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Greggert (Gregorius) Meinstorff war zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts Staller (Vizekönig) der friesischen Inseln. Ihm stand sogar in seinem Bezirk bei zum Tode Verurteilten das Begnadigungsrecht zu, das in den andern Provinzen nur vom Könige ausgeübt wurde. Ein strenger, aber durchaus gerechter Herr, wurde er auf seinen Inseln gefürchtet und geachtet; die Liebe seiner »Untertanen« (wenn je die freien Friesen dies Wort zuließen und zulassen) hatte er nicht. Tauchte er auf der ihm als Wohnsitz angewiesenen reichen Marschinsel Schmerhörn mit seinen breiten Schultern und seinen sechs Fuß aus den die Klinkersteige und Muschelwege zu beiden Seiten begleitenden Schilfhalmen hervor, so machten die ihm Entgegenkommenden Kehrt; auf den Fennen und Weiden versteckten sich die Bauern und Knechte hinter Pflug und Vieh, um ihn nicht grüßen zu müssen. Zu den Hofbesitzern kam er nicht, öffentliche Termine, wie es noch damals, als Rest der Thinggerichte, Sitte war, hielt er nicht, für keinen war er zu sprechen, Alles mußte schriftlich und durch »untertänigste Supplik« abgefertigt werden. So kam es, daß er fremd auf seinen Inseln war, wenn er sich auch andrerseits bis ins Kleinste von den Vorfällen und Ereignissen durch seine Unterbeamten unterrichten ließ.

Greggert Meinstorff, aus einem alten holsteinischen Geschlecht, das seine Zweige weit in andre Länder getrieben, war der letzte seines Hauses. Er hatte eine Dame aus dem Landesadel geheiratet und lebte mit dieser seit elf Jahren in kinderloser Ehe. Daß er keine Nachfolger hatte, machte ihn finster und schwermütig. Die Ehe war nicht glücklich. Wenn auch beide übereinstimmten in unermeßlichem Adelsstolz, so wußte sonst Frau von Meinstorff in keiner Weise ihren Mann zu nehmen. Er, der ruhige, scheinbar kalte Verstandesmensch, dem jedes Aufwallen und Schütteln des Herzens unverständlich war, hatte Tag für Tag den Jähzorn seiner Frau zu beklagen, der oft alle Grenzen überschritt; das machte sie ihm widerwärtig.

Mit der Zeit entfernten sie sich immer mehr von einander. Freilich, eins bemerkte er nicht: daß ihn seine Frau anbetete. Zeigte sie ihm auch nicht ihr Herz, blieb sie kalt und kühl, wenn sie nicht an ihren bösen Erregtheiten litt, so ließ doch ihr Auge nicht von ihm, wenn sie ihn heimlich verfolgen konnte. Alle die kleinen Aufmerksamkeiten, die sie ihm bereitete, bemerkte er niemals. So ging er schroff und hart, sie nur als ein schweres, unbequemes Anhängsel betrachtend, mit ihr durchs Leben.

Nur für einen Gegenstand zeigte der Staller lebhaftes Interesse; nur bei einer Sache hellte sich das finstre Gesicht auf, konnte er freundlicher werden, sprach er einmal ein freundliche Wort: wenn er als Kapitän auf seinem Schiffe stand. Mit den beiden königlichen Jachten, die ihm zur Verfügung gestellt waren, und mit seinen beiden eignen, ewerartig gebauten Schiffen, von denen das eine die Dogge, das andere der Drache hieß, fuhr er so oft wie angängig auf der tückischen Nordsee umher. Vielleicht hatte ers von seinen Ahnen: die Meinstorffs waren arge Seeräuber in früheren Jahrhunderten gewesen.

Sobald er sein Schiff betrat, war der ganze Mann verändert: die schwerfällige, starke Riesenfigur streckte und reckte sich: die traurigen, zu Boden blickenden Augen wurden lebhaft, weit und feurig; seine Stimme klang hell und scharf. Spritzte ihm der Gischt übers Gesicht, fiel der salzige Schleier wieder ab, lachte er. Als sei er erlöst aus schwerem Bann, so ganz wurde sein Wesen ein andres, wenn die Kommandeurflagge beim ersten Schritt, den er aufs Verdeck tat, am Topmast gehißt ward.

Auf einer dieser Fahrten, die er bis nach Helgoland, das ebenfalls unter seiner Verwaltung stand, und weiter auszudehnen pflegte, kreuzte er zu eigensinnig gegen einen immer stärker werdenden Westwind. Sein langer rötlicher Schnurrbart lag fest bis zu den Ohren an den Backen. Endlich drehte er bei und raste nun mit vollgefaßten Segeln auf die Küste seiner Residenzinsel Schmerhörn zu. Die Ebbe war bedeutend im Fallen. Doch er, Flut und Ebbe verstehend und kennend, irrte sich diesmal in seinen Berechnungen: der Drache stieß mit hartem Knirschton auf eine Bank, und gleich die nächste See stürzte über die Jacht, Alles mit sich fortreißend, was sie erreichen konnte. »In die Wanten!« schrie Greggert. Und hier hielten er und seine Leute sich mit der Kraft, die die Todesgefahr einem jeden gibt. Mehr und mehr sank die Ebbe, und nach einer Stunde schon konnten alle von dem arg mitgenommenen Schiff auf den bloßgelegten Sand springen und nach halbstündiger Wandrung den Deich ersteigen.

Selbst der stahlgebaute Staller bedurfte eines Ausruhens, und so ging er mit der Mannschaft in ein nahgelegenes Wirtshaus, das, armselig genug, auf einer Werft zwischen Tagelöhnerwohnungen unmittelbar am Westerdeich seinen bescheidenen Giebel zeigte.

Es gehörte dem alten blinden Frerk Tadema Frerksen, der sich, nachdem er als holländischer See-Kapitän ein beträchtliches Vermögen erworben und durch eine Fehlspekulation wieder verloren, auf seine Heimatinsel zurückgezogen hatte, um den Rest seines Lebens sich kümmerlich durchzubringen.

Die Wirtschaft führte seine Tochter Silk, die, auf Java geboren, wo ihre Mutter am Fieber gestorben, schon als Kind mit ihm hatte auf allen Meeren herumfahren müssen. Als er vor acht Jahren sein Geld eingebüßt, hatte Silk das sechzehnte Jahr erreicht. Seit der Zeit führte sie den Vorsitz in der kleinen Schenke.

Eine eigentümliche Schönheit war Silk. Viele behaupteten, sie wäre nicht die Tochter der Frau Frerk Tadema Frerksens, sondern das Kind einer Javaneserin, die der Kapitän längere Zeit an Bord gehabt. Und wunderbar war allerdings das Gemisch von Friesin und mongolischer Rasse in dem Mädchen. Von reizender, schlanker Gestalt, zeigten sich in dem blassen, schmalen Gesichtchen zwei ein wenig nach der graden Nase schief liegende, dunkelbraune Augen, die wie zwei schwarze Monde zwischen den weißen Liderwolken lagen; aber nur ein Streifen war von den Monden zu sehen. Das Haar hatte die echt flachsköpfig friesische Farbe und lag glatt zu beiden Seiten.

Ein eigentümlich Ding! Alle die zahlreich ihr gemachten Anträge hatte sie abgeschlagen. Stumm, lautlos die Gäste bedienend, saß sie die übrige Zeit und strickte und nähte den ganzen Tag. Die Wirtschaft war wenig besucht, und so wurde es einsamer und einsamer um sie her. Umgang hatte sie nicht. Von den jungen Mädchen der Insel wurde sie gemieden, wie sie diese mied. Glitt sie mit ihren stillen Schritten an den Werften vorüber, ohne rechts und ohne links zu schauen, dann folgten ihr die Augen der Männer und in Haß die Blicke aller Weiber. Diese, ohne Ausnahme, waren einig, daß Silk eine schlechte Person sei, die ihre Männer behexe, und daß es ja auch von der »Heidin« nicht anders zu erwarten sei.

Und nun saß die schöne Silk dem allmächtigen Staller gegenüber. Dieser hatte in einem geschnitzten Sessel mit dunkelroten samtnen Kissen (sie waren Strandgut) Platz genommen. Silk hatte ihm warmes Getränk gebracht, hatte ihm in ihrer ruhigen Weise den Schemel zurecht geschoben, und dann, sich mit ihrer Arbeit ihm gegenübersetzend, auf die sie züchtig die Augen senkte, ihm gelassen auf seine Fragen geantwortet. Ihre Antworten aber begleitete sie mit dem Aufheben der oberen weißen Wolken, daß die schwarzen kleinen Vollmonde sekundenlang ihn mit ihrer Nachtpracht beschienen.

Und die schöne, blasse, stille Silk saß dem allmächtigen, riesigen, breitschultrigen Staller Greggert Meinstorff gegenüber.

Der Staller blieb nicht lange. Er gab dem Mädchen für die Zehrung ein Goldstück, das sie, ohne Dank, als selbstverständlich von einem so hohen Herrn, annahm. Als Greggert, aus der Haustür tretend, seinen Heimweg antrat, sah ihm Silk nach, bis er verschwunden war.

Und es waren seltsame Gedanken, mit denen sie ihn begleitete. Er, den sie seit Jahren im tiefsten Herzen trug, den sie nicht hoffen durfte zu sprechen, hatte ihr gegenüber gesessen, mit ihr gesprochen. Sie hatte eigentlich nur Sonntags in der alten Kirche »Zu unserer lieben Frauen auf dem Pferde« ihn beobachten können. Nicht aus Überzeugung, sondern um »denen Untertanen« ein gutes Beispiel zu geben, ging der Staller fast jeden Sonntag zum Gottesdienst. Dann stand Silk, nach friesischer Sitte, vor der Kirchtür. Sie wartete dort, bis er kam. Im Sommer, wenn die Wege gut waren, fuhr er mit sechs Pferden, Läufer voraus, Lakaien stehend auf der Rückseite, in schneller Gangart heran. Nur er, neben dem Könige, hatte im ganzen Lande das Recht, mit Sechsen zu fahren. Im Gotteshause hatte sie ihren Platz dem wappenreichen Gestühle des Stallers gegenüber. Sie konnte ihn genau beobachten. Über dem Eingange der reich geschnitzten Loge war das Allianzwappen angebracht. Der Meinstorffsche aufrecht schreitende Panther mit dem güldnen Krönlein, und der Pogwischsche Wolf, der mit weit heraushängender Zunge gierig die Vorderpfoten auf einen Bauernzaun legt. Echt feudale Wappen!

Aber Silk hörte nicht auf die Worte des Seelsorgers, sie träumte und verzehrte sich in unbewußten, heißen Gluten. In ihrer kindlichen Einfalt bat sie den lieben Gott, er möge es bewerkstelligen, daß der ihr gegenübersitzende Staller einmal vor ihr zu Füßen falle, einmal ihr, wie sie wußte, daß es in der hochstehenden Gesellschaft üblich sei, die Hand küsse.

Allmählich schlichen sich in die kindlich-törichten Gedanken andre, herzliche. Silk wußte, wie jeder auf der Insel, wie unglücklich der Staller und seine Frau miteinander lebten: wenn sie dem ernsten, so trübe ausschauenden Manne etwas Liebes tun könnte, ihm irgend eine Freude bereiten! Aber Greggert war nicht gekommen, um ihr die Hände zu küssen. Er hatte sie nie bemerkt, auch in der Kirche nicht.

Und nun war er doch bei ihr gewesen. Ob er wieder kommen würde? –

Wie trug es sich doch zu, daß Greggert, als er auf dem Heimweg war aus der kleinen Schenke, den Kopf noch tiefer sinken ließ als gewöhnlich; wie kam es, daß er, im Schlosse eingetroffen, sofort befahl, die Dogge, das im Osterhafen liegende Privatschiff, solle diese Nacht (die Flut trat um drei Uhr dreiundvierzig Minuten morgens ein) nach dem Westerdeiche fahren, und für ihn bereit liegen. Er fügte hinzu, daß er nach dem Wrack des Drachen hinaus wolle. Gründe pflegte sonst der hohe Beamte nicht anzugeben.

Am andern Mittag ging er nach dem Westerdeich, und Silk sah ihn kommen. Und wie er graden Weges auf die kleine Schenke zusteuerte, da lachte ihr Herz: er kommt um meinetwegen.

Der Staller war in Silks Zimmer getreten; in die Schenkstube ... nun, das paßte sich auch nicht für ihn.

Er bat Silk, ans Fenster zu treten, und erzählte ihr, auf die See weisend, von dem gestrigen Unfall; dann mußte sie ihm über die Gegend, über die Werften, die er doch alle genau kannte, Auskunft geben.

Greggert Meinstorff hatte eine unruhige Nacht, unablässig schritt er in seinem Zimmer auf und ab und murmelte leidenschaftlich Silks Namen. Die Liebe hatte ihn mit aller Gewalt gepackt. Noch kämpfte er, ob er wieder das Wirtshaus mit seiner schönen Insassin besuchen wollte, und schon am nächsten Tage war er auf dem Wege nach dem Westerdeich. Silk hatte ihn erwartet. Als sie seine Schritte hörte, ging sie in die Küche. Er trat in ihr Zimmer, und gleich darauf erschien auch sie in dem Gemache, als sei plötzlich eine weiße stille Rose aus der Knospe gesprungen. Der Staller zog sie an sich und küßte sie. Sie wehrte ihm nicht, aber erwiderte auch nicht seine Liebkosungen.

Schon rauschte die Sense über der zarten Blume: von Mund zu Mund ging es auf der Insel: der Staller hält es mit Silk Frerksen.

Arme Silk! Was hatte sie nun zu leiden. Aber sie ertrug alles, ertrug es seinetwegen. Sie wußte, daß auf allen Straßen Aufpasserinnen standen, daß, wenn Greggert bei ihr war, Lauscher überall wie Schatten an den Fenstern und Türen standen. Arme Silk!

Auch Greggert fühlte es. Aber wie in einem verzauberten Turm kam er sich vor, ohne Ausgang mehr in die Welt. Er überschüttete sie mit Geschenken.

Wie zum Hohn hatte er eines Tages seine Frau mit zu Silk genommen. Er wollte mit ihr eine Fahrt in See machen. Wie immer, war die eigne Frau die einzige, die nichts ahnte. Als sie die verwunderten Augen Silks auf sich gerichtet sah, kam ihr eine Ahnung; aber sie schob sie zurück als eine Unmöglichkeit.

Als am Abend dieses Tages der Staller Silk besuchte, trat wie eine heiße Sonne aus weißgeballten Sommerwolken zum erstenmal ihre Leidenschaft hervor. Hatte sie nie gewagt, seine Liebkosungen zu erwidern, hatte sie, wenn er sie an sich zog, still den Kopf gesenkt – heute legte sie wie Schlangen ihre Arme um seinen breiten Nacken und küßte ihm die Lippen.

Ehebruch war und ist bis auf den heutigen Tag bei den Nordfriesen etwas Unerhörtes. Und nun sah die ganze Insel, wußten es die Halligen und das Festland den Eilanden gegenüber, der Küstenklatsch, daß der Staller in offnem Ehebruch lebte.

Greggert selbst litt am schwersten darunter – um seiner schönen Geliebten willen. Er liebte sie nur um so mehr. Das stille, geheimnisvolle Mädchen hatte sein ganzes Herz. Ihr öffnete er seine Seele, bei ihr vergaß er die Sorgen des Tages; zu ihr flüchtete er in aller Qual des Lebens. Wenn sie neben ihm saß in ihrer ruhigen Weise, strickend, auf einen Scherz von ihm kurz und eigentümlich lachend; wenn sie, ohne zu sprechen, an seiner Brust lag, ganz ihm mit aller Seele ergeben – das war sein Glück, ein Glück, das er nie gekannt.

Endlich war das Gerücht auch Frau von Meinstorff zu Ohren gekommen. Sie hatte nicht Stolz genug, sich von ihrem Manne zu trennen: in einem furchtbaren Jähzornausbruch wollte sie ihre Rechte behaupten, und erreichte nur das Gegenteil.

Die Stellung des Stallers wurde unhaltbarer mit jedem Tage. Er selbst sah es ein.

Am nächsten Sonntag, als er wie gewöhnlich in seiner Emporloge saß, fühlte sich ein junger eifriger Geistlicher gemüßigt, das sechste Gebot in seiner Predigt auseinander zu setzen. Er ging zu Beispielen über, und nachdem er von David und Bathseba gesprochen, tadelte er scharf, ohne Namen zu nennen, aber doch für jedermann verständlich, das offenkundige Verhältnis.

Er hatte schon nach einer Stunde, nachdem die Rede geendigt, vom Staller den Abschied. Und das war Greggerts Todesstoß.

Am Nachmittage dieses Tages schrieb er einen langen Brief an den König. Aber hier durfte er kaum Verzeihung hoffen. Er schrieb ihm, wenn ihm ein natürlicher Sohn geboren würde, diesem seinen Namen geben zu wollen; er sei der Letzte seines Geschlechtes: es läge eine Art Berechtigung in seiner Bitte.

Am Abend wurde es stürmisch. Der Staller ging nicht zur Ruhe. Wie in tödlicher Angst bestieg er öfter den dicken steinernen Turm seines Hauses. Er fand keine Ruhe, die er sonst gefunden, je stärker der Wind ihn umsauste und zerzauste.

Als er gegen Morgen, es war eine kalte Märznacht gewesen, noch einmal den Turm bestieg, bemerkte er im Norden der Insel einen ungeheuern Feuerschein. Er überzeugte sich bald, daß dieser von der Hallig Buphever, die durch einen breiten Meeresarm von Schmerhörn getrennt war, herüberleuchtete. Es mußten dort mehrere Werften brennen.

Plötzlich zitterte er am ganzen Körper, er legte die Stirn gegen den Wind, er schien zu suchen, und er hatte gefunden. Ruhig stieg er in sein Arbeitszimmer hinab und kleidete sich zum Weggehen an. In diesem Augenblick wurde es im Hofe lebendig: der Feuerschein war auch von der Dienerschaft bemerkt worden.

Beim Weggehen befahl er seinen Leuten, ihn nicht zu begleiten. Der Wind, geradeaus von Norden kommend, packte ihn; doch er, sich ihm entgegenstemmend, kämpfte vorwärts. Sein Ziel war das Fährhaus, wo in einem eingebognen Teil des Steindeiches ein kleiner Hafen lag, in dem die Bote ruhten, die den Verkehr mit Buphever vermittelten.

Nun stand er auf der Krone des Deiches, ein Turm im Wetter. Seine Blicke waren nach Süden gerichtet, wo er das Häuschen sah, in dem Silk wohnte. Eine unbezähmbare Sehnsucht, zu ihr zu eilen, überkam ihn. Aber er bezwang sich. Mit einem tieftraurigen Blick schied er und stieg hinunter, dem Fährhause zu.

Niemals erlaubt die Welt das Glück, das Greggert Meinstorff kurze Zeit besessen hatte.

Am kleinen Hafen war es lebendig. Schiffer, Fischer und alles, was schwielige Fäuste hatte, war damit beschäftigt, die heftig hin und her schaukelnden Bote mit soviel Tauwerk, als sie erlangen konnten, an Ringen und Bohlen zu befestigen. Die wahnsinnig gewordene See erlaubte nicht, daß auch nur der Versuch gemacht werde, den Buphevenern von Schmerhörn zu Hilfe zu kommen.

In diesem Augenblick traf der Staller im Hafen ein. Er rief einige Leute zu sich heran, um mit ihnen über das Feuer zu sprechen. Plötzlich verlangte er ein Bot: er wolle allein hinüber; keiner solle ihn begleiten. Alle beschworen ihn, von dem tollkühnen Gedanken abzulassen. Allein er, den ihn umringenden Kreis durchbrechend, schritt mit hastigen Schritten auf eins der Bote zu. Die Anwesenden halfen ihm beim Einsteigen, beim Segelaufsetzen, und bei allen jenen kleinen Handgriffen, die beim Flottmachen eines Fahrzeuges nötig sind.

Los! schrie der Staller. Und in schiefer Lage, mit Nordnordwest im Segel, schoß das Bot hinaus. Mit vorgebeugten Leibern, mit starren Gesichtern schauten ihm die Zurückgebliebenen nach – nur zwei Minuten. Der Nachen war gekentert, und eine schwarze Masse, die sich mehr und mehr vom Kiel entfernte, bald auftauchend, bald verschwindend, trieb in die See. Doch nicht zu weit. Die Ebbe war im letzten Fallen. Der Körper Seiner Exzellenz lag in Sand und Schlick und Schlamm auf den Watten. Schon umkreiste ihn die Raubmöwe, den Kopf mit dem furchtbaren Schnabel prüfend über ihn gierend.

Der Morgen ahnte herauf. Im Osten zeigte sich ein fahles Rot; vor ihm her flog ein großer Vogel mit blauen Flügeln, wie ein solcher nie auf der Insel gesehen worden war, dem Ozean zu, ein eilender Verkünder der Sonne. Im Westen grollte die Ebbe ab, dumpf, als wenn sie sich in hunderttausend tiefe Abgründe stürze. Das Meer lag noch dunkel. Im Norden brannte in schauerlicher Größe die Hallig Buphever. Die schmutzigen, gelben Triele des in den Rinnen zurückgebliebenen Wassers, die Watten, die Bänke, die Muschelhaufen, alles war von rotgelben Tinten übergossen.

Der nächste Wagen war geholt. Die Leute hatten den Staller von den Watten aufgehoben. Er sah finster aus; Schaum stand ihm vorm Munde. Da er nur ganze kurze Zeit im Wasser gelegen hatte, so entfernte sich bald das Häßliche von seinem Körper, das sonst Wellenversunknen eigen zu sein pflegt.

Auf den Inseln aber und weit im ganzen Lande schwang sich bald von Ohr zu Ohr: der Staller Greggert Meinstorff ist ertrunken.

Schon zwei Tage nach dem Tode Greggerts war die Leiche in einem hölzernen Sarge, nachdem dieser dreimal nach altem friesischen, aus der Heidenzeit stammenden Gebrauch um die Kirche getragen, vor den Altar hingesetzt. Nach dem Gottesdienste hatte sich die Menge entfernt, und nur der Küster und seine Leute ordneten zum andern Morgen Blumen-Girlanden, stellten die großen Lichter in Bereitschaft, die die Nacht brennen sollten. Bei Tagesanbruch sollte der Sarg, getragen von den Angesehensten der Insel, auf ein königliches Schiff gebracht, nach dem Festlande abgehen, um in der Familiengruft, nachdem ein metallner Sarg ihn umschlossen, beigesetzt zu werden.

Frau von Meinstorff war noch immer nicht zu sich gekommen. Sie hatte in wildem Schmerz, als der Staller in die Kirche gefahren werden sollte, den Sarg umklammert. Mit sanfter Gewalt war sie endlich von den schwarzen Brettern entfernt worden.

Die großen Lichter brennen düster; sie knistern durch die Kirchenstille. Der Deckel der Truhe ist geöffnet: der Staller ruht feierlich mit über der Brust gekreuzten Händen, seine Augen sind geschlossen, es ist nichts Finsteres mehr in seinem Antlitz.

Frau von Meinstorff hatte den Küster bestochen, den Deckel zu öffnen: sie wollte in seiner Begleitung noch einmal ihren Mann diese Nacht sehen. Der Küster war ein alter, armer, schwacher Mann: er hatte ihren flehentlichen Bitten nachgegeben.

Die großen Lichter brennen düster; sie knistern. Ein verirrter Sperling, durch den Lichterschein schwer geängstigt, stößt gegen die Scheiben, fliegt durch die Gänge, über die Stühle, ruht sich auf dem Kelche aus. An seine kleine Brust klopft sichtbar das Herzchen.

Aus der Loge des Stallers, in der sie sich versteckt hatte, tritt Silk hervor. Das volle, schöne, lange Haar ist aufgelöst und hängt wirr um das süße, blasse Gesicht. Sie schleppt sich mühsam an den Sarg und fällt an ihm nieder. Die linke Hand versucht sich an seinem Rande aufzuhelfen. Sie sinkt zurück. Ihre schwere Stunde ist gekommen. Sie schenkt dem Toten einen Sohn. Aber das Kind, der letzte Meinstorff, stirbt bei der Geburt ... und auch die Mutter schließt die lieben, treuen Augen für immer ...

Die großen Lichter brennen düster; sie knistern durch die Kirchenstille. Der Sperling flattert noch immer in Todesangst umher.

Die Haupttür wird aufgeschlossen; und mit weitgeöffneten Augen, mit auf die Brust gepreßten Händen, in tiefe Trauer gekleidet, tritt Frau von Meinstorff ein. Der alte, schwache, grauhaarige Küster nimmt alle seine Kraft zusammen, um die Unglückliche zu stützen.

Es ist noch dunkel. Ferne brennen die Lichter; die großen Messingleuchter sind blank geputzt ... Langsam, langsam ... nun bleibt das Paar stehen ... wieder einen Schritt vorwärts ... langsam, langsam ...

Da! Mein Gott, mein Gott!

Ein einziger, gellender Schrei klingt durch die schweigenden, hohen Hallen. Frau von Meinstorff stieß ihn aus.

Entsetzt ist der Sperling auf das große, schlechtgeschnitzte Kruzifix geflogen. Der Christus scheint zu leben. Von der stirnumstrickenden Dornenkrone blutet es; und eine liebe, unsäglich liebe Stimme spricht schwer vom Kreuze herunter:

»Wer aber nicht gesündigt, der werfe den ersten Stein auf sie.«

Der alte, schwache, grauhaarige Küster hat die Edelfrau in einen Stuhl gelegt. Dann ist er auf die Kniee gesunken und betet; und dann singt er laut den ersten besten Vers aus dem Gesangbuch, der ihm gerade einfällt. Er ist aus einem Erntedanklied:

Wir preisen dich, o Herre Gott,
Für allen deinen Segen.

Er singt ihn näselnd, als gelte es den Anfang, um die Gemeinde dann mit einfallen zu lassen.

Frau von Meinstorff lebte noch lange Jahre auf dem Gute ihres Bruders. Sie ist bis an ihren Tod verwirrten Sinnes geblieben.

*


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