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Dreizehntes Kapitel

7. Oktober.

Auf dem Bahnsteig der Paddington-Station traf ich Sebastian Pasquale. Da ich seit Ende Juli nichts mehr von ihm gesehen oder gehört hatte, dachte ich, er sei, seiner Gewohnheit getreu, wieder in die weite Welt hinausgezogen. Offenbar sehr erfreut trat er auf mich zu und streckte mir gleich beide Hände entgegen, was er sich im Ausland angewöhnt hat.

»Lieber alter Ordeyne! Wer hätte gedacht, daß ich Sie hier treffe? Welcher Wind bläst denn Sie hierher?«

»Ich erwarte Carlotta mit dem Schnellzug von Plymouth.«

»Die schöne Carlotta? Wie geht es ihr? Was tut sie denn in Plymouth?«

Mitten in meiner Erzählung zog er seine Uhr heraus.

»Alle Wetter! Ich muß machen, daß ich auf den andern Bahnsteig komme, um meinen Zug nach Ealing noch zu erreichen. Ich trieb mich hier herum, um die übrige Zeit totschlagen. Es macht mir Vergnügen, die Züge hereinfahren zu sehen – das Funkeln und Rauchen, das Brausen und Zischen der teuflischen Maschine – und dann die Verwandlung ihrer glatten Wände in menschenausspeiende Rachen! Ich muß dabei an den Hades denken. Und eigentlich ist das Ganze kein schlechtes Bild von ihm – dem modernen Hades: eine Eisenbahnbrücke führt jetzt über den Styx, Charon trägt eine Dienstmütze mit goldener Tresse, und der Bahnsteig hier könnte den Ort vorstellen, wo die verdammten Seelen ankommen.«

Sie vergessen, daß Carlotta hier ankommt,« sagte ich.

Er warf den Kopf zurück und lachte übermütig.

»Gut, dann ist hier die Bahnstation ›Goldenes Tor‹ von der Erden-, Hades- und Olympuseisenbahn, wenn Ihnen das lieber ist. Ich aber muß mit einer Zweigbahn fahren, um in Ealing mit einer schönen Herzogin zusammenzutreffen – ja, mit einer echten und gerechten Herzogin. Sie können es mir glauben.«

»Warum sollte ich es bezweifeln?« fragte ich.

Stenson, den ich des Gepäcks wegen mitgenommen hatte, kam heran und legte die Hand an seinen Hut.

»Der Zug wurde soeben signalisiert, Sir Markus!«

Nach einem zweiten Blick auf seine Uhr reichte Pasquale mir die Hand.

»Es tut mir leid, daß ich keine Zeit habe, die Schöne zu begrüßen, aber ich komme bald und mache ihr meine Aufwartung. Ich bin eben erst nach London zurückgekehrt. A rivederci

Ein kurzer Gruß, und weg war er. Die Ankunft des Zugs, Carlottas stürmische Begrüßung, meine Freude, als sie sich in der Droschke wieder an mich anschmiegte, während sie mir ihre Erlebnisse erzählte, und der vergnügte Abend daheim – alles das ließ mich Pasquale vergessen. Aber sonderbar ist es doch, daß ich ihn auf dem Bahnsteig traf!

Carlotta und ich trennten uns auf der Treppe, um uns zum Essen umzukleiden. Einen Augenblick darauf klopfte es an meine Tür. Als ich öffnete, stand Carlotta glückselig und wonnestrahlend da, in der einen aufgehobenen Hand die silberbeschlagene Bürste und in der andern den Handspiegel.

»O mein liebster Siir Markuus! Ist das für mich? Alles für mich?«

»Nein, für Antoinette,« sagte ich.

»O –!«

Lachend zog sie mich am Arm in ihr Zimmer hinein und machte die Tür hinter mir zu.

»O, alles ist so schön, so schön, und ich sterbe, wenn ich dir keinen Kuß geben darf.«

»Du mußt unter allen Umständen am Leben bleiben!« rief ich lachend, und diesesmal wies ich sie nicht zurück. Aber meine Arme umschlangen ein Kind. Wie ein Blitz durchzuckte mich diese Offenbarung – wie ein Blitz, dem ein heftiger Schmerz folgte – und sie verwandelte mein leidenschaftliches Verlangen in ein gütiges Wohlwollen.

Nachdem Carlotta mich losgelassen hatte, lief sie an die offenen Schubladen des neuen Toilettentisches, in denen allerlei kleine Schmuckstücke lagen, die ich für sie gekauft hatte.

»Nun,« sagte ich, »für diesmal bist du noch vom Untergang gerettet. Die nächste drohende Todesgefahr ist jetzt der Hunger. Ich gewähre dir noch eine Viertelstunde Zeit.«

Sie erschien bei Tisch in einem tief ausgeschnittenen Kleid, um den Hals sowohl Halsband als Anhänger und in der Hand – als ein echtes Kind – den silbernen Spiegel. Ich glaube, sie hat diesen mit ins Bett genommen, gerade wie ein Kind von sieben Jahren sein Spielzeug mitnimmt. Jedenfalls behielt sie ihn den ganzen Abend bei sich und bewunderte sich so unverhohlen darin, wie die sagenhafte Wassernixe in ihrem See.

Im Lauf des Abends wollte sie mir den entzückenden Türkis an ihrem Anhänger zeigen. Um ihn meinen kurzsichtigen Augen nahe genug zu bringen – sie bildet sich nämlich ein, ich sei ohne Brille fast blind – neigte sie den Hals weit vor, und ganz unbefangen saß sie plötzlich auf meinem Knie. Ihr dunkler, warmer Teint paßt zu ihrem üppigen braunen Haar, und die weiche Haut ihres Halses und ihrer Arme glänzt wie Seide. Ach, und sie duftet nach Hyazinthen – jetzt weiß ich es gewiß, und es gibt nichts auf der Welt, was die Sinne eines Mannes mehr erregen könnte! Meine Finger, die den Türkis hielten, zitterten, als sie zufällig Carlotta berührten – aber sie blieb ganz unbefangen. Und überdies blickte sie in den Spiegel.

»Neben dem Türkis sieht meine Haut ganz weiß aus – o in Bude ist ein Fräulein gewesen, die hat ein goldenes Medaillon getragen, das lag auf einem so dürren Hals – man konnte die Knochen zählen. Ich bin froh, daß ich keine Knochen habe. Bei mir ist's ganz weich – fühle nur!«

Und meine Hand ergreifend, drückte sie meine Fingerspitzen in das feste junge Fleisch ihres Halses.

»Jawohl,« sagte ich mit belegter Stimme, »dein Türkis kann da sehr angenehm schlafen. Ich will ihn küssen, damit er dir Glück bringt.«

Sie lachte hell auf vor Freude. »Ich glaube nicht, daß jemand das Medaillon des Fräuleins in Bude geküßt hat. Sie war zu mager und zu alt; gewiß ist sie schon dreißig Jahre alt gewesen. Jetzt aber,« fügte sie hinzu und hob den Anhänger in die Höhe, »mußt du auch die Stelle küssen, wo er liegen soll!«

Ich sah ihr einen Augenblick tief in die Augen, die, als Carlotta mich zögern sah, einen rührenden Ausdruck annahmen.

»O –,« sagte sie vorwurfsvoll.

Ich weiß, ich bin ein Narr. Ich weiß, Pasquale würde mich mit Sarkasmen überschütten. Ich weiß, daß ich Carlotta mit all ihrem Liebreiz hätte an mich ziehen können – daß sie mein gewesen wäre für immer und ewig. Wenn ich sie weniger leidenschaftlich liebte, dann hätte ich mit einem leichten Scherz ihren frischen Hals geküßt. Aber sie küssen – mit dem heißen Verlangen, das ich im Herzen trage – das wäre eine Schmach für sie gewesen.

Ich stellte sie auf den Boden, stand auf und wandte mich mit gezwungenem Lachen ab.

»Nein, liebes Kind,« sagte ich, »das würde sich nicht schicken.«

Als ich diese banalen Worte ausgesprochen hatte, mußte ich noch lauter lachen als zuvor, und Carlotta, die es für einen Scherz hielt, lachte hell und munter mit.

»Wie küßt man denn auf schickliche Art?«

Ich ergriff ihre Hand und führte sie mit einer tiefen Verbeugung in altfränkischer Weise an meine Lippen.

»So,« sagte ich.

»O–o,« meinte Carlotta, »das ist sehr langweilig.« Und Polyphem auf den Arm nehmend drückte sie ihr Gesicht in seinen Pelz. »Ich möchte lieber so geküßt werden.«

»Der Mann, den du liebst, wird es ohne Zweifel so machen.«

Sie machte ein schiefes Gesicht.

»O, dann muß ich noch lange warten.«

»Das ist nicht nötig,« erwiderte ich, indem ich ihre Hand ergriff und ernsthaft fortfuhr. »Meinst du nicht, du könntest einmal einen Mann wirklich lieben, so daß du ihm dein ganzes Herz und all dein Sinnen und Denken weihen würdest?«

»Ich würde jeden netten Mann heiraten, den du mir auswählst,« antwortete sie.

»Ganz einerlei, wer es wäre? Jeder wäre dir recht?«

»Natürlich,« sagte Carlotta.

»Und du könntest jeden, der dich heiraten wollte, gerade so küssen, wie eben jetzt den Polyphem?«

»O, es müßte natürlich ein netter Mann sein – nicht wie Mustapha.«

Mit einem Seufzer wandte ich mich ab und zündete mir eine Zigarette an, während Carlotta sich in die Sofaecke schmiegte und ihr Gesicht und das Halsband in dem silbernen Spiegel betrachtete. Dann plauderte sie mit der Katze, die ihr auf den Schoß gesprungen war und sich mit gekrümmtem Buckel an ihr rieb.

Als ich Carlotta so vergnügt und glücklich sah, verschwand über dem glücklichen Gedanken, daß mein Haus jetzt nicht mehr einsam sei, das leise Gefühl von Traurigkeit, das mich vorhin ergriffen hatte, und Carlotta und ich verbrachten einen sehr vergnügten Abend miteinander.

Aber jetzt, wo ich allein bin, fühle ich, wie leer mein Herz geworden ist. Ich komme mir vor wie ein halbverhungerter Mensch, der an einem bestimmten Orte kräftige Nahrung zu finden hofft, aber statt dessen nichts vorfindet als ein paar Stückchen feines Backwerk, die ein wahrer Hohn auf seinen Hunger sind.

 

14. Oktober.

Eine Woche ist vergangen. Ich habe sie hauptsächlich dazu verwandt, um ihre Liebe zu werben.

Doch jetzt frage ich mich: »Ist sie am Ende nicht doch nur ein Kind, und ist diese meine Liebe nichts als eine monströse Leidenschaft?«

Was soll ich tun? Das Leben fängt an, mir zur Qual zu werden. Wenn ich sie fortschicke, verzehre ich mich in Sehnsucht nach ihr, wenn sie dableibt, wird nur Öl ins Feuer gegossen. Ihre Liebkosungen werden mich noch verrückt machen. Es wäre roh von mir, wenn ich sie zurückstieße – sie will geliebkost sein; es ist ihr fast unmöglich, mit mir zu sprechen, ohne mich dabei anzurühren, ohne sich über mich zu beugen, und so habe ich fortwährend das Gefühl ihrer Nähe. Sie behandelt mich mit der Unschuld eines zärtlichen Kindes, als wäre ich vollständig geschlechtlos. Meine glücklichsten Stunden verbringe ich mit ihr an öffentlichen Plätzen, in Theatern und Restaurants, wo ihr ungetrübtes Vergnügen sich in meinem Herzen widerspiegelt.

Ein Herr Stuer, der gleich nebenan in der Avenue-Road wohnt, gibt ihr jetzt Klavierstunden. Vielleicht kann die Musik zu ihrer Entwicklung beitragen.

 

21. Oktober.

Carlotta zu Gefallen habe ich mich allmählich an das viele Ausgehen gewöhnt, das mir früher so sehr zuwider war. Pasquale ist auch ein paarmal mit uns gegangen. Gestern abend gab er Carlotta zu Ehren ein Abendessen im Hotel Continental. Die anwesenden Damen forderten Carlotta auf, sie zu besuchen. Sie sollte auch wahrscheinlich einigen Umgang haben, und ich werde wohl mit ihr in Gesellschaft gehen müssen. Die Damen gehören den halbgebildeten Kreisen an, wo man den großen Mangel an Geist und die angeborene bürgerliche Solidität durch eine gewisse Lebhaftigkeit zu verbergen sucht. Trotz Pasquales übersprudelnder Lebhaftigkeit und Carlottas begeistertem Entzücken fühlte ich mich nicht in meinem Element, sondern saß still und bedrückt dabei.

Meine Arbeit ruht; Carlotta ist mein Leben; ich fürchte, es geht abwärts mit mir.

Heute nachmittag besuchte ich Judit, die ich seit Carlottas Rückkehr nur ein- oder zweimal gesehen hatte. Judit ist unglücklich. Obgleich ich ihr meine Knechtschaft nicht gebeichtet habe, ist ihr weiblicher Scharfsinn doch sicherlich in die tiefste Tiefe meines Geheimnisses eingedrungen. Bis jetzt ist der Verkehr zwischen Judit und mir frei von heftigen Gemütsbewegungen gewesen; es war eine wahre Freundschaft, die durch einen angenehmen Gefühlsaustausch versüßt wurde. Und doch verzehrt sich Judit jetzt fast vor Eifersucht auf Carlotta; ihr Selbstgefühl ist tief verwundet und ihr Verhalten ist derart, daß mir zu Mute ist, als hätte ich ein grausames Spiel mit ihr getrieben. Aber, liebste Judit, ich bin doch nur ein Mann gewesen. »Das ist ganz dasselbe,« höre ich sie antworten. – »Doch nicht, meine Liebe, ich habe in meinem ganzen Leben nie zuvor ein Weib geliebt, und da ich aus dieser Tatsache niemals ein Geheimnis machte, habe ich mich auch keines Verrats schuldig gemacht. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich Ihnen offen von dieser neuen Liebe erzählen. Aber wie könnte ich jetzt schon davon sprechen? Wie könnte ich mit irgend einem lebenden Wesen darüber reden?«

Manchmal versuche ich mir einzubilden, ich sei der Panurgos, der sich mit einem pantagruelischen Freund berät. »Ich liebe Carlotta und möchte sie heiraten,« sage ich. – »Dann heirate sie,« sagt Pantagruel. – »Aber,« versichert der arme Panurgos, »sie würde sich gleich morgen ohne weiteres mit mir trauen lassen, ganz einerlei, nach welchem Ritus, ob in der Kirche oder auf dem Standesamt.« – » Mariez-vous doncques de par dieu,« erwidert Pantagruel. – »Aber ich wäre ein Schuft, wenn ich mir ihre Unschuld und ihren Gehorsam zu nutze machte.« – »Dann heirate sie nicht.« – »Aber ich kann ohne sie nicht leben,« ruft Panurgos verzweifelt aus. »Ich bin wie verhext. Wenn ich sie nicht heirate, verzehre ich mich in Sehnsucht nach ihr.« – »Dann heirate sie in Gottes Namen!« sagt Pantagruel. Und ich bin durch seine Ratschläge nicht allein um nichts klüger geworden, sondern ich habe nur die ganze Wirrnis meiner törichten Gefühle spöttischen Augen preisgegeben.

 

23. Oktober.

Allmählich sehe ich ein, daß jener junge Mann mit seinem einfältigen Vergleich einen durchdringenden Scharfsinn bewiesen hat. Unter der sanften Melancholie meines Wesens, die an J. J. Rousseau erinnert, erkannte er, daß ich möglicherweise einmal in eine wahrhaft tierische Wut ausbrechen könnte. Ein vernünftiges Wesen ist niemals von einer so unheimlichen Konzentration der Gedanken, von einer so glühend heißen Leidenschaft, die überdies noch von Tag zu Tag zunimmt, besessen.

Ich glaube, ich muß einen Irrenarzt zu Rate ziehen.

 

25. Oktober.

Heute nachmittag ging ich zu Judit, mehr um ihr einen Beweis meiner unveränderten Freundschaft zu geben, als um in ihrer Gesellschaft Trost zu suchen. Während wir Tee tranken, sprachen wir vom Wetter, von Büchern und von Judits statistischen Arbeiten. Die Unterhaltung schleppte sich so hin, doch waren wir ganz unbefangen. Als die Dämmerstunde herbeigekommen war, trat eine lange Pause ein. Schließlich brach Judit das Schweigen, indem sie, ohne mich anzusehen, fragte: »Wann verbringen wir wieder einmal einen Abend miteinander?«

»Wann Sie wollen, liebe Judit.«

»Morgen?«

»Morgen kann ich leider nicht.«

»Haben Sie denn morgen etwas ganz Besonderes vor?«

»Ich will mit Carlotta ins Empiretheater gehen.«

»Ach so,« sagte Judit kurz; und nun trat eine neue lange Pause in der Unterhaltung ein, während der ich mich höchst unbehaglich fühlte.

»Es wäre sehr nett von Ihnen, lieber Markus, wenn Sie mich zum Mitgehen aufforderten,« sagte Judit schließlich.

»Mit Carlotta und mir?«

»Warum nicht?«

»Meine Frage war nur die Folge meines ungeheuren Erstaunens,« antwortete ich. »Ich glaubte, Carlotta sei Ihnen nicht angenehm.«

»Im Gegenteil, und ich würde mich freuen, sie näher kennen zu lernen. Die Menschen, für die Sie sich interessieren, sind auch für mich interessant.«

»Dann,« sagte ich, »wird Ihr Kommen uns beiden die größte Freude bereiten.«

»Ich habe schon lange keinen so recht vergnügten Abend mehr verlebt.«

»Nun, wir wollen vor der Vorstellung irgendwo dinieren, und nachher noch zu Abend essen. Also die ganze Skala der Lustbarkeiten. Toute la lyre! Und,« fügte ich hinzu, »Ihre geliebte Veuve Cliquot soll auch nicht fehlen.«

»Das wird ja reizend werden,« sagte Judit höflich.

Ja, Höflichkeit war heute der Hauptfaktor ihres Benehmens: eine kühle Zurückhaltung, mit der sie einem gewöhnlichen Bekannten andeuten würde, daß sie sich müde fühle. Hat sie sich wohl mit dem Unvermeidlichen abgefunden und will sie das auf eine liebenswürdige Weise bekunden, indem sie uns ins Theater begleitet? Wie gerne möchte ich das glauben; aber dieses Vorgehen läßt sich mit ihrem sonstigen unlogischen Tun, das sie »ihr Temperament« zu nennen beliebt, gar nicht recht zusammenreimen. Ich stehe vor einem Rätsel.

Als ich mich verabschiedete, sah sie mich lächelnd an, und da durchrieselte mich plötzlich ein kalter Schauder; das war nicht das Lächeln eines weiblichen Gesichts, sondern das Grinsen einer Maske. Und es war gar nicht mehr Judits Gesicht. Nein, von dem morgigen Abend verspreche ich mir nicht viel Vergnügen.

Auf Carlottas Anregung hin schrieb ich ein paar Worte an Pasquale und lud ihn ein, uns zu begleiten. Seine munteren, witzigen Einfälle werden unserm Fest einen Schimmer von Lustigkeit verleihen, und Carlotta wird alles für bare Münze nehmen.

In der letzten Zeit habe ich wiederholt an die hoffnungslose Leidenschaft Alphonsos des Großmütigen von Neapel denken müssen, von der Papst Pius II. in seinen Kommentaren berichtet, denn die Liebesaffairen andrer erwecken allmählich ein fast krankhaftes Interesse in mir, und ich kann es nicht lassen, Vergleiche anzustellen. Wenn diese andern die Qual überlebt haben – warum sollte ich es nicht auch können? Doch Alphonso sehnte sich nach Lukrezia d'Alagna, einer keuschen, wunderschönen, eiskalten Statue, die ihn liebte, während ich das heißblütige junge Wesen begehre, das mein wäre, wenn ich nur die Hand danach ausstrecken wollte, das mich aber nicht mehr liebt, als den ersten besten Schutzmann, der ihr auf seinem Dienstgang zunickt. Nein, ich kann Carlotta nicht an mich reißen. Ein Etwas, das stärker ist als meine Leidenschaft, bildet eine unübersteigliche Schranke. Ich liebe Carlotta mit Leib und Seele, und meine Seele schreit nach jener Seele, die der Allmächtige vergessen hat, als er dieses Mädchen fürs Leben ausstattete.

Heute abend erhielt ich einen Brief von dem Herausgeber der »Quarterly Review«. Er schreibt, er wäre mir sehr dankbar, wenn ich ihm einen Artikel über die Renaissance schreiben wollte, dem ein deutscher, ein russischer und englischer Versuch, die Familie Borgia weißzuwaschen, als Vorwurf dienen solle. Vor einem halben Jahr hätte mich diese schmeichelhafte Aufforderung mit Genugtuung erfüllt. Aber was sind mir heute die weißgewaschenen Borgias oder die würdigen Bürger im Lesezimmer des Athenäums, die über meine Schilderung der harmlosen Giftmorde dieser liebenswürdigen Familie einnicken würden? Sie sind nur Spott und Hohn für ein wundes Gemüt.

Während ich schreibe, höre ich die Tür knarren. Ich schaue auf. Da steht Carlotta in einem hastig übergeworfenen vorne offenen Morgenkleid, mit aufgelöstem Haar und nackten Füßen, die rosig unter dem Schlafrock hervorschimmern.

»O Siir Markuus lieber, ich bin so erschrocken!« Damit lief sie auf mich zu, und als ich von meinem Stuhle aufstand, ergriff sie die Aufschläge meines Rockes.

»Was gibt es denn?«

»In meinem Bett ist eine Maus.«

In diesem Augenblick kam mir Polyphem zu Hilfe, der vom Sofa herabsprang und seinen Rücken an Carlottas Füßen rieb.

»Nimm die Katze mit und sag ihr, sie solle die Maus umbringen,« sagte ich. »Und nun geh augenblicklich wieder zu Bett.«

Ich muß sie ziemlich angefahren haben, denn ihre großen, unschuldigen Augen sahen mich vorwurfsvoll an.

»Da, nimm die Katze und geh!« wiederholte ich. »Du darfst nicht herunterkommen, wenn du so aussiehst.«

»Und ich dachte, ich sähe hübsch aus,« sagte Carlotta, indem sie einen Schritt näher trat.

Ich setzte mich wieder an den Schreibtisch und heftete die Augen auf mein Papier.

»Du siehst wie eine Huri aus, die wegen schlechten Betragens aus dem Paradies verbannt worden ist.«

Carlotta brach in das ihr eigene glockenhelle Lachen aus.

»Hu! Siir Markuus ist entrüstet!« Und Polyphems Nase an ihrem Gesicht reibend, lief sie davon.

Ich frage mich, ob wohl der Teufel schwachsinnig geworden ist, ob er die Jahrhunderte durcheinandermengt und mich irrtümlicherweise für einen Heiligen des Mittelalters hält. Vielleicht für den Paphnutius, der auch von einer Verführerin heimgesucht wurde. Wie heißt es doch in der Legende? Um sie los zu werden, steckt er seine Hand ins Feuer und läßt sie verkohlen. Daraufhin fällt die Verführerin tot um. Er betet – und sie erwacht wieder zum Leben und wird eine Nonne. Nein, Messer Diavolo, ich bin kein Paphnutius. Ich will mich nicht selbst zum Krüppel machen, ich will auch nicht, daß Carlotta tot umfällt, und ich kann auch nicht beten, um eine pietistische Auferstehung in Szene zu setzen. Ich bin nur ein moderner törichter Mann, dem die Versuchung fast den Verstand geraubt hat, und der kaum weiß, was er redet oder schreibt.

Für gewöhnlich bin ich nicht abergläubisch, aber heute nacht habe ich das Vorgefühl kommenden Unglücks. Ruhelos wandere ich in meinem Zimmer umher. Auf dem Kaminsims stehen drei Photographieen in silbernen Rahmen: Judit, Carlotta, Pasquale. Was jedes von diesen dreien an Spottlust in sich trägt, scheint jetzt in der Stille der Nacht geisterhaft um die Bilder zu schweben und mich zur Zielscheibe zu machen. Draußen saust der Herbststurm durch die Bäume; es klingt wie das Klagen einer ganzen Legion verlorener Seelen. Horch! Messer Diavolo selbst scheint mit lautem Hohnlachen vorbeizureiten.


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