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Ich war Miturheber einer kleinen Übertretung des strengen Klosterbrauchs auf Walaam. Auf diesem rauhen Felsen liebt man müßige Spaziergänger wenig, und woher der ferne Besucher auch kommen, und wie groß sein Verlangen, die Insel kennen zu lernen, auch sein mag, er kann dieses sehr großen Vergnügens doch nicht teilhaft werden. Ich wiederhole: dieses sehr großen Vergnügens, – denn die Insel ist wahrhaftig wundervoll, und ihre großartigen Bilder sind entzückend. Der Brauch auf Walaam verlangt, daß sich jeder Pilger dem Klostergehorsam unterwerfe: er muß in die Kirche gehen, beten, am gemeinsamen Klostertisch essen, dann arbeiten und kann schließlich ausruhen. Für Spaziergänge und Besichtigungen ist hier keine Zeit vorgesehen. Dennoch gelang es mir, einmal in Gesellschaft dreier Herren und zweier Damen im Verlaufe einer Nacht die ganze Insel zu durchstreifen und mir für immer das wundervolle Bild einzuprägen, das die wilden Felsen, die dunklen Schluchten und die stillen Einsiedeleien dieses russischen Athos im bleichen Zwielicht der nördlichen Sommernacht darboten. Besonders schön sind die Einsiedeleien in ihrer unerschütterlichen Stille, und unter ihnen ist die Einsiedelei Johannes des Täufers auf der kleinen Insel Ssernitschan ganz erstaunlich. Hier leben Einsiedler, denen die Strenge des allgemeinen Klosterlebens auf Walaam noch nicht genügend erscheint: sie haben sich hierher in die Einsiedelei des Täufers zurückgezogen, wo die Klosteroberen ihre Ruhe vor jedem Eindringen weltlicher Menschen behüten. Hier entzünden ihre Lämpchen Menschen, die für die Welt gestorben sind und dennoch ohne Unterlaß für die Welt beten: hier herrscht ewig Fasten, Schweigen und Gebet.
Da wir die Richtung der Fußwege auf Walaam nicht kannten, gelangten wir unvermutet an den Seearm, der das Inselchen Ssernitschan von der Hauptinsel trennt, und ließen uns, bezaubert von den dichten Farnkräutern, die hier den ganzen Talkessel überwuchern, nieder, um auszuruhen; wir sprachen über die Menschen, die sich diese öde Einsamkeit zur Stätte ihres dem Gebet und der Betrachtung geweihten Lebens erwählt haben.
»Was sind das für Menschen, mit welcher Kraft und welcher Vergangenheit mögen sie hierher kommen, um sich hier lebendig zu begraben?« rief einer von uns aus. »Ich kann es mir nicht anders denken, als daß es Titanen und Geisteshelden sein müssen.«
»Ja, Sie haben recht,« erwiderte ein anderer, »es sind Helden, aber freilich Helden, die durch ihre Armut mächtig sind. Es sind Körner, die schon gekeimt haben und jetzt aufsprießen.«
»Aber bevor sie keimten?«
Unser Gefährte lächelte und erwiderte:
»Bevor sie keimten, lagen sie auf den Straßen, erstickt von den Dornbüschen und kamen um wie Sie und ich und die ganze Welt, bis der Wind sie ergriff und auf gutes Erdreich warf.«
»Sie sprechen so, als hätten Sie einen von diesen Menschen gekannt, der die Kraft besaß, sich in diesen Schluchten lebendig zu begraben.«
»Ja, mir scheint, daß ich in der Tat einen solchen Menschen gekannt habe.«
»War er klug?«
»Ja.«
»Und auch besonnen?«
»Hm...ja! Im übrigen wage ich nicht über ihn zu urteilen, denn ich hatte ihn lieb und verehre sein Andenken sehr.«
»Ist er schon gestorben?«
»Ja.«
»Hier?«
»Nicht weit von hier«, antwortete der andere und lächelte wieder still vor sich hin.
»Das Leben eines solchen Menschen erregt in mir immer das größte Interesse.«
»In mir auch. Und in mir ebenso«, fielen die anderen ein.
Die Damen zeigten noch mehr Interesse als die Herren, und eine von ihnen, eine hübsche Blondine mit schwarzen Augen, wandte sich an unseren Reisegefährten und sagte:
»Wissen Sie, Sie würden uns einen außerordentlich großen Gefallen erweisen, wenn Sie uns hier, in dieser stillen Schlucht, in die wir so unvermutet gekommen sind, die Geschichte des Ihnen bekannten Einsiedlers erzählen wollten.«
Eine andere Dame und schließlich wir alle schlossen uns dieser Bitte an – und der, an den wir sie richteten, willigte schließlich ein und begann:
Vor zwanzig Jahren – ich war noch Schüler und besuchte eines der Petersburger Gymnasien – wohnten wir, d.h. mein verstorbenes Mütterchen und ihre Schwester, meine Tante Olga Petrowna, im Hause einer anderen reichen Tante väterlicherseits. Wenngleich die letztere nicht mehr am Leben ist, will ich doch ihren wirklichen Namen nicht verraten, sondern werde sie Anna Ljwowna nennen. Ihr Haus steht auch heute noch auf dem gleichen Platze, auf dem es damals stand. Nur war es zu jener Zeit eines der größten Häuser der Straße, während es heute eines der kleinsten ist. Riesige Neubauten haben es erdrückt – und niemand weist mehr auf das Haus hin, wie es oftmals in der Zeit geschah, in der meine Geschichte beginnt.
Da ich meine Erzählung nicht mit Menschen, sondern mit einem Hause begonnen habe, muß ich schon folgerichtig fortfahren und Ihnen erzählen, was das für ein Haus war. Es war ein schreckliches Haus – schrecklich in vielen Beziehungen. Es war aus Stein gebaut, drei Stockwerke hoch und besaß innen drei ineinander laufende Höfe, die von allen Seiten mit gleichförmigen dreistöckigen Gebäuden umbaut waren. Sein Äußeres war finster und grau, fast wie ein Gefängnis. Es machte den drückendsten Eindruck. Das Haus bildete einen Teil der Mitgift der Tante, als sie einen nicht sehr entfernten Verwandten heiratete, einen seinerzeit viel versprechenden und blendenden jungen Weltmann, der freilich damit endete, daß er mit ungewöhnlicher Gewandtheit sein eigenes unbedeutendes, sowie das bedeutende Vermögen seiner Frau durchbrachte und schließlich seine Hand nach dem Reste ihrer Mitgift, d.h. nach diesem Hause ausstreckte. Meine Tante erfuhr von dieser Absicht ihres Mannes in Paris, wo die Gatten damals lebten und wo Anna Ljwowna die ganze Welt durch ihre Schönheit zu blenden und in Erstaunen zusetzen glaubte, wenn nicht vor den Augen dieser Welt eine Dame der Halbwelt gestrahlt hätte, mit der der Kampf unschicklich und unmöglich gewesen wäre, da der Aufwand dieser Dame so fabelhaft war, daß selbst die solidesten Damen sich dafür interessierten, woher diese Kurtisane das Geld nur hernehme! Anscheinend interessierte sich auch mein Tantchen Anna Ljwowna dafür, und sie erhielt von ihrem Manne zur Antwort, daß die beneidenswerte Lage dieses Glückskindes von der Freigiebigkeit eines an der Indischen Kompagnie reich gewordenen Engländers abhänge. Aber in Bälde stellte sich heraus, daß dies dummes Zeug war, und daß der reiche Engländer niemand anders war als eben der Gemahl meiner Tante, der auf die unvorsichtigste Weise ihr Vermögen zugunsten dieses dunklen Sterns verschwendet hatte. Seine Leidenschaft hatte ihn so weit gebracht, daß ihnen nichts geblieben war, als das Petersburger Haus, von dem ich eben sprach. Als Anna Ljwowna davon Kenntnis erhielt, geriet sie außer sich und schluchzte lange. Aber dann kam sie wieder zu sich und bewies nicht nur ihre große Charakterstärke, sondern freilich auch eine ordentliche Dosis Hartherzigkeit. Sie erklärte offiziell die auf den Namen ihres Mannes lautenden Vollmachten für ungültig, ließ ihn in Paris als ein Opfer seiner Gläubiger zurück, kehrte nach Rußland heim und nahm Wohnung in ihrem Hause. Das Haus brachte ihr recht gute Einkünfte, so daß die Tante davon sorgenfrei leben und ihren Sohn Woldemar oder Dodja, wie er zu Hause genannt wurde, erziehen konnte. Ihrem Manne schickte sie nichts und sprach auch niemals von ihm: er trieb sich irgendwo herum und ging schließlich im Auslande verschollen unter. Die einen sagten, er sei irgendwo im Schuldgefängnisse gestorben, andere versicherten, daß er in einem Spielhause als Croupier angestellt sei. Aber für uns ist das ganz gleichgültig. Tante Anna Ljwowna war in der Zeit, als ich sie kennen lernte, eine Frau von fünfundvierzig Jahren. Sie zeigte noch Spuren ihrer früheren recht bemerkenswerten, aber äußerst unsympathischen, trockenen und harten Schönheit, wie sie den Frauen der russischen beau-monde eigen ist.
Anna Ljwowna bewohnte in ihrem Hause die Hälfte der prächtigen Beletage. Die Wohnung war geräumig und gab der Tante die Möglichkeit, als große und dabei doch als strenge und solide Dame zu leben, als welche sie bei der großen Zahl ihrer hochgestellten Besucher galt. Sie kokettierte gern ein wenig mit ihrer Lage, jammerte bei Gelegenheit über ihre Schutzlosigkeit und über die Beschränktheit ihrer Witwenmittel – und machte dabei glänzend ihre Geschäfte. Dank ihrer Verbindungen und ihrer Gewandtheit kostete ihr die Erziehung ihres Sohnes nichts; es gelang ihr sogar außerdem auf irgendwelche Weise, sich ein sehr beträchtliches Subsidium zu erwirken für ihr »beispielloses Unglück«. Die Einkünfte ihres Hauses legte sie zurück. Anna Ljwowna war eine sehr berechnende und, um die Wahrheit zu sagen, sehr herzlose Frau, was Sie wohl schon aus ihrer Handlungsweise an ihrem Manne schließen können, dem sie niemals verzieh und den sie in seiner Notlage mit keinem Groschen unterstützte. Alle im Hause der Tante fürchteten sie und zitterten vor ihr: ich wußte dies genau, da wir im anderen Flügel des Hauses wohnten, von wo aus ich beobachten konnte, wie die Leute ihr gefällig zu sein suchten. Die Tante hatte keinen Verwalter, sie beaufsichtigte das Haus selbst und war dabei die strengste und erbarmungsloseste Herrin. Sie hatte die Einrichtung eingeführt, daß alle Mieter die Wohnung für einen Monat vorauszahlen mußten, und wenn einer nicht am festgesetzten Tage zahlte, so wurden ihm sogleich die Fenster ausgehängt, und nach zwei weiteren Tagen warf man ihn aus der Wohnung heraus. Begünstigung oder Nachsicht gewährte sie niemand. Keiner der Mieter versuchte es auch, sie zu erlangen, da alle wußten, daß es vergeblich sein würde. Das Regiment der Tante war weise: sie war für keinen der Mieter zu sehen, und keiner von ihnen wurde unter keinen Umständen zu ihr vorgelassen. Sie selbst erließ die Anordnungen, und alle ihre erbarmungslosen Befehle wurden unverzüglich ausgeführt. Man sagte, daß bei der Ausführung dieser Anordnungen noch nie auch nur die geringste Nachsicht gewaltet habe. Trotzdem fand die Tante, daß die Vollstrecker ihres Willens noch reichlich schwächlich handelten, und sie wechselte sie so lange, bis sie schließlich auf einen stieß, der ihrer unbarmherzigen Strenge vollkommen Genüge leistete. Dieser bemerkenswerte Mann war der Portier Pawlin Petrowitsch Pjewunow, oder wie man ihn einfach rief, Pawlin. Ich empfehle diesen Menschen Ihrer besonderen Aufmerksamkeit, da er, trotz seiner bescheidenen Stellung, der Held dieser Erzählung sein wird. Deshalb will ich ihn Ihnen auch etwas genauer beschreiben und erzählen, wie wir das Vergnügen hatten, mit dieser Rarität in bunter Livree persönlich bekannt zu werden.
Zu der Zeit, als mein Mütterchen in die kleine Wohnung in einem der Flügel des zweiten Hofes im Hause der Tante übersiedelte, stand Pawlin Pjewunow schon sechs Jahre als Portier in ihren Diensten und galt als ihr gänzlich ergeben, sozusagen als ihre rechte Hand. Über das unbegrenzte Vertrauen Anna Ljwownas zu Pawlin und noch mehr darüber, daß er schon so viele Jahre ununterbrochen bei ihr war, obwohl es keiner vor ihm ihr hatte recht machen können, liefen im Hause die abgeschmacktesten Gerüchte um, die sich auf den dümmsten Schlüssen aufbauten, vor allem aber darauf, daß Pawlin, nach der Meinung vieler, ein hübscher Mensch war. Ich will Pawlin beschreiben, wie er damals aussah, als ich ihn kennen lernte. Er mag um die Zeit etwas über vierzig gewesen sein, er war hoch gewachsen, kräftig und dabei sehr schlank. Seine Haare waren hellblond, seine großen sympathischen Augen grau; die prächtige kluge Stirn, die auffallende Strenge seines Gesichtes und die Würde in seinen Bewegungen und in seiner ganzen Positur gaben jenem Urteil über ihn nicht Unrecht. Man hätte jede beliebig hohe Wette eingehen können, daß es in keiner Hauptstadt Europas einen Portier gäbe, der imposanter ausgesehen hätte als unser Pawlin. Ich glaube, daß er in einer anderen, vornehmeren Livree als der eines Portiers noch vornehmer ausgesehen hätte, indes stand ihm auch diese bunte Tracht erstaunlich gut. In dem langen, hellblauen Rock, der reich betreßt war und eine Kapuze hatte, mit der breiten, glänzenden Schärpe, dem Dreimaster und dem vergoldeten, blitzenden Stab in der Hand war Pawlin ein richtiger Pfau und zudem ein äußerst schmucker Pfau, der mit dem schönsten Exemplar des prunkvollen Vogels, in den Juno den Argus verwandelte, wetteifern konnte. Pawlins Stattlichkeit hätte ihn den Posten eines Portiers an einem Klub oder an einer der glänzendsten Gesandtschaften erlangen lassen können, aber Pawlin jagte dem nicht nach, sondern blieb in dem ziemlich bescheidenen, bürgerlichen Hause meiner Tante. Es war seine erste Stellung, die er in Petersburg angetreten hatte, und sie zu wechseln lag nicht in seinem Charakter. Pawlin wurde bei der Tante nicht besonders verhätschelt, auf ihm ruhten vielmehr, wie es in den bürgerlichen Häusern üblich ist, mehrere Obliegenheiten. Pawlin war der Argus der Tante, und sie erfuhr mit seiner Hilfe alles, was sie nur zu wissen wünschte. Er sah, wie es schien, durch die steinernen Mauern des ganzen Hauses und wußte, was in seinen verstecktesten Winkeln geschah. Das war für alle um so erstaunlicher, als Pawlin zu keinem der Dienstboten im ganzen Hause irgendwelche Beziehungen unterhielt. Er war sehr stolz und feierlich, und zwar nicht nur in seinem Äußeren, sondern auch in seinem Charakter, der selbstbewußt, fest und sogar etwas anmaßend war. Pawlin lebte in einem kleinen, aber sehr reinlich gehaltenen Zimmer, das durch den Säulengang des geräumigen Treppenhauses verdeckt wurde. Dort stand auch auf einer kleinen Erhöhung zwischen zwei Säulen sein Thron, ein altertümlicher schwarzer Sessel mit einem bronzenen Drachen auf der hohen Rückenlehne. Seitdem Pawlin sein Zimmer bezogen hatte, war kein fremder Mensch darin gewesen, und so wußte auch niemand, wie er sich dort eingerichtet hatte. Die beiden von Pawlins Käfig auf die Straße hinausgehenden Fenster waren stets mit reinem Mull verhängt, und hinter ihnen standen Blumentöpfe. Gelang es jemand, abends in diese Fenster hineinzuschauen, wenn das Zimmer von innen durch das vor dem Heiligenbild brennende Lämpchen erleuchtet war, so sah er nur den oberen Teil der sehr sauberen, tiefblau gestrichenen Wände und einen Bettschirm; mehr zu sehen war ganz unmöglich. Das Zimmer war stets verschlossen, und der Schlüssel zu der kleinen Tür war stets in Pawlins Tasche. Müßige Leute, die unter dem oder jenem Vorwand in Pawlins Gemach einzudringen versuchten, wußte er auf eine so entschiedene und unzeremonielle Weise davon abzuhalten, daß ihn schließlich alle in Ruhe ließen und sich niemand mehr drängte, ihn zu besuchen. Keiner konnte erraten, was Pawlin so sorgfältig in seinem ewig verschlossenen Zimmer behütete, aber man konnte es auch nicht ohne Aufklärung lassen, und so entdeckte das im Hause zu seiner Beobachtung gebildete Komitee bald, daß er außerordentlich sparsam lebte, sehr mäßig im Essen war und nichts außer Wasser und Milch trank, weshalb das Komitee erklärte, daß Pawlin ein » Molokane« sei. Dies gefiel allen sehr und befriedigte die allgemeine Neugier bezüglich der Persönlichkeit Pawlins so weit, daß schließlich alle in beruhigter Überzeugung der Ansicht waren, daß Pawlin aus religiösen Gründen so stolz sei. Wie in jedem Unsinn war auch hierin ein Körnchen Wahrheit, und dieses bestand darin, daß Pawlin in der Tat hochmütig und stolz war und nicht die geringste Annäherung seitens der Dienstboten im Hause gestattete. Das war auch verständlich: er stand äußerlich mit ihnen auf ein und derselben Stufe, hatte aber inbezug auf Charakter und Verstand nicht das geringste mit ihnen gemeinsam. Von seiner Vergangenheit war nur wenig bekannt. Es waren Gerüchte im Umlauf, daß er von Leibeigenen abstamme, bei einer vornehmen Person Kammerdiener gewesen sei und sich vor fünf Jahren freigekauft habe, wobei er seinem Herrn fast ganze tausend Rubel Silber für seine stolze, strenge Seele habe bezahlen müssen. Aber diese Gerüchte fanden nicht überall Glauben. Man glaubte lieber an Erfindungen, wie, daß Pawlin einen Postwagen beraubt, dabei sechs Postillone erschlagen und sich falsche Papiere verschafft habe, mit denen er auch als Portier lebte. In seiner verschlossenen Kammer hütete er natürlich die unermeßlichen Schätze der beraubten Post. Übrigens erzählten dergleichen selbstverständlich nur Außenstehende. Pawlin selbst sprach niemals über seine Vergangenheit. Sein Leben ging gleichmäßig, wie mit der Uhr abgemessen dahin: am frühen Morgen trat er in den Hausflur hinaus, scheuerte ihn und kehrte dann in sein Zimmer zurück, wo er Tee oder Kaffee aus einem ganz besonders gestalteten, kleinen Samowar trank, dessen Konstruktion und Gebrauchsweise für alle ein Geheimnis und ein Gegenstand ungestillter Neugier blieb. Hierauf trat Pawlin in Livree aus seiner Kammer und stieg zur Tante hinauf: dort erstattete er seinen Bericht, oder es ging ein Gespräch vor sich, über das natürlich niemand etwas Glaubwürdiges wußte und alle den unwahrscheinlichsten und unmöglichsten Unsinn klatschten. Diese Unterredung dauerte etwa eine Stunde; danach erschien Pawlin wiederum auf der Treppe, aber schon nicht mehr mit leeren Händen, sondern mit dem Hausbuch, das er auf den mit Wachstuch überzogenen Tisch legte; hierauf band er die Schärpe um, nahm den Stab in die Hand und öffnete die Haustüre. – Nach dieser Zeremonie setzte er sich in den breiten, mit rotem Saffian überzogenen Sessel und begann das Wohnungsbuch des Hauses zu studieren, aus welchem er sich mit Bleistift Notizen in ein besonderes Heftchen machte. Damit beschäftigte sich Pawlin bis zehn Uhr. Mit dem letzten Glockenschlag der zehnten Stunde lehnte er den Stab an eine Säule, vertauschte den Dreimaster mit einer betreßten Mütze, schritt in dieser kleinen Uniform durch das Tor über den Hof und klopfte im Vorübergehen schweigend an die Hausmeistertüre. Auf dieses Zeichen sprangen sofort zwei stämmige Burschen heraus, der eine mit einem Beil, der andere mit Hammer und Zange; die beiden verneigten sich tief vor ihm, er erwiderte den Gruß mit einem stummen Nicken und ging weiter. Die mit Beil und Zange bewaffneten Hausknechte folgten ihm in achtungsvoller Entfernung. Pawlin richtete seine Schritte dorthin, wohin ihn das Wohnungsbuch wies, das er aufgeschlagen in der Hand trug.
Ich werde kaum imstande sein, Ihnen einen schwachen Begriff davon zu geben, was für einen Eindruck dieser morgendliche Rundgang Pawlins mit den beiden ihm folgenden Liktoren auf alle im Hause machte. Aus allen Fenstern der langen, den Innenhof umgebenden Flügel, wo die armen Mieter wohnten, folgten Pawlin bald zornige, bald verächtliche, am häufigsten jedoch beunruhigte Blicke. Nicht selten tönten hinter ihm Schimpfworte und giftige Spottreden, am häufigsten aber wieder Verwünschungen und schluchzendes Weinen. Pawlin kümmerte sich weder um das eine, noch um das andere. Er vollendete seinen Gang, wie ein leuchtender Planet inmitten der ihn umgebenden Sterne seinem Bewegungsgesetz zufolge, und äußerte weder Zorn noch Mitleid. Dieser Rundgang bedeutete, daß Pawlin von den armen Inwohnern die fällige Monatsmiete erhob. Die Tante hatte in alle inneren Flügel kleine Wohnungen eingebaut, mit der begründeten Berechnung, daß kleine Wohnungen mehr einbringen als große, weil sie von armen Leuten bewohnt werden, deren es mehr gibt als reiche, und die außerdem keine Ansprüche auf Geschmack und selbst auf Reinlichkeit erheben dürfen. Weshalb aber der Rundgang Pawlins so viel Furcht und Schrecken einflößte, das werden wir gleich sehen, wenn wir ihm auf einer der engen, dunklen Treppen folgen, die er jetzt in Begleitung seiner Assistenten hinaufsteigt. Dort bleibt er an einer ihm gut bekannten Türe stehen und läutet. Es wird ihm nicht sogleich geöffnet, aber er ist geduldig und belästigt niemand; er hört, wie drinnen geflüstert wird, wie man hin und her läuft, etwas versteckt und weint – und steht ruhig vor der Türe, aber dann läutet er ein zweites Mal, nicht besonders stark, aber so respekteinflößend, daß man die Türe nicht länger verschlossen halten kann und ihm, wenn auch widerwillig, öffnet. Fawlin nimmt die Mütze ab und geht mit seinem Buche ruhig hinein, während seine Begleiter auf dem Treppenabsatz warten. Wenn er drei Minuten später heraustritt, so werden Sie unweigerlich sehen, wie er etwas in den breiten Aufschlag seiner bunten Livree steckt; es ist das Geld für die Hausbesitzerin; dann geht er weiter in eine andere Wohnung, wo heute ebenfalls der Termin für die monatliche Vorausbezahlung ist. Die Hausknechte folgen ihm wieder mit Beil und Zange auf den Fersen und warten auf seine Anordnungen. Alle warten auf seine Anordnungen und beten zu Gott, daß sie nicht erfolgen. Nun, was sind das für Anordnungen? Da kommt Pawlin aus einer Wohnung, ohne etwas in seinen Rockaufschlag zu stecken, er nickt nur mit dem Kopf, und gleich darauf tauchen in einem der Fenster dieser Wohnung die Köpfe seiner beiden Begleiter auf; Beil und Zange arbeiten mit unbeschreibbarer Geschwindigkeit und Gewandtheit, der Fensterrahmen verschwindet, und aus der fensterlosen Öffnung dringt das Schreien einer Frau und das Weinen von Kindern. Aber Pawlin geht weiter, und sein Rundgang äußert sich irgendwo wieder in einem verschwundenen Fenster. Und wieder folgt ihm Weinen und Schreien, und durch die leeren Fensteröffnungen entschwebt wie eine Rauchwolke die ungeschützte Zimmerwärme, welche die zum Frieren verurteilte Armut vergeblich durch an Haken aufgehängte Lumpen zu erhalten sucht ...
Je tiefer er in die Höfe dringt und je höher er die Treppen steigt, um so häufiger werden die schreckenerregenden Anordnungen Pawlins. Ich wollte noch sagen »und um so energischer«, aber bei Pawlin war alles energisch.
Nachdem er alle Türen abgegangen war, an denen er heute klopfen mußte, trat er den Rückweg an, die Hausknechte folgten ihm und trugen die ausgehängten Rahmen, die Pawlin eigenhändig in einen besonderen Verschlag unter seiner Treppe einschloß. Dann setzte er sich ruhig in seinen hohen Sessel mit dem Bronzedrachen auf der Rückenlehne und begann die »Nordische Biene« und die anderen Zeitungen zu lesen, die im Hause gehalten wurden und die unbedingt erst durch Pawlins Hände gingen. Diese Lektüre interessierte ihn augenscheinlich sehr, und er widmete ihr jede freie Minute. Hatte er die Zeitungen alle gelesen und sie darauf an ihre Abonnenten verteilt, so machte er sich daran, Bücher zu lesen, und zwar waren es vorwiegend oder fast ausschließlich übersetzte französische Romane, die er übrigens in seinem Stolz von niemand erbat, sondern in einer Leihbibliothek abonnierte.
Bei dieser Beschäftigung störten ihn außer fremden Besuchern, denen er in seiner Eigenschaft als Portier den einen oder anderen Dienst erweisen mußte, auch noch andere Besucher – es waren die Mieter, deren Wohnungen er am Morgen durch die ausgehobenen Fenster einer verstärkten Ventilation unterworfen hatte.
Brachte der unpünktliche Mieter Geld, so nahm es Pawlin schweigend in Empfang, vermerkte es im Wohnungsbuch und zog an einer Klingel; daraufhin erschienen die Hausknechte, brachten schweigend die von ihm bezeichneten Fenster aus dem Verschlag und schickten sich an, sie wieder einzusetzen. Kam dagegen der Mieter oder die Mieterin nur mit Beschwerden, Klagen oder der Bitte um Nachsicht, so zog er wieder schweigend die Klingel, die Hausknechte erschienen – und der Bittsteller wurde entfernt, ohne auf seine Klagen auch nur einen Ton als Antwort vernommen zu haben.
So diente bei meiner Tante der berühmte Pawlin, dem später einmal das Schicksal genau so mitspielte, wie er den Mietern im Hause meiner Tante.
Mein Mütterchen und ihre Schwester Olga Petrowna, die sich infolge der Kränklichkeit Mamas meiner Erziehung angenommen hatte, bewohnten im Hause Anna Ljwownas eine kleine Wohnung an einer der Treppen des zweiten Hofes. Ich erinnere mich nicht mehr, wieviel wir für die Wohnung zahlten, und kann auch nicht sagen, was mit uns geschehen wäre, wenn wir einmal die Miete an dem Terminstage nicht bezahlt hätten. Wahrscheinlich hätte Anna Ljwowna, die keine Nachsicht gegen ihren verschollenen Gatten gekannt hatte, auch gegen dessen Schwester, meine Mutter, die es Gott weiß weshalb vorzog im Hause ihrer Schwägerin zu leben, keine Schwäche gezeigt. Schon beim ersten Schritt begegnete uns hier eine bedenkliche Unannehmlichkeit, bei der wir zuerst Pawlins Bekanntschaft machten. Wir siedelten am Weihnachtsabend in das Haus der Tante über. Der Tag war frostig kalt und, wie er um diese Jahreszeit in Petersburg zu sein pflegt, sehr kurz, so daß es schon dämmerte, als die Wagen mit unseren bescheidenen Möbeln in den Hof einfuhren. Mütterchen saß inzwischen bei Anna Ljwowna, während ich und Tante Olga, die Anna Ljwowna nicht ausstehen konnte, in der leeren Wohnung auf und ab gingen. Kaum waren unsere Möbel angekommen, als Mama ebenfalls in die Wohnung kam, um Anordnungen zu geben, wohin die Sachen gestellt werden sollten. Nach ihren Worten hatte ihr Anna Ljwowna selbst geraten, zu diesem Zweck herüberzugehen. So war sie gekommen und sagte zu den Leuten: »Tragt die Sachen herein!« Aber die Dienstleute schauten einander nur an, und hinter ihnen wurde die Gestalt Pawlins sichtbar, dem seine beiden Adjutanten mit den bekannten Instrumenten folgten.
»Was willst du, Väterchen?« fragte Mama.
»Ich bitte um das Geld für den Monat« antwortete Pawlin und schlug vor Mama sein Buch auf.
»Gut, Väterchen, gut,« erwiderte Mama mit verwandtschaftlicher Milde, »ich werde es morgen früh hinüberschicken«. Sie schob mit der Hand das Buch und Pawlin zur Seite und wandte sich an die Dienstleute. Diese rührten sich aber nicht. Pawlin lächelte unmerklich und erwiderte, daß er nicht bis morgen warten könne, sondern das Geld unbedingt sofort haben müsse.
Mama faßte dies als Unhöflichkeit auf und wurde ganz blaß vor dieser Kränkung.
Pawlin bemerkte es, und es war ihm sichtlich unangenehm. Er zog die Brauen zusammen und fügte mit etwas nervöser Ungeduld in der Stimme hinzu:
»Gnädige Frau, es ist bei uns so Sitte.«
»Vortrefflich, daß es bei dir so Sitte ist, aber du könntest doch, meine ich, dir überlegen ...«
Mütterchen fand in ihrem Zorn keine Worte mehr und stockte. Pawlin antwortete, an ihre letzte Bemerkung anknüpfend:
»Das kann ich wohl.«
»Du weißt, daß Anna Ljwowna für mich keine Fremde ist, sondern meine Verwandte?«
»Ich weiß es.«
»Du weißt es ... ja, was willst du denn dann noch?«
»Das Geld ... Sonst kann ich nicht erlauben, daß Ihre Sachen hereingetragen werden.«
»Wie, das kannst du nicht erlauben? Sollen die Sachen denn die Nacht über auf dem Hofe stehen bleiben und wir auf dem Fußboden schlafen?«
»Sie sollen auch nicht auf dem Fußboden schlafen, sondern sich von hier fortbemühen, sonst lasse ich sogleich die Fenster ausheben,« antwortete Pawlin; er machte wieder eine ungeduldige Bewegung mit den Brauen und fügte hinzu: »Bei uns ist es eben so Sitte.«
Die Dienstleute und die Fuhrleute, die unsere Sachen hergebracht hatten, begannen miteinander zu reden und unruhig zu werden. Pawlin stand mit seinem Buch im Vorzimmer und schenkte dem allen keinerlei Beachtung.
»Aber das ist doch lächerlich!« rief Mama aus. »Ich war eben bei Anna Ljwowna, und sie hat mir kein Wort davon gesagt, daß sie mit der Bezahlung nicht bis morgen warten kann. Ich habe bis jetzt bei ihr gesessen, und nun ist es zu spät geworden, um auf die Bank zu gehen und Geld zu holen ... Aber ... aber was ist das für Unsinn! Ich will mich durchaus nicht mit dir herumstreiten«, fügte mein aufgebrachtes Mütterchen hinzu und erklärte, daß sie sogleich zu Anna Ljwowna gehen werde.
»Das wird vergeblich sein,« antwortete Pawlin trocken.
»Nun, mein Guter, das ist doch nicht deine Sache.«
Voll Erregung nahm sie ein Tuch um und ging zur Hausbesitzerin. Inzwischen machte Pawlin, der seinen Posten nicht verlassen hatte, seinen Assistenten ein für uns unmerkliches Zeichen, und binnen einer Minute zog zu unserem nicht geringen Erstaunen aus dem Raum, der als Schlafzimmer für Mama bestimmt war, eine durchdringende Kälte. Ich war bis jetzt beschäftigt gewesen, den bunten Aufzug Pawlins zu mustern; nun sah ich mich um und merkte, daß die Hausknechte den einen inneren Fensterrahmen in den Händen hielten; in demselben Augenblick erschien von der anderen Seite Mama, zitternd vor Kälte und Entrüstung und sagte auf Französisch:
»Stelle dir vor, Olga, was ist diese Anna Ljwowna für eine Person? Denke dir nur: sie hat mich nicht empfangen!«
Die gute Tante Olga antwortete, daß sie das erwartet habe.
»Das ist ja schrecklich,« erwiderte Mama, »ich bin überzeugt, daß sie zu Hause ist, denn es ist noch keine Viertelstunde her, daß ich von ihr fortgegangen bin. Aber man sagte mir, sie sei zur Abendmesse gefahren. Wie kann sie zur Abendmesse fahren, wenn man in ihrem Hause die Verwandte ihres Mannes derartig beleidigt! Wir gehen fort von hier. Sollen sie nur alles auf den Hof werfen, aber ich will hier nicht wohnen, und mein Fuß wird nie mehr dieses Haus betreten. Zieh dich an, wir gehen in irgendein Gasthaus. Ich kann diesen Taugenichts keine Minute länger ansehen.«
Nachdem meine nervöse Mama dieses letzte Kompliment an Pawlins Adresse gerichtet hatte, begann sie voll Hast mir meinen warmen Mantel anzuziehen. Die Unruhe unter den Dienstleuten war noch größer geworden; die Hausknechte mit den ausgehobenen Fensterrahmen in den Händen lachten leise unter sich; unten schrien die Fuhrleute und murrten laut, daß man sie so lange nicht fortlasse, und in der Wohnung wurde es infolge der ausgehobenen Fenster immer kälter. Pawlin stand in seiner strengen Positur da, und auf seinem Gesicht machte sich nicht die geringste Unruhe bemerkbar. So seltsam Ihnen auch mein Vergleich erscheinen mag, er erinnerte mich mit einem Male an Goethe, dessen mächtige, bis zur Kälte ruhige Gestalt ich nach einem Stich kannte, der in meinem Kinderbuche eingeklebt war. Die kleinen Leiden der Menschen schienen Pawlin gar nicht zu berühren: er hatte nur die allgemeine Harmonie dessen, was sich ereignete und was er sah, im Auge.
Aber abgesehen von meinen Beobachtungen weiß ich nicht, womit diese lächerliche und verdrießliche Verlegenheit geendet hätte. Man würde uns wahrscheinlich hinausgejagt haben, wenn sich nicht Tante Olga in die Sache eingemischt hätte. Sie führte Mama etwas auf die Seite, sprach mit ihr französisch und überredete sie schließlich, daß durch ihre Laune, jetzt fortzugehen, nichts gewonnen sei, und daß wir der verehrten Anna Ljwowna damit nichts bewiesen, da sie derartige Beweise wahrscheinlich schon öfter gesehen hätte, ohne sich durch sie umstimmen zu lassen.
»Aber ich bin überzeugt, daß es nicht sie ist, sondern dieser Grobian!« meinte Mama schließlich, allmählich weich werdend.
»Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, daß es durchaus sie ist und nicht ›dieser‹, wie du ihn nennst, ›Grobian‹. Er scheint mir vielmehr ein recht guter und ehrlicher Mensch zu sein, der nur das ausführt, was ihm aufgetragen ist, und das achte und schätze ich,« entgegnete Tante Olga.
»Aber was sollen wir tun? Es ist lächerlich, mein Geld reicht nicht, ich habe vergessen, welches zu holen.«
»Wir werden es holen und bezahlen.«
»Wo? Jetzt ist die Bank geschlossen, es ist Abend, und wir haben hier keinen Bekannten (wir waren soeben aus der Provinz nach Petersburg übergesiedelt). Ich kann das Geld doch nicht von Anna Ljwowna nehmen, um sie damit zu bezahlen.«
»Nein, von ihr nicht,« sagte Tante Olga. Sie trat an Pawlin heran, zog zwei Brillantringe von ihren Fingern und fragte ihn: »Können Sie nicht dies bis übermorgen von uns als Pfand nehmen? Übermorgen werden wir Geld holen und es auslösen.«
»Gnädigste, ich muß der Hausfrau sofort das Geld bringen,« antwortete Pawlin mit sichtlich tiefer Achtung für Olga.
Der Tonfall seiner Antwort drückte ihr gleichsam seinen Dank dafür aus, was sie über ihn zu Mama gesagt hatte.
»Nun, dann schicken Sie diese Dinge in irgendeinen Laden, um sie zu verpfänden.«
Pawlin dachte nach; dann winkte er einem seiner Hausknechte mit den Augen und befahl ihm, den Wunsch Olgas auszuführen und die Ringe bei einem ihm bekannten Händler zu versetzen, dessen Namen er ihm nannte und dann vorsichtshalber nochmals wiederholte.
Bis der abgesandte Hausknecht mit mehr Geld zurückkam, als wir für diese Angelegenheit brauchten, half Pawlin schweigend dem anderen, die ausgehängten Fensterrahmen wieder einzusetzen. Nachdem er das Geld für die Wohnung erhalten hatte, verbeugte er sich höflich und ging.
Tante Olga, die nicht nur viel Verständnis und Güte besaß, sondern auch einen ausgezeichneten und heiteren Charakter und dazu noch viel Witz hatte, begann gleich nach Pawlins Weggang heiter über unsere eben überwundene Verlegenheit zu scherzen und brachte schließlich nicht nur Mama und mich in die fröhlichste Stimmung, sondern sogar unsere Dienstboten und die Fuhrleute, die, während sie jedes Stück in die Zimmer trugen, sich die Gelegenheit nicht entgehen ließen, verschiedene Witze über Anna Ljwowna zu machen, die sie mit Teufelin, alte Hexe und anderen schmeichelhaften Benennungen titulierten.
Binnen einer Stunde standen alle unsere Möbel auf ihrem Platz, die kleineren Sachen waren mehr oder weniger aufgeräumt, und die Wohnung war so weit wie möglich in Ordnung. Nach einer weiteren Stunde, die die Mama, die Tante und ich bei der Abendmesse verbracht hatten, fanden wir unsere Wohnung schon durchwärmt vor, und dann schliefen wir in unseren frischen Betten dem Feiertag entgegen. Einen Tag später löste Tante Olga selbstverständlich die Ringe aus, und wir lebten uns hier ein, freilich nach den Unannehmlichkeiten, die uns beim ersten Schritt begegnet waren, ohne rechten Entschluß, lange dazubleiben. Mama sprach davon, daß wir nicht länger als einen Monat hier bleiben wollten, und wenn sie noch früher eine passende Wohnung fände, so würden wir auch früher von hier ausziehen. Niemand widersprach ihr, aber zu Mamas größtem Verdruß fand sich nirgends eine andere geeignete Wohnung. Die, die wir jetzt bewohnten, war warm, trocken und paßte uns ausgezeichnet. Dazu kam, daß das düstere Haus der Tante Anna Ljwowna, dank dem darin herrschenden strengen Geiste Pawlins, sich durch Ruhe und Sauberkeit auszeichnete. Tante Olga machte Mama darauf aufmerksam und brachte sie schließlich dahin, daß sie sich nicht mehr ärgerte und jedenfalls nicht vor Sommer von hier fortzuziehen gedachte.
»Wir strafen sie damit nicht«, sagte Tante Olga, auf die verehrte Anna Ljwowna anspielend, »sondern schaffen uns nur selbst Mühe und Verluste. Ist sie denn das wert?«
Mütterchen stimmte mit der Zeit bei, daß Anna Ljwowna es nicht wert sei und entschloß sich, noch einen Monat in der Wohnung zu bleiben, aber nur dann, wenn der »Grobian«, d.h. Pawlin, ihre Ruhe nicht mehr störe und sich nie mehr in der Wohnung sehen lasse.
Tante Olga verstand es so einzurichten und brachte schon vor dem Tage, an dem wir zum zweiten Male die Wohnungsmiete zahlen mußten, das Geld selbst in die Portiersloge und händigte es Pawlin ein.
Weder Mama noch Tante Olga unterhielten mit Anna Ljwowna irgendwelche Beziehungen, und auch ich fühlte bei meiner damaligen Unerfahrenheit eine unüberwindliche Abneigung gegen sie. Wir lebten ganz wie fremde, der Hausfrau völlig unbekannte Leute im Hause, was uns durchaus nicht zur Last fiel und auch sie wahrscheinlich wenig störte. – Aus unseren Fenstern sahen wir, wie Pawlin von Zeit zu Zeit seine verhängnisvollen Rundgänge durch das Haus machte, um die Miete einzutreiben, und wie dann in der einen und anderen Wohnung leere Fensterhöhlen gähnten. Aber das betraf uns nicht unmittelbar, und wir gewöhnten uns rasch daran; ja wir begannen sogar ein wenig darüber zu lachen. Was war zu tun? – so groß ist eben die Macht »des Ungeheuers Gewohnheit«. Wir lachten nicht über das Mißgeschick der frierenden Mieter, sondern über diese Methode, und wie sie mitten in der bevölkerten Stadt angewendet werden konnte, als wäre es eine in der Steppe liegende Herberge. Der vornehme, bunte Pawlin mit Goethes Physiognomie und Positur, die Hausknechte, die mit ihren Werkzeugen an Steubens Kreuzigungsbilder erinnerten, das rasche Ausheben und Wiedereinsetzen der Fenster und die völlige Gleichgültigkeit aller dieser Willkür gegenüber, all das hatte in der Tat etwas Tragikomisches an sich. Zu uns kam Pawlin nicht, da Tante Olga am Ende des zweiten Monats sein Erscheinen wieder abwendete, indem sie ihm am Vorabend des Termins das Geld persönlich in die Portiersloge brachte; ebenso bezahlte sie auch am Vorabend des vierten Monats, und schließlich wurde diese Ordnung bei uns zur ständigen Einrichtung, dank welcher wir in der guten und bequemen Wohnung weiter lebten und ganz vergaßen, daß das Haus Anna Ljwowna gehörte, der wir den originellen Weihnachtsabend zu verdanken hatten. Wir erinnerten uns nur an sie, wenn wir aus unseren Fenstern in ihren Paradezimmern Licht sahen, und auch dann dachten wir nur gleichgültig: ach, sie hat Gäste, oder etwas ähnliches. Was Pawlin betrifft, so weiß ich selbst nicht, wie es zugegangen war, daß sein Name, der bei uns lange nicht genannt werden durfte, mit einem Male nicht nur ohne Erbitterung und Zorn, sondern sogar mit einer Art Hochachtung ausgesprochen wurde.
Wenn die gute Meinung, die sich bei uns über Pawlin gebildet hatte, ihm etwas nützen konnte, so war er dafür Tante Olga zu Dank verpflichtet, die er bei jeder Begegnung mit grenzenloser Ehrerbietung behandelte und deren Wohlwollen er auch erwarb. Mütterchen scherzte, daß Tante Olga das Wunder des Daniels mit den wilden Tieren vollbracht habe, indem sie sich Pawlin zum Sklaven gemacht hätte. In diesem Scherz war ein Körnchen Wahrheit: Pawlin verehrte die Tante, wenn man auch zu seiner Ehre sagen muß, daß er dieser Verehrung nur unter vollster Wahrung seiner unerschütterlichen Würde Ausdruck gab. Er verbeugte sich nur viel tiefer vor ihr als vor den übrigen und machte ihr noch respektvoller Platz als seiner Herrin Anna Ljwowna selbst, die er nach den Beobachtungen der Tante nicht ausstehen konnte und verachtete. Ich weiß zwar nicht, worauf sie ihre Gründe und Schlüsse aufbaute, da sie nie mit Pawlin sprach, aber man spürte etwas Wahres daran. Sie ersehen daraus, daß wir uns ständig irgendwie mit Pawlin beschäftigten: er flößte uns allen Interesse ein, auch mich nicht ausgenommen, der ich mich an seiner bunten Livree nicht satt sehen konnte, und Mama, der er durch die Verachtung gegen Anna Ljwowna, die Tante Olga an ihm wahrgenommen hatte, sympathisch zu werden begann.
So lebten wir eine ziemliche Zeit im Hause Anna Ljwownas und beobachteten Pawlin aus der Ferne, als sich mit einem Male ganz unerwartet ein Anlaß einstellte, seine nähere Bekanntschaft zu machen. Und zwar hing es damit zusammen, daß Mama mit jemand aus der Dienerschaft unzufrieden war und einen neuen Diener dingen wollte. An Stelle des Fortgegangenen wurde ein anderer Diener gesucht und engagiert, der am nächsten Tag kommen und die Dienstobliegenheiten übernehmen sollte; am vorhergehenden Abend jedoch erhielt Tante Olga durch einen der Hausknechte einen Brief auf ihren Namen. Die ungelenke Handschrift war ihr nicht bekannt – es war eine von jenen, wie sie in Rußland die Leute schreiben, die ohne Lehrer lesen und schreiben gelernt haben; im Umschlag befand sich ein sauber auf reines Papier geschriebener Brief in derselben autodidaktischen Handschrift, der soweit ich mich erinnere, wörtlich folgenden Inhalt hatte: »Euer Hochwohlgeboren Olga Petrowna! Die gnädige Frau, Ihre Schwester, haben einen Diener engagiert (folgt der Name), aber der Engagierte ist ein leichtsinniger Mensch und deshalb unzuverlässig, worüber ich die Kühnheit habe, Ihnen der Vorsicht halber Mitteilung zu machen.« Unterschrift: »Portier Pawlin Pjewunow.« Die Tante zeigte den Brief Mama, die der Warnung Pawlins Folge zu leisten beschloß. Dem schon engagierten leichtsinnigen Diener wurde eine Absage geschickt, und als Mama ihren gewohnten Spaziergang antrat und im Hofe Pawlin begegnete, dankte sie ihm für seine Freundlichkeit. Der merkwürdige Mensch nahm seinen betreßten Hut ab und antwortete Mama mit einer stummen, aber höflichen Verbeugung. – Abends beim Tee sagte Mama zu Tante Olga:
»Nun, wir brauchen trotzdem einen Diener. Herr Pawlin hat den einen schlecht gemacht, aber wo wir einen besseren finden sollen, das hat er uns nicht gezeigt.«
»Das ist auch nicht seine Sache«, antwortete die Tante. »Weiß ich; ich meine, er könnte uns einen empfehlen, wenn er wollte.«
»Hast du ihn vielleicht darum gebeten?«
»Nein. Er wollte mit mir anscheinend nicht sprechen, er sah mich mit einer mindestens ministeriellen Großartigkeit an und verneigte sich. Eine andere Sache wäre es,« scherzte sie, »wenn du ihn darum bitten würdest: für dich würde er es sich bestimmt als große Ehre anrechnen, uns diesen Dienst zu erweisen.«
Die Tante nahm den Scherz mit der ihr eigenen Heiterkeit auf und erwiderte ebenso:
»Schön, ich werde ihn bitten.«
Am anderen Tage ging die Tante gegen Abend aus und trat mit mir vor die Portierloge, wo Pawlin seiner Gewohnheit gemäß allein in seinem Sessel saß und vor seiner grünen Lampe in einem Buche las.
Als er die Tante sah, legte er sogleich das Buch auf den Tisch, verbeugte sich höflich, richtete seine hohe Gestalt gerade auf und nahm die Positur Goethes an.
Tantchen trug ihm ihre Bitte vor. Pawlin zog die Brauen zusammen, dachte nach und antwortete:
»Zurzeit weiß ich keinen zuverlässigen Diener für Sie.«
»So können Sie uns also keinen empfehlen?«
»Ich wage es nicht, weil ich keinen entsprechenden im Auge habe.«
Damit gingen wir fort, und als wir nach Hause zurückkamen, machte sich Mama nicht wenig über die Tante lustig, daß ihre Macht über Pawlin Pjewunow keine Frucht getragen habe und daß er doch ein grober Kerl sei. Aber die Tante nahm ihn in Schutz und sagte, daß sie in seiner Absage nur einen neuen Beweis seiner Zuverlässigkeit und Umsicht sehe. Sie meinte, er sei vorsichtig, weil er eben ein zuverlässiger Mensch sei. Und wenn er jemand kennen würde, den er empfehlen könnte, so würde er ihn uns selbstverständlich empfehlen.
Die Tante irrte sich nicht: als sie am nächsten Morgen aufstand, wurde ihr wieder ein kurzer Brief gebracht, in dem Pawlin sie in lapidarem Stile bat, noch zwei Tage mit dem Mieten eines neuen Dieners zu warten, da er Nachricht über einen ihm bekannten »zuverlässigen Diener« erhalten habe, mit dem er bei derselben Herrschaft im Dienst gewesen sei.
Nun zeigten sich die wirklichen Gefühle Mamas zu Pawlin: sie sagte nicht mehr, daß er ein Grobian sei, sondern freute sich sehr, einen Diener zu bekommen, der mit ihm aus einer Schule war. Sie erklärte sich einverstanden, auf den von Pawlin empfohlenen Menschen sogar einen ganzen Monat zu warten. Aber dies war durchaus nicht notwendig, da die erwartete Person schon am anderen Tag erschien, sofort angenommen wurde und ihren Dienst als bescheidener Lakai unseres bescheidenen Haushalts antrat.
Der Mensch, den uns Pawlin empfohlen hatte, war etwas älter als er, aber viel offenherziger und gutmütiger. Er war ein ausgesprochen »guter Kerl«, hatte einen heiteren, offenen Charakter und zeichnete sich durch eine ungewöhnliche Sanftheit und Gefügigkeit aus, durch die er sich Vertrauen und Zuneigung bei allen erwarb; natürlich trug auch Pawlins Empfehlung nicht wenig dazu bei, der uns damit den ersten Dienst erwiesen hatte.
Bald darauf erwies er uns einen zweiten: Wir schickten uns an, den Sommer über aufs Land zu gehen und waren betrübt, daß wir den uns lieben Diener in der Stadtwohnung zurücklassen sollten; und was geschah? Kaum hatten wir beim Abendtee darüber gesprochen, als Tantchen am nächsten Morgen wieder eine Epistel erhielt. Pawlin teilte ihr in demselben lapidaren Stile mit, daß es durchaus nicht notwendig sei, jemand den Sommer über in unserer Wohnung zurückzulassen, da er selbst, Pawlin, sie »genügend, ohne jede Beschwerlichkeit beaufsichtigen könne«. Es war sehr verlockend, dieses Anerbieten anzunehmen, da es unsere Angelegenheit ausgezeichnet in Ordnung brachte, und die Frage drehte sich nur mehr darum, wie man Pawlin für seine Aufsicht entlohnen sollte. Zur Beratung über diese Frage wurde auch unser Diener zugezogen, aber er legte entschieden Protest ein:
»Pawlin Petrowitsch ist ein ehrgeiziger Mensch,« sagte er, »er tut dies ehrenhalber, und durch eine Bezahlung kann man ihn schrecklich beleidigen.«
Dabei blieb es auch: weder Mama noch Tante Olga konnte sich etwas ausdenken, wie man sich dem guten Pawlin erkenntlich zeigen könnte.
Pawlin wurde jetzt bei uns »der gute« genannt. So hatte er in unseren Augen seine Reputation zu Anfang der nun beginnenden Epoche geändert, in der er sich im Kampf mit Gefühlen zeigen mußte, die ihm allem Anscheine nach gar nicht eigen waren.
Wir reisten ab und fanden bei unserer Rückkehr die während unserer Abwesenheit unbewohnt gebliebene Wohnung in peinlichster Ordnung vor; in die uns gegenüberliegende Wohnung waren jedoch neue Mieter eingezogen. Es waren dies eine junge Dame mit ihrer sehr alten Mutter und einer sechsjährigen Tochter, einem ungewöhnlich hübschen Kinde. Wir hatten mit diesen neuen Nachbarn natürlich nicht das geringste zu tun, aber Mamas und Tante Olgas Aufmerksamkeit wurde unwillkürlich auf einen gemeinsamen Familienzug in den drei Gesichtern unserer neuen Nachbarn gelenkt: alle drei standen in verschiedenen Lebensaltern, aber in ihren Gesichtern, in ihrer erlöschenden, blühenden und knospenden Schönheit lag gleichsam eine angeborene Trauer und eine fatale Vorherbestimmung zum Unglück.
Tante Olga trug vor allen Dingen Sorge, zu erfahren, ob sie Not litten und beruhigte sich erst dann wieder, als sie feststellte, daß die Familie einen Ernährer hatte. Es stellte sich nämlich heraus, daß die junge Dame einen Gemahl hatte, der als Regimentsarzt diente, und daß sie ohne Not zu leiden lebten. Tantchen bekreuzigte sich und sagte: »Gott sei Dank!« Dieses »Gott sei Dank« bezog sich auf unsere Nachbarn und auch auf die Tante selbst, die in der ersten Nacht nach unserer Rückkehr in die Stadt geträumt hatte, daß Pawlin und seine Henkersknechte zu unseren Nachbarinnen gekommen seien und aus deren Fenstern alles in den Hof hinuntergeworfen hätten. Zur selben Zeit fuhr unten ein Sarg aus dem Hofe ab, und auf dem Sarge saß das hübsche Kind, mit den Zügen voll unabwendbarem Leid und Trauer. Hinter diesem Zuge ging Pawlin in seiner bunten Livree, mit Schärpe und Hut. In der einen Hand trug er den glänzenden Stab und eine Fackel und in der anderen – seinen eigenen abgeschnittenen Kopf; um ihn herum tauchten aber aus der Erde rosafarbene Vögel hervor. Sie stiegen schnell in die Höhe, wobei sie mit den Flügeln ein unerträgliches Pfeifen erzeugten, aber hoch oben fielen von ihren Flügeln weiße Federchen herunter, die sich, wie sie sich der Erde näherten, in Asche verwandelten. Einen Augenblick später war von der ganzen bunten Ausstattung Pawlins nichts mehr übrig, und er stand ganz schwarz, wie ein verbrannter Baumstumpf da. Jetzt hatte er auch wieder einen Kopf, aber einen so entsetzlichen, daß die Tante erschrak, aufschrie und erwachte, doch mit der Überzeugung, daß sie einen prophetischen Traum gesehen habe, der nicht ohne Folgen bleiben werde.
Die Tante irrte sich auch nicht: ihr Traum ging in Erfüllung, und den unanfechtbaren Pawlin erwartete eine schwere und verhängnisvolle Prüfung.
Es begann damit, daß wir, als wir an dem bitterkalten Neujahrsmorgen aufwachten, sahen, daß in der Wohnung unserer neuen Nachbarinnen drei Fenster herausgenommen waren. Mütterchen und die Tante begriffen sofort, daß dies die Arbeit unseres »guten« Pawlin war, und seufzten. Wie ich Ihnen schon sagte, herrschte draußen eine bittere Kälte, und man konnte sich unschwer vorstellen, was die armen Frauen jetzt durchmachen mußten, deren Wohnung Pawlin mitten im Winter in sommerlichen Zustand versetzt hatte. Offenbar mußten sie in ihren Zimmern ohne Fensterscheiben vor Kälte erstarren. Mama geriet infolge ihrer Nervosität in einen schrecklichen Zorn; mehrmals nannte sie den »guten« Pawlin einen Henker, einen Juden und einen Räuber, sie schickte sogleich das Mädchen zu unseren Nachbarinnen und ließ sie bitten, sie möchten ihr die Gefälligkeit erweisen und für eine Zeitlang eines unserer Zimmer beziehen, das auch in einem Nu zu ihrem Empfange hergerichtet war. Das Mädchen kehrte mit der Antwort zurück, daß drüben die gnädige Frau selbst nicht zu Hause sei – sie sei irgendwohin fortgegangen; die alte Mutter dagegen lasse für die Teilnahme danken, weigere sich aber entschieden, den Vorschlag Mamas anzunehmen. Die Absage der Greisin war damit motiviert, daß sie ihre Tochter erwarte und überzeugt sei, daß diese bald mit Geld zurückkommen werde. Sie würden bezahlen, und dann wäre alles wieder in Ordnung. Mama schickte eine zweite Botin hinüber und ließ bitten, man möchte wenigstens das kleine Mädchen zu uns herüberschicken, dem infolge der aus den Rahmen gehobenen Fenster eine Erkältung drohe. Diese Gesandtschaft war erfolgreicher: ich sehe noch, als wäre es soeben geschehen, wie man das sechsjährige Mädchen mit dem hübschen, aber gleichsam durch ein Siegel des Unglücks verdüsterten Gesicht zu uns brachte. Es gibt solche Gesichter, ich wenigstens bin ihnen mehrere Male begegnet. Die Kleine begriff damals die schwere Lage ihrer Familie offenbar noch nicht ganz, und als man sie von ihrem wattierten Seidenmäntelchen, in dem man sie in unser Vorzimmer gebracht hatte, befreite, war sie darauf bedacht, mit einer gewissen Grazie einzutreten und einen Knicks zu machen, was ihr auch vollauf gelang. Es war ihr anzusehen, daß man für ihre äußere Wohlerzogenheit und Manieren Sorge trug; übrigens waren damals Kinder, die weder manierlich eintreten, noch sich verbeugen konnten, noch nicht in Mode gekommen, und Fröbelsche Mütter gab es damals bei uns noch nicht.
Als wir die Kleine, welche Ljuba hieß, erwärmt hatten, kam ihre Mutter, auf deren Namen ich mich jetzt nicht mehr besinne, nach Hause. Unsere Dienstboten hatten gesehen, wie die junge Dame in ihre Wohnung gegangen war, aber zu unserem größten Erstaunen beeilte sie sich nicht, zu uns herüberzulaufen, oder nach ihrer Tochter zu schicken, und man brachte auch die ausgehobenen Rahmen nicht zurück, wie es in ähnlichen Fällen, wenn der Zahlungsrückstand erpreßt war, zu geschehen pflegte ... Das waren schlechte Anzeichen: man konnte unschwer erraten, daß unsere arme Nachbarin ohne Geld heimgekommen war. Mutter und Tante Olga hatten dies auch augenblicklich verstanden, und die letztere eilte unverzüglich in die zerstörte Wohnung hinüber, kehrte eine Minute später wieder zurück, öffnete ihre kleine Schatulle und lief von neuem zu den Nachbarinnen. Zehn Minuten später bewegte sich die bekannte Prozession über den Hof: die Hausknechte, die Fensterrahmen, Hammer, Zange, Nägel, der Blechkübel mit dem Kitt und zuletzt der bunte Pawlin mit seinem mich auch jetzt noch zittern machenden Zinsbuch. Es war leicht zu erraten, daß die gute Tante Olga das nötige Geld aus ihrer eigenen Schatulle geholt hatte und daß unsere Nachbarinnen es angenommen und ihre Wohnung bezahlt hatten, die auch unverzüglich darauf in Ordnung gebracht und geheizt wurde. Da aber die Zimmer, die einige Stunden ohne Fenster gestanden hatten, erheblich abgekühlt waren, ließen Mama und die Tante nicht nur die kleine Ljuba nicht nach Hause, sondern bewegten auch deren Mutter, für den ganzen Tag zu uns herüberzukommen. Man bat auch Ljubas Großmutter mitzukommen, aber die Alte dankte höflich, wollte durchaus nicht kommen und blieb in der Wohnung zurück. Die Mutter Ljubas saß bis Mitternacht bei uns und erzählte bitter weinend, daß ihr Mann in einem der damals in Ungarn stehenden russischen Regimenter als Arzt diene, daß sie keinerlei Vermögen besäßen, aber daß sie, bevor ihr Mann mit dem Regiment ins Feld gezogen war, ohne Not gelebt hätten. Anfangs habe er Mittel zu ihrem Unterhalt geschickt, aber mit einem Male, seit zwei Monaten habe er nichts mehr von sich hören lassen, und sie hätten seit dieser Zeit weder eine Nachricht, noch ein Lebenszeichen von ihm gehabt.
»Gott weiß,« sagte die Dame schluchzend, »vielleicht ... ist er schon nicht mehr am Leben, oder in Gefangenschaft, oder es ist ihm etwas noch Schlimmeres widerfahren – und dann ... mein armes Kind ... mein armes Kind, was wird mit ihm werden?«
Dabei schaute sie auf Ljubotschka, die ich unterhielt. Ich hatte sie in einen Sessel gesetzt und kniete vor ihr. Die Mutter wandte sich rasch weg, bedeckte die Augen mit der Hand und sagte aufseufzend:
»So dunkel, so dunkel. Ich kann nicht in diese Dunkelheit schauen!«
Sie begann plötzlich zu zittern, stürzte auf das Kind zu, drückte es an ihre Brust und erstarrte.
Tante Olga wußte mehr: sie wußte, daß der Ernährer dieser Waisen nicht mehr auf dieser Erde war. Entweder hatte ihn eine ungarische Kugel getroffen oder das Fieber umgebracht. Die Großmutter wußte es und hatte es Tante Olga gesagt, damit sie ihr behilflich sei, der armen Witwe die verhängnisvolle Nachricht zu eröffnen und das Schreckliche ihrer hilflosen Lage begreiflich zu machen.
Die Tante führte wohl diesen traurigen Auftrag irgendwie aus, obwohl ich nicht weiß, wie und wo sie es tat, weil meine nervöse und empfängliche Mama nach diesem Tage um nichts in der Welt in unserer Wohnung bleiben wollte und wir in der Tat so bald wie möglich in ein anderes Haus zogen, wo es weder einen Pawlin noch grausame Hausordnungen gab, die er mit solcher Strenge ausführte.
Mama ging, wie sehr viele für Eindrücke empfängliche Frauen, vor allem Szenen aus dem Wege, die sie durch ihre Hartherzigkeit erregten, und bemühte sich, sie nicht zu sehen. Die Nerven Tante Olgas waren dagegen stärker, und sie scheute sich auch nicht, dem Leid ins Angesicht zu schauen; so verließ sie auch unsere Nachbarinnen nicht und besuchte sie von unserer neuen Wohnung aus. Das feine Zartgefühl der Tante erlaubte es ihr wahrscheinlich nicht, sie zu fragen, ob sie für den kommenden Monat bezahlen könnten, aber sie wachte darüber, wie bei ihnen der Tag des neuen Termins vorübergehen werde. Ich erinnere mich, wie besorgt und mit welch großherziger Unruhe sie den Tag im Gedächtnis behielt, in der Sorge, ihn zu übersehen, und wie sie, als er dann anbrach, am frühen Morgen in das Haus eilte, wo unsere armen Nachbarinnen in der Gewalt Pawlins zurückgeblieben waren. Sie lief in den Hof und sah gleich zu ihren Fenstern hinauf ... die Rahmen waren an ihrem Platze. Die Tante beruhigte sich. Es verging noch ein Monat, die Tante gab wieder genau so auf den Termin acht, eilte wieder mit dem Geld in der Tasche zu unseren ehemaligen Nachbarinnen und traf wiederum alles in voller Ordnung und Ruhe an. Die Wohnung war wenigstens warm, wenn sie auch sichtlich allmählich leerer wurde. Im dritten Monat starb bei den armen Mietern die alte Großmutter ... Es gingen seltsame Gerüchte: man erzählte, sie habe sich mit Phosphorstreichhölzern vergiftet, und zwar bei voller Besinnung und im Bewußtsein ihrer Tat. Sie habe den Phosphor nämlich nicht in Wasser oder Spiritus aufgelöst, wie es die Mehrzahl der sich auf diese Weise Vergiftenden tut, sondern in Öl, in dem sich der Phosphor ganz löst. Man sagte, sie habe sich einzig zu dem Zwecke vergiftet, um ihrer Tochter nicht zur Last zu fallen, die die Alte nicht verlassen wollte und Not litt, da sie jetzt nur billige Stunden geben konnte, während sie mit dem Mädchen allein irgendwo als Lehrerin oder als Gouvernante unterkommen konnte. Die Großmutter wollte ihrer Tochter die Hände frei machen und machte sie auch mit bewundernswerter Ruhe frei. Ob alle diese Gerüchte über die Vergiftung zutreffend waren, weiß ich nicht gewiß, jedoch begrub man die Greisin ohne alle polizeilichen Geschichten. Aber ihre Rechnung erwies sich als unrichtig: obwohl sie der Tochter die Hände frei gemacht hatte, erhielt diese die gewünschte Stelle nicht – im Gegenteil, sie lief auch weiter herum, um ihre billigen Stunden zu geben, und untergrub damit ihre zerrüttete Gesundheit so gänzlich, daß schließlich eine kleine Erkältung hinreichte, damit sich aus ihr eine schwere Krankheit entwickelte, die binnen weniger als einem Monat diese arme Frau ins Grab brachte.
Sie starb und hinterließ ihrer Tochter nichts, weder Vermögen noch gute Menschen. Auch meine gute Tante Olga war damals nicht in der Stadt, sondern zu Verwandten in eine andere Stadt gefahren und kehrte an einem sehr trüben Morgen zurück, als ein dürftiger Leichenwagen mit einem Sarge über den schmutzigen Februarschnee nach dem Wolkowschen Friedhofe fuhr. Auf demselben Wagen saß am Kopfende des Sarges die weinende Ljuba, und hinter ihm ging – Pawlin. Mit einem Wort, alles war genau so, wie es Tante Olga damals im Traum gesehen hatte. Pawlin ging unbedeckten Hauptes und des traurigen Anlasses halber in einem alten grauen Wolfspelzmantel. Tante Olga geriet über diesen Vorfall in schreckliche Unruhe, besprach sich mit Mama und beschloß, die verwaiste Ljuba zu uns zu nehmen, bis es gelingen würde, etwas für sie zu unternehmen. Aber all das erwies sich als überflüssig: Ljuba war bereits untergebracht und wahrscheinlich nicht schlechter, als wir sie mit unseren sehr beschränkten Mitteln und ohne gewichtige und bedeutsame Verbindungen hätten unterbringen können. Der Urheber dieser Fürsorge für das verwaiste Mädchen war derselbe Pawlin, der sie zwei Monate vorher zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter hatte ausfrieren lassen.
Als Tante Olga ihre Besprechung mit Mama beendet hatte, ging sie in Pawlins Portiersloge, um von ihm zu erfahren, wo Ljuba sei – aber sie fand ihn nicht auf seinem gewohnten Sessel. Das war wohl das erstemal, daß Pawlin seine Verpflichtungen versäumte, seit er in diesem Hause die bunte Livree angezogen und den glänzenden Stab in die Hand genommen hatte.
Von jemand, den sie nach dem Portier fragte, erfuhr die Tante, daß er vom Friedhofe schon nach Hause zurückgekommen sei und das Kind auf dem Arm in sein Zimmer getragen habe.
Die Tante besann sich nicht lange, sondern ging auf das unantastbare Appartement Pawlins zu und öffnete die Türe. Sie erblickte ein sehr kleines Zimmerchen mit einem kleinen Diwan, auf dem die weinende Ljuba saß, während vor ihr Pawlin kniete und dem Kind das nasse Schuhzeug wechselte.
Beim Eintritt der Tante stand er auf, verbeugte sich höflich vor ihr und sagte:
»Gnädigste geruhen sich wegen des Fräuleins zu bemühen?«
»Ja,« antwortete Tantchen.
»Geruhen Sie es mitnehmen zu wollen?«
»Ja.«
»Wie es Ihnen beliebt.«
Die Kleine schmiegte sich an die Tante, und wir nahmen sie bei uns auf. Gegen Abend desselben Tages erschien Pawlin bei uns und bat, der Tante zu melden, daß er gekommen sei, um mit ihr über die Waise zu sprechen.
Man ließ Pawlin in den Salon, wohin die Tante zu ihm herauskam. Sie sprachen ungefähr eine halbe Stunde, nach deren Verlauf Pawlin fortging, während die Tante voll Entzücken über den Verstand und die Charakterfestigkeit Pawlins zu Mama zurückkam.
Pawlin hatte der Tante gesagt, daß er Ljuba unter seine Fürsorge nehmen wolle, daß er aber nicht darauf bestehe, wenn das Mädchen besser untergebracht werden könnte. Und um der Tante die Möglichkeit zu geben, sich ein Urteil über seine Mittel und seine Zuverlässigkeit zu bilden, sei er gekommen, um ihr das Nötige aus seiner Vergangenheit zu erzählen und ihr seine jetzige Lage und seine Pläne bezüglich Ljubas darzulegen. Nach seinen Worten war er Leibeigener gewesen und als Musiker ausgebildet worden, jedoch ohne die Musik zu lieben, dann war er Kammerdiener geworden; später hatte er sich um einen hohen Preis freigekauft, zunächst seine eigene Person allein; nachdem er aber durch Arbeit und Sparsamkeit eine für seine Lage ziemlich große Summe zusammengebracht hatte, kaufte er auch seine alte Mutter, seine Schwester und seinen Schwager frei und verschaffte ihnen an der großen Tulaschen Landstraße einen guten Wirtshof. Außerdem hielt er sich für verpflichtet, die Wirtschaft dieser Verwandten zu unterstützen, und hatte daher selbst nicht geheiratet, sondern nur für seine Verwandten gelebt. Vor einem Monat jedoch war die Nachricht gekommen, daß alle seine Angehörigen eines nach dem anderen an der Cholera gestorben waren. Nun sei er ganz allein zurückgeblieben und habe gefunden, daß die Zeit zu heiraten für ihn schon vorüber sei. Daher drückte Pawlin den Wunsch aus, den Rest seiner Tage der Waise Ljuba zu widmen, die ihm in ihrer Lage außerordentlich leid täte.
Diese gütige Regung rührte die Tante derart, daß sie Pawlin die Hand gab und ihn sich setzen ließ, um ihr ausführlich seinen Plan zu entwickeln, den er bezüglich Ljubas zu verfolgen gedachte. Die Tante war überzeugt, daß der bedächtige Pawlin, als er sich entschlossen hatte, das Kind in seine Hände zu nehmen, ganz bestimmt klare Absichten hatte, mit deren Verwirklichung er auch rechnete, und sie hatte sich auch nicht geirrt. Pawlin hatte in der Tat einen Plan, dazu einen sehr genauen und auch ausführbaren, der durchaus der Solidität und Festigkeit seines Charakters entsprach. Er hatte sich nicht nur darauf vorbereitet, das Mädchen aufzunehmen und es zu ernähren, sondern er hatte sich auch den ganzen Weg zurechtgelegt, auf dem es ins Leben treten und darin festen Fuß fassen sollte. Dabei bewies er einige Charakterzüge, die bisher an ihm unbemerkt geblieben waren, vor allem aber Geradheit, Bescheidenheit und Verachtung für das eitle hochfliegende Trachten eines Menschen. Pawlin hatte für die Waise ein vielleicht sehr bescheidenes Schicksal ausersehen: er sagte der Tante, daß er beabsichtige, Ljuba zu einer ihm bekannten sehr guten Dame in die Schule zu geben, wo das Mädchen innerhalb von vier Jahren das seiner Ansicht nach unbedingt notwendige Wissen erlernen sollte, d.h. also Lesen, Schreiben, Religion und Arithmetik, aber ebenso auch »die historischen Begebenheiten«. Dann wollte er sie fortgeben, um sie Handfertigkeiten erlernen zu lassen; für den Zeitpunkt ihres Austritts aus dieser Lehre beabsichtigte er aber Geld zusammenzubringen, um damit einen Laden für sie zu eröffnen und sie später mit einem ehrenhaften Menschen zu verheiraten, »der ihrer wert sei«. – »Dies,« sagte er, »meine ich, wird das Sicherste sein, denn an das vornehme Leben kann man sich immer, wenn es das Schicksal will, sehr leicht gewöhnen, aber vor allem muß der Mensch die Mittel haben, um auf sich selbst zu vertrauen.«
Der Tante, die selbst immer sehr verständig und einfach war, gefiel dieser einfache und praktische Erziehungsplan außerordentlich gut, während meiner Mama Pawlins Plan nicht so ganz entsprach: sie fand, daß niemand das Recht habe, auf solche Weise »die Zukunft der armen Waise zu verunstalten, im Gegensatz zu der Zukunft, zu der sie ihrer Herkunft nach berechtigt sei.« Hierüber konnten sich Mama und Tante durchaus nicht einig werden, und sie hätten wahrscheinlich noch lange darüber gestritten, hätte sich nicht der Zufall in die Angelegenheit eingemischt und alles auf seine Weise entschieden: die Gesundheit meiner Mutter erforderte einen Klimawechsel, und sie mußte zu ihrem Bruder in eine Stadt weit ab von Petersburg fahren. Ich wurde in Petersburg in eine Pension gegeben, während meine gute Tante in eine andere Gegend reiste und sich dort auf ganz eigentümliche Weise einrichtete: sie trat in ein einsames, hinter Kiew gelegenes Frauenkloster am Dnjepr ein. Die verwaiste Ljuba mußte man also, ob man wollte oder nicht, der ausschließlichen Fürsorge Pawlins anvertrauen, dessen Eifer, das Kind unterzubringen, und dessen Mittel, dies alles zu tun, die unseren fast überstiegen. Außerdem beruhigten auch die sittlichen Bürgschaften, die Pawlin ihr beim Abschied gab, die Tante sehr wesentlich über das Schicksal Ljubas. Pawlin hatte sich ihr gegenüber folgendermaßen ausgesprochen:
»Ich weiß, gnädiges Fräulein,« sagte er, »daß man mich für einen bösen Menschen hält, aber das kommt nur daher, weil ich der Meinung bin, daß jeder Mensch vor allem seine Schuldigkeit tun muß. Ich habe kein grausames Herz, aber ich weiß aus Erfahrung, daß jeder an seiner Not selbst viel Schuld trägt, und daß man durch Nachsicht die Menschen noch mehr dazu verleitet. Man darf einem Menschen nicht durch Nachgiebigkeit helfen, die nur noch schwächer macht, sondern man muß ihm helfen, auf seinen Füßen zu stehen und über sich selbst gründlich nachzudenken, damit er sich selbst vor unbarmherzigen Menschen in acht nehmen kann.«
Mama und die Tante weinten zwar noch über Ljuba, aber dann überließen sie das Mädchen Pawlin, damit er nach seinem Willen aus ihr eine Frau ohne Schwäche mache, die sich selbst beschützen könne. Aber es kam so, daß das kleine Mädchen aus diesem starken Mann etwas machte, woran er wohl schwerlich gedacht hatte.
Die Zeit verging. Pawlin erzog Ljuba genau so, wie er es meiner Tante bei ihrem ersten Gespräch über die Waise versprochen hatte. Während ich die letzten Jahre in der Gymnasial-Pension verbrachte, lernte Ljuba in einer Privatschule bei einer Dame, welcher Pawlin für den Unterricht und Unterhalt seiner Pflegebefohlenen mit der ihm eigenen Pünktlichkeit zahlte. Ljuba eignete sich hier zwar keine großen Kenntnisse an, aber immerhin mehr, als Pawlin als nötig und nützlich für sie befunden hatte. Von meinen eigenen Angelegenheiten in Anspruch genommen, hätte ich Ljuba wohl ganz vergessen, wenn ich sie nicht kurz nach meinem Eintritt in die Universität zufällig auf der Straße getroffen hätte. Ich erkannte sie sofort wieder und freute mich sehr über sie. Ich war damals achtzehn Jahre, während Ljuba ins vierzehnte ging. Sie war im Erblühen und versprach ein sehr hübsches Mädchen zu werden. Sie hatte sich zu einer äußerst zierlichen und graziösen Mignongestalt entwickelt. Das Köpfchen umgaben dichte, gewellte Haare von ungemein sympathischer, goldig glänzender Färbung, dazu hatte sie schwarze Augenbrauen und dunkle Wimpern, unter denen die großen dunkelblauen Augen hervorschauten. Ich war von ihrer Schönheit so überrascht, daß ich es gegen meinen Willen nicht verbergen konnte, und so wurden wir beide verwirrt und trennten uns, ohne miteinander gesprochen zu haben. Später, noch in demselben Jahre, traf ich sie wieder bei einer Frühmesse in einer Kirche, wo sie, noch mehr erblüht, vor Pawlin stand, der sie, wie es mir damals schien, mit tiefer Zärtlichkeit ansah. Die acht Jahre waren an Pawlin nicht ganz spurlos vorübergegangen, ihre Wirkung war aber nicht irgendwie zerstörend gewesen: er fing nur an, grau und etwas stärker zu werden, aber für seine fünfzig Jahre war er immer noch jugendlich. An seinem Ausgehanzug hatte sich nichts geändert. Ljuba war bescheiden, aber sehr reinlich gekleidet und hielt sich wie ein vornehmes Fräulein. Pawlin erschien in seiner abgetragenen braunen Pekesche wie ihr Onkel. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, stand er hinter Ljuba; auf dem Arm hielt er ihren Regenmantel und ihr gestricktes Kamelgarn-Halstuch, das sie abgenommen hatte, da es in der Kirche ziemlich heiß war. Allen war es heiß, aber es schien, als sei Ljuba besonders matt und erhitzt; sie glühte wie eine Mohnblume und erschien mir unruhig und zerstreut; was jedoch noch merkwürdiger war, ihre sichtliche Spannung schien sich in dem Maße zu steigern, als sich der Gottesdienst dem Ende näherte. Mir schien es, als hinge ihre Gespanntheit mit meinem unerwarteten Auftauchen vor ihr zusammen, denn sie hatte mich gesehen und augenscheinlich erkannt und unaufhörlich mit ihren großen Pupillen unter den dunklen langen Wimpern angeschaut. Das Folgende überzeugte mich, daß ich mich nicht geirrt hatte. Als ich nach Schluß der Messe zu Ljuba trat, wie Pawlin ihr gerade ihren Mantel gab, erreichte ihre Spannung den Höhepunkt. Sie nickte mir kaum mit dem Kopfe zu und zog sich hastig an, wobei sie mit der Hand stets am Ärmel vorbeifuhr, während in ihren niedergeschlagenen Augen eine große Träne glänzte. Es war aber nicht eine Träne der Rührung oder Güte, sondern kam eher von Gereiztheit und Verdruß. Zweifellos litt Ljuba darunter, daß ich sie mit einem Lakai sah und dabei nicht in einer Verbindung, in der ein Lakai für die menschliche Eitelkeit angenehm ist. Pawlin gab sich durchaus nicht den Anschein, als bemerke er es, aber ich war überzeugt, daß er alles sah und verstand. Indes wurde er augenscheinlich nicht verwirrt, sondern handelte wie immer genau und gewissenhaft, d.h. er half Ljuba in den Mantel und zupfte diesen zurecht, ohne dabei mehr Aufmerksamkeit als ein Diener zu zeigen. Ljuba schien aber auch dies nicht zu gefallen; sie zierte sich und hielt ihn sich vom Leibe, wie ein Täubchen eine ihre Bekanntschaft suchende Saatkrähe.
In mir regten sich alte Erinnerungen. Ich entsann mich der Hochschätzung, die meine gute Tante für diesen rauhen Menschen geäußert hatte, der jede übernommene Pflicht mit so großer Achtsamkeit erfüllte – und ich mußte mich über Ljuba ärgern. Ich reichte gleichzeitig ihr die rechte, Pawlin die linke Hand und sagte zu ihm so liebenswürdig, wie ich nur konnte:
»Ich freue mich sehr, Sie zu sehen, Pawlin Petrowitsch, verzeihen Sie, daß ich Ihnen die linke Hand gebe, aber sie ist dem Herzen näher als die rechte.«
Er drückte meine Hand sehr kräftig, und mir schien es, als glänze auch in seinen Augen eine Träne, aber eine andere als bei Ljuba. Dies war ihr nicht entgangen, und sie hob ihre niedergeschlagenen Augen; sie schien froh, daß zwischen uns dreien eine Art Gleichheit hergestellt war und strahlte darüber. Pawlin war äußerlich der gleiche, aber doch schien etwas an ihm eine leise verhaltene Zufriedenheit auszudrücken.
»Wie sich Ljubow Andrejewna verändert haben«, sagte er beim Verlassen der Kirche zu mir. »Ganz erwachsen ist sie.«
»Ja erwachsen und ...« Ich wollte sagen: »und hübsch geworden«, fand aber, daß es sich nicht gehöre, ihr das zu sagen und fügte nur hinzu, daß ich sie kaum erkannt hätte.
»Wieso auch,« antwortete Pawlin, »als Sie uns damals verließen, war sie noch ganz ein Kind... und jetzt ist sie fünfzehn Jahre.«
Ich wunderte mich ganz dumm darüber, daß seit dem Tage, an dem Ljuba verwaiste, schon neun Jahre verflossen seien, und damit war unser Gespräch zu Ende. Am nächsten Sonntag aber traf ich Ljuba und Pawlin in derselben Kirche wieder, und diese Begegnungen wurden immer häufiger, bis ich schließlich einmal Pawlin ohne Ljuba in der Kirche erblickte und mich erkundigte, was dies zu bedeuten habe.
»Sie... Ljubotschka... ist nicht ganz gesund,« antwortete der Portier. In Ljubas Anwesenheit nannte er sie aber nie anders als Ljubow Andrejewna. –
Ich fragte, was denn mit ihr geschehen sei.
Pawlin besann sich, nahm die Hände auseinander und flüsterte dann unwillig:
»Es muß wohl von der Einbildung herkommen!«
»Ist denn Ljubotschka sehr ängstlich?« fragte ich.
»Nein, – wenn Sie die Angst vor einer Krankheit meinen, nein. In dieser Beziehung ist sie nicht ängstlich, sogar im Gegenteil, sie nimmt sich nicht in Acht. Aber... ja... ihr Charakter hat wohl etwas derartiges...«
Damit trennten wir uns und sahen uns lange nicht mehr, aber an einem Herbstabend kam plötzlich Pawlin ganz unerwartet zu mir, war voll Unruhe und erzählte, daß Ljuba erkrankt sei.
»Sie kam«, berichtete er, »am vergangenen Samstag abend auf einen Augenblick zu mir, wurde plötzlich ohnmächtig und versetzte uns alle in Schrecken. Anna Ljwowna schickten ihren eigenen Arzt und kamen sogar selbst, und auch der junge Herr. Aber jetzt geht es ihr besser. Sie hat ein wenig geschlafen und beim Aufwachen gesagt: ›Ich möchte so gerne etwas über meine Mama hören!‹ Haben Sie die Güte, besuchen Sie sie und sitzen Sie ein wenig bei ihr. Sie erinnerte sich an Sie, und ich bemerkte, daß sie mit Ihnen von ihrer Kindheit sprechen wollte, da Sie ihre Mutter gekannt haben. Sie können der Kranken damit eine große Freude bereiten.«
Ich stand auf und ging.
»Aber wissen Sie, wenn sie viel fragen sollte, so erzählen Sie ihr nicht alles,« sagte er noch, als er mich in sein Portierzimmerchen hineinführte.
Dieses Zimmer, das ich jetzt zum ersten Male sah, war sehr klein, aber außerordentlich sauber und anheimelnd. Es schien mir auf den ersten Blick ein hübsches Kästchen zu sein, in dem eine hübsche sächsische Porzellanpuppe liegt: diese Puppe aber war die fünfzehnjährige Ljuba.
Pawlin ließ mich mit Ljuba allein und ging selbst hinaus, um für den Tee zu sorgen. Ljuba saß in einem Sessel, und ihre mit einem alten, aber sehr sauberen Plaid bedeckten Füße ruhten auf einem Schemel. Ich begrüßte sie, drückte ihr meine Freude aus, daß es ihr besser gehe, und setzte mich ihr gegenüber an das Tischchen.
Sie gab mir keine Antwort, sondern seufzte auf und machte eine kleine Grimasse, die ich für den Ausdruck einer Schmerzempfindung hielt. Ich hatte mich aber getäuscht: Ljuba hatte mir durch ihre Grimasse zeigen wollen, daß sie unzufrieden und untröstlich sei.
»Ich bin gar nicht froh, daß ich wieder gesund werde,« sagte sie schließlich zu mir und warf ihre Lippe auf.
»Nicht froh! Wie, gefällt Ihnen denn das Kranksein?« entgegnete ich, in dem Bemühen, das Gespräch auf einen scherzhaften Ton einzustellen. Aber Ljuba wurde noch mürrischer und sagte:
»Nein, nicht Kranksein, sondern st...«
»St...?« antwortete ich und versuchte die Sache ins Heitere zu ziehen. »Es ist für Sie noch früh, um zu »st«.
»Ich bin sehr unglücklich«, flüsterte die Kranke, und die Tränen flossen in Strömen über ihre beiden Wangen.
Ich bemühte mich, sie mit allgemeinen Trostreden zu beruhigen, wie, daß ihr ganzes Leben noch vor ihr liege und daß auf eine schwere Zeit eine bessere folge, allein sie winkte mir mit der Hand ab und sagte ungeduldig:
»Mich erwartet nichts Besseres.«
»Warum?«
»Es ... ist mir einmal so beschieden.«
Ich sah sie an und fand nichts, was ich ihr hätte erwidern können. In ihren Worten klang nicht etwa eine augenblickliche krankhafte Stimmung, sondern in der Tat etwas Verhängnisvolles, und über ihrem ganzen Wesen lag etwas Unabwendbares und Schicksalhaftes. Ihr junges Gesichtchen erinnerte mich an die Gesichter ihrer Großmutter und ihrer Mutter. Unser Gespräch stockte und ging nicht mehr weiter fort. Ljuba fragte mich auch nicht über ihre Vergangenheit, wie es Pawlin erwartet hatte, sondern schwieg und war zornig. Worüber aber? Offenbar über ihre Lage. Wem gab sie nun daran die Schuld? Der Vorsehung, die es so eingerichtet hatte? Nein; sie hatte anscheinend einen anderen Schuldigen im Sinne. Und mir schien es fast, als sei dieser Schuldige Pawlin. Mein Verdacht sagte mir, daß es wahrscheinlich kurz vorher zwischen ihnen eine Szene gegeben habe, die Pawlin quäle, und daß er Ljuba nicht mit seiner Anwesenheit belästigen wolle, aber gleichzeitig bedauere, sie allein zu lassen, deshalb habe er mich selbst geholt, ohne daß sie den Wunsch geäußert hatte. Und ebenso sagte mir ein vielleicht nicht ganz begründeter Verdacht, daß Pawlin sich mit Ljuba ein Unheil zugezogen habe. Ljuba erschien mir als ein über alle Maßen empfindliches, launisches und eitles Mädchen, und ich wußte schon damals, daß es für einen ernsten Menschen nicht leicht ist, mit einem solchen Wesen auszukommen. Mir kam es vor, als beruhe das ganze Leiden Ljubas in der Hauptsache darauf, daß sie in der Portierloge wohne und nicht in der Beletage, und daß sie einem Lakei und nicht dessen Herrin zu Dank verpflichtet sei. ...
Ich war voller Mitleid mit Ljuba gekommen, begann aber unwillkürlich Pawlin zu bemitleiden. Es hatte den Anschein, als kapituliere er vor ihr und fühle nun, daß er von Geburt nur ein Lakai, während sie, die ihm in allem verpflichtet war, von Geburt ein gnädiges Fräulein sei, das ihm die Macht der Gewohnheit als ein über ihm stehendes Wesen anzuerkennen zwang. Auch Ljuba hatte zweifellos ihren Vorrang vor ihrem Erzieher bemerkt und war nicht großmütig genug, um bescheiden und dankbar zu sein. Als sie mit mir ins Gespräch kam, erzählte sie mit besonderer Lust, daß heute und gestern Anna Ljwowna selbst sie besucht hätte, auch ihr ältester Sohn Woldemar, der eben erst Kornett bei einem eleganten Gardekavallerieregiment geworden sei. Die sonst so mürrische und schweigsame Ljuba verbreitete sich außerordentlich gern über diesen Besuch und darüber, daß »sie mit ihr französisch gesprochen hätten, weil sie wollten, daß Pawlin ihr Gespräch nicht verstehe«, dabei betrachtete sie aufmerksam das Flacon mit Riechessig, das ihr die alte Generalin gelassen hatte, und roch daran. Nach diesem Gespräch war ich endgültig davon überzeugt, daß man Ljuba, um sie zu heilen, wie eine kleine Katze an einen anderen Ort bringen, d. h. aus der Portierloge in die Beletage versetzen müsse. Bald darauf zeigten mir die Ereignisse, daß ich mich nicht geirrt hatte.
Nach ihrer Wiederherstellung hielt sie sich in der Beletage bei der Generalin auf, und die junge Ljuba fand einen Trost darin, daß sie wenigstens einige Stunden am Tage hier verweilen durfte. Es fiel ihr nun so schwer, in die Werkstätte zu gehen, in die sie Pawlin gegeben hatte, daß sie einzig bei dem Gedanken daran aufs neue krank wurde. Pawlin wußte nicht, was er mit ihr tun solle; er beklagte sich nur darüber und sagte:
»So sind die Menschen!... Hm!... Wissen Sie, da haben ihr die Freundinnen gesagt, daß sie edler Herkunft sei! Und jetzt will sie nicht mehr. Aber was ist die edle Herkunft? – Dummheiten!«
Ljuba zu nötigen, sie zu zwingen, gegen ihren Willen in die Werkstätte zu gehen – dem gegenüber war der unbeugsame Wille Pawlins machtlos. Sie zu sich in sein kleines Kämmerchen zu nehmen, fand er untunlich und unschicklich, da Ljuba schon ein beinahe ganz erwachsenes Mädchen war. Mit einem Wort, die Sache ging durchaus nicht dorthin, wohin Pawlin sie hatte lenken wollen; und was denken Sie, daß er tat, um alle diese Schwierigkeiten ins Reine zu bringen? Ich wette, Sie werden es nicht erraten!... Binnen Jahresfrist heiratete Pawlin diese sechzehnjährige Ljuba, dieses hohle, anmaßende Mädchen, das in seiner grausamen Unnatur ihn verachtete, und Sie wären ungerecht, wenn Sie auch nur einen Augenblick glauben würden, Pawlin habe direkt oder indirekt Ljuba dazu genötigt. Durchaus nicht: das junge Mädchen hatte es selbst gewollt. Aber wie ihr das einfiel, das will ich Ihnen gleich erzählen.
Wie verloben und verheiraten sich bisweilen die Menschen? Gute Beobachter bestätigen, daß vielleicht bei keiner anderen Angelegenheit der menschliche Leichtsinn derart erschreckend zum Vorschein kommt, wie bei den Eheschließungen. Man sagt, daß selbst verständige Menschen sich ein Paar Stiefel mit viel mehr Aufmerksamkeit kaufen, als sie aufwenden, um sich einen Lebensgefährten auszuwählen. Und es ist in der Tat durchaus nicht selten, daß bei dieser Wahl nichts als der blinde und lächerliche Zufall waltet. So verhielt es sich auch mit Pawlin und Ljuba.
Ljuba wollte nur nicht in den Laden gehen, wo ihr irgendein Mädchen eine Grobheit gesagt hatte, und darum schmollte sie und schmeichelte sich unter die Fittiche Anna Ljwownas, klagte und jammerte, daß sie wieder dorthin gehen sollte, wo die Menschen so ungebildet und grob seien, daß sie die Vorzüge ihrer Herkunft nicht zu schätzen verstehen, sondern sich im Gegenteil dafür an ihr rächten.
»Ja, sicher rächen sie sich an dir«, erwiderte Anna Ljwowna und schaute Ljuba dabei an.
Sie saßen beide in einem behaglichen Kabinett und arbeiteten beim Schein einer matten Lampe.
»Weshalb will dich denn dieser Pawlin noch lernen lassen? Ich verstehe das nicht!« fuhr Anna Ljwowna fort und betrachtete dabei Ljubas Arbeit: »Meiner Meinung nach bist du jetzt schon eine vortreffliche Meisterin.«
»Er will mir einen Laden aufmachen...«
»Er... Erlaube mir, dir zu sagen, daß dieser dein er ein schrecklicher, bunter Hanswurst ist. Wozu wird er dir einen Laden aufmachen?«
»Was soll er mit mir sonst anfangen?«
»Was er anfangen soll? Sehr einfach! Ich verstehe nicht, weshalb er dich nicht heiratet!«
Das Mädchen war verblüfft und schwieg. Sie hatte bis jetzt kaum noch ans Heiraten gedacht und sich ihren Erwählten jedenfalls durchaus nicht in Pawlin vorgestellt. Die Generalin sah, daß der Gedanke, den sie ausgesprochen hatte, Ljuba noch nicht in den Kopf ging, daß sie aber vor ihm auch nicht erschrak und daß er anscheinend recht gut in ihrem Kopfe Platz finden werde.
»Natürlich,« fuhr die Generalin fort. »Du glaubst vielleicht, daß es leicht sei, Modistin zu sein, jeder Fratze vorzulügen: ›Das ist hübsch, das steht Ihnen gut‹, es jeder Laune recht zu machen und vor jeder auf den Knien zu liegen, um Maß zu nehmen? Wenn du aber heiratest... so ist es viel besser für dich. Besonders wenn du Pawlin nimmst: dann werden wir uns beide nie trennen; du wirst bei uns sein, um den Gästen Tee und Kaffee zu servieren, und ich werde dir etwas für deine Garderobe zahlen. An den Abenden werden wir zusammen sitzen, gemeinsam arbeiten und warten, bis Wolodja kommt und uns erzählt, was es alles gibt. Wolodja unterhält sich sehr gern mit dir, und du wirst immer wie eine Verwandte in unserem Hause sein.«
Ljuba wurde rot und schwieg; auf ihren Wimpern glänzten Tränen. Die Generalin aber sprach weiter:
»Und bedenke, wenn du einen Laden aufgemacht hast und irgendwann einen jungen Menschen heiratest, vielleicht sogar einen ungebildeten, sagen wir, einen Handwerker oder sogar einen Künstler – etwas Besseres erwartet dich doch nicht. In solcher Gesellschaft gehst du zugrunde. Aber einen Anderen, höher Gestellten zu heiraten ist für dich schwierig, denn du bist nicht so gestellt.«
»Ich weiß es,« brachte Ljuba hervor, ihre Tränen hinunterschluckend.
»Gut, daß du so verständig bist! Pawlin aber ist zwar nicht mehr jung, aber ein Mensch von seltenen Grundsätzen, er wird dir nie Schwierigkeiten machen. Ich kenne ihn seit mehr als zwanzig Jahren, und er war immer ehrlich, immer vernünftig, immer ordentlich; wenn ich auch nicht glaube, was die Leute schwatzen, daß er sich bei mir gehörig Geld verdient habe, aber er ist immerhin ein sparsamer Mensch und hat bestimmt einiges Geld zurückgelegt. Dieses Gesparte wird er nun für dich ausgeben. Ja, meine Gute, so ist es! Und du bist es auch wert. Und schließlich handelt es sich doch nur darum; denn was kann ihm angenehmer sein, als eine junge und so hübsche Frau herauszuputzen? Glaube mir, die Leute in seinem Alter sind viel zuverlässiger, als alle diese Windbeutel, als z. B. dieser Künstler, der herkommt, um mein Porträt zu malen und dich immer angafft.«
Ljuba erglühte: sie hörte zum ersten Male, daß die Männer sie angafften, zudem hörte sie es aus dem Munde einer so soliden Frau, wie die Generalin, zu der das junge Mädchen wie ein Grashalm nach der Sonne strebte. Es war ihr angenehm, daß sich Anna Ljwowna ihrer so annahm; ihre Nerven gingen durch, sie warf die Arbeit von den Knien, stürzte sich weinend an die Brust der Generalin und stammelte:
»Nehmen Sie mich in Ihren Schutz, ich werde Ihnen in allem folgen.«
Anna Ljwowna beantwortete ihre Zärtlichkeiten mit Zärtlichkeiten, sie fuhr fort, in sie zu dringen und ihr zuzureden und schloß endlich:
»Ich fürchte nur das eine, daß dir Pawlin vielleicht in der Tat etwas zu alt erscheint!«
Ljuba schwieg.
»Vielleicht willst du unbedingt einen jungen Mann?«
»Ach, das sage ich gar nicht,« unterbrach Ljuba.
»Nun, vortrefflich, wenn du es nicht sagst, so gebe dir Gott Glück.«
Das Mädchen erschrak, daß alles so schnell erledigt sein sollte, wurde rot und beeilte sich zu sagen, daß sie niemand heiraten werde, aber Anna Ljwowna sang ihr das Verschen aus dem »Roten Sarafan« vor, daß »das Vöglein nicht ewig überm Felde singt, der goldgeflügelte Schmetterling nicht ewig über Blumen spielt«. Sie lachte das Mädchen aus, streichelte ihr das Gesicht und fragte:
»Du willst doch nicht ins Kloster?«
»Mir ist alles gleich,« flüsterte Ljuba.
»Oh – oh, du lügst, du hast nicht solche Äuglein, um ins Kloster zu gehen. Nein, du würdest dort alle verwirren: die Männer würden anstatt zu Gott zu beten nur noch dich anschauen.«
Das Mädchen lachte.
»Nun also... aber Spaß beiseite, überlege dir, wozu du dich entschließt: ich wollte schon lange mit dir darüber sprechen und sage es dir jetzt so ernsthaft, weil ich sehe, daß du uns wirklich lieb hast...«
»Ich habe Sie sehr, sehr lieb,« bestätigte das Mädchen und bedeckte die Hand der Generalin mit Küssen.
»Ja, und ich verstehe auch, daß du, wenn du mit uns verkehrst, unmöglich noch länger in der Werkstätte zu diesen Näherinnen gehen kannst....«
»Ich kann es entschieden nicht mehr! Ich werde ins Wasser gehen!«
»Ich verstehe das alles, verstehe durchaus alles, nur weiß ich nicht, weshalb du ins Wasser gehen willst: das ist Sünde. Es macht Pawlin keine Ehre, daß er als verständiger Mensch dich dorthin schickt, wo du solche unchristlichen Gedanken hörst. Ich habe schon mit ihm darüber gesprochen.«
»Sie haben mit ihm über mich gesprochen?«
»Ja, ich habe mit ihm gesprochen, er sieht es auch ein und ist mit mir einverstanden. Aber urteile selbst: was soll er mit dir anfangen, Kind? Es ist in der Tat sehr schwer, etwas für dich auszudenken; du bist nicht so erzogen, daß du Gouvernante werden könntest, denn du weißt zu wenig. Als Bonne zu Kindern eignest du dich auch nicht, weil du sehr jung bist, und dich zur Näherin oder zum Stubenmädchen zu bestimmen, fällt ihm sehr schwer.... Er hat doch so viel getan.... Nicht wahr?...«
Das Mädchen ließ ein leises »Ja« fallen.
»Nun siehst du«, fuhr die Generalin fort, »nehmen wir an, ich würde dich zu mir nehmen...«
Ljuba warf sich vor ihr auf die Knie und rief:
»Ach nehmen Sie mich, nehmen Sie mich. Um Gottes willen, nehmen Sie mich!«
»Aber welche Rolle wirst du bei mir spielen?«
»Das ist ganz gleich. Wenn ich nur bei Ihnen...«
»Ja, aber Pawlin wird es nicht wollen; er wird sicher finden, daß es nicht gut sei; außerdem habe ich einen erwachsenen Sohn. Er ist zwar ein guter Junge und hat dich sehr gern, aber du bist doch jetzt schon ein volljähriges Mädchen, und das geht nicht. Aber wenn du Pawlin heiratest... so wird sich das alles vortrefflich geben.«
Das Mädchen schwieg, und Anna Ljwowna fuhr fort:
»Mein Rat ist der: folge mir und heirate Pawlin, und du wirst in aller Ruhe leben. Die ganze Zeit wirst du bei uns verbringen; ich bin alt, und alle bestehlen mich, ich will dich daher in meiner Nähe haben...«
Ljuba schwieg wieder.
»Nun, was ist das, du sollst sprechen und nicht schweigen: soll es so sein oder nicht?«
Das Mädchen beugte sich wieder über die weiche, welke Hand ihrer Beschützerin und flüsterte:
»Sie wissen besser, was für mich notwendig ist: ich bin mit allem einverstanden.«
So aus dem Stegreif wurde das Unglück für Pawlin mit Ljuba vorbereitet, denn Pawlin war in sie in der Tat grausam verliebt und hatte nur nicht gewagt, an sie zu denken. Als aber die Generalin dies alles für ihn erwogen hatte und ihm geradezu die Pforte des Paradieses aufmachte, schwindelte ihm der Kopf, und er vergaß sämtliche Vernunftgründe, die ihn bewogen hatten, an Ljuba nicht einmal zu denken.
Als wäre es eben erst geschehen, so lebhaft erinnere ich mich an den Besuch, mit dem er mich beehrte, um mich einzuladen, Ljubas Brautführer zu sein. Pawlin war nicht wiederzuerkennen. Er blieb eine Stunde bei mir sitzen und machte sich selbst die verschiedensten Komplimente, was man früher an ihm nicht gewohnt war. Der Gedanke, daß ihn ein junges Mädchen liebe, hatte ihm offensichtlich den Kopf verdreht und die Zunge gelöst, so daß er unerträglich geschwätzig und sogar prahlerisch wurde, wenn auch natürlich ganz auf seine Weise. Auch in seinem Trieb zur Geschwätzigkeit stand alles, was er sagte, auf dem Boden der Pflicht.
»Ich bin ein einfacher Mensch,« sagte er, »aber ich bin doch ziemlich belesen und habe mich, wie Sie zu sehen belieben, nicht vorzeitig weggegeben. Hätte ich vielleicht nicht längst heiraten können? Sehr gut hätte ich es gekonnt, und viele Frauen haben mir Hoffnungen gemacht, aber ich hatte solche Verpflichtungen auf mir, daß ich es nicht tun konnte. Mit einem Worte: ich tat es wegen meiner Verwandten nicht. Dumme Menschen haben gesagt, daß meine Verwandten undankbar seien und mich im Alter allein lassen würden. Ich habe nie darauf geachtet. Ich habe doch meine Verwandten nicht der Dankbarkeit halber unterstützt, sondern nur meine Pflicht erfüllt. Ich habe auch Ljubow Andrejewna durchaus nicht des Dankes willen erzogen und auch nicht irgendwelcher Aussichten wegen, aber jetzt ist es so gekommen, daß ich durch sie mein Glück und eine Gefährtin erhalte. Man muß immer so handeln, wie es die Pflicht verlangt, und das führt immer von selbst zum Besten.«
Diese verallgemeinerte Beweisführung interessierte mich außerordentlich, und ich hörte mit größter Aufmerksamkeit zu, wie Pawlin alles in diese Regel hineinbezog: es stellte sich heraus, daß er auch die Fenster bei den Mietern zum Wohle der Menschheit aushob, von dem Gesichtspunkte ausgehend, daß sie, d. h. Anna Ljwowna kein Mitleid kenne, niemand auf der Welt dürfe aber auf Mitleidige rechnen, denn es gäbe ihrer nur wenige, und auch bei diesen könne man sich versehen, und dann »geht es einem noch schlimmer«. Strenge sei dagegen besser, denn unter ihr trage jeder mehr Sorge für sich und nehme sich vor der Bosheit der Menschen in acht, und so fahre jeder am besten.
Kaum zwei Wochen nach diesem Gespräch heiratete Pawlin seine Pflegetochter Ljuba, und sehr bald darauf wurde er durch ihre Gnade zum Märtyrer, sowie durch die Gnade der anderen, die weder seine Verdienste, noch seine grauen Haare, noch die Vorzüge seines bedeutenden, festen und ehrenhaften Charakters schonten.
Ich weiß nicht, ob ich zu Beginn meiner Erzählung die Generalin Anna Ljwowna hinreichend charakterisiert habe; wahrscheinlich nicht. Ich wende mich daher nochmals ihr zu und sage in Kürze, daß sie nicht nur eine unfreundliche, selbstsüchtige und hartherzige Frau war, sondern vielleicht auch die grausamste und berechnendste Egoistin der ganzen Welt, die um des nichtigsten Vorteils willen vor nichts zurückschreckte. Mit unerschütterlicher Gemütsruhe war sie stets bereit, ihren kleinlichsten Berechnungen zuliebe Glück und Leben ihrer Nächsten zum Opfer zu bringen.
Dasselbe tat sie auch jetzt, als sie den bejahrten Pawlin und die junge Ljuba durch das Band der Ehe vereinte. Anna Ljwowna wußte, daß Ljuba Pawlin nicht lieben konnte, und hatte sich auch nicht geirrt. Weder der gewaltige Altersunterschied zwischen den beiden Ehegatten, noch Pawlins Charakterstrenge und äußerliche Rauheit – nichts ließ hoffen, daß sich Ljuba früher oder später an ihren Mann gewöhnen und etwas anderes gegen ihn hegen werde als Furcht und Abneigung – nicht so sehr gegen den alten Mann, als gegen den Lakai....
Wenn auch die Generalin Anna Ljwowna selbst längst für alle Leidenschaften abgestorben war, so war sie doch eine Frau und wußte, daß es in einer solchen Ehe, wie sie sie zwischen Pawlin und Ljuba gestiftet hatte, für die letztere unbedingt zahlreiche bittere Augenblicke geben werde, wenn auch nicht gerade voll wildem, so doch voll stillem und vergiftetem Gram. Aus dem Gram aber erwächst die Sehnsucht, und die Sehnsucht nährt die unruhige Phantasie; aber was malt und baut nicht alles eine unruhige Phantasie? Anna Ljwowna wußte, daß in einem jungen Kopfe voll reger Einbildungskraft unbedingt bald Vergleiche auftauchen werden; welches Leben hält aber den Vergleich mit einem glühenden Traume aus? Der Traum wird sie besiegen – und ... Ljuba wird dann ganz in die Gewalt Anna Ljwownas geraten.
Glauben Sie bitte nicht, daß ich mich nur versprochen habe, als ich Ihnen sagte, es sei für die Generalin notwendig gewesen, daß Ljuba in ihre Hände gerate. Nein, sie brauchte sie in der Tat. Um schneller mit meiner Geschichte zu Ende zu kommen, sage ich Ihnen offen, daß Anna Ljwowna Pawlin und Ljuba vereinigt hatte, weil sie ein grausames Spiel auf ihre Kosten vorhatte, dessen Gedanken und Plan ihr ihr erhabenstes Gefühl, nämlich das Muttergefühl, eingegeben hatte.
Woloditschka, der in einem glänzenden Regimente diente, kostete Anna Ljwowna viel Geld und benahm sich ziemlich gewagt. Anna Ljwowna wollte ihn ein wenig ans Haus fesseln, aber wie konnte sie es tun, wenn es ihn immer fortzog? Heiraten war für ihn noch zu früh; wenn er auch mit seinem Erfolg bei den Damen der großen Welt prahlte, so hatte er doch in Wirklichkeit keinerlei derartige Erfolge. Die ausländischen Damen aber, wie sie in der Morskaja wohnen, kamen schon damals ihren Anbetern so teuer zu stehen, daß die Generalin bei jedem Gerücht über eine Annäherung Wolodjas an eine dieser Blutsaugerinnen zu zittern begann. Indes beteuerte ihr Woloditschka, daß er als ein russisches Herrchen vom bekannten Schlag unbedingt so leben müßte, wie alle »anständigen Menschen«, und um so zu leben, wollte er natürlich seine Beschützerrechte über irgendeine Frau zeigen, die sich an einer fröhlichen Tafel in einem der Restaurants an der Morskaja nicht schlechter machte, als eine der anderen.
Die Generalin begriff auch selbst, daß dies für einen richtiggehenden weltmännischen Kavalleristen unbedingt notwendig sei, und kämpfte dagegen nicht an. Nach langem nächtlichen Nachdenken und vielen Erwägungen kam die gute Mutter auf den Gedanken, daß sie ein Universalmittel für all das bei der Hand habe und dieses Mittel sei – Ljuba. Ljuba war jung, hübsch und pikant, und wenn man sie ein wenig ausbildete, könnte sie sehr gut als Begleitdame für Dodja dienen. Daß Dodja sie aber zwingen werde, sich in ihn zu verlieben – konnte denn darüber auch nur ein Zweifel sein?
Er war in den Augen der Mutter hübsch, und wenn sie ihn auch für einen »uniformierten Dummkopf« hielt, so hatte er eben doch eine schöne Uniform, verstand sich selbst auf dem Klavier zu begleiten und Romanzen zu singen, in der Art des Liedchens vom »Kühnen Manövergast«, das damals den Frauen die Köpfe verdrehte:
»Ach, wie schön, nicht wahr, Mama,
Ist unser kühner Manövergast!
Die Uniform mit Gold gestickt,
Wie Feuerglut das Auge blickt,
Oh, Gott du mein, oh, Gott du mein,
Ach, wenn er wollte meiner sein!«
Anna Ljwowna wußte, daß dieser armselige Zauber, über den ihr »uniformierter Dummkopf« verfügte, mehr als hinreichend ist für ein leichtsinniges, siebzehnjähriges Geschöpf, das einen alten Mann hat, dessen sie sich schämt ... Das Spiel schien ganz risikolos, sie mischte betrügerisch die Karten und gab sie aus.
Um vor allem die soziale Stellung Ljubas zu heben, nahm man seine Zuflucht zu einem Scherz: alle im Hause nannten sie »die Schweizerin Ljuba« – das klang gut und maskierte ihre lakaienhafte Ehe vorzüglich. Alle jungen Leute, die im Haus Anna Ljwownas verkehrten, erblickten in Ljuba nicht die junge Frau des aufgeblasenen Türschweizers Pawlin, sondern etwas ganz Besonderes, durchaus Unabhängiges und ... Anziehendes.
Man begann Ljuba den Hof zu machen, anfangs gemäßigt und wohlanständig, dann aber immer hartnäckiger und zügelloser. Alle Kameraden Dodjas ohne Ausnahme umschmeichelten sie. Aber Ljuba gefiel keiner von ihnen; sie war mit allen zufrieden, die sie im Hause Anna Ljwownas sah, aber ihr Herz hatte, wie sich die alten Poeten ausdrückten, noch keinen gewählt, und Pawlin war glücklich. Glücklich worüber? Liebte ihn Ljuba, und machte sie ihn glücklich? Nein, Ljuba war immer die gleiche, sie hielt sich sorgsam von ihm fern und verbrachte ihre ganze Zeit bei Anna Ljwowna, mit Handarbeit oder mit dem Einschenken von Kaffee und Tee beschäftigt; aber Pawlin liebte sie maßlos und wünschte nichts als ihr Glück. Zu ihrem Glück aber schien es notwendig, daß sie nicht bei ihm sei, und er nahm auch dies mit Freuden hin.
Von seiner Leidenschaft verwundet, war Pawlin sozusagen gänzlich blind und taub geworden. Seine angeborene demokratische Gesinnung schmolz wie Schnee, und wenn er sich auch nicht seiner bunten Livree schämte, so wünschte er anscheinend doch, daß Ljuba den Flug höher nehme. Ljuba, die seit ihrer Kindheit mit der französischen Sprache vertraut war, sich auf der Schule in ihr vervollkommnet und sie dann schließlich bei Anna Ljwowna praktisch angewandt hatte, bereitete ihrem Manne damit Freude, daß sie sich ganz wie ein Fräulein und wie eine Ausländerin benehmen konnte, mit einem Worte: wie eine Schweizerin in jeder Beziehung.
In Pawlin, der dies alles selbst gewünscht hatte, entwickelte sich damals eine besondere, ganz seltsame Schüchternheit den Launen Ljubas gegenüber. Der arme Alte fühlte sich anscheinend beständig geniert, daß sie ein geborenes Fräulein und er ein Lakai sei. Es war ihm wahrscheinlich nie in den Kopf gekommen, daß er sie so lieben und sich vor ihr so genieren werde, wie es nun gekommen war. Aber er lehnte sich nicht dagegen auf und empörte sich nicht, es gefiel ihm sogar, Ljuba zu dienen, und er übte in allem Nachsicht gegen sie. Er putzte sie wie eine Puppe, putzte sie gerade so, daß sie nicht einer Türschweizerin, sondern einer wirklichen Schweizerin gleiche.
Dadurch leerte sich der Säckel mit seinen unberührten, aber natürlich verhältnismäßig geringen Ersparnissen; er duldete dies alles widerspruchslos und verdoppelte nur seine Sparsamkeit inbezug auf sich selbst und alle jene Posten, wo er die Ausgaben durch eigene Arbeit ersetzen konnte. Wenn er auch seit seiner Verheiratung in der Erfüllung seiner dienstlichen Obliegenheiten nicht nachlässiger geworden war, so blieb ihm jetzt doch nicht mehr so viel Zeit, um Romane zu lesen, da Ljuba morgens, wenn sie aufgestanden war und sich angezogen hatte, gleich zu Anna Ljwowna hinaufging. Pawlin räumte ihr Zimmer auf, sah ihre Garderobe durch und machte sich dann daran, sie in Ordnung zu bringen.
Ljuba machte oben bei Anna Ljwowna verschiedene »englische Stickereien«, während Pawlin sich unten in seinem sauberen Kämmerchen einschloß, ihre Stiefelchen putzte, Knöpfchen und Häkchen befestigte und in einem kleinen runden Öfchen Fältelzangen und Plätteisen heiß machte. Wenn sie glühten, nahm er aus dem Schrank ein Plättbrett, bedeckte es mit einem reinen Tuch und begann ihre Handschuhe, Jäckchen und Vorhemden zu fälteln und zu bügeln.
Pawlin erlangte zwar bald in diesen Dingen, deren er sich aus wirtschaftlichen Gründen annahm, die gehörige Vollendung, aber er sparte dadurch sehr wenig im Vergleich zu den großen Ausgaben, die die Putzsucht Ljubas und die Leidenschaft Pawlins, sie mit schönem Putz zu erfreuen, erforderten. Übrigens bat ihn Ljuba niemals um dergleichen, der verliebte Alte wollte ihr vielmehr selbst damit Freude machen.
Bei einer derartigen Verwöhnung und Verhätschelung fiel es Ljuba nicht schwer, für alle Besucher Anna Ljwownas die interessante »Schweizerin« zu sein, eine hübsche, pikante kleine Ausländerin, mit der sich abzugeben durchaus nicht unpassend war; man sprach, lachte, scherzte und verkehrte mit ihr überhaupt wie mit seinesgleichen.
Einer der Freunde des Sohns der Generalin, der einiges Talent hatte, mit dem Bleistift graziöse Frauenköpfe zu zeichnen, skizzierte unaufhörlich in sämtliche Albums das zierliche, blonde Köpfchen der Schweizerin Ljuba. Dieses Köpfchen gelang ihm besonders gut, und die Jugend erbat sich vom Künstler um die Wette diese liebenswürdigen Skizzen.
Die Blätter machten ihren Weg durch die Hände der »jeunesse dorée« und verschafften Ljuba eine ziemlich breite Popularität. Ljuba selbst wußte es nicht und machte sich überhaupt keine Sorgen darüber, daß sie so zum Magnet für sehr viele junge Leute wurde, die das Original der künstlerischen Wiedergabe zu sehen wünschten. Auf diese Weise tauchten um Ljuba immer mehr Verehrer auf; sie machten ihr den Hof, so weit es überhaupt ging, und die Generalin sah und duldete es.
Was Pawlin anbelangt, so bewies er seiner jungen Frau gegenüber eine Toleranz, wie man sie nur selten bei den Schreiern über die Unabhängigkeit der Gefühle und die Gleichberechtigung der Geschlechter hinsichtlich ihrer Freiheit antreffen kann. Übrigens zeigte auch Pawlin eine gewisse Eitelkeit: er wollte sich jung machen und verschaffte sich zu diesem Zwecke ein, wie er sagte, seltenes Buch, aus dem er merkwürdige Dinge herauslas. So erzählte er z. B. mir einmal, daß er »sich die Regeln über die Pflichten des Menschen vollkommen zu eigen gemacht habe, der, wenn er nach dem Sittengesetz seiner Pflicht lebe, mindestens hundert Jahre auf dieser Welt leben werde.«
Seine fünfzig Jahre betrachtete Pawlin auf Grund dieses Buches gerade als Volljährigkeit und behauptete auf Grund desselben Buches, daß »nur die Dummen vor ihrem hundertsten Jahre sterben und nur die Taugenichtse krank werden, die nichts von der Praxis des Lebens verstehen«. Was ihn anbetraf, so war er selbstverständlich fest davon überzeugt, daß er sich diese »Praxis« vollständig angeeignet habe.
»Ich bin niemals krank gewesen«, sagte er, »und weiß nicht, wovon ich krank werden soll, denn ich lebe, wie es sich gehört. Trinke keinen Wein und Kaffee, verdirb dir nicht die Brust mit Tabak, und du wirst nie krank werden. Schlafe ohne Kissen in einer geraden Linie, und du wirst nie krumm werden. Iß gesalzen und trink sauer, dann wirst du nach dem Tode nicht verfaulen.«
Aus diesen Erzählungen Pawlins erfuhr ich die Geheimnisse seiner alltäglichen Hygiene und dachte bei mir: kann denn dies alles der jungen, frischen Ljuba gefallen?
Er zeigte nicht die geringste Unzufriedenheit darüber, daß Ljuba in seiner Portierklause fast gar nicht wohnte, in der seit seiner Verheiratung neue Vorhänge, Blumen und Kanarienvögel aufgetaucht waren. Er wurde selbst dann nicht eifersüchtig, wenn die jungen Leute, die von Anna Ljwowna fortgingen und aus seinen Händen ihre Mäntel empfingen, ganz ungeniert ihr nicht sehr zurückhaltendes Lob über die Schönheit der »Schweizerin« verschwendeten. Pawlin schwieg bei diesen Lobreden nur und lächelte in seinen dichten, hellblonden Schnurrbart.
Der kluge und einsichtsvolle, immer ehrliche und gegen sich selbst strenge Pawlin war der Hinterlist und Verräterei nicht fähig und argwöhnte sie daher auch nicht bei den anderen, und da seine Seele rein und klar war, erschien er hier als ein Blinder. Betrachtete man ihn, so konnte man die ganze Wahrheit des Wortes Bacons von Verulam nachprüfen, der da sagte, daß Menschen, bei denen das philosophische Temperament vorherrscht, zu Eulen werden, die nur in der Dämmerung ihrer Vernunftschlüsse sehen, aber im Lichte der Tatsachen blind sind, so daß sie am allerwenigsten das sehen, was am klarsten und offensichtlichsten ist. Da nun »die Söhne der Welt klüger sind als die Söhne des Lichts« und da Pawlin in seiner Art ein Sohn des Lichtes und ein Diener der Pflicht war, so wurde er von den Söhnen der Welt überlistet und bestohlen ...
Ljuba wurde ihrem Manne endgültig abspenstig gemacht, verwirrt und betrogen. Wie dies vor sich ging, werde ich Ihnen nicht erzählen, weil ich selbst nicht dabei war und auch keine Einzelheiten darüber gehört habe; schließlich ist es für uns gleichgültig, wie es geschah. Es genügt, wenn ich Ihnen sage, daß der, der eine Herde Schafe besaß, dem, der nur ein Schaf hatte, auch dieses letzte wegnahm.
Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, wer der Urheber der Leidenschaft Ljubas war. Es ist nicht schwer zu erraten, daß bei dem allgemeinen Buhlen um sie her der Löwenanteil Dodja blieb, den vor allem die gesamten häuslichen Umstände in dieser Hinsicht begünstigten. Ljuba verbrachte mit ihm Tage und Nächte unter einem Dache, und unterlag schließlich, sozusagen gegen ihren Willen, der Leidenschaft. Sie sah, daß er bereit war, ihre gute Position bei Anna Lwowna zu zerstören; sie sah, daß, wenn er mürrisch war und ihr schmollte, dies ihre Wohltäterin verdroß und diese weinte und litt ... Ljuba wußte nicht, wie sie anders handeln sollte, und trocknete ihre Tränen ... Dodja war ein unbedeutender Junge, der, wenn er Geld hatte, es hinauswarf, und wenn er keines hatte, es sich auf dreifache Wechsel verschaffte; dabei hatte er aber keine Dame, die als seine Favoritin gegolten hätte. Ljuba schien ihm für diese Rolle geeignet, er bestimmte sie dazu und führte es auch aus. Dazu schmückte und kleidete Pawlin sie mit eigenen Händen, wie er mir in der Folge in der bittersten Minute seines Lebens erzählte.
Es kam so: es war Winter, in der Stadt gab es viele Bälle und Maskeraden, und Anna Ljwowna, die der armen Ljuba eine kleine Freude machen wollte, schickte sie auf einen Kostümball in irgendeinem Klub. Man hatte Pawlin schon fast einen Monat vorher von dieser Ausfahrt gesagt, und während dieses ganzen Monats arbeitete man im Hause am Kostüm Ljubas. An diesen Vorbereitungen nahmen alle Anteil von Anna Ljwowna angefangen bis zu Pawlin, der mehr als sonst beständig von seinen Obliegenheiten abgehalten wurde und mit Bestellzetteln bald in den einen, bald in den anderen Laden laufen mußte, um allerlei Kleinigkeiten für Ljubas Feenkostüm zu besorgen. Die Ausführung des Kostüms, die besonderer künstlerischer Erwägungen bedurfte, leitete ein Künstler – der Freund Dodjas, der die gelungenen Bleistiftporträts Ljubas gezeichnet hatte. Dies brachte natürlich die jungen Leute bis zur freundschaftlichsten Zärtlichkeit einander nahe und löschte in Ljubas Köpfchen ihren alten Lakai-Gemahl gänzlich aus. Endlich war das Kostüm fertig und über alles Erwarten schön geworden. Pawlin sah seine Frau, wie sie die Treppe hinunterstieg in Begleitung einer Verwandten Anna Ljwownas und beschützt von ihren Kavalieren, unter denen sich auch der Künstler und Dodja befanden.
Ljuba war als »Morgenröte« gekleidet: sie trug ein leichtes, ätherisches Gewand aus Krepp in abschattierten bunten Farben. Das weite, in dichten Falten fallende Gewand war unten dunkel wie die Nacht, aber nach oben zu lichtete sich die Dunkelheit und ging in weichen Halbtönen in immer leichtere hellere Farben über; vom Gürtel aufwärts wurde es ganz licht und luftig, so daß Ljubas Gestalt wie eine Wolke fortzuschweben und dahinzuschmelzen schien. Inmitten dieses Schmelzens wurde Ljubas lichtes Köpfchen von einer Lilie und einer roten Rose gekrönt, an ihren Schultern schimmerten tausendfarbige Flügelchen aus Wachs, und in den Händen hielt sie eine goldene Leuchte, die mit blauen Vergißmeinnicht und gefülltem Mohn umwunden war. Schlaf und Erwachen, das dunkle Schlummern der Leidenschaften und ihr helles Aufflammen, das alles war in Ljubas Kostüm passend versinnbildlicht, und Pawlin setzte sie so in den Wagen. Und vier Stunden später hob er sie aus dem Wagen als eine ganz andere. Ljuba sagte zu ihrem Manne kein Wort und wollte auch das Brathuhn und das Gebäck, das er für sie hergerichtet hatte, nicht berühren. Sie riß das Kleid von sich herunter, warf sich auf das Bett, drehte sich zur Wand und blieb in dieser Lage ohne sich zu rühren den Rest der Nacht und den ganzen folgenden Tag liegen. Pawlin bewachte ihren langen Schlaf, aber er bewachte ihn umsonst; Ljuba schlief nicht. Erst weinte sie lange und lag dann mit rotem, entzündetem Gesicht und offenen trockenen Augen da und starrte auf ein und denselben Punkt.
Jeder nur ein wenig beobachtende Mensch hätte beim Anblick dieser Frau ohne zu zweifeln gesagt, daß durch ihre Hände ein hohes Spiel gegangen sei, was auch richtig war. Ljuba wollte erst ihrem Manne alles gestehen, überlegte es sich aber, wartete bis gegen Abend, zog sich an und ging hinauf, um sich bei Anna Ljwowna über Dodja zu beklagen. Aber die Klage wollte sich in ihrem Köpfchen so schlecht zusammenreimen, daß sie davon abstand und sich darauf beschränkte, sich über Dodja bei ihm selbst zu beklagen und ... unter Küssen Frieden zu schließen. Die einmal begonnenen Ausfahrten und Maskenvergnügungen wiederholten sich. Wenn Pawlin spät am Abend in seinem Sessel schlummerte, um die verspäteten Mieter des Vorderhauses zu erwarten, oder hinter den Säulen auf seinem grausamen Lager ohne Kissen ruhte – argwöhnte er nicht, daß seine Frau sich jetzt durchaus nicht bei Anna Ljwowna langweilte, sondern in hell erleuchteten Ballsälen im schwarzen Domino unter dem Strudel der Tanzenden dahinjagte, daß um die Zeit, wenn er erwachte und seiner Frau in Gedanken in die Wohnung der Generalin einen Gruß hinaufsandte, die zarte Ljuba, das Köpfchen vom Champagnerdunst umnebelt, in der klingenden Troika hinflog, mit den glühenden Lippen gierig die frische Luft einatmend.
Dies alles ging ziemlich lange still und verborgen vor sich. Die Umstände fügten es so gut, daß die Betrügerin anscheinend nie etwas zu befürchten hatte. Die alte Generalin zog sich so früh auf ihr Zimmer zurück und schloß hinter sich die Tür des kleinen Betzimmers, wo Ljuba auf einer mit einem weichen Teppich belegten Ottomane schlief, so fest zu, daß es der letzteren gar keine Mühe machte, aufzustehen und ihre besten Kleider anzuziehen, die ihr die Generalin gnädigst gestattet hatte in den Schränken ihrer Garderobe aufzubewahren. Anna Ljwowna schlief entweder fest oder war so sehr mit ihren Rechnungen beschäftigt, daß sie nie etwas von diesen Vorbereitungen hörte. Ja, noch mehr, sie war so gutmütig, daß sie Ljuba nie beim Kommen oder Gehen störte. Wenn Ljuba zurückkehrte, konnte sie vor den schwach beleuchteten, dunklen und strengen Gesichtern der Familien-Ikonen weinen. Aber weinte Ljuba vor ihnen über ihren Fall? Anfangs hatte sie wohl ein wenig darüber geweint, umso mehr aber gegen das Ende ihres Glänzens in diesem fest hineinziehenden Kreise, den zwar schon viele Schriftsteller aller Literaturen der gebildeten Länder gestreift haben, der aber wohl noch kaum eine vollständige Schilderung gefunden hat, die uns eine Vorstellung von der Physiologie dieses verhängnisvollen und ungeheuerlich hineinziehenden Lebens zu geben vermöchte. Wir Russen besitzen überhaupt keine Schilderung, nicht ein einziges lebendiges und deutliches Bild von diesem Kreise.
In diesem Kreise glühen und wogen die Leidenschaften oft viel stärker als sonst in der Welt, und unsere Schweizerin wurde von ihrem neuen Leben hingerissen und spielte in ihrem Kreise eine bedeutende Rolle. Anfangs fürchtete sie sich und war so verwirrt, daß sie sich kaum dazu entschließen konnte; aber bald gewann der Ehrgeiz die Überhand. Ljuba sah, daß Dodja zagte und zweifelte, ob er mit ihr erscheinen könne, ohne befürchten zu müssen, daß sie schlechter als die anderen abschneiden werde. Da Ljuba klug und scharfsinnig war, merkte sie diesen beleidigenden Zweifel bald; der Stolz ihrer eitlen Schönheit wurde in ihr wach, und sie nahm sich vor, die erste unter jenen zu sein, zu denen sie hinabstieg. So erreichte sie auch vollkommen alles, was sie sich in ihrem beleidigten Stolze vorgenommen hatte. Dodja mußte nicht über Ljuba erröten: sie hatte mit einem Male ihre Rolle erfaßt und spielte sie mit solchem Glanz, daß alle den vollen Erfolg der Madame Pawlin anerkennen mußten. Dieser zärtliche Name erreichte vielleicht sogar hin und wieder Pawlins Ohr, aber was ging es ihn an? – Er wußte ja nicht, was es bedeutete.
Ljubas Erfolg wurde größer, und ihr dunkler Ruhm wuchs, aber dabei war Ljuba kein käuflicher Schatz: sie liebte Dodja, und Dodja verlor daher jeden Halt. Er dachte so hoch von sich, daß er meinte, es gäbe für keine Frau einen wertvolleren Menschen als ihn. Dies machten sich Ljubas Rivalinnen zunutze, die mit Haß und Neid auf sie blickten: sie umschmeichelten hinterlistig Doditschka, der sich gar zu viel einbildete, und brachten dann alles ans Licht. Ljuba war im tiefsten Herzen verletzt und begann sich durch Gleichgültigkeit zu rächen. Aber, während sie dieses Spiel spielte, plünderte man Doditschka die Taschen aus, und zwar so schnell und unbarmherzig, daß er, ehe er sich es versah, tief in Schulden steckte. Nun begann die gewöhnliche Geschichte, die jedoch nicht ganz so gewöhnlich endigte. In dem Maße, in dem sich Doditschkas Mittel erschöpften, erkalteten Ljubas Rivalinnen gegen den Verräter, und als sie ihren Rachedurst gestillt hatten und sahen, daß an Dodja nichts Begehrenswertes mehr war, überließen sie ihn dem Gram und der Erniedrigung. Indes begann von Pawlins Augen der Schleier zu fallen. Ljuba, die so viel Fähigkeit bewiesen hatte, ihre Liebe zu verbergen, zeigte sich ganz unfähig, auch ihr Leid verborgen zu tragen. Zunächst floh sie aus den Appartements ihrer Wohltäterin und setzte sich bei ihrem Manne fest. Mit diesem Schritte wollte Ljuba natürlich nicht unwiederruflich ein tugendhaftes Leben beginnen, – sie wollte nur ihren Verräter einige Zeit nicht sehen; die Arme hoffte, ihn während dieser Zeit fühlen zu lassen, daß er ihr gleichgültig sei und daß sie ihn leicht entbehren könne. Pawlin strengte seinen Verstand und seine Augen an, um dahinterzukommen, was für ein heimlicher, aber bitterer Kummer seine Frau quäle. Er suchte die Lösung dieses Rätsels und begann zu überlegen, ob vielleicht Anna Ljwowna Ljuba beleidigt habe. Aber es gelang Ljuba, ihren Mann zu überzeugen, daß Anna Ljwowna ihr nichts Übles zugefügt habe. Daraufhin schlug Pawlins Verdacht einen anderen Weg ein und kam immer näher und direkter ans Ziel. Es tauchte in ihm der Gedanke auf, ob nicht der junge Herr seine Frau gekränkt habe, und sein Herz krampfte sich schmerzhaft in der Brust zusammen. Und plötzlich, ganz unerwartet enthüllte sich ihm das ganze Geheimnis. Doditschka war, wie es dem größten Teil derer geht, die ohne große Mittel diese Bahn betreten, so endgültig in Schulden verstrickt, daß er genötigt war, sein Regiment zu verlassen und sich in ein weit entferntes Städtchen im Nordosten Rußlands zurückzuziehen. Natürlich ging das alles nicht ohne Familienszenen ab, und bei dieser Gelegenheit wurde Pawlin von der Nachricht von der Untreue seiner Frau wie von einem Donnerschlage getroffen.
Als Pawlin zu sich gekommen war, erschien er ganz unvermittelt spät am Abend bei mir und bat mich, ihm zu erlauben, bei mir zu übernachten, da er sich fürchte, im Hause Anna Ljwownas über Nacht zu bleiben, denn »er habe alles begriffen und fürchte, daß er im Zorn etwas Ungehöriges tun könne«. Natürlich schlug ich es ihm nicht ab, und damit begann eine der seltsamsten Nächte meines Lebens: ich lebte einige Stunden im Innersten einer fremden Seele und fühlte selbst die mörderische Glut ihrer Liebe und ihres Leids und die eisige Todeskälte ihrer schrecklichen Verzweiflung. Pawlin befand sich in einem Zustande der heftigsten Erregung. Aber was für einer Erregung? Einer seltsamen und unbegreiflichen! Ich möchte, um den Zustand dieses Menschen genauer bezeichnen zu können, einen biblischen Ausdruck gebrauchen und sagen, er war sich selbst »entrückt« und stand auf einer sonderbaren Stufe des inneren Schauens, die ihm einen Blick auf etwas Verborgenes eröffnete. Vielleicht erinnern Sie sich, daß sich in der Eremitage unweit des Rubenssaales eine kleine Darstellung des Jüngsten Gerichtes von einem mittelalterlichen Maler hängt, die außerordentlich detailreich und fein ausgeführt ist. In der Mitte des Bildes befindet sich eine emblematische Figur, die so gestellt ist, daß sie oben Gott Vater in seiner himmlischen Herrlichkeit sehen kann und unter sich in der Tiefe den Herrn der Finsternis, umgeben von widerlichen Ungeheuern, die die Sünder peinigen. So oft ich vor diesem Bilde stehe und die erwähnte Figur anschaue, erinnere ich mich unwillkürlich an Pawlin: so sehr schien mir sein seelischer Zustand der Lage jener emblematischen Figur zu gleichen. Pawlin litt, wenn ich mich so ausdrücken darf, qualvoll, aber triumphierend und voller Andacht. Er fiel nicht in Verzweiflung, weinte und schluchzte nicht, aber er verschloß sich auch nicht in finsteres, stolzes Schweigen, das viele für Charakterstärke halten. Im Gegenteil, er sah ein, wie tief er gefallen war und daß er noch tiefer gesunken wäre und ein anderes Wesen mit sich gezogen hätte. Er nahm alles, was über ihn hereingebrochen war, wie einen verdienten Rutenstreich eines Lehrers hin und sprach in einem für mich ganz unerwarteten Tone der Selbstverurteilung. Als er bei mir eingetreten war, setzte er sich unaufgefordert in meinem Empfangszimmer hin und ließ einige Minuten in tiefem Schweigen verstreichen. Er rieb nur seine auf den Knien liegenden Hände und ließ seine Blicke von Gegenstand zu Gegenstand wandern. Dann sah er mich plötzlich mit schwerem, gleichsam müdem Blicke an und fragte:
»Haben Sie es gehört?«
Ich antwortete bestätigend.
Er wiegte nachdenklich den Kopf und brachte leise hervor: »Es ist schrecklich!« Dann fügte er lebhafter, als habe er es jetzt erst bemerkt, hinzu: »Sie verzeihen, daß ich mich so ... hingesetzt habe...«
»Aber bitte, Pawlin Petrowitsch!«
»Die Knie knicken mir ein... Ich kann mich nicht beruhigen... bis ich es nicht von ihr selbst gehört habe... Ich will es bestätigt haben.«
»Nun, haben Sie sie gefragt?«
Er antwortete nicht, sondern senkte nur, zum Zeichen der Bejahung, schweigend den Kopf. Einen Augenblick später begann er geheimnisvoll flüsternd:
»Die Edelmütige!... Ihre ganze Seele hat sie mir offenbart... sie hat an meiner Brust geweint und um Vergebung gebeten...«
»Sie haben vergeben?«
»Was sollte ich ihr vergeben? Indem sie mir ihre Seele offenbarte, öffnete sie in mir ein tiefes Schauen in mich selbst, und ich erschrak. Ihre Schuld flog wie eine leichte Lerche auf und verbarg sich unterm Himmel; aber meine Sünde krächzt unten wie ein plumper Rabe und hebt sich nicht von der Erde... Ich ging gleich darauf zu meinem geistlichen Vater, er tröstete mich: ›Du hast das Gesetz gehalten, deine Frau ist aber untreu‹... Erlauben Sie, das sind Feigenblätter, ich kann mich mit ihnen nicht bedecken. Gott sieht, wo ich war, als ich mich in meinen Jahren mit ihrer Jugend verband. Ich war gewalttätig. Ich sehe jetzt, daß ich wie ein Fels gefallen und zersplittert bin ... Sie meinen, ich sei noch derselbe, der ich gestern und vorgestern gewesen bin? Nein, heute am Tage des Leides hat mir der Herr seine Gnade erwiesen: ich habe eingesehen, daß ich Staub bin, daß ich ganz aus Vergänglichkeit gebildet bin, daß die Herren aller Leidenschaften auf meinem Rücken säen und pflügen können: Stolz, Unreinheit, Wollust, Leidenschaft und Eifersucht und ... und ... die Neigung zum Mord... Ach! Ach! Ach!«
Er sprang auf und fuhr fort, im Zimmer auf und abgehend:
»Verzeihen Sie mir ... Ich verdiene jetzt freilich keine Verzeihung, aber um Christi willen ... im Namen Christi ... verzeihen Sie! ... Ich spreche in einem fort und ... ich kann nicht schweigen ... Der Geist in meinem Innern ... drängt wie ungeklärter Wein und schlägt das Gewissen und ... und bewegt die Zunge im Munde. Sie sollen wissen, wenn mit mir etwas geschieht ... daß ich sie ins Verderben gebracht habe. Gerecht ist der Herr, wenn er mich straft: ich segne den, der meine Seele gekränkt hat, und ich werde alles zu ihrem Glücke tun.«
»Wie denken Sie sich das?«
»Ich ... ich will es so einrichten, ... daß ich nicht störe.«
»Was heißt das? ... Sterben?«
Er sah mich an und lächelte plötzlich ganz unerwartet. Es war ein äußerst seltsames Lächeln, das seinem stolzen Gesicht einen so gütigen und reizenden Ausdruck gab, wie ich ihn an ihm noch nie gesehen hatte. Er sagte: »Ich werde sterben und doch leben. Rettung ist not. Sie ist jetzt zu Hause. Gestatten Sie mir, daß ich bei Ihnen ein wenig schlafe.«
– Der Wein hatte sich geklärt, und der Geist drängte nicht mehr. – Er schien tief ruhig zu sein, und als ich ihn allein im Zimmer gelassen hatte, legte er sich sogleich auf den Diwan und schlief ein. Ich schlief noch, als Pawlin am Morgen aufstand, sich in der Küche wusch und fortging. Mein Diener folgte ihm aus Neugierde und sah, daß Pawlin in die Kirche ging.
Als ich, damals noch ziemlich ungeduldig, morgens bei meiner betrübten Tante Anna Ljwowna erschien, war sie schon auf und saß recht graziös in einem tiefen Sessel; sie spielte die unschuldige Märtyrerin, weinte ein bißchen und rieb sich mit einem Tüchlein die Augen. Sie war gesprächig und verbreitete sich sogar über die unmoralische Gesellschaft, die ihren unvorsichtigen Dodja in unverdienten Verdacht gebracht und unter Mitwirkung einer ganz widerwärtigen Frauensperson zugrunde gerichtet habe.
Darauf brachte Anna Ljwowna lauter Unsinn vor und malte so phantastische Bilder, daß jeder unwillkürlich zur Überzeugung kommen mußte, daß all dies Lüge und Verleumdung sei.
Weder beim Kommen noch beim Gehen sah ich an diesem Tage Ljuba oder Pawlin, dessen Obliegenheiten an diesem unruhigen Tage unerfüllt blieben, und ich konnte mich bei niemand über ihn erkundigen. Auch den ganzen folgenden Tag hörte ich nicht das geringste von ihm, weshalb ich gegen Abend ohne Umstände hinging, um nach ihm zu fragen. Ich erfuhr folgendes: Pawlins Zimmer war schon seit gestern leer, seine ganze Habe lag unordentlich herum, wie nach einem Diebsbesuch. Weder Pawlin noch seine Frau waren irgendwo gesehen worden, und niemand konnte auch nur die geringste Auskunft über sie geben. Nur ich allein konnte bezeugen, daß Pawlin mir gesagt hatte, seine Frau sei jetzt zu Hause und er wolle sie von der Sünde befreien und auch seine Seele retten; aber was konnten alle diese Worte bedeuten? Man maß ihnen allerlei sinnbildliche Bedeutungen bei, unter denen eine nicht so ganz unwahrscheinlich erschien. »Die Frau ist jetzt zu Hause« – das könnte bedeuten, erklärte man, daß er sie umgebracht habe und sie sich »im ewigen Hause« befinde; aber daß er fortgegangen sei, um seine Seele zu retten, bedeutete, daß er irgendwohin in die Wüste gegangen sei. Wenn Sie wollen, lag hierin etwas so Glaubhaftes, daß schließlich alle an diese Kombination glaubten. Dazu kam noch, daß nach zwei Wochen oder noch etwas später bei Jekaterinenhof oder bei Tschekuschy der verweste Körper einer jungen Frau ans Ufer gespült worden war, deren Gesicht man nicht erkennen konnte, die aber feine Wäsche und ein schwarzes Seidenkleid trug... das gleiche Kleid, in dem man die Schweizerin Ljuba zum letzten Male gesehen hatte. Es ist zwar richtig, daß die meisten schwarzen Seidenkleider einander gleichen, aber der Verdacht urteilt einmal nicht. Da sich weder Verwandte, noch Freunde zu der jungen Ertrunkenen bekannten, waren die Mieter Anna Ljwownas und sie selbst schließlich fest davon überzeugt, daß die Tote niemand anders als die Unglückliche Ljuba sei, die Frau eines grausamen und rachsüchtigen Raoul, des spurlos verschwundenen Türschweizers Pawlin Pjewunow.
Dieser Umstand blieb nicht ohne Folgen: als man die Umgekommene beerdigte, war Anna Ljwowna so gütig, zehn Rubel zum Sarge und zur Seelenmesse für Ljuba zu spenden. So wurden dank der christlichen Fürsorge Anna Ljwownas Totengebete für die Seele der vorzeitig umgekommenen Ljuba verrichtet, während man Pawlin vergaß. Und man vergaß ihn so gründlich, daß man sich seiner bis auf den heutigen Tag nicht mehr erinnerte, mit Ausnahme des einzigen Males, als man in einer Auktion die noch nicht gestohlenen Reste der Habe des »spurlos verschollenen Pjewunow« versteigerte.
Wo waren aber Pawlin und Ljuba hingeraten?
Dazu müssen wir zu dem Zeitpunkt zurückkehren, wo wir sie aus den Augen verloren haben.
Nachdem Pawlin sich von mir verabschiedet hatte, ging er, von niemand bemerkt, zu seiner Frau. Als Ljuba ihren Mann erblickte, begann sie zu zittern. Sie hatte ihn noch nie so gütig gesehen, und deshalb erschien er so schrecklich.
Er zog sich schnell um, kleidete seine Frau an, nahm alles, was er für nötig fand, und führte Ljuba aus dem Hause Anna Ljwownas. Ljuba leistete keinen Widerstand, sie verstand nur das eine, daß man sie irgend wohin fortführe. Pawlin und Ljuba trafen auf einer Station hinter Petersburg mit Doditschka zusammen. Ljuba zeigte sich ihm nicht, aber Pawlin trat vor meinen Vetter, doch nicht mit dem Grimm des beleidigten Gatten, sondern mit der großen Demut des Christen, der Frieden mit sich selbst gemacht hat, und sagte ihm:
»Seien Sie gütig und großherzig und sagen Sie mir: haben Sie meine Frau geliebt?«
»Ja; was willst du denn?« antwortete Doditschka, der es sich noch nicht abgewöhnt hatte, seinen Vorrang über den vor ihm stehenden Lakai zu empfinden.
»Ich werde Ihnen gleich sagen, was ich will,« erwiderte Pawlin sanftmütig, »aber wollen Sie mir vorerst noch sagen, ob Sie sie auch jetzt noch lieben.«
»Ja, ich liebe sie, nun, und was willst du?«
»Das ist alles, was ich will ... Auch sie liebt Sie, sie liebt Sie schrecklich ... und sie hat es mir selbst gesagt.«
»Du hast sie danach gefragt?«
»Ja, ich habe sie danach gefragt, und sie hat mir alles gestanden und geweint ... Was ist zu tun: ich bin vor Gott für sie schuldig.«
Doditschka traute seinen Ohren nicht und begriff nicht, was das heißen solle. Aber Pawlin ging jetzt in das anstoßende Zimmer, führte von dort seine verwirrte Frau an der Hand herein und sagte:
»Hier ist sie; sie ist nicht mehr meine Frau!«
»Was?« rief Doditschka, der nicht begriff, wo das hinaus sollte.
»Nach all dem lasse ich sie nach göttlichem Rechte von mir ziehen... Und da sie Sie mit so hingebender Liebe liebt, so nehmen und heiraten Sie sie!«
»Du bist verrückt geworden!« Doditschka erholte sich wieder. »Wie kann ich sie denn heiraten?«
»Weshalb nicht? Ist es für Sie vielleicht erniedrigend... Das wäre unrecht. Ich würde ihr freilich nicht raten, Sie zu heiraten, weil ich weiß, was Sie für ein Mensch sind und daß sie mit Ihnen nicht glücklich sein wird. Aber sie weiß das selbst, und trotzdem hängt ihr Herz an Ihnen; so ist daran nichts zu ändern... Sie sollte in ein Kloster gehen, aber da es sie zum Abgrund zieht, so mag es wenigstens ohne Sünde geschehen; und darum... nehmen Sie sie zur Frau ...«
»Aber halt doch, Pawlin,« stammelte Doditschka, sich rechtfertigend. »Ich meine ja... nicht deswegen... sondern weil du noch lebst...«
»Ja, ich lebe; und Gott weiß, wie lang ich mich noch hinfristen werde. Aber ich werde selbst ihrethalben nicht Hand an mich legen. Gestern habe ich noch daran gedacht, aber...«
Bei diesen Worten schrie Ljuba auf, preßte die Hände vor ihr Gesicht und flüchtete sich in einen dunklen Winkel des Zimmers.
»Hm, sehen Sie!« sagte Pawlin und lächelte schmerzlich: »Sie liebt mich nicht, und doch ist es ihr leid um mich, aber Sie scheinen für sie nicht so viel übrig zu haben, obwohl sie Sie trotzdem liebt... Wenn sie für mich den hundertsten Teil der Liebe hätte, mit der sie Sie liebt, so würde ich mich selbst in der Verbannung mit ihr im Paradiese wähnen... Aber wozu schwatzen!... es ist ganz gleich. Wollen Sie sie jetzt nehmen und fortreisen und sie heiraten... ich werde darauf acht geben... und wenn Sie nicht tun, was ich Ihnen sage, so..« Er beugte sich zu Dodjas Ohr nieder und fügte hinzu: »Zwingen Sie mich nicht zur Sünde: ich spreche jetzt zu Ihnen sanftmütig als Christ, sonst töte ich Sie aber; wo Sie auch sein werden, ich werde Sie finden und töten, und das für sie... für die Frau... für die Schutzlose...«
Pawlin hatte entweder sehr entschlossen gesprochen, oder mein Vetter war ein ganz großer Feigling, auf jeden Fall war ihm mit einem Male alle Lust vergangen, sich zu weigern, Ljuba zu heiraten, und er erklärte sich mit allem vollkommen einverstanden. Es ist übrigens auch möglich, daß er sein Zugeständnis in der festen Absicht gab, es niemals zu erfüllen, um so mehr als er Ursache hatte, damit zu rechnen, daß es ihm möglich sein werde, sich vor Pawlin zu verbergen. Unter solchen Erwägungen wies er den Alten nur auf den Umstand hin, daß eine unverzügliche Eheschließung mit Ljuba unmöglich sei, da man die Frau eines noch lebenden Mannes nicht mit einem anderen Manne traue, aber Pawlin erwiderte:
»Nun, darüber machen Sie sich keine Sorgen, das ist meine Sache. Ich werde zur rechten Zeit sterben, und man wird sie mit Ihnen trauen.«
»Du wirst sterben?«
»Ja, ich werde sterben.«
– Er wird sterben, will mich aber töten – dachte Dodja. Armer Alter, wie diese einfachen Leute zuweilen lieben. Er tut mir sogar leid: er ist verrückt geworden. –
Damit gingen sie auseinander. Dodja glaubte sich natürlich endgültig von der ihm lästigen Frau Pawlins befreit, die er zwar nicht abgeneigt gewesen wäre, als seine Geliebte zu zeigen, aber nicht die mindeste Lust hatte zu heiraten. Dodja machte eine angenehme Reise. Er reiste ohne alle Eile und ohne sich um einen Termin oder eine Marschroute zu kümmern. Er hielt sich in mehreren am Wege liegenden Städten auf, empfing Besuche und besuchte selbst Personen, denen er von den Petersburger Freunden Anna Ljwownas empfohlen war; hier und dort hielt er sich sogar unter dem Vorwand von Müdigkeit und Krankheit ziemlich lange auf. Mit einem Wort, alles ging für unseren Reisenden glänzend, und so legte er beinahe den ganzen Weg zurück, als plötzlich vor ihm, bei der Überquerung des Ural, wie aus dem ewigen Schnee und Nebel heraus – die Stimme Pawlins ertönte! Und was für eines Pawlins: eines schrecklichen und unwiderstehlichen, eines sichtbaren und doch unsichtbaren, eines handelnden und dabei unwirklichen.
Wissen Sie: wenn man in einer Erzählung oder in einem Roman ein außergewöhnliches Ereignis liest, so sagt man sich immer: »Ach, liebster Autor, da haben Sie die Schleusen Ihrer Phantasie etwas zu weit geöffnet!« Aber im Leben, besonders in Rußland, ereignen sich hin und wieder Dinge, die viel wunderbarer sind, als alles Erdichtete, und dabei bleiben solche Seltsamkeiten häufig ganz unbemerkt.
Doditschka kam in ein Städtchen, das ich Ihnen nicht nennen will, da es sich für uns ja nicht um den Namen handelt. Hier hoffte mein lieber Vetter einige Personen zu finden, an die er Briefe mit hatte. Er wollte hier etwas ausruhen und sich etwas zugute tun und spielte deshalb in dem einzigen dort vorhandenen Stationsgasthofe den Kranken. Es war ihm schon à la Chlestakow gelungen, mit einer Nachbarin aus dem gegenüberliegenden Hause Blicke zu wechseln, mit einer Nachbarin, deren Gesicht er, um es kurz zu sagen, nicht gehörig hatte unterscheiden können, da sie sich nur kurz im Fenster eines Zimmers gezeigt hatte; dann tauchte plötzlich draußen vor demselben Fenster ein hoher, zerlumpter, grauhaariger Alter mit einem mächtigen Bart, in einem für Dodjas Begriffe unnatürlichen Hirschpelze auf und begann die Scheibe mit einem Handtuche abzureiben. Der Teufel mochte wissen, woher er gekommen war. Doditschka hatte ihn zwar flüchtig bemerkt, wie er vor dem Fenster auf einem zusammengekehrten Schneehaufen saß, aber er hatte ihn auf den ersten Blick eher für einen alten Bock als für einen Menschen gehalten. Plötzlich stand dieses Scheusal auf und fuhr mit seinen Pfoten an den Scheiben herum, als wollte es den guten Jüngling absichtlich der Möglichkeit berauben, sich an der Schönheit der Nachbarin zu ergötzen ... Der Alte hatte es auch wirklich erreicht, daß Dodja sein Gegenüber, das ihn so sehr interessierte, nicht mehr betrachten konnte; das war ihm im übrigen durchaus gleichgültig: er hatte an ihr rein instinktiv Gefallen gefunden, und es lag für ihn kein Hindernis vor, mit ihr eine flüchtige kleine Intrige zu beginnen, um so mehr als auch die Nachbarin sich wahrscheinlich (so weit er es beurteilen konnte) für ihn interessierte. Jedenfalls hatte Dodja Grund, so zu denken, da die fesselnde Unbekannte, als sie ihn bemerkt hatte, mehrere Male offensichtlich nicht ohne Absicht am Fenster vorbeigehuscht war. Ärgerlich war nur, daß sie etwas zu schnell vorbeihuschte, so daß Dodja ihr Gesicht nicht deutlich unterscheiden konnte. Natürlich reizte ihn jetzt die Neugier noch mehr, und er setzte sich mit dem festen Entschluß ans Fenster, nicht eher von seinem Platze aufzustehen, als bis er sie genau gesehen habe. Es ging gegen Abend; Dodja saß am Fenster und wartete immer noch darauf, ob sich sein interessantes vis-à-vis nicht noch einmal deutlicher am Fenster zeigen werde.... Das Schicksal war ihm günstig: drüben hinter dem Fenster glänzte ein schwaches Licht auf, und auf dem Tische erschien eine brennende Kerze; zwischen ihr und dem Fenster stand und bewegte sich die Silhouette einer Frauengestalt. Das war wieder eine sehr effektvolle, aber recht unbequeme Stellung. Welche Frau, die sich zu zeigen wünscht, setzt oder stellt sich zwischen ein dunkles Fenster und ein Licht, das sie von hinten her beleuchtet? Offenbar nur eine völlige Unschuld oder eine sehr erfahrene Kokette, die ihre tückischen Künste an einem Unerfahrenen üben will. Dodja aber war doch kein Einfaltspinsel aus der Provinz, sondern hatte in Petersburg eine gute Schule bei den Frauen durchgemacht und hielt sich natürlich für einen erfahrenen Mann. Er zündete bei sich kein Licht an, so daß seine Nachbarin nicht sehen konnte, ob er sich für sie interessiere oder nicht. Wenn sie keine Kokette ist, sondern eine nachgiebige romantische Einfalt, so muß sie unbedingt in diese Falle gehen. Sie wird sich ärgern, wird unvorsichtig sein und in ihrem Zorn die Kerze in die Hand nehmen – dann kann er sie sehen. Ist sie aber gewandt und schlau, wie zum Beispiel in Petersburg diese Ljuba, von der er jetzt, Gott sei Dank, so weit weggerollt ist, dann um so besser: dann ist sie für ihre Schlauheit gründlich bestraft und kann seinetwegen bis morgen dasitzen, oder bis dieser graue Ziegenbock die Fensterläden schließt... Wo steckt übrigens dieser graue Bock?... Er ist auf einmal nicht zu sehen... Kaum hatte aber der im Dunkeln sitzende Dodja an ihn gedacht, als er hörte, wie seine Zimmertür knarrte, und wie er sich umdrehte, stand der erwähnte bockähnliche Alte vor ihm. Er trug an den Füßen weiche Filzstiefel, war leise hereingekommen, ebenso leise an den Sessel Doditchkas herangetreten und so nahe hinter Doditschka stehen geblieben, daß, als mein Vetter sich umdrehte, er sich Gesicht an Gesicht mit dem geheimnisvollen Ankömmling befand. Dodja war wie alle frechen Menschen ein großer Feigling und erschrak unbeschreiblich. Mit versagender Stimme brachte er kaum hervor:
»Was wollen Sie?«
»Beunruhigen Sie sich nicht«, antwortete der geheimnisvolle Besucher mit einer Stimme, die durchaus nichts Schreckliches an sich hatte, bei der aber den feigen Dodja ein Schüttelfrost überlief. »Beunruhigen Sie sich nicht. Ich komme zu Ihnen mit einer kleinen Angelegenheit, die nicht mich betrifft...«
»Pawlin!... Du bist es?«
»Pßt! Gestatten Sie... Wer ist das: Pawlin? Durchaus nicht. Sie irren sich, Ich bin nicht Pawlin, ich kenne gar keinen Pawlin, ich bin ein ganz anderer Mensch. Ich bin der Kleinbürger Spiridon Androssow, ein einfacher Kleinbürger... ja, und ich habe auch meinen Paß bei mir... einen guten, gültigen Paß mit dem Siegel und allem, was dazu gehört. Ich bin Spiridon Androssow, Handwerker, wandre des Gewerbes wegen und melde überall meinen Paß an: wenn ich an irgendeinen Ort komme, lasse ich sofort meinen Paß abstempeln ... vorsichtshalber; auch hier habe ich mich vor einer Woche angemeldet ...«
»Aber du bist es doch ... du bist doch Pawlin! Kenne ich dich denn nicht?«
»Durchaus nicht, ich bin Spiridon Androssow.«
»Was wollen Sie von mir?«
»Ich will gar nichts; aber ich bringe Ihnen ein Zettelchen, hier, wollen Sie es nehmen.«
»Von wem ist es?«
»Von einer Witwe ... ja, von einer jungen Witwe ... geruhen Sie es zu lesen, dann werden Sie selbst sehen, was es ist.«
Noch vor einem Augenblick war mein Vetter überzeugt gewesen, daß niemand anders als der verwilderte Pawlin vor ihm stand, aber als er diese verführerischen Worte von der Witwe und ihrem Zettel hörte, ließ er alles außer acht und zündete eilig eine Kerze an, um den Brief möglichst schnell zu lesen. Plötzlich ließ er ihn aber wieder sinken: nun war auch nicht der geringste Zweifel, daß der vor ihm stehende Mensch wirklich Pawlin Pjewunow war. Nur waren sein Kopf und sein Gesicht ganz mit grauen Haaren bewachsen, dazu stak er in einem halbasiatischen Kostüm, aber nichtsdestoweniger mußte jeder, der ihn kannte, sagen, daß es Pawlin in eigenster Person sei. Und in seinen Augen war deutlich zu lesen, daß er sich erkannt sah und wußte, daß es unmöglich war, ihn nicht zu erkennen. Mein Vetter wurde von alledem so fassungslos, daß er laut aufschrie: »Pawlin! Auf Ehre, du bist es, Pawlin, aber ...« Bei diesen Worten packte ihn aber der Eindringling so fest mit seinen knochigen Händen, daß der junge Geck zusammenknickte und stammelte: »Was ist denn das?« In seiner Verwirrung hob er das ihm entfallene Papier wieder auf; es war ein Auszug aus dem kirchlichen Totenregister, welcher besagte, daß vor anderthalb Monaten in irgendeiner Stadt der Kleinbürger Pawlin Petrow Pjewunow aus Zarskoje Ssjelo eines plötzlichen Todes gestorben und begraben worden und daß seiner Witwe Ljubow Andrejewa Pjewunowa hierüber dieser Schein samt Siegel und Unterschrift ausgestellt worden sei.
Das war also die Witwe! Niemand anders als die in Dodja verliebte Ljuba! Die Sache war schwierig und bös verknotet, und das Resultat war, daß Doditschka, noch ehe er seinen Bestimmungsort erreichte, die »Schweizerin Ljuba« heiratete. Er war ohne jeden Widerspruch darauf eingegangen, ja sogar mit einiger Freude. Was in ihm diese plötzliche Wandlung bewirkt hatte, vermag ich nicht zu sagen, aber ich glaube, daß hier die immer größere Entfernung von zu Hause eine Rolle spielte und das im Maße der Entfernung immer stärker werdende Gefühl der Verwaistheit. Wahrscheinlich waren in ihm jetzt lebhafte Gefühle für die ihn zärtlich liebende Frau wach geworden; dazu kam wohl noch ihre Schönheit, die Romantik der Situation und vielleicht auch die drohende Forderung Pawlins. Mit einem Wort, dies alles zusammen oder im einzelnen bewog meinen Vetter, sich sogar über seine Trauung mit der Frau Pawlins zu freuen, und der Kleinbürger Spiridon Androssow wohnte ihrer Hochzeit bei und schrieb sich als Trauzeuge in das Kirchenbuch ein. – Ich hoffe, Sie werden mich nicht fragen, wie das möglich war, daß Pawlin sich selbst begraben und eine Bestätigung darüber für seine Witwe erhalten hatte. Dergleichen Dinge sind bei uns kein Märchen, sondern sie ereignen sich wirklich: in einer Herberge ist ein Reisender gestorben, Pawlin verständigt sich mit dem, den er dazu braucht, schiebt dem Toten seinen eigenen Paß in die Tasche und nimmt sich dessen Papiere – und damit ist die Sache erledigt. In der Gegend um Noworossijsk wurde dies einst ganz systematisch betrieben, so daß die Leute den Pässen nach bis zu hundertfünfzig Jahre alt wurden. Da stirbt ein siebzigjähriger Iwan, ein vierzigjähriger Pjotr nimmt seinen Paß, und so ist die Altersverlängerung geschehen ... Ich will aber fortfahren, oder besser gesagt, meine Geschichte zu Ende bringen.
Die jungen Ehegatten ließen sich in dem winzigen Städtchen nieder, das ihnen zum Aufenthalt bestimmt war, und wußten nicht, womit sie die Zeit vertreiben und was sie anfangen sollten. Ljubas Anhänglichkeit vermochte Dodja nicht auf die Dauer zu beglücken, da er als junger Petersburger Weltmann das gesellschaftliche Leben liebte, und seine Seele nach starken Empfindungen dürstete. Er empfand kein Verlangen, oder hatte vielleicht auch nicht die Kraft, von seiner früheren Art des Zeitvertreibs abzustehen, und so fand er auch jetzt in dieser garstigen Lage unter verschiedenem Gesindel Leute, die seinem Geschmacke zusagten, trank mit ihnen gewöhnlichen Schnaps, spielte um Kleingeld Karten, schwindelte dabei auf jede Weise und wurde oftmals geprügelt und schließlich zu seinem großen Glück, das er aber selbst kaum einsah, bei einer Prügelei erschlagen, wegen eines Fünfzehnkopekenstückes, das er zu Unrecht aus dem Einsatz genommen hatte. Während dieses Lebens, das ungefähr zwei Jahre dauerte, trank Ljuba, was man den bitteren Kelch des grausamsten Leids nennt, aber sie wurde in diesem tiefen Kummer beständig durch Briefe und Geldsendungen von Spiridon Androssow unterstützt, der sie offenbar keinen Augenblick aus dem Gesicht verlor und über ihre Ruhe wachte. Er war irgendwo unweit in Dienst getreten und hatte sich dank seiner ausgezeichneten Ehrlichkeit, Verständigkeit und Zuverlässigkeit, die sich mit seinem Namenswechsel nicht geändert hatten, rasch Achtung erworben und auch Geld, von dem er beinahe nichts für sich verwendete, sondern alles für Ljuba sparte. Ich weiß nicht, wie Ljuba über diese Ersparnisse verfügte, die ihr ihr gewesener Mann schickte, aber man kann als sicher annehmen, daß, wenn nicht das ganze Geld, so doch mindestens den größten Teil davon ihr Mann, der nun ganz verbauerte und verkommene Doditschka vertrank und verspielte. Man erzählte, daß er Ljuba alles wegnahm, teils durch barsche Forderungen, teils sogar durch Schläge. Pawlin wußte dies alles so gut, als wenn er mit ihnen gelebt hätte, aber er brachte Ljubas Seele auch nicht für einen Augenblick in Verwirrung und nützte auch ihre Enttäuschung an Dodja nicht aus, um die beiden von einander zu trennen. Ganz im Gegenteil: Pawlin hielt Ljuba durch lange, herrliche Briefe aufrecht, die durch einen Zufall in meinen Besitz gekommen sind und die ich sorgfältig bewahre als ein seltenes und ausgezeichnetes Muster des einfachen, aber tiefen philosophisch-mystischen Denkens eines zwar nicht gebildeten, jedoch verständigen und willensstarken Menschen. Diese Briefe, die vom »sündigen Knecht Gottes« an die Genossin im Leid Ljubow gerichtet sind, tragen ein wenig den Charakter von Episteln; der Autor spricht in ihnen so, als hätte er schon alles überwunden: er hat gelitten, ist in Versuchung gewesen und kann nunmehr selbst den sich in Versuchung befindlichen Menschen helfen. In einigen Briefen, sogar in sehr vielen schreibt Pawlin kein Wort über Tagesfragen, sondern gibt ihr Ratschläge und redet ihr zu, geduldig, einsichtsvoll, gütig, unwandelbar treu und hingebungsvoll gegen den Mann, den sie gewählt hat, zu sein. Wenn man diese Briefe in chronologischer Ordnung liest, so wird man unwillkürlich aufmerksam auf den allmählich wachsenden religiösen Mystizismus. Anfangs leidet der Autor gleichsam unter dem Schicksal Ljubas mit und spricht über die Unentbehrlichkeit der Geduld, da von der Ungeduld alles noch bitterer werde; aber allmählich ändert sich dieses Motiv, und er beginnt ihr zuzureden, daß sie sich freuen müsse, wenn sie unglücklich sei, wie er sich auch selbst freut, ja, so freut, daß man sich anfangs unwillkürlich fragt, ob es nicht niedrige Schadenfreude ist, die sich der Seele des Autors bei dem offenbaren Unglück Ljubas, die ihn verraten hat, bemächtigt. Wenn man aber tiefer in die weiteren Briefe eindringt, so sieht man, daß ein anderes Gefühl die Feder des Verfassers führt, das Gefühl einer ganz sonderbaren, man kann geradezu sagen unirdischen Liebe, einer Liebe, die voller Sorge und Selbstverleugnung, dabei aber doch wieder streng ist. Pawlin lehrt Ljuba, zum Heil der anderen und zur Sühne der eigenen Verirrungen zu dulden, und obwohl er sie mit ziemlich alten Beweisgründen, die längst aus geistlichen Erbauungsbüchern bekannt sind, zu überzeugen sucht, entwickelt er diese Beweisgründe doch mit solcher Lebendigkeit und mit einer so unmittelbaren überzeugenden Beredsamkeit, daß er ihnen gleichsam neue Lebenskraft verleiht. Er ist ohne Zweifel um das Eine bemüht: um die geistige Wiedergeburt der zugrundegehenden Ljuba, und da er wohl aus ihren Antwortbriefen sieht, daß diese Wiedergeburt möglich ist, gebraucht er sogar in direkter Anrede das Wort »meine Tochter«. Der letzte Brief mit dieser Anrede beginnt mit einer ganz eigenartigen und rührenden Zärtlichkeit, die auch in dem im allgemeinen rauhen Ton der einzelnen Stellen nicht untergeht. In diesem Brief, den er mit »Spiridon Androssow« zeichnet, schreibt Pawlin: »Verzage nicht: nicht nur uns Schwachen, sondern auch dem heiligen Apostel Paulus ward der Engel Satans ins Fleisch gesetzt, aber er besiegte ihn, und auch du wirst ihn besiegen, denn er wird nicht lange mehr verweilen.«
Dieses »nicht lange« war die Prophezeiung eines Sehers, und Ljuba faßte es auch als solche auf, als einige Tage nach Empfang dieses Briefes von ihrem ersten, für die Welt verstorbenen Manne ihr zweiter Mann bei einer Prügelei erschlagen wurde und vor ihrer Türe, in die er in seiner Trunkenheit nicht mehr hatte geraten können, starb. Sie gab Pawlin gleich von diesem Ereignisse Nachricht, und er erschien auch unverzüglich bei ihr. Sie begruben gemeinsam Dodja, wie es sich gehört, und verschwanden unmittelbar darauf. Wohin? Das wußte niemand. Aber ich werde Ihnen auch das erzählen, was sonst niemand weiß.
Jenseits des Dnjeprs, hinter Kiew liegt mitten in einem dichten, dunklen Tannenwald ein kleines Frauenklösterchen. Es ist so arm und unansehnlich, daß man es nur das »Klösterchen« nennt. Dort lebte die Nonne und spätere Asketin Ljudmilla. Sie starb vor einigen Jahren, nachdem sie lange vorher in noch gar nicht vorgeschrittenen Jahren von Tränen blind geworden war. Diese liebe, herzensreine Nonne mit den ausgeweinten Augen, der man des Aussehens halber runde Perlmutter-Scheibchen mit Heiligendarstellungen in die Augenhöhlen eingesetzt hatte, war ein wirklicher Engel an Sanftmut und Barmherzigkeit. Nicht nur die Schwestern dieser armen Stätte und die Pilger, die das Klösterchen besuchten, erinnern sich mit Rührung und mit Tränen an ihre Güte, sondern sogar die Juden in dem nahen Marktflecken. Es war von ihr nur bekannt, daß sie die Witwe eines Menschen aus sehr guter Familie gewesen und nach dem Verlust ihres Mannes ins Kloster eingetreten war. Ein geheimnisvoller Mensch, ein Schweizer, von dem niemand auch nur ein einziges Wort vernommen, hatte sie auf seinem eigenen Pferd von sehr weit hierher gebracht. Auf ihrem Grabhügel steht kein Denkstein, der auf ihre Herkunft hinwiese, sondern nur ein einfaches Eichenkreuz mit der Inschrift: »Die Büßerin Ljudmilla, in der Welt die sündige Ljubow.« Dieses Kreuz errichtete ein Büßer, der nach dem Tode der Schwester Ljudmilla aus einem fernen, strengen Kloster, dessen Namen ich Ihnen nicht zu nennen brauche, gekommen war. Ich weiß nicht, ob es notwendig ist, Ihnen zu erklären, daß die Büßerin Ljudmilla, »in der Welt die sündige Ljubow«, niemand anders als unsere Schweizerin Ljuba war; der Büßer aber, der gekommen war, um das Kreuz auf ihrem Grabe zu errichten, war Pawlin, dessen Mönchsnamen ich nicht weiß. Sehen Sie, solche Geheimnisse und solche Charaktere leben hin und wieder hinter den Klostermauern!