben gehört, daß sie unser Götterhaus eine Affenkomödie nannte. Das hat sie gesagt, sie, die rohen Fisch, rohe Muscheln und gebratenen Hund ißt. Wir sind Affen. Aber heiraten will sie dich, einen Affen, doch, wegen deines Ladens, der ein Palast ist, und wegen deines Reichtums, der dich zu einem großen Mann macht. Und sie würde Schande über mich bringen und über deinen lange vor dir eines ehrenvollen Todes gestorbenen Vater.«

Und somit war nicht mehr darüber zu reden. Wie die Dinge standen, wußte Ah Kim, daß seine Mutter recht hatte. Nicht umsonst war Li Faa vor vierzig Jahren geboren als Tochter eines chinesischen Vaters, der allen Traditionen abtrünnig geworden war, und einer kanakischen Mutter, deren Eltern die Tabus gebrochen, ihre eigenen polynesischen Götter gestürzt und feige der Predigt der christlichen Missionare von ihrem fernen, unvorstellbaren Gott gelauscht hatten. Die gebildete Li Faa, die Englisch und Hawaiisch sowie ein gut Teil Chinesisch lesen und schreiben konnte, gab vor, nichts zu glauben, obgleich sie sich heimlich vor den Kahunas (hawaiischen Zauberern) fürchtete, deren Gebet, wie sie bestimmt glaubte, Unglück verhüten und den Tod bringen konnte. Li Faa – davon war Ah Kim überzeugt – würde nie in sein Haus kommen, vor seiner Mutter Kotau machen und ihre Sklavin sein, wie es seit ewigen Zeiten in China Sitte war. Li Faa war vom chinesischen Gesichtspunkt aus eine neue Frau, eine Frauenrechtlerin, die rittlings zu Pferde saß, sich in schamloser Kleidung beim Brandungsreiten in Waikiki belustigte und auf mehr als einem Luau (Fest), wie man wußte, die Hula auf das unanständigste zur allgemeinen Begeisterung getanzt hatte.

Ah Kim, der eine Generation jünger als seine Mutter war, war selbst von der Säure der neuen Sitten angefressen. Das Alte lebte noch in ihm, er fühlte noch in den verborgensten Tiefen des Seins die verstaubte Hand der Vergangenheit auf sich ruhen, über sich herrschen; dabei aber unterschrieb er gewichtige Feuer- und Lebensversicherungspolicen, fungierte als Schatzmeister der chinesischen Revolutionäre am Platz, die das himmlische Reich in eine Republik umwandeln wollten, entrichtete Beiträge zum Fonds der hawaiisch-chinesischen Baseballmannschaft, die besser als die amerikanische in diesem uramerikanischen Spiel war, unterhielt sich über Theosophie mit Katso Suguri, dem japanischen Buddhisten und Seidenimporteur, bestach die Polizei, leistete seinen Einsatz in dem trügerischen Spiel der demokratischen Politik des annektierten Hawaiis und dachte daran, sich ein Auto zu kaufen. Ah Kim wagte nie, sich so weit zu entblößen, in sich zu gehen und sich zu erforschen, daß er sich darüber klargeworden wäre, wieviel er von seinem Glauben an das Alte verloren hatte. Seine Mutter gehörte zu dem Alten, aber er verehrte sie und war glücklich unter ihrem Bambusstock. Li Faa, die Silbermondblüte, gehörte zum Neuen, und doch konnte er nie ganz glücklich ohne sie werden.

Denn er liebte Li Faa. Mit seinem Vollmondgesicht und seiner Wassermelonengestalt, als der kluge Geschäftsmann, der er war, und trotz der Lebensweisheit eines halben Jahrhunderts wurde Ah Kim ein Künstler, wenn er an sie dachte. Er dachte an sie in Gedichten von Namen, sie verwandelte sich in seinen Gedanken in Wortblüten von Schönheit und in philosophische Begriffe von vollendeter Leichtigkeit. Sie war für ihn, und für ihn allein von allen Menschen der Welt, seine Pflaumenblüte, seine Ruhe in weiblicher Gestalt, seine Blume der Heiterkeit, seine Mondlilie und sein vollkommener Friede. Und wenn er diese teuren Liebesnamen murmelte, schienen sie ihm das Plätschern rinnenden Wassers, das Läuten silberner Windglöckchen und den Duft von Oleander und Jasmin zu enthalten. Sie war für ihn das Gedicht in Gestalt eines Weibes, ein lyrisches Entzücken, der Inbegriff alles körperlichen und geistigen Entzückens, Verhängnis und Glück zugleich, ihm, ehe noch der erste Mann und die erste Frau lebte, von den Göttern bestimmt, denen es anheimgegeben war, alle Männer und Frauen zu Freude und Leid zu schaffen. Aber seine Mutter steckte ihm den Schreibpinsel in die Hand und legte vor ihm auf den Tisch die Schreibtafel. »Male«, sagte sie, »das Zeichen für ›heiraten‹.«

Er gehorchte, indem er verwundert, was sie wohl wollte, mit der Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit seiner Rasse die symbolischen Hieroglyphen malte.

»Erkläre es«, befahl seine Mutter.

Ah Kim blickte sie an, neugierig, gehorsam, ohne ihre Absicht zu erraten.

»Woraus ist es zusammengesetzt?« beharrte sie. »Welches sind die drei Urbilder, aus denen es zusammengesetzt ist: heiraten, Ehe, das Zusammenkommen und Getrautwerden von Mann und Frau? Male sie, male sie einzeln, die drei Urzeichen, jedes für sich, auf daß wir erfahren mögen, wie die klugen Männer in alten Zeiten weislich das Zeichen für ›heiraten‹ zusammenstellten.«

Und Ah Kim gehorchte und malte und sah, daß, was er gemalt hatte, drei Bildzeichen waren – die Bildzeichen einer Hand, eines Ohrs und einer Frau. »Nenne sie«, sagte seine Mutter; und er nannte sie. »Es ist wahr«, sagte sie. »Es ist bedeutungsvoll. Es ist das, was den gemalten Bildern von der Ehe zugrundeliegt. So war die Ehe im Anfang, und so soll sie immer sein in meinem Hause. Die Hand des Mannes, der das Ohr der Frau faßt und sie daran in sein Haus führt, wo sie ihm und seiner Mutter gehorsam zu sein hat. Ich wurde so am Ohr gefaßt von deinem vor langem ehrenvoll gestorbenen Vater. Ich habe mir deine Hand angesehen. Sie ist nicht wie seine Hand. Ich habe mir auch das Ohr Li Faas angesehen. Nie wirst du sie am Ohre führen. Sie hat kein solches Ohr. Ich will noch lange leben, und ich will Herrin im Hause meines Sohnes sein, nach alter Art, bis ich sterbe.«

 

»Aber sie ist meine verehrte Vorfahrin«, erklärte Ah Kim Li Faa. Er war verlegen und traurig, denn Li Faa, die herausbekommen hatte, daß Frau Tai Fu im Tempel des chinesischen Äskulap war, um für ihre schwankende Gesundheit gedörrtes Entenfleisch und Gebete zu opfern, hatte die Gelegenheit wahrgenommen, ihn in seinen Laden rufen zu lassen.

Li Faa schürzte ihre frechen unbemalten Lippen zur Form einer halbgeöffneten Rosenknospe und erwiderte: »So ist es in China. Ich kenne China nicht. Dies ist Hawaii, und in Hawaii ändern sich die Sitten aller Fremden.«

»Sie ist dennoch meine Vorfahrin«, protestierte Ah Kim, »die Mutter, die mich gebar, ob ich nun in China bin oder in Hawaii, o Silbermondblüte, die ich mir zum Weibe wünsche.«

»Ich habe zwei Männer gehabt«, stellte Li Faa ruhig fest. »Der eine war ein Paké, der andere ein Portugiese. Ich habe viel von beiden gelernt. Ich bin auch gut erzogen worden. Ich habe die Hochschule besucht, und ich habe öffentlich Klavier gespielt. Der Paké war der beste Mann. Nie werde ich mich wiederverheiraten, es sei denn mit einem Paké. Aber er darf mich nicht am Ohr fassen –«

»Woher weißt du das?« unterbrach er sie erstaunt. »Von Frau Chang Lucy«, lautete die Antwort. »Frau Chang Lucy erzählt mir alles, was deine Mutter ihr erzählt, und deine Mutter erzählt ihr viel. So laß dir denn sagen, daß ich mich nicht am Ohr fassen lasse.« »Und das ist es eben, was meine verehrte Mutter mir gesagt hat«, stöhnte Ah Kim.

»Und das ist es, was deine verehrte Mutter Frau Chang Lucy und was Frau Chang Lucy mir gesagt hat«, fuhr Li Faa ruhig fort.

»Und ich will dir jetzt sagen, oh, mein künftiger dritter Gatte, daß der Mann noch nicht geboren ist, der mich am Ohr führen wird. Das ist nicht Sitte in Hawaii. Ich will mit meinem Mann nur Hand in Hand, Seite an Seite gehen, gleichberechtigt, wie die Haolen sagen. Mein portugiesischer Mann dachte anders. Er versuchte mich zu schlagen. Ich zeigte ihn dreimal bei der Polizei an, und jedesmal wurde er zur Strafarbeit auf dem Riff verurteilt. Später ertrank er.«

»Meine Mutter ist fünfzig Jahre lang meine Mutter gewesen«, erklärte Ah Kim tapfer.

»Und seit vierzig Jahren schlägt sie dich«, kicherte Li Faa. »Wie lachte mein Vater immer über Yap Ten Shin! Wie du, war Yap Ten Shin in China geboren, und er hatte auch die chinesischen Sitten gebrochen. Sein alter Vater schlug ihn immer mit einem Stock. Er liebte seinen Vater. Aber härter als je zuvor schlug sein Vater ihn, als er Missionspake wurde. Jedesmal, wenn er ging, um seinen Missionsberuf zu erfüllen, schlug sein Vater ihn. Und jedesmal, wenn die Mission davon hörte, sprachen sie hart zu Yap Ten Shin, weil er seinem Vater erlaubte, ihn zu schlagen. Und mein Vater lachte und lachte, denn mein Vater war ein sehr aufgeklärter Paké, der seine Gewohnheiten schneller abgelegt hatte als die meisten Fremden. Und all diese Unannehmlichkeiten kamen nur daher, daß Yap Ten Shin ein liebendes Herz hatte. Er liebte seinen ehrenwerten Vater. Er liebte den Gott der Liebe der Christenmission. Schließlich aber fand er in mir die größte Liebe von allen, nämlich die Liebe des Weibes. In mir vergaß er seine Liebe zu seinem Vater und seine Liebe zum liebenden Jesus.

Und er bot meinem Vater sechshundert in Gold für mich – der Preis war niedrig, weil meine Füße nicht klein waren. Aber ich war eine halbe Kanakin. Ich sagte, ich sei keine Sklavenfrau, und ich wolle nicht an einen Mann verkauft werden. Meine Hochschullehrerin war ein altes Haolenmädchen, und sie sagte, die Liebe einer Frau stehe so hoch über jedem Preis, daß sie nie bezahlt werden könne. Sie war nicht schön. Sie konnte sich selber nicht verschenken. Meine Kanakenmutter sagte, es sei nicht Sitte bei den Kanaken, ihre Töchter für Geld zu verkaufen. Sie gäben ihre Töchter für Liebe, aber sie wurde nachgiebig, als Yap Ten Shin große und prächtige Luaus gab. Mein Pakevater war, wie ich dir sagte, aufgeklärt. Er fragte mich, ob ich Yap Ten Shin zum Manne wollte. Und ich sagte ja; und freiwillig, von selber, ging ich zu ihm. Das war der, der von einem Pferde getreten wurde; aber er war ein sehr guter Gatte, ehe er von dem Pferde getreten wurde.

Was dich betrifft, Ah Kim, so wirst du immer ehrenwert und liebenswürdig zu mir sein, und eines Tages, wenn du mich nicht mehr am Ohr zu fassen brauchst, werde ich dich heiraten und herkommen und immer bei dir bleiben, und du wirst der glücklichste Paké in ganz Hawaii sein; denn ich habe zwei Männer gehabt und die Hochschule besucht und weiß am besten, wie man einen Gatten glücklich macht. Aber das wird erst sein, wenn deine Mutter aufgehört hat, dich zu schlagen. Frau Chang Lucy sagt mir, daß sie dich sehr hart schlägt.«

»Das tut sie«, bestätigte Ah Kim. »Schau!« Er schob seine losen Ärmel zurück, so daß seine glatten, drallen Unterarme zum Vorschein kamen. Sie waren von schwarzen und blauen Flecken bedeckt, die die Wucht und die Zahl der Schläge verkündeten, welche er dadurch von Gesicht und Kopf abgehalten hatte.

»Aber sie hat mich nie zum Weinen gebracht«, fügte Ah Kim hastig hinzu. »Nie hat sie mich zum Weinen gebracht, selbst als ich noch ein kleiner Knabe war.«

»Das sagt Frau Chang Lucy auch«, bemerkte Li Faa. »Sie sagt, deine ehrenwerte Mutter erzähle ihr oft, daß sie dich nie zum Weinen gebracht habe.« Die Warnung, die einer seiner Handlungsgehilfen zischte, kam zu spät. Frau Tai Fu, die das Haus durch die hintere Allee erreicht hatte, schritt aus den Wohnräumen gerade auf sie zu. Noch nie hatte Ah Kim die Augen seiner Mutter so wütend flammen sehen. Sie beachtete Li Faa nicht, als sie ihn anschrie: »Jetzt will ich dich zum Weinen bringen; wie nie zuvor will ich dich schlagen, bis du weinst.«

»Dann laß uns in die hinteren Räume gehen, ehrenwerte Mutter«, schlug Ah Kim vor. »Wir wollen Fenster und Türen schließen, und dann magst du mich schlagen.«

»Nein. Hier sollst du geschlagen werden, hier, vor aller Welt und vor dieser schamlosen Frau, die dich mit ihrer eigenen Hand beim Ohr fassen und eine solche Entweihung Ehe nennen würde.«

»Ich warte«, sagte Li Faa. Sie beglückte die Handlungsgehilfen mit einem feurigen Blick. »Und ich möchte sehn, ob die Polizei mich hier hinauswirft.« »Du wirst nie meine Schwiegertochter werden«, fauchte Frau Tai Fu.

Li Faa nickte zustimmend.

»Aber dein Sohn wird doch mein dritter Mann«, fügte sie hinzu.

»Du meinst, wenn ich tot bin?« kreischte die alte Mutter.

»Die Sonne geht jeden Morgen auf«, sagte Li Faa rätselhaft. »Mein ganzes Leben lang habe ich sie aufgehen sehen –«

»Du bist vierzig, und du trägst ein Korsett.«

»Aber ich färbe mir nicht das Haar – das kommt erst später«, entgegnete Li Faa ruhig. »Was du von meinem Alter sagst, stimmt. Am nächsten Kamehamehatage werde ich einundvierzig. Vierzig Jahre lang habe ich die Sonne aufgehen sehen. Mein Vater war ein alter Mann. Ehe er starb, erzählte er mir, daß er von Kind auf die Sonne hätte aufgehen sehen, ohne daß sich das geringste dabei geändert hätte. Die Welt ist rund. Konfuzius wußte das nicht, aber du wirst es in allen Geographiebüchern finden. Die Welt ist rund. Immer dreht sie sich um sich selber, immer und immer, herum und herum. Und die Zeiten und der Wechsel von Wetter und Leben drehen sich mit ihr. Was ist, das war auch früher. Die Zeit der Brotfrucht und der Mango kehrt immer wieder, und Mann und Frau wiederholen sich selbst. Die Rotkehlchen nisten, und im Frühling kommen die Regenpfeifer aus dem Norden. Die Kokospalme erhebt sich in die Luft, läßt ihre Früchte reifen und stirbt. Aber immer gibt es neue Kokospalmen. Dies habe ich mir nicht selbst alles ausgedacht. Vieles davon hat mein Vater mir gesagt. Fahre fort, ehrenwerte Frau Tai Fu, und schlage deinen Sohn, der mein künftiger dritter Gatte ist. Aber ich werde lachen. Ich sage dir vorher, daß ich lachen werde.« Ah Kim kniete nieder, um es seiner Mutter zu erleichtern. Und während sie die Schläge mit dem Bambusstock auf ihn herabregnen ließ, lächelte und kicherte Li Faa und brach in Lachen aus.

»Härter, o ehrenwerte Frau Tai Fu!« trieb Li Faa sie zwischen zwei Heiterkeitsausbrüchen an.

Frau Tai Fu tat ihr Bestes, aber merkwürdig schwach, bis sie etwas sah, das sie vor Erstaunen den Stock sinken ließ. Ah Kim weinte. Über beide Wangen liefen dicke runde Tränen. Auch Li Faa war erstaunt und ebenso die gaffenden Handlungsgehilfen. Am erstauntesten von allen war Ah Kim, aber er konnte nichts dafür; er weinte sogar noch weiter, als keine Schläge mehr fielen.

»Aber warum weinst du denn?« fragte Li Faa Ah Kim wieder. »Das ist doch der reine Unsinn. Sie hat dir nicht einmal weh getan.«

»Warte, bis wir verheiratet sind«, lautete unabänderlich die Antwort Ah Kims, »dann, o Mondlilie, werde ich es dir sagen.«

*

Als Ah Kim eines Nachmittags zwei Jahre später, an Gestalt einer Wassermelone ähnlicher als je, von einer Sitzung der Chinesischen Schutzgenossenschaft heimkehrte, fand er seine Mutter tot auf ihrem Lager. Schmaler und störrischer als je waren die Stirn und das zottige Haar. Aber auf ihrem Gesicht lag ein verwelktes Lächeln. Die Götter waren freundlich gewesen. Sie hatten ihr keine Qualen bereitet.

Er wollte es zu allererst Li Faa telefonieren, fand aber ihre Nummer nicht und mußte daher Frau Chang Lucy anrufen. Als die Neuigkeit bekanntgegeben wurde, wurde die Hochzeit zu einer Frist angesetzt, die zehnmal so kurz war, wie die alten chinesischen Gebräuche es verlangten. Und da es bei einer chinesischen Hochzeit etwas einer Brautjungfer Entsprechendes gibt, so war Frau Chang Lucy gerade die Rechte dazu.

»Warum«, fragte Li Faa Ah Kim, als sie in der Hochzeitsnacht allein mit ihm war, »warum weintest du, als deine Mutter dich an jenem Tage im Laden schlug? Du warst so töricht. Sie tat dir doch nicht einmal weh.«

»Deshalb weinte ich eben«, antwortete Ah Kim. Li Faa sah ihn verständnislos an.

»Ich weinte«, erklärte er, »weil ich plötzlich wußte, daß meine Mutter sich ihrem Ende näherte. In ihren Schlägen war keine Wucht, kein Schmerz. Ich weinte, weil ich wußte, daß sie nicht mehr Kraft genug besaß, mich zu schlagen. Deshalb weinte ich, meine Blume der Heiterkeit, mein vollkommenes Ich. Das ist der einzige Grund, daß ich weinte.«


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