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Daß Ruth so wenig an Martins schriftstellerische Begabung glaubte, verringerte sie in seinen Augen nicht. In der Atempause, die er sich nach der Arbeit in der Wäscherei gönnte, hatte er viele Stunden mit Selbstanalyse verbracht und sich dadurch gründlich kennengelernt. Er hatte entdeckt, daß er Schönheit mehr liebte als Ruhm, und daß er sich den Ruhm hauptsächlich um Ruths willen wünschte. Dies allein war der Grund seiner Ruhmsucht. Er wollte groß sein in den Augen der Welt, damit die Frau, die er liebte, stolz auf ihn sein und ihn ihrer würdig erachten konnte.

Er selbst liebte die Schönheit leidenschaftlich, und die Freude, ihr zu dienen, war ihm Lohn genug. Heißer als die Schönheit aber liebte er Ruth. Er sah Liebe für das Beste in der Welt an. Liebe war es, die die Revolution in ihm bewirkt, die ihn vom Matrosen zu einem Mann der Bücher, zum Gelehrten und Künstler gemacht hatte. Und darum war die Liebe für ihn das Schönste und Größte, größer als alle Gelehrsamkeit und Kunst. Er hatte schon bemerkt, daß sein Verstand weiter reichte als der Ruths und als der ihrer Brüder und ihres Vaters. Trotz ihrer akademischen Bildung und ihren Examen beschattete seine Intelligenz die ihre, und das Jahr, das er damit verbracht hatte, auf eigene Faust zu studieren und sich weiterzubilden, verlieh ihm eine Herrschaft über alles, was dieser Welt angehörte, sowohl über Kunst wie Leben, eine Herrschaft, die zu erreichen sie nie hoffen konnte.

Alles das wußte er gut, aber es beeinflußte weder seine Liebe zu ihr noch die ihre zu ihm. Die Liebe war etwas allzu Schönes und Edles, und er war ein zu treuer Liebender, als daß er seine Liebe durch Kritik beschmutzt hätte. Was hatte Liebe mit Ruths abweichenden Anschauungen über Kunst, Benehmen, französische Revolution oder gleiches Stimmrecht zu tun? Das alles war nur ein reiner Denkprozeß, die Liebe aber stand über der Vernunft. Er konnte die Liebe nicht verkleinern. Er betete sie an. Sie wohnte auf Bergesgipfeln, hoch über den Tälern der Vernunft. Sie war eine erhabene Phase des Daseins, und sie kam nur sehr selten. Dank dem Wissen, das er in der Schule der wissenschaftlichen Philosophie gesammelt hatte, war er über die biologische Bedeutung der Liebe gut unterrichtet: aber durch eingehendes, wissenschaftlich unterbautes Denken kam er zu dem Ergebnis, daß der menschliche Organismus das höchste Ziel in der Liebe erreichte, daß die Liebe nicht in Zweifel gezogen werden durfte, sondern als höchster Lohn des Lebens angesehen werden mußte. Und daher meinte er, daß der Liebende vor allen andern Sterblichen gesegnet wäre, und es war ihm eine Wonne, an »Gottes erkorenen wahnsinngeschlagenen Liebenden« zu denken, der sich hoch über alles erhob, was der Erde angehörte, über Reichtum und Vernunft, über öffentliche Meinung und Beifall – der sich über das Leben selbst erhob und »für einen Kuß starb«.

Vieles hiervon hatte Martin bereits durch Nachdenken herausgefunden, einiges fand er erst später. Unterdessen arbeitete er, ruhte nie, außer wenn er Ruth aufsuchte, und lebte äußerst genügsam. Er bezahlte zwei Dollar fünfzig für das Stübchen, das er bei einer portugiesischen Witwe gemietet hatte. Diese, Maria Silva, gebrauchte ihre Hände fleißig und ihre scharfe Zunge noch fleißiger, erzog ihre große Kinderschar, so gut sie konnte, und ertränkte ihre Sorgen und ihre Müdigkeit mit kürzeren oder längeren Zwischenräumen in einem Liter des dünnen, sauren Weins, den sie für fünfzehn Cent beim Krämer und Gastwirt an der Ecke kaufte. Anfangs hatte Martin sie wegen ihrer scharfen Zunge gehaßt, allmählich aber mußte er sie wirklich wegen der Tapferkeit bewundern, mit der sie ihren Kampf ums Dasein führte. Das Häuschen hatte nur vier Stuben – drei, wenn man Martins abzog. Eine von ihnen, das Wohnzimmer, war mit einem Teppich in heiteren, bunten Farben geschmückt, und der trübseligere Schmuck einer Todesanzeige und einer nach dem Tode eines ihrer zahlreichen Kinder aufgenommenen Photographie trat nur in Erscheinung, wenn Gäste kamen. Die Vorhänge waren immer herabgelassen, und ihre barfüßigen Sprößlinge durften sich nur bei feierlichen Gelegenheiten in das Heiligtum wagen. Sie kochte, und alle aßen in der Küche, wo sie alle Tage der Woche, außer Sonntags, auch wusch, stärkte und plättete, denn ihre Haupteinnahmequelle bestand darin, daß sie für wohlhabendere Nachbarn wusch. Es blieb also noch das Schlafzimmer, das ebenso klein wie Martins Stube war, und in dem sie mit ihren sieben Kindern schlief. Es blieb ein ewiges Rätsel für Martin, wie das möglich war, andererseits hörte er aber allabendlich durch die dünne Scheidewand, wie sie zur Ruhe gebracht wurden: das Schelten der Mutter, das Weinen der Kinder, das leise Plaudern und das schläfrige, zwitschernde Geräusch wie von kleinen Vögelchen. Eine weitere Einnahmequelle Marias bildeten ihre zwei Kühe, die sie morgens und abends melkte, und die sich auf ungesetzliche Weise ihren Lebensunterhalt verschafften, indem sie auf unbebauten Plätzen das Gras fraßen, das auf beiden Seiten der Bürgersteige wuchs, wobei sie stets von einem oder mehreren der zerlumpten Sprößlinge Marias begleitet wurden, deren Hütertätigkeit hauptsächlich darin bestand, daß sie sich nach dem Schutzmann umsahen.

In seinem eigenen Stübchen lebte Martin, schlief, studierte, schrieb und bereitete sich sein Essen. Vor dem einzigen Fenster, von dem aus man auf den winzigen Vorbau sah, stand der Küchentisch, der als Pult, Bücherregal und Schreibmaschinentisch diente. Das Bett, das an der Rückwand stand, nahm zwei Drittel des ganzen Raumes ein. Auf der einen Seite des Tisches stand eine prachtvolle Kommode, die mehr zum Ansehen als zum Gebrauch bestimmt war, und deren dünne Politur mit jedem Tag mehr absprang. Diese Kommode füllte eine Ecke, und die Ecke an der andern Seite des Tisches nahm seine Küche ein – der Petroleumkocher, der auf eine alte Kiste gestellt war, in der auch Schüsseln und Töpfe, Eßwaren, sowie auf dem Boden ein Eimer Wasser standen. Martin mußte sich das Wasser aus der Küche holen, da es in seinem Zimmer keine Leitung gab. An den Tagen, an denen seine Kocherei viel Dampf verursachte, litt die Politur der Kommode besonders. Über dem Bett, zur Decke hinaufgezogen, hing sein Fahrrad. Anfangs hatte er versucht, es im Keller stehenzulassen, aber die Silvasche Jugend hatte die Lenkstange losgeschraubt, Stecknadeln in die Pneumatiks gesteckt und ihn so verjagt. Dann hatte er es in dem winzigen Vorbau an der Straße versucht, aber da stand das Rad eine ganze lange Nacht hindurch in einem heftigen Südoststurm mit starken Regenschauern und wurde klitschnaß. So mußte er es in sein Zimmer nehmen und unter die Decke hängen.

Ein kleiner Schrank enthielt seine Kleider und die Bücher, die er gesammelt hatte, und die nicht auf oder unter dem Tisch Platz fanden. Er hatte sich daran gewöhnt, gleich beim Lesen Aufzeichnungen zu machen, und das in so reichem Maße, daß er gar nicht in dem engen Raum hätte bleiben können, würde er nicht mehrere Wäscheleinen quer durch die Stube gespannt und seine Aufzeichnungen an ihnen aufgehängt haben. Aber selbst so war es mit Schwierigkeiten verknüpft, durch den Raum zu navigieren. Er konnte die Tür nicht öffnen, ohne zuerst die Schranktür zu schließen, und umgekehrt. Es war ihm nicht möglich, die Stube von einer Seite zur andern in gerader Linie zu durchqueren. Um von der Tür zum Kopfende des Bettes zu gelangen, mußte er im Zickzack gehen, was ihm im Dunkeln nie ohne arge Zusammenstöße gelang. Wenn er die Schwierigkeiten mit den kollidierenden Türen überwunden hatte, mußte er scharf nach rechts steuern, um nicht gegen die Küche zu stoßen. Dann machte er einen Schlag nach links, um sich vom Fußende des Bettes klarzuhalten, wenn der Schlag aber zu kurz wurde, stieß er gegen die Tischecke. Hierauf machte er eine scharfe Drehung und hielt nach rechts in eine Art Kanal, dessen Ufer das Bett und der Tisch bildeten. Stand der einzige Stuhl des Zimmers auf seinem gewöhnlichen Platz vor dem Tische, so war der Kanal unschiffbar. Wurde der Stuhl nicht gebraucht, so lag er auf dem Bett. Aber Martin saß stets auf dem Stuhl und las, bis das Wasser kochte, und schließlich wurde er sogar so tüchtig, daß er ein paar Sätze lesen konnte, während er briet. Dazu war die Ecke, die die Küche ausmachte, so klein, daß er, wenn er saß, alles, was er brauchte, in Reichweite hatte. Tatsächlich war es zweckmäßig, sein Essen sitzend zu bereiten, denn wenn er aufstand, dann war er sich überall selbst im Wege.

Er hatte einen glänzenden Magen, der alles verdauen konnte. Und dazu wußte er Bescheid mit den verschiedenen Lebensmitteln, die nahrhaft und billig zugleich waren. Erbsensuppe gehörte zu seinen festen Gerichten, wie Bohnen und Kartoffeln, große, braune und auf mexikanische Art zubereitete Kartoffeln. Reis, wie ihn keine amerikanische Hausfrau je bereitet oder zu bereiten lernt, stand wenigstens einmal täglich auf Martins Tisch. Dörrobst war billiger als frisches Obst, und Martin hatte meistens einen Topf davon fertig gekocht stehen, da er es statt Butter gebrauchte. Zuweilen leistete er sich ein Stück Mürbebraten oder einen Suppenknochen. Kaffee ohne Sahne oder Milch trank er zweimal täglich, und abends machte er sich Tee, aber Kaffee sowohl wie Tee waren ausgezeichnet zubereitet.

Er war zur Sparsamkeit genötigt. Seine Ferien hatten fast alles verschlungen, was er in der Wäscherei verdient hatte, und wie die Dinge lagen, konnten Wochen vergehen, ehe er hoffen durfte, mit seiner Gelegenheitsarbeit etwas zu verdienen. Wenn er nicht mit Ruth zusammen war oder einen kurzen Besuch bei seiner Schwester Gertrude machte, führte er ein wahres Einsiedlerleben und verrichtete täglich eine Arbeit, für die ein gewöhnlicher Mensch drei Tage gebraucht hätte. Er schlief kaum fünf Stunden, und nur ein Mann mit einer eisernen Konstitution konnte sich zwingen, wie er neunzehn Stunden hintereinander zu arbeiten. Er vergeudete nicht einen Augenblick. Auf dem Spiegel waren Listen mit Erklärungen der Bedeutung und Aussprache verschiedener Wörter angebracht, und während er sich rasierte, entkleidete oder sein Haar kämmte, überlas er sie. Ähnliche Listen befanden sich an der Wand über dem Petroleumkocher, und die las er, wenn er kochte oder aufwusch. Die alten Listen wurden immer wieder durch neue ersetzt. Alle fremden oder weniger bekannten Wörter, auf die er beim Lesen stieß, wurden augenblicklich hingekritzelt, und wenn er einen hinreichenden Vorrat gesammelt hatte, schrieb er sie auf der Maschine ab und befestigte sie an der Wand oder auf dem Spiegel. Er trug sie sogar in der Tasche und las sie, wenn er auf der Straße ging oder beim Schlächter und Krämer wartete.

Er ging sogar noch weiter. Wenn er las, was die Männer, die in der Welt vorwärtsgekommen waren, geschrieben hatten, versuchte er dahinterzukommen, durch welche Mittel sie ihre Erfolge erzielt hatten – durch Eigentümlichkeiten in der Erzählungsweise, in der Darstellung, im Stil, durch ihre Gesichtspunkte, ihre Kontraste und Epigramme, und über alles legte er Listen an, die er studieren konnte. Er ahmte sie nicht nach. Er suchte nach den Prinzipien. Er stellte Listen der wirkungsvollen Eigentümlichkeiten auf, bis er an Hand solcher Listen das allgemeine Prinzip der Eigentümlichkeit feststellen und, so ausgerüstet, selbst neue originelle Ausdrücke suchen und sie nach Verdienst abwägen, messen und würdigen konnte. Ebenso legte er Listen an über Ausdrücke, die von besonderer Kraft zeugten. Ausdrücke aus allen möglichen lebenden Sprachen, Ausdrücke, die wie ätzende Säure und Feuer brannten, oder wie Milch und Honig in einer ausgetrockneten Wüste alltäglicher Ausdrücke labten. Stets suchte er nach dem Prinzip, das hinter und unter allen Dingen lag. Er wollte wissen, wie es gemacht wurde – um es später selbst zu können. Er gab sich nicht mit der glatten Oberfläche der Schönheit zufrieden. Er zergliederte die Schönheit in seinem kleinen Schlafzimmer und Laboratorium, wo der Essensdunst mit dem Lärm der Silvaschen Sprößlinge draußen wechselte, und wenn er die Schönheit zergliedert und ihre Anatomie studiert hatte, war er selbst der Möglichkeit, Schönheit zu schaffen, nähergekommen.

Er konnte nur mit dem Verstande arbeiten. Er konnte nicht blind drauflosarbeiten, im Finstern tastend, ohne zu wissen, was er hervorbrachte, und in der Hoffnung, daß der Zufall und sein guter Stern ihm schon helfen würden, die rechte Wirkung hervorzubringen. Er glaubte nicht an zufällige Wirkung. Er wollte wissen, wie und warum. Sein Genie war von der bewußtschaffenden Art, und ehe er eine Erzählung oder ein Gedicht begann, hatte es schon in seinem Kopf Leben angenommen. Der Zweck stand ihm immer vor Augen, und das Mittel zu diesem Zweck war sein bewußtes Eigentum. Sonst mußte die Arbeit notgedrungen mißglücken. Anderseits setzte er großen Wert auf die zufälligen Wirkungen von Worten und Sätzen, die ohne Anstrengung seinem Gehirn entsprangen, und die später an Schönheit und Kraft jede Probe bestehen konnten. Davor beugte er sich in Ehrerbietung und Bewunderung, denn er wußte, daß es weit über dem stand, was ein Mensch bewußt schaffen konnte. Und soviel er auch die Schönheit in seinem Suchen nach den Prinzipien, die der Schönheit zugrunde lagen und sie möglich machten, zergliederte, fühlte er doch immer das innerste Mysterium der Schönheit, zu dem er nicht gelangte, und zu dem kein Mensch je gelangt war. Er wußte sehr wohl aus seinem Spencer, daß der Mensch in keinem Falle je absolutes Wissen erreichen konnte, und daß das Mysterium der Schönheit nicht geringer war als das des Lebens selbst, ja – noch mehr, daß die Fibern der Schönheit und des Lebens sich ineinanderschlangen, und daß er selbst nur ein Stückchen von demselben unfaßbaren, aus Sonnenschein, Sternenstaub und Mystik gewebten Stoffe war.

Als diese Gedanken ihn erfüllten, schrieb er gerade die Abhandlung, die er »Sternenstaub« nannte, und in der er zwar nicht die Prinzipien der Kritik, wohl aber die prinzipiellen Kritiker angriff. Es war eine glänzende Arbeit, tiefsinnig, philosophisch und von einem prachtvollen Humor durchsetzt. Sie wurde dann auch prompt von allen Zeitschriften, an die er sie sandte, retourniert. Er gewöhnte sich daran, seine Gedanken über eine bestimmte Sache in seinem Gehirn sich entwickeln und reifen zu lassen und erst dann mit ihnen zur Schreibmaschine zu eilen. Daß sie nicht gedruckt wurden, bedeutete ihm nur wenig. Das Niederschreiben an sich war es, das einen langen Gehirnprozeß, ein Zusammenziehen zerstreuter Gedankenfäden und die endliche Generalisierung aller Einzelheiten abschloß, mit denen sein Gehirn belastet war. Das Niederschreiben eines solchen Artikels war die bewußte Anstrengung, durch die er seinen Geist befreite und ihn befähigte, neue Eindrücke und neue Probleme aufzunehmen. Es war dies gewissermaßen der Gewohnheit verwandt, die so viele Männer und Frauen mit wirklichen oder eingebildeten Sorgen haben: hin und wieder einmal brechen sie das Schweigen, unter dem sie solange gelitten, um sich endlich einmal Luft zu machen und alles zu sagen, was sie auf dem Herzen haben.

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