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Es war Pratis letzte Reise. Er kehrte von derselben lebend nicht zurück. Er erkrankte in dem verpesteten Lande an der Cholera und starb auf dem großen Kanal, eine Tagereise vor Schanghai.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die ganze fremde Niederlassung; nur Edith und Büchner, die mit wenigen verkehrten, erfuhren davon zunächst nichts. Frau Onslow empfand tiefe Betrübnis darüber. Ihre größte Sorge war aber, wie Büchner diesen neuen Schlag ertragen würde. Sie sandte einen Boten zu Edith und bat diese um ihren Besuch. Edith erschien bald darauf. Sie erkannte sofort an Frau Onslows Miene, daß diese eine Trauerbotschaft für sie bereit halte, und fragte ängstlich, was vorgefallen sei. Frau Onslow erzählte es in möglichst schonender Weise.
»Mein armer, armer Georg! – Der gute treue Prati!« rief Edith, und dann brach sie in Tränen aus. – »Wie soll ich es Georg mitteilen?« sagte sie weinend. »Ach, ich bin recht unglücklich, ich fühle mich vollständig ratlos.«
Frau Onslow erbot sich, die schwere Aufgabe zu übernehmen, Büchner die Nachricht von dem Tode seines Freundes zu bringen. Davon wollte Edith nichts hören. »Nein,« sagte sie, »das darf ich niemand überlassen. – Aber, liebe Frau Onslow, kommen Sie in einer Stunde etwa; dann ist es wohl besser für ihn, auch noch andere als mich zu sehen.«
Die mutige kleine Frau trocknete ihre heißen Tränen und machte sich auf den Weg, die schwere Pflicht zu erfüllen, die sie sich auferlegt hatte.
Genau eine Stunde später erschien Frau Onslow in dem Büchnerschen Hause, wo Totenstille herrschte. Der Diener sagte, Herr und Frau Büchner seien im Salon. Frau Onslow hatte nicht die Gewohnheit, sich bei guten Freunden anmelden zu lassen. Aber sie lauschte einen Augenblick, ehe sie einzutreten wagte. Alles war still. Als sie die Tür öffnete, erblickte sie Büchner vor dem Tisch sitzend und in seiner Rechten die Hand Ediths haltend, die neben ihm stand. Er war sehr bleich, seine Augen waren trocken, auch schien es Frau Onslow nicht, als ob er geweint hätte. Der Redefluß der guten Frau war versiegt angesichts des großen Schmerzes, dessen Zeugin sie war. Sie drückte ihrem Freunde stumm die Hand, dann winkte sie Edith abseits und fragte, wie Büchner die Trauernachricht aufgenommen habe. Edith sagte nur: »Ach, der Arme!« Die Beerdigung Pratis fand am nächsten Morgen statt. An der Spitze der Leidtragenden, unmittelbar hinter dem Sarge, schritt der lange Holländer, alle übrigen Anwesenden um Haupteslänge überragend. Er blickte starr auf die mit Blumen bedeckte Bahre, die vor ihm dem Kirchhof zugetragen wurde, und er bemerkte nicht, daß aller Augen auf ihn gerichtet waren. Es war ein ergreifendes Schauspiel, wie der große, starke Mann mit seinem Schmerze kämpfte um Fassung zu bewahren, und wie er sie bis zum Ende nicht verlor.
Nachdem ein Priester die Trauerrede gehalten und man die Leiche in die Gruft gesenkt hatte, warfen die Anwesenden in üblicher Weise ein jeder Erde auf den Sarg und zogen sich still zurück; dann schaufelten die Totengräber das offene Grab zu. Von dem Sarge war längst nichts mehr zu sehen; aber Büchner hatte seinen Platz neben der Gruft nicht verlassen und starrte noch immer nach der Stelle, wo die letzten Blumen unter der darauf geworfenen Erde verschwunden waren. An der Tür des Kirchhofes drehte mancher, der Prati das letzte Geleit gegeben hatte, noch einmal den Kopf nach Büchner um. Dieser stand wie festgebannt auf derselben Stelle. – Da berührte Edith, die sich mit Frau Onslow dem Leichenzuge in einem Wagen angeschlossen hatte, sanft den Arm ihres Mannes. Er wandte sich langsam zu ihr.
»Komm nach Hause, mein armer Georg,« sagte sie milde. Darauf folgte er den andern. Unterwegs sprach er kein Wort, und Edith versuchte nicht, ihn zu trösten.
Der italienische Konsul hatte, gleich nachdem er die Anzeige von Pratis Tode empfangen, dessen Nachlaß versiegeln lassen. Im Laufe des Tages, an dem das Begräbnis stattgefunden hatte, erschien er sodann in Begleitung eines Kanzleibeamten, um das Bestandsverzeichnis der Hinterlassenschaft aufzunehmen und in Gemeinschaft mit Rawlston nach Pratis Testament zu suchen, da ein solches auf dem Konsulate nicht niedergelegt worden war. Aber es fand sich keines. Darauf bat der Konsul, Herr Rawlston möchte einen verständigen Diener zu seiner Verfügung stellen, der ihm bei der Aufzeichnung aller in Pratis Zimmer vorgefundenen Gegenstände behilflich sein könnte. »Die Arbeit, muß sorgfältig gemacht werden,« sagte der Konsul; »sie wird wohl einen ganzen Tag in Anspruch nehmen: denn nicht eine Stecknadel darf in dem Nachlaßverzeichnis fehlen.«
»Ich werde Ihnen den Komprador hinaufschicken,« antwortete Rawlston; »das ist ein gewandter Mann, auch spricht er gut englisch; außerdem können sie sich noch von Pratis Boy helfen lassen.«
Der Konsul dankte. Er setzte sich in des verstorbenen Zimmer auf einen Sessel und begann zu lesen, während der Kanzleibeamte unter dem Diktat des Kompradors und des Boy alles niederzuschreiben begann, was diese als Herrn Prati angehörig bezeichnen konnten.
Die Arbeit währte schon seit einer Stunde, und der Konsul war, trotz des ununterbrochenen Kommens und Gehens, sanft eingeschlafen, als er plötzlich aus seinem Schlummer geweckt wurde durch den eigentümlichen hellen Ausruf, der Überraschung bei den Chinesen zu erkennen gibt.
»Ai-joh!«
Der Konsul wandte sich um und erblickte den Komprador und den Boy vor einem alten ledernen Koffer stehend, den sie soeben aus dem Schlafzimmer herbeigeschleppt, und dessen Inhalt, aus Kleidern und Büchern bestehend, sie auf dem Boden ausgebreitet hatten.
Der Komprador hielt einen gelblichen glänzenden Gegenstand von der Größe eines kurzen, kleinen Lineals in der Hand.
»Das gehört zum Ki-tschong-Golde,« sagte er lakonisch.
Der Konsul verstand nicht, was das heißen sollte. Es wurde ihm bald erklärt. Und noch vor dem Essen wußten Rawlston und Wallice und Morrisson und Onslow und ganz Schanghai, mit der üblichen Ausnahme von Büchner und Edith, die ihre Wohnung seit dem Begräbnis nicht wieder verlassen hatten, daß Prati, den man am Morgen feierlich zur Ruhe bestattet hatte, der Dieb der zehntausend Dollars gewesen sei, für den der arme Büchner jahrelang gegolten hatte.
Die Geschichte war ziemlich verwickelt, aber die Aufklärung eine vollständige.
Der Komprador hatte auf der Goldbarre, die er in einem von Pratis Koffern gefunden, auf den ersten Blick den ihm wohlbekannten Stempel seines Geschäftsfreundes Ki-tschong erkannt, und dieser hatte aus seinen Büchern den unzweifelhaften Nachweis führen können, daß diese Goldbarre, im Werte von etwa fünfhundert Dollars, einen Teil des Geldes bildete, das er Büchner eingezahlt hatte, und das diesem, in bis dahin unaufgeklärter Weise, abhanden gekommen war. Als man einmal auf die richtige Spur des Diebes geleitet war, klärte sich das ganze Geheimnis wie von selbst auf.
Prati hatte sich einen Schlüssel zur Kasse zu verschaffen gewußt. Dies war ihm leicht gemacht worden. In dem Kassenschrank befand sich nur in seltenen Fällen bares Geld. Er diente in erster Linie und gewöhnlich dazu, die Hauptbücher des Hauses und gewisse Wertpapiere – Konnossemente, Wechsel, Kontrakte, Versicherungsscheine usw. – in feuerfestem Verwahr zu halten. Nicht nur stand die Kasse während der Kontorstunden gewöhnlich offen, von niemand sonderlich bewacht, da das, was sie enthielt, für keinen Dieb Geldeswert hatte, sondern es war verschiedene Male vorgekommen, daß Prati, während längerer Beurlaubungen von Büchner, dessen Vertretung übernommen und auf diese Weise den Kassenschlüssel wochenlang zu seiner Verfügung gehabt hatte. Da war es ihm leicht gewesen, sich von einem chinesischen Schlosser einen Nachschlüssel machen zu lassen, und selbst an demselben so lange zu feilen, bis er die Kasse ebenso gut öffnete wie der richtige.
Der Diebstahl war nun an einem Dienstagabend verübt worden. Am vorhergehenden Sonntag hatte Prati zu einem seiner häufigen Ausflüge in das Innere, Schanghai verlassen. Eine Tagereise hinter der Stadt, am Montag Abend, war sein Boot von den Tai-ping-Rebellen aufgehalten worden, und er hatte zu seiner Bestürzung bemerkt, daß er keinen Passierschein besitze. Die Rebellenhäuptlinge waren stets bereit, jedem Fremden, der in den von ihnen überzogenen Landstrichen reisen wollte, ein derartiges Schriftstück auszustellen. Aber ohne im Besitz eines solchen zu sein, war es gefährlich, manchmal sogar, wie in dem vorliegenden Falle, unmöglich, die Grenzen der von den Tai-ping beherrschten Provinz zu überschreiten. Prati besaß einen Paß in bester Ordnung, mit allen nötigen amtlichen Siegeln versehen und von einem halben Dutzend »himmlischer« und anderer »Könige« visiert. Das Schriftstück war von ihm in Schanghai vergessen worden. Nun mochte Prati aber gewichtige Gründe haben, niemand den Schlüssel zu seinem Schreibtisch anzuvertrauen, denn er bequemte sich dazu, selbst nach Schanghai zurückzukehren. Da die Strömung im Kanal, in dem er sich befand, die Rückreise im Boote zu einer sehr langwierigen gemacht haben würde, so befahl er den Bootsleuten, bis nach einem bestimmten Orte zurückzugehen. Dort wollte er sie in der Nacht vom Dienstag auf Mittwoch wieder antreffen. Er selbst mietete einen von Menschenhand gezogenen Karren, wie dergleichen in China auf den Landstraßen gebräuchlich sind, um darin nach Schanghai zurückzukehren. Er verließ sein Boot Dienstag mit Grauen des Tages und langte gegen fünf Uhr abends in der chinesischen Vorstadt von Schanghai an. Dort ließ er das primitive Fuhrwerk, dessen er sich bedient hatte, warten, und begab sich zu Fuß nach seiner Wohnung. In der Nähe derselben begegnete er dem Kaufmann Ki-tschong, der ihm beiläufig erzählte, er komme soeben von Rawlston u. Co., wo er zehntausend Dollars eingezahlt habe. – Sieben Stunden später, etwas nach Mitternacht, war Prati wieder auf seinem Boote.
Über die Art, wie der Italiener einen Teil dieser Zeit angewandt hatte, fehlten bestimmte Nachrichten; jedoch hielt es nicht schwer, dies mit nahezu vollständiger Sicherheit festzustellen. Prati war – so erklärt man sich die Sache – ohne bemerkt zu werden, in das Kontor gelangt. Er hatte sein Pult geöffnet, um den Paß herauszunehmen. Und in demselben Pulte mochte wohl auch der Nachschlüssel zur Kasse gelegen haben. Das Kontor war leer. – Da trat die Versuchung an den Italiener heran und fand ihn schwach. Dicht neben ihm lagen zehntausend unbewachte Dollars. Er öffnete die Kasse, bemächtigte sich des Goldes, schloß den Schrank wieder – und war verschwunden. Der Diebstahl hatte im Verlaufe einer halben Minute verübt werden können. – Die Zeit von fünf bis sechs Uhr ist die ödeste Stunde für das Straßenleben in der Niederlassung von Schanghai. Die Fremden sitzen dann gewöhnlich bei Tisch, die unbeschäftigten Diener pflegen dies zu benutzen, um zu schlafen. Prati hatte auf dem Rückwege zur chinesischen Stadt, wobei er die wenigst belebten Straßen gewählt haben mochte, keinen Bekannten angetroffen; und um halb sieben Uhr rollte er bereits wieder auf seinem Schiebkarren dem Orte zu, den er seinen Bootsleuten bezeichnet hatte und wo er diese auch richtig antraf.
Der größte Teil der entwendeten zehntausend Dollars war wahrscheinlich sofort gegen Seide umgetauscht worden. Die Rebellen, mit denen Prati auf seiner damaligen Reise verkehrt hatte, kümmerten sich wenig darum, wie das Geld erworben war, das sie für die von ihnen gestohlene Seide bekamen. Sie selbst hatten Interesse daran, den Ursprung des Geldes zu verbergen, da die obersten Häuptlinge, die für ihre eigene Rechnung unbarmherzig raubten und plünderten, darauf hielten, daß von ihren Untergebenen strenge Mannszucht beobachtet wurde. Die Goldbarren mit dem Stempel Ki-tschongs waren sicherlich sofort eingeschmolzen worden. Wie es gekommen, daß eine Goldbarre in Pratis Besitz geblieben war, darüber schwankten die Ansichten. Einige nehmen an, er habe nicht mehr gewagt, das Ki-tschong-Gold auszugeben, nachdem der Diebstahl bekannt geworden war; andere glauben – und diese Ansicht hat die Wahrscheinlichkeit für sich, – daß Prati, mit jener eigentümlichen Unvorsichtigkeit, welche gewisse Handlungen der verschlagensten Verbrecher kennzeichnet, kein Bedenken getragen hatte, einen Teil des gestohlenen Gutes zurückzubehalten, in einem verschlossenen Koffer, zu dem er den Schlüssel bei sich trug, und in dem es niemand, auch keinem Diebe, eingefallen sein würde, Gold zu suchen. – Als der Italiener, acht Tage nach dem Verschwinden des Goldes, wieder in Schanghai eintraf, war die polizeiliche Untersuchung längst beendet, weder Rawlston noch der Polizeiinspektor hatten dabei an Prati denken können, den sie an dem Tage, an dem das Verbrechen begangen worden war, weit von Schanghai glauben mußten. Der Komprador erinnerte sich nachträglich, daß Pratis chinesischer Diener, der seinen Herrn nach Sutschau begleitet hatte, von den Unannehmlichkeiten gesprochen, die ihnen das Fehlen des Passes verursacht hatte. Aber dieser Umstand war vom Komprador in keinen Zusammenhang mit dem Diebstahl gebracht worden, und er hatte ihn in der Aufregung jener Tage schnell vergessen. Auch auf Ki-tschong hatte die kurze, unverdächtige Begegnung mit Herrn Prati auf der Straße so wenig Eindruck gemacht, daß er derselben gar nicht erwähnt hatte. Es waren ihm an jenem Tage und zur selben Zeit auch noch andere Mitglieder des Rawlstonschen Hauses zu Gesicht bekommen. Er hatte an keinen von diesen als den möglichen Dieb der zehntausend Dollars gedacht. Hätte er damals von dem Zusammentreffen mit Prati gesprochen, so würde dies auch nicht genügt haben, einen begründeten Verdacht auf den Italiener zu lenken. Seine unfreiwillige kurze Anwesenheit in Schanghai konnte durch die Umstände, welche dieselbe begleiteten, vollständig erklärt werden.
Rawlston war geradezu betroffen, als Büchners Unschuld nun sonnenklar vor ihm stand. Der Vorwurf, den andere ihm wiederholt gemacht hatten, er habe Büchner zugrunde gerichtet, gewann plötzlich an Schärfe. Fast empfand er Bedauern darüber, daß die Wahrheit nun ans Licht gekommen sei. Aber diese Empfindung machte schnell besseren Gefühlen Platz, die ihn drängten, dem gekränkten Manne jede mögliche Genugtuung zu verschaffen. Er begab sich schnurstracks zu Francis Morrisson, den er von ähnlichen Gesinnungen Büchner gegenüber beseelt fand und mit dem er sich nach kurzer Unterredung dahin verständigte, die ganze Kolonie, da sie sich als solche, absichtlich oder nicht, an der Kränkung Büchners beteiligt hätte, solle nunmehr förmlich und feierlich ihre wohlgesinnte Teilnahme an dessen Schicksal zu erkennen geben, und zwar in der üblichen Form: durch Überreichung einer Ehrengabe.
Rawlston und Morrisson gehörten zu den einflußreichsten Mitgliedern der fremden Niederlassung. Sie zweifelten nicht daran, daß ihre auf Büchner bezüglichen Vorschläge allgemeine Zustimmung finden würden, und sie irrten darin auch nicht. Nachdem jeder von ihnen mit einigen der reichsten Kaufleute der Kolonie gesprochen hatte, konnte eine Liste, in der eingeladen wurde, Herrn Georg Büchner ein »Testimonial« zu überreichen, in Umlauf gesetzt werden, an deren Spitze die besten Namen von Schanghai mit nicht unerheblichen Beiträgen prangten, und die sich schnell mit zahlreichen Unterschriften bedeckte. Schanghai war damals reich, und Kleinlichkeit in Geldsachen gehörte nicht zu den Eigentümlichkeiten der »Pioniere«. Die Beiträge zu dem »Büchner-Testimonial« ergaben bald die stattliche Summe von neuntausend und etlichen Dollars. Morrisson und Rawlston taten sich zusammen, um sie auf zehntausend Dollars abzurunden. Sodann fand eines der beliebten »Meetings« im Klub statt, in dem Morrisson den Vorsitz führte, und das nach kurzer Beratung, »nem. con.« wie in der Zeitung zu lesen war, mit dem Beschlusse endete, ein aus zehn Personen bestehender Ausschuß – derselbe wurde auf der Stelle durch Akklamation ernannt – solle Herrn Büchner die Summe von zehntausend Dollars in geeignet scheinender Weise überbringen, als »ein Zeichen der Teilnahme und der Hochachtung der Kolonie für deren verehrtes Mitglied Herrn Georg Büchner.«
Frau Onslow teilte dies Edith vertraulich mit. Man wollte die Freude haben, Büchner angenehm zu überraschen. Aber er mußte in irgend einer Weise auf die außerordentliche Kundgebung vorbereitet werden. Edith zeigte sich erfreut über die Nachricht. Das Geld war ihr gleichgültig. Sie hatte sich niemals arm gefühlt, und es fehlte ihr die richtige Schätzung von Geld und Geldeswert. Aber sie war stolz auf die ihrem Manne gezollte Verehrung. – Nun endlich würde er wieder erhobenen Hauptes durch die Straßen von Schanghai gehen!
Ediths Empfindungen in bezug auf Prati waren zunächst geteilter Natur gewesen. Im ersten Augenblick, nachdem sie erfahren, was er verübt, hatte sie nur Bestürzung gezeigt: Prati, der treue Freund, die Stütze ihres Mannes, Prati ein Dieb! – Es erschien unglaublich, und doch war es so. Der Unglückliche! – Aber gleich darauf hatten die berechtigten Gefühle der Gattin die Oberhand gewonnen. Prati war also an dem Unglück ihres geliebten Georg schuld. – Der Elende! In heller Entrüstung eilte sie nach ihrem Hause zurück, dem Schmerz um einen Unwürdigen, unter dem Büchner litt, Einhalt zu tun. Sie vergaß alle Rücksichten, die sie seit ihrer Verheiratung gewöhnt war auf ihres Mannes Zustand zu nehmen.
»Georg!« rief sie ihm entgegen, sobald sie ihn erblickt hatte, »der Dieb ist entdeckt.«
Er sah sie erstaunt an.
»Prati – ja Prati ist der Dieb!«
»Allmächtiger Gott!« sagte Büchner leise und sank auf den Sessel zurück, von dem er sich beim Eintritt seiner Frau erhoben hatte.
Diese, ohne die Niedergeschlagenheit ihres Mannes zu beachten, vielleicht ohne sie zu bemerken, erzählte in fliegender Hast alles, was sie soeben von Frau Onslow erfahren hatte. Büchner hörte stumm zu. Von Zeit zu Zeit schüttelte er das Haupt.
»Der Arme!« sagte er, als Frau Edith geendet hatte. Und unwillkürlich die Worte wiederholend, die Prati in seiner Erzählung über das Schicksal der Brüder Josef und Anselm gebraucht hatte, fügte er hinzu: »Was muß er gelitten haben!«
»Der Arme?« rief Frau Edith entrüstet. »Der Elende, der Heuchler, der dich und mich unglücklich gemacht hat!«
»Er hat schwer dafür gebüßt.«
Edith war einige Sekunden sprachlos. »Für diese Art von Edelmut,« brachte sie endlich gereizt hervor, »fehlt mir in der Tat das Verständnis.«
»Ja,« sagte Büchner, »ich fürchte, wir werden uns darüber nicht verständigen. Du hast vollkommen recht.«
»Aber bist du denn nicht froh – wäre es auch nur um meinetwillen, – daß du nun in aller Augen wieder makellos dastehst?«
»Ja, ich freue mich in der Tat ... Deinetwegen. Mir ist es gleichgültig. – Ich bin fertig.«
»Georg, versündige dich nicht.«
»Ich bin fertig, fertig, fertig!« wiederholte er und sah sie mit weit geöffneten Augen befremdlich an. – Er preßte die linke Hand auf das Herz und hob und senkte sie wieder in schnellen, harten Schlägen: »Ach, Edith, wenn du wüßtest, wie sie mich alle gequält haben!«
»Alle? O, Georg!«
»Nein, du nicht? du warst treu – du – und Prati ...«
»Nenne mich nicht mit dem Nichtswürdigen!«
»Du hast recht, verzeihe mir!«
Er fühlte sich gänzlich vereinsamt. Es war dunkel geworden. – »Ich will etwas an die freie Luft gehen,« sagte er sanft. Edith sah ihm kopfschüttelnd nach. – Sie zürnte ihm wegen seiner Schwäche für Prati.
Während der nächsten Tage wurde dem langen Holländer das Geld zurückgegeben, das er auf dem amerikanischen Konsulat vor etwa drei Jahren niedergelegt hatte, »zur freien Verfügung der Herren Rawlston u. Co., bis zu dem Tage, an dem die abhanden gekommenen zehntausend Dollars wieder in deren Besitz gelangt sein würden.« – Diese Summe sollte später aus dem Nachlaß Pratis gedeckt werden. Bei der Prüfung jener Hinterlassenschaft hatte sich übrigens herausgestellt, daß Pratis Vermögen in den letzten Jahren nicht unerhebliche Einbuße erlitten. Von den glänzenden Geschäften, über die er Büchner Abrechnungen geliefert und von denen er angegeben hatte, sie seien durch Vermittlung von Rawlston u. Co. ausgeführt worden, war weder in Pratis nach in Rawlstons Büchern eine Spur zu entdecken. Die ersteren erschienen übrigens ohne besondere Bedeutung, denn seit zwei und einem halben Jahre waren darin nur noch wenige Eintragungen gemacht worden. In einem Notizbuche, das in Pratis Pulte vorgefunden wurde, entdeckte man den flüchtigen Bleistiftentwurf eines Kontokorrents. Es hatte keine Überschrift. Auf der rechten Seite stand 10000 und zweimal die Zahl 1200. Die andere Seite war beinahe vollgeschrieben. Zuerst las man die Ziffer 2000, dann folgten verschiedene größere und kleinere Beträge, deren Gesamtsumme nahe an 12400 ausmachte. Rawlston schloß nach einigem Nachdenken, daß er das Konto Büchners bei Prati vor sich habe. Die Zahl 10000 bezeichnete augenscheinlich die gestohlene Summe, 2400 bildeten zweijährige Zinsen auf jenen Betrag zu dem, wenn auch hohen, doch in Schanghai damals nicht ungebräuchlichen Satze von 12 %. – Die Ziffer 2000 entsprach dem Darlehen, das Prati seinem Freunde gemacht hatte, um die fehlenden zehntausend Dollars an Rawlston u. Co. zurückerstatten zu können, die übrigen Summen endlich bezeichneten aller Wahrscheinlichkeit nach verschiedene Beträge, die Prati im Verlauf von zwei Jahren an Büchner geborgt oder ihm unter dem Vorwande ausgezahlt hatte, daß sie den Nutzen geschäftlicher Unternehmungen darstellten, die für gemeinschaftliche Rechnung ausgeführt waren. – Der Italiener erschien demnach als ein eigentümliches Gemisch von Ehrlichkeit und Spitzbüberei. Es lag kein Anzeichen dafür vor, daß er über den von ihm verübten Diebstahl Gewissensbisse empfunden; den von seinem Freunde erlittenen Geldverlust hatte er dagegen reichlich wieder getilgt. Frau Onslow verstand nun erst die Geschichte der beiden Brüder, die Prati ihr einmal erzählt hatte. – »Fallen ist traurig, ist jammervoll – aber es ist verzeihlich; Liegenbleiben ist schlimm,« hatte er gesagt, um einen Dieb zu entschuldigen. – Er hatte große Anstrengungen gemacht, sich wieder emporzurichten, und im tiefsten Innern ihres guten Herzens bemitleidete Frau Onslow den reuigen Sünder. Es war ihr jedoch nicht möglich, ihm zu verzeihen. »Ein Dieb ist ein Dieb – etwas Häßliches!« und sie hörte ruhig mit an, wenn der Italiener in ihrer Umgebung allgemein verdammt wurde.
Edith hatte es nicht ohne Zagen unternommen, Büchner auf den Besuch der Abgesandten der Kaufmannschaft vorzubereiten. Sie fürchtete, seine Menschenscheu werde ihren Wünschen Widerstand leisten. Sie gebrauchte viele Worte, um Büchner von dem Vorhaben seiner Mitbürger – ohne des Ehrengeschenks zu erwähnen – bekannt zu machen; dann schloß sie mit einer Bitte: »Tu' es mir zu Liebe und sei recht freundlich mit den Herren! Sie sind mir beinahe ganz fremd geworden; aber es wird mir leicht werden, wieder unbefangen mit ihnen zusammenzutreffen, wenn ich einmal gesehen habe, wie hoch du in ihrer Achtung stehst.«
»Ich bin es dir schuldig und tue es gern,« hatte Büchner geantwortet, und damit war die Angelegenheit in befriedigender Weise erledigt worden.